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Wittgenstein ɒber „Gedankenexperimente“ Gedankenexperimente in der neueren analytischen Philosophie und bei Wittgenstein Wolfgang Kienzler, Jena Abstract Some essential features of the notion of “thought experiment” can be highlighted by contrasting examples from Wittgenstein and Putnam. Putnam’s famous exam- ples (twin earth, brain in a vat) invite us to imagine that our experience could be entirely different (“unreal”) while seeming to be entirely the same (“same same, but different”), thus following along more traditional, partly Kantian lines. Witt- genstein’s examples, by contrast, typically imagine some specific features of our actual way of experience (or of human behaviour) to change drastically (chairs vanishing and becoming visible again, a person having no brain in his skull, visi- ble “pain spots”). While Putnam epistemologically asks: Could it be true that our experience was of such a sort? Wittgenstein inquires what we might say in the face of such remote possibilities. Furthermore Wittgenstein is very explicit that his examples are not experiments but rather grammatical variations (and thus he is rejecting any unqualified quasi-empirical talk of “thought experiments”), while Putnam seems to contend that his scenarios actually are in some rather vague and general way “experimental”. Wittgenstein’s approach could therefore be used to bring the methodological status of many “thought experiments” in contemporary analytic philosophy into sharper focus. I. Einleitung Fiktionen haben, wie wohlbekannt, einen Platz in unsern Betrachtungen. Aber es sind alles materielle, behavioristische, Fiktionen; Fiktionen, die sich ganz auf einer Bɒhne darstellen ließen. (Ms 117, 264) Ein zentrales Thema der neueren Literatur ɒber Gedankenexperimente in der Philosophie ist die Schwierigkeit, Gedankenexperimente als eine er- folgreiche philosophische Methode zu erklȨren und von anderen Me- thoden abzugrenzen. Deutungen als wirkliche, empirische Experimente wirken ebensowenig ɒberzeugend wie platonisierende Auffassungen von

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Wittgenstein �ber „Gedankenexperimente“

Gedankenexperimente in der neueren analytischen Philosophieund bei Wittgenstein

Wolfgang Kienzler, Jena

Abstract

Some essential features of the notion of “thought experiment” can be highlightedby contrasting examples from Wittgenstein and Putnam. Putnam’s famous exam-ples (twin earth, brain in a vat) invite us to imagine that our experience could beentirely different (“unreal”) while seeming to be entirely the same (“same same,but different”), thus following along more traditional, partly Kantian lines. Witt-genstein’s examples, by contrast, typically imagine some specific features of ouractual way of experience (or of human behaviour) to change drastically (chairsvanishing and becoming visible again, a person having no brain in his skull, visi-ble “pain spots”). While Putnam epistemologically asks: Could it be true that ourexperience was of such a sort? Wittgenstein inquires what we might say in theface of such remote possibilities. Furthermore Wittgenstein is very explicit thathis examples are not experiments but rather grammatical variations (and thushe is rejecting any unqualified quasi-empirical talk of “thought experiments”),while Putnam seems to contend that his scenarios actually are in some rathervague and general way “experimental”. Wittgenstein’s approach could thereforebe used to bring the methodological status of many “thought experiments” incontemporary analytic philosophy into sharper focus.

I. Einleitung

Fiktionen haben, wie wohlbekannt, einen Platz in unsern Betrachtungen.Aber es sind alles materielle, behavioristische, Fiktionen; Fiktionen, die sichganz auf einer B�hne darstellen ließen. (Ms 117, 264)

Ein zentrales Thema der neueren Literatur �ber Gedankenexperimente inder Philosophie ist die Schwierigkeit, Gedankenexperimente als eine er-folgreiche philosophische Methode zu erkl�ren und von anderen Me-thoden abzugrenzen. Deutungen als wirkliche, empirische Experimentewirken ebensowenig �berzeugend wie platonisierende Auffassungen von

