geschichtskultur als thema des geschichtsunterrichts · fordert, dass der geschichtsunterricht...
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Daniel Münch, Professur für Geschichtsdidaktik, FSU Jena
Beschreibung des Promotionsprojektes
Geschichtskultur als Thema des Geschichtsunterrichts
Sind die Lehrkräfte bereit dafür?
Geschichte begegnet Jugendlichen und Erwachsenen nicht nur als Unterrichtsfach, sondern
u.a. auch in Filmen, Museen, Spielzeuggeschäften und politischen Reden. Alle diese
vielfältigen Formen (inklusive der Schule) bilden die Geschichtskultur, die unsere
Vorstellungen von Geschichte prägt, bevor wir den verschiedenen Themen im Unterricht
begegnen. Sie spielt aber nicht nur eine Rolle, wenn es um die Lernvoraussetzungen von
Schülerinnen und Schülern geht, sondern ist auch für die Zielsetzung des Unterrichts
relevant. Die Geschichtsdidaktik befasst sich seit den 70er Jahren mit Geschichtskultur und
fordert, dass der Geschichtsunterricht einen kritischen Umgang mit Geschichtskultur
fördern soll, um den Lebensweltbezug des Faches ernst zu nehmen und auch die
Unterrichtsziele darauf auszurichten. Er kann nicht nur auf den wissenschaftlichen
Umgang eingehen, sonst fehlt es an Kriterien und Strategien angemessen mit stärker
politisch, künstlerisch oder kommerziell ausgerichteten Formen der Geschichtskultur
umzugehen, ohne überwältigt oder verwirrt zu werden. Hinzu kommt der Anspruch, dass
Schüler*innen Geschichtskultur nicht nur rezipieren, sondern auch aktiv an ihr
partizipieren und sie reflektiert mitgestalten.
Damit diese Forderung der Geschichtsdidaktik wirksam wird, muss sie den rein
akademischen Diskurs verlassen, also u.a. Eingang in Lehrpläne und
Unterrichtsmaterialien finden und mit (zukünftigen) Geschichtslehrer*innen im Studium
oder Fortbildungsmaßnahmen diskutiert werden. All dies passiert, aber noch ist unklar, ob
Geschichtskultur auch im Unterricht angekommen ist.1
Damit die Implementation dieser Forderung gelingt, müssen die Lehrerinnen und Lehrer
von ihr überzeugt sein, sie also im Einklang mit ihren Vorstellungen von Zielen und
Inhalten des Geschichtsunterrichtes sehen.
Wie denken also die Geschichtslehrer*innen darüber, in ihrem Unterricht Geschichtskultur
als solche zu thematisieren? Wissen sie von dieser Forderung, wollen sie sie umsetzen und
pflegen sie selbst einen kritischen Umgang mit Geschichtskultur, was Voraussetzung für
die Vermittlung eben dessen ist.
1 Da auch Schulbücher Teil der Geschichtskultur sind, ist sie strenggenommen bereits Teil des Unterrichts, hier geht es jedoch um Formen der Geschichtskultur, die nicht explizit für den Unterricht entwickelt wurden.
1
Geschichtskultur ist in der (deutschsprachigen) Geschichtsdidaktik ein zentraler Begriff
und wird theoretisch zusammen mit Geschichtsbewusstsein diskutiert. Es gibt engagierte
Plädoyers für seinen Einbezug in den Unterricht, konzeptionelle Überlegungen und
konkrete Praxisvorschläge. Empirische Arbeiten befassen sich mit der
geschichtskulturellen Sozialisation von Jugendlichen oder einzelnen geschichtskulturellen
Medien und Institutionen. Die Haltung der Lehrer*innen und die Unterrichtspraxis wurden
bisher jedoch kaum untersucht. Überhaupt mangelt es an Implementationsstudien in der
Geschichtsdidaktik, die prüfen, wie sie ihre Erkenntnisse wirksam mit den Lehrer*innen
kommunizieren kann.