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Erkenntnis aus reinem Denken.1 Diese Schwierigkeit ist nicht zuf�llig,sondern beruht auf einer grundlegenden begrifflichen Unklarheit, die diegesamte Diskussion durchzieht. Zum einen wird philosophische Er-kenntnis h�ufig ohne weiteres mit der Gewinnung „neuer“ Information,neuen Wissens gleichgesetzt ;2 dies verkennt jedoch den grunds�tzlicherl�uternden Charakter der Philosophie.3 Zweitens gehen die Untersu-chungen in aller Regel von der Unterstellung aus, es gebe in der Philo-sophie tats�chlich durchschlagend erfolgreiche und insofern definitiverkenntniserweiternde Gedankenexperimente. Genauer besehen gibt es inder neueren analytischen Literatur jedoch kein einziges allgemein alserfolgreich anerkanntes Gedankenexperiment; ihr in gewissen Grenzenunbestreitbarer Erfolg liegt gerade nicht darin, dass etwa Putnams„Zwillingserde“ irgendeinen philosophischen Streit entschieden h�tte,sondern darin, dass Putnam dadurch zu einer Vielzahl neuer Streitfragenangeregt hat.4 Der Erfolg liegt also eher im Anregungspotential, d. h.darin, Diskussionen zu erçffnen, nicht in der Kraft, Entscheidungenherbeizuf�hren und Diskussionen zu beenden. Darin unterscheiden sichphilosophische Gedankenexperimente grundlegend von einigen derklassischen Gedankenexperimente in der Geschichte der Physik, die zudefinitiven Kl�rungen gef�hrt haben.5 Als „Gedankenexperiment“ wer-den zudem teilweise ganz unterschiedliche Vorgehensweisen bezeichnet,die jedoch in zwei Hauptgruppen eingeteilt werden kçnnen.6

In einem positiven, konstruktiven Sinn kann man darunter die de-taillierte Beschreibung spezifischer Sprachspiele oder sprachlich-begriff-

1 Vgl. etwa die �berblicke bei Gooding 1998 und Gendler 2003. Einen davonabweichenden Vorschlag, Gedankenexperimente als Methode der Philosophie,die „das Mçgliche und das Vorstellbare“ untersucht, zu charakterisieren bietetFuhrmann 2001. Die Allgemeinheit seiner �berlegungen, die er selbst „meta-physisch“ nennt ( 343), verbindet Fuhrmann mit Putnam (s.u.).

2 So bei Gendler 2003, 392 unter Bezug auf Kuhn 1977, 328.3 Dies habe ich in Kienzler 2005a erl�utert.4 Vgl. etwa die Twin Earth Chronicles (Pessin/Goldberg 1996) und M�ller 2003,

der allerdings Putnams Gedankenexperiment zu einem „wasserdichten, apriori-schen Beweis“ ausgearbeitet hat, und der „eine kleine philosophiegeschichtliche[gemeint ist wohl „philosophische“, W.K.] Sensation“ dadurch bieten will, dass erbeweist, „dass das gesamte Bild der Welt, das wir uns zurechtgelegt haben, nichtaus einem teuflisch perfekten Simulationscomputer stammen kann“ (M�ller2003, Bd. 1, XI).

5 Vgl. dazu Kienzler 2005.6 Hier soll keine erschçpfende Einteilung vorgestellt werden, sondern es geht allein

um die Herausarbeitung einiger grundlegender Unterscheidungen.

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licher Verh�ltnisse und Institutionen verstehen. Solche F�lle kommenetwa bei Wittgenstein h�ufig vor – es gibt jedoch keine starken Gr�nde,hier �berhaupt von „Gedankenexperiment“ in einem anderen als einemsehr lockeren, unterminologischen Sinn zu sprechen.7

Insbesondere in der neueren analytischen Philosophie werden als„Gedankenexperimente“ Vorgehensweisen verstanden, die n�her beseheneinen sehr problematischen, begrifflich unklaren Status aufweisen. Dieserentspricht der Zusammensetzung des Wortes („Gedanken-Experiment“)und schwankt zwischen empirisch-aposteriorischen und logisch-apriori-schen Elementen bzw. Z�gen. Dieses Schwanken r�hrt vor allem daher,dass man in der analytischen Philosophie einerseits die N�he zu den„exakten“ Naturwissenschaften sucht und zugleich andererseits dochbegriffliche Untersuchungen anstellt, die auf argumentative Beweise undSchl�ssigkeit, nicht auf empirische Best�tigung abzielen. DiesesSchwanken (oder Schillern, um einen Ausdruck Freges zu benutzen, derdie Gleichzeitigkeit beider Gesichtspunkte noch mehr betont) hat aller-dings zur Folge, dass letztlich keine �berzeugenden und dauerhaftenResultate zu erwarten sind;8 und auch, dass eine pr�zise methodischeBestimmung nicht einfach besonders schwierig, sondern genau genom-men unmçglich und hoffnungslos ist, weil es sich gar nicht um eineeinheitliche Methode handelt. Um diese weitreichende These zu ver-deutlichen und zu belegen gliedert sich das Folgende in drei Teile: 1)Eine Analyse typischer Gedankenexperimente innerhalb der neuerenanalytischen Philosophie; 2) eine Analyse der „Gedankenexperimente“bei Wittgenstein mit Herausarbeitung der entscheidenden begrifflichenUnterschiede zum ersten Fall ; und 3) eine Erçrterung der Ausf�hrungen

7 Die Analogie zu einem Experiment besteht hier nur darin, dass man eine nichtbereits bestehende, also fiktive oder konstruierte, mehr oder weniger scharf ab-gegrenzte Situation beschreibt und kommentiert. Der f�r Experimente im pr�-gnanten Sinn konstitutive Zug, dass man spezifische Reaktionen (der Natur)provozieren mçchte, fehlt hier vçllig.

8 Die Situation hat in dieser Hinsicht eine gewisse �hnlichkeit zur Situation derMetaphysik, wie sie Kant in der Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft beschreibt,und die Kant auf das Schwanken zwischen dem Bezug auf Erscheinungen undauf die Dinge an sich zur�ckf�hrt. Die Mçglichkeit, dass man ein solchesSchillern gerade beabsichtigt und als philosophisches Ideal entweder anstrebtoder als unvermeidbar ins Zentrum der Betrachtung stellt, sei hier wenigstenserw�hnt; sie widerspricht jedoch grunds�tzlich der Selbsteinsch�tzung sowohlWittgensteins wie der analytischen Philosophie (man vgl. aber einige Debattenum die Grundlagen der Quantenphysik und Autoren wie Heidegger und Der-rida).

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Wittgensteins zum Ausdruck „Gedankenexperiment“. Diese zeigt auf,dass Wittgenstein auf ganz �hnliche Probleme aufmerksam macht, wie sieim Umkreis der Gedankenexperimente der analytischen Philosophie zufinden sind. Als Ergebnis wird sich herausstellen, dass seit seiner Pr�gungdurch Ernst Mach der Ausdruck „Gedankenexperiment“ von hartn�cki-gen begrifflichen Unklarheiten begleitet ist, die in enger Beziehung zurFrage nach der Natur der Philosophie stehen.9

II. Gedankenexperimente in der analytischenGegenwartsphilosophie

1. In den letzten Jahren und Jahrzehnten ist besonders in der analytischenPhilosophie verst�rkt von Gedankenexperimenten die Rede. Diese Redegreift einen �lteren, etablierten Sprachgebrauch aus der Grundlagendis-kussion der Naturwissenschaften, insbesondere der modernen Physik,auf.10 Im Folgenden untersuche ich den bestehenden Sprachgebrauch undversuche eine Analyse des damit einhergehenden begrifflichen Instru-mentariums, dies hat mit einer Analyse des Wortes, etwa aus seinen Be-standteilen, zun�chst nichts zu tun.