In meiner Examensarbeit fand ich heraus, dass Lehrer*innen für den Einsatz
wissenschaftsnaher Medien offener sind (z.B. Dokumentationen gegenüber Spielfilmen)
und Geschichtskultur eher als Medium zur Motivation und Veranschaulichung einsetzen
würden, als sie selbst zum Unterrichtsgegenstand zu machen. Die dahinter stehenden
Vorstellungen, was als thematisch relevant betrachtet wird, welche Ziele sie verfolgen und
was sie ganz allgemein unter Geschichtsunterricht verstehen ist aber noch unbekannt.2
Um einen repräsentativen Überblick zu gewinnen, soll das Feld zuerst mit quantitativen
Verfahren untersucht werden. Mit einem Fragebogen sollen sowohl Kenntnisstand als auch
allgemeine Bereitschaft, Geschichtskultur zu thematisieren erfasst werden. Der
Kenntnisstand soll über das Begriffsverständnis von Geschichtskultur und die Rezeption
von Unterrichtsmaterialien, vor allem Lehrplänen, erfragt werden. Zusätzlich wird auf den
Stages-of-Concern-Fragebogen zurückgegriffen, der misst worauf der Fokus von
Lehrkräften liegt, wenn sie mit einer Innovation konfrontiert werden: Suchen sie vorrangig
nach mehr Informationen, sorgen sie sich um Ansprüche an sich selbst oder denken sie
über die Folgen für ihre Schüler*innen nach.
Durch die Erhebung des Wissens und des Wollens sowie deren Zusammenspiel sollen
einerseits wirksame Kommunikationswege für innovative Ideen erkannt werden und
andererseits soll eine Typologie zur Einstellung gegenüber Geschichtskultur als Unterricht
entwickelt werden.
Einzelne Vertreter*innen der verschiedenen Typen sollen in einem zweiten, qualitativ
ausgerichteten Verfahrensschritt interviewt werden. Dabei werden allgemeine
Überzeugungen über Geschichtsunterricht und der eigene Umgang mit Geschichtskultur
im Zentrum stehen.
2 Dabei ließe sich vielleicht auch der scheinbare Widerspruch dazu aufklären, dass Lehramtsstudierende oft eine gewisse Abneigung gegen zu hohe wissenschaftliche Ansprüche an Unterrichtsstoff äußern.
2
Parallel werden Lehrpläne, Schulbücher und andere Handreichungen analysiert, um zu
betrachten welche Impulse die Lehrer*innen bekommen.
Die Befragung richtet sich an die Geschichtslehrer*innen in Sachsen, Sachsen-Anhalt und
Thüringen. Drei Länder, die auf sehr unterschiedliche Weise – aber stets verbindlich und
explizit – Geschichtskultur als Unterrichtsthema in ihre Rahmenrichtlinien geschrieben
haben, aber gleichzeitig eine ähnliche Lehrerschaft hinsichtlich Altersstruktur und
Sozialisation haben, um die Ergebnisse sinnvoll vergleichen zu können.
Eine Untersuchung des Unterrichts selbst ist nicht vorgesehen.3
Die Ergebnisse meiner Studie sollen Einblicke liefern in das Denken von
Geschichtslehrer*innen. Außerdem sollen sich Hinweise für alle Verantwortlichen in der
Lehrerbildung (aller drei Phasen) ableiten lassen, wie die laufende Implementation von
Geschichtskultur als Unterrichtsbestandteil gefördert werden kann und welche
Unterstützung die Lehrer*innen benötigen. Auch zukünftige Innovationen können dann
vielleicht besser implementiert werden.
Literatur
Geschichtskultur im Unterricht
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Meik Zülsdorf-Kersting: Sechzig Jahre danach: Jugendliche und Holocaust. Eine Studie zur geschichtskulturellen Sozialisation. Berlin, Münster 2007 (=Geschichtskultur und historisches Lernen, Bd. 2).
3 Der zusätzliche Aufwand für die Erhebung und Auswertung der Unterrichtspraxis wäre enorm und würde so viele neue Felder berühren, dass es eher einer zweiten Studie als einer einfachen Ergänzung nahe käme.
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Lehrkräfte und ihre Überzeugungen
Jürgen Baumert/Mareike Kunter: Stichwort: Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaften 4 (2006), S. 469–520.
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Barbara K. Hofer/Paul R. Pintrich: The Development of Epistemological Theories: Beliefs About Knowledge and Knowing and Their Relation to Learning. In: Review of Educational Research 67 (1997), S. 88–140.
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Implementation
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Allgemeines
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Christoph Cornelißen: Was heißt Erinnerungskultur? Begriff – Methoden – Perspektiven. In: GWU 54 (2003), S. 548–563.
Marko Demantowsky: Geschichtskultur und Erinnerungskultur – zwei Konzeptionen des einen Gegenstandes. Historischer Hintergrund und exemplarischer Vergleich. In: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 33 (2005), 1/2, S. 11–20.
Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Geschichtsdidaktische Lehrplanforschung. Methoden – Analysen – Perspektiven. Münster 2004 (=Zeitgeschichte, Zeitverständnis, Bd. 12).
Jörn Rüsen: Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft. Köln, Weimar, Wien 2013.
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