2. Ein inzwischen schon klassisches Beispiel, das viel zum Durch-bruch dieser Methode oder wenigstens Redeweise beigetragen hat, istPutnams „Gehirn im Tank“ von 1981, ein noch popul�rerer (weil an-schaulicherer und gruseligerer) Nachfolger seiner „Zwillingserde“11 aus

9 Der Gesichtspunkt, dass Gedankenexperimente allein streng genommen nurSzenen oder Beispiele darstellen und f�r sich genommen keine beweisende Krafthaben kçnnen, schon weil sie keine beweisende Struktur haben, sei hier nurerw�hnt, kann aber nicht weiter verfolgt werden.

10 Diesen �lteren Gebrauch habe ich in Kienzler 2005 begrifflich zu charakterisierenversucht. Die Verbindung zum hier untersuchten Sprachgebrauch ist in vielemeher locker, so dass eine eigenst�ndige Analyse angebracht ist.

11 Das „Gehirn im Tank“-Beispiel beseitigt eine zentrale Schw�che der „Zwil-lingserde“, indem wir uns dort vorstellen sollen, dass Wasser die vçllig abwei-chende chemische Formel XYZ haben soll, ohne dass erl�utert wird, welcheKonsequenzen dies hat: Andere chemische Formeln f�hren ja offenbar zwangs-l�ufig zu anderen chemischen Eigenschaften, etwa zu anderen Produkten bei derAnalyse. Putnam setzt hier eine vçllig unplausible atomistische Bedeutungs-theorie voraus; dieser Umstand wird nur durch die Vagheit verdeckt, dass er ebengar keine chemische Formel, sondern ein unbestimmtes XYZ schreibt bzw. dasser uns in ein vorchemisches Zeitalter versetzt, in dem „alles gleich ist“: jedeandere, konkrete chemische Formel w�rde die begriffliche Inkonsistenz sofort

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The Meaning of ,Meaning‘ von 1975. Darin entwirft Putnam eine fiktiveSituation, in der wir uns vorstellen sollen, ein nicht genannter Wissen-schaftler pr�pariere menschliche Gehirne in einer N�hrlçsung dergestalt,dass diesen Gehirnen vorgegaukelt, d. h. simuliert wird, sie f�hrten alsvollst�ndige Menschen ein ganz gewçhnliches Leben auf der Erde. An-schließend wirft Putnam die Frage auf, ob wir sicher sind, dass wir selbstkeine solchen Gehirne im Tank sind, oder genauer, er f�hrt Gr�nde daf�ran, warum wir es nicht sind bzw. nicht sein kçnnen. Der Gesamtzu-sammenhang der Erçrterung besteht darin, dass Putnam allgemeineProbleme der Wortbedeutung bzw. der Referenz untersucht. Mit Lockegesprochen geht es ihm um die Frage, ob sich unsere Wçrter auf unsereIdeen oder auf die Dinge selbst beziehen; aber diese theoretischen Ab-sichten gehçren nicht zur Substanz des Gedankenexperiments.

3. Im Weiteren soll nun nicht die Schl�ssigkeit und �berzeugungs-kraft von Putnams Erçrterung diskutiert werden (die Literatur dazu istsehr umfangreich), sondern es geht um den Status solcher „Gedanken-experimente“. Als Gedankenexperiment im engeren Sinn ist die Schil-derung der Situation selbst zu betrachten, zusammen mit der Aufforde-rung, sich selbst an die Stelle eines solchen Gehirns zu setzen.12 Diese

erkennen lassen. Diese Inkonsistenz ist beim „Gehirn im Tank“ beseitigt, wirhaben also keine solche L�cke innerhalb der Beschreibung der Erfahrungsweltmehr; es ist also nicht „alles genau gleich, nur eine isolierte Einzelheit (die wir garnicht wahrnehmen kçnnen) ist ganz anders“, sondern „es ist wirklich allesvollkommen gleich, aber vielleicht ist in Wirklichkeit alles vçllig anders“. Damitist aber zugleich die letzte und einzige Verbindung zur Empirie beseitigt undPutnam spricht jetzt nicht von der Struktur unserer Erfahrung und mçglichenAbweichungen darin, sondern er spricht ganz allgemein von außen �ber die„Erfahrung �berhaupt“, und die Science-Fictiongeschichte ist dazu eine bloßeB�hnendekoration ohne tragende Funktion. Dieser �bergang entspricht im�brigen ziemlich genau Putnams Schwanken zwischen einem „internen“ und„externen“ Realismus: eine konsequente Durchf�hrung des externen Realismus,der noch glaubt, zwei Welten vergleichen zu kçnnen, f�hrt zum internen Rea-lismus, in dem es nur noch die eine Erfahrungswelt gibt, deren „Realit�t“ inFrage steht.

12 Putnams �berlegungen, warum es unmçglich ist (oder sein soll), dass wir uns ineiner solchen Situation befinden, gehçren nicht zum Gedankenexperiment selbst,greifen aber zur Erhçhung der Plausibilit�t darauf zur�ck. Eine Diskussion umseine Grundidee kçnnte folgendermaßen verlaufen: „Wir beziehen uns mit un-seren Worten auf B�ume, ein Gehirn im Tank kann das nicht, also sind wir keinGehirn im Tank.“ Das Gegenargument kçnnte lauten: „Wenn wir ein solchesGehirn im Tank w�ren, w�rden wir trotzdem annehmen, dass wir uns mitunseren Worten auf B�ume beziehen; was also ist der Unterschied, wenn wir die

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zus�tzliche Aufforderung stellt ein neues, wesentliches Element dar, dasdie eigentliche Pointe des Gedankenexperiments ausmacht und zugleichdas Schwanken zwischen zwei einander ausschließenden Perspektiveneinf�hrt.

Obwohl das Szenario an eine Science-Fiction Geschichte erinnert,erz�hlt Putnam keine Geschichte, sondern er beschreibt lediglich eineSituation. In der Diskussion von Gedankenexperimenten wird oft derGesichtspunkt der Realisierbarkeit angesprochen und man kann versuchtsein, Putnams Szenario als „unrealisierbar“ einzustufen. Genauer besehenist hier jedoch nicht von schlichter „Unrealisierbarkeit“ zu sprechen,sondern von Inkoh�renz, d. h. es fehlt die elementare „semantische“Konsistenz der Erz�hlung: Man weiß gar nicht, was es denn ist, was manals realisierbar beurteilen sollte.

Die von Putnam beschriebene Situation ist n�mlich von einer ei-gent�mlichen Art: einerseits schließt die Beschreibung verbal an vertrauteUmgebungen an, wie die Situation eines Labors mit N�hrlçsungsbeh�l-tern etc., andererseits aber sind Teile der Beschreibung dergestalt, dass sievollkommen unvertraut und jedenfalls nicht ohne weiteres nachvoll-ziehbar sind. Es bleibt zun�chst ganz unklar, was es genau heißen kann,einem Gehirn werde „sein Leben vorgegaukelt“. Die Art der Erz�hlungsuggeriert beispielsweise, dass diese Vorstellung �ußerst unangenehm ist,obwohl die Situation ja ph�nomenal absolut ununterscheidbar gestaltetist ! Putnam fingiert hier eine vollkommene T�uschung, die vom betro-genen Gehirn nicht aufgedeckt werden kann, der also auf der Ebene derErfahrung, die das Gehirn (und hier liegt eine weitere Ungenauigkeitdarin, dass ja genau genommen der Mensch oder ein Mensch Erfah-rungen macht und nicht ein Gehirn) macht, nichts entspricht: Hier wirdkeine Erfahrung (auch keine unangenehme!) beschrieben, sondern dieK�nstlichkeit der gesamten Erfahrung suggeriert.

Kategorial gesehen verbindet Putnam also zwei ganz heterogene Be-trachtungsebenen, indem er zun�chst eine empirisch wirkende Situationentwirft, die er dann mit einer Gesamtdeutung der Erfahrung �berhauptverkn�pft (dies kçnnte man eine transzendentale �berlegung nennen).

Sache aus unserer Perspektive, in der wir nun einmal sind, betrachten?“ DieseSelbstaufhebung des Arguments kann nur angehalten werden, wenn wir uns ineine andere Perspektive versetzen, n�mlich diejenige, in der wir von einem an-deren als dem unseren Bewusstsein annehmen, es sei nur ein Gehirn im Tank –dann kçnnen wir sagen: Hier ist ja kein Bezug auf wirkliche B�ume mçglich. DieR�ck�bertragung auf unseren eigenen Fall ist aber wiederum nur unter erneutemStandpunktwechsel mçglich, der den Gewinn an Objektivit�t wieder aufgibt.

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Ein solches Verfahren mag zweifelhaft anmuten, aber es ist ein charak-teristischer Zug zumindest zahlreicher „philosophischer Gedankenexpe-rimente“. Was Putnam uns vorschl�gt, kann man auch so beschreiben,dass er uns auffordert, zugleich zwei verschiedene Standpunkte einzu-nehmen: denjenigen des Betrachters einer Science-Fiction Situation unddenjenigen, der innerhalb dieser Situation gefangen ist und sie zu er-gr�nden versucht, jedoch ohne die Mçglichkeit, die Situation von außenzu sehen.

Putnam selbst ist ziemlich sparsam in seinen Kommentaren zumeigenen methodischen Vorgehen. Er schreibt großz�gig: „Ein derartigesVorgehen ist weder ,empirisch‘ noch durch und durch ,a priori‘, sondernenth�lt Elemente beider Untersuchungsmethoden.“ Andererseits bean-sprucht er doch, die von ihm aufgeworfene Frage mit Hilfe seiner Me-thode zu entscheiden: „Diese Mçglichkeit [dass wir „Gehirne im Tanksind“, W.K.] wird nicht durch die Physik ausgeschlossen, sondern durchdie Philosophie.“ (Putnam 1982, 34 und 33)

4. Eine solche Kombination von empirischer Einkleidung undtranszendentalen �berlegungen ist f�r die Gedankenexperimente derneueren analytischen Philosophie keineswegs zuf�llig, sondern ausge-sprochen charakteristisch, geradezu konstitutiv. Darin dr�ckt sich zumeinen die traditionelle Orientierung an den Naturwissenschaften undihrer spezifischen Exaktheit und Pr�zision aus, zum anderen der Um-stand, dass es in den Untersuchungen (nicht nur) der analytischen Phi-losophie gerade und wesentlich nicht um empirisch entscheidbare Fragengeht. Empirisch entscheidbare Fragen werden ja von den Naturwissen-schaften selbst und nicht von der Philosophie behandelt.

�hnliche empirisch unentscheidbare Elemente finden sich etwa auchin Putnams Zwillingserde, deren „Zwasser“ ph�nomenal von unseremWasser ununterscheidbar sein soll,13 in Searles „Chinesischem Zimmer“,

13 Putnam verleiht zwar beiden Fl�ssigkeiten eine unterschiedliche chemische Zu-sammensetzung, aber er fingiert den Fall, dass dieser chemischen Verschiedenheitin der Erfahrung nichts entspricht. Immerhin l�ßt er nach Aufkommen derChemie beide Wasservarianten auch empirisch auseinandertreten und beschr�nktsein Gedankenexperiment scheinbar auf die Zeit davor. Die R�tselhaftigkeit derBeschreibung gewinnt er jedoch wiederum durch die Doppeltheit von wesent-lichem Unterschied und empirischer Ununterscheidbarkeit, indem wir in diesemFall die Perspektive zweier Zeitstufen gleichzeitig (bzw. im Wechsel) zur Beur-teilung der Situation verwenden sollen – ohne zu ber�cksichtigen, dass wir ja unsselbst in einer einzigen Situation befinden. In keiner der beiden skizzierten Si-tuationen besteht f�r sich genommen ein philosophisches Problem, sondern ein

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wo eine Person, die mit unverstandenen Zeichenreihen hantiert, zuperfekten Ergebnissen kommen soll, oder auch in den Beispielen zurQualia-Debatte, in denen alles empirisch Entscheidbare sorgf�ltig aus-geschaltet wird.14

5. Will man den gleichzeitigen Einsatz so unterschiedlicher Metho-den nicht einfach als Fehler ansehen, sondern positiv werten, so stçßtman auf den Einfluß Quines und dessen „naturalistischer“ Konzeptionvon Wissenschaft und Philosophie, nach der beide Gebiete grunds�tzlichmit den gleichen Methoden zu bearbeiten sind, so dass die kategorialeDoppeltheit keine problematische Inkompatibilit�t, sondern eher dieBetonung eines Aspekts darstellt. Die Gesamtsituation ließe sich ent-sprechend so beschreiben, dass der Einsatz von Gedankenexperimentendurch die Quinesche Einheitsmethode einerseits gerechtfertigt erscheint,dass aber bei der konkreten Durchf�hrung die Differenz empirisch spe-zifischer Elemente gegen�ber Betrachtungen �ber die gesamte Erfahrung(ohne jede Ber�cksichtigung empirischer Differenzen) doch wieder er-scheint. Damit kçnnte die Reflexion auf Gedankenexperimente dazubeitragen, dass die analytische Philosophie ihr Quinesches Stadium all-m�hlich hinter sich l�ßt.15

6. Die kategoriale Unklarheit der „analytischen“ Gedankenexperi-mente tritt besonders deutlich in den „metaphilosophischen“ Versuchenhervor, die Funktionsweise dieser Methode zu erkl�ren. Diese sehen sichregelm�ßig einem kaum lçsbaren Paradox gegen�ber: Fasst man dieGedankenexperimente tats�chlich als empirische Methode auf, dannwerden die apriorischen, auf die gesamte Erfahrung bezogenen Z�ge vçlligunerkl�rlich. Ein Ausweg bleibt dann noch, dass man Gedankenexperi-

solches tritt erst dann auf, wenn wir zugleich beiden Situationen, mit ihren jeweilsabweichenden Kriterien, gerecht werden wollen. Putnams philosophische Pro-bleme werden so durch die �berlagerung zweier Perspektiven erzeugt, nichtdurch die jeweilige Situationsbeschreibung. Immerhin ist seine Darstellung imsp�teren „Gehirn im Tank“ intern konsequenter, weil er dort nicht mehr in-nerhalb der Erfahrung einen Unterschied zu beschreiben versucht, sondern diegesamte Erfahrung unterschiedslos thematisiert. Putnam geht insofern von einempseudo-empirischen zu einem transzendentalen (man kçnnte auch sagen: me-taphysischen) Szenario �ber.

14 Vgl. die Listen der bekanntesten Beispiele bei Gooding 1998 und Gendler 2003.Zu Searles Beispiel gibt es Vorg�nger bei Frege, Grundgesetze (§ 90) und Carnap,Logische Syntax (§ 71 �ber die „logischen Beziehungen […] chinesischer S�tze“).

15 Quine selbst h�tte allerdings das Aufkommen von Gedankenexperimenten ver-mutlich als Symptom f�r nachlassende empiristische und logische Strenge, undf�r das Vordringen „bloß“ literarischer Formen angesehen.

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mente n�mlich als extrem verd�nnte Erfahrung auffasst, die sich sozu-sagen mit rein begrifflichen �berlegungen auf gleichem Niveau verbin-den kann (so Sorensen 1992, 250 f., aber teilweise auch Kuhn 1977,348), aber dies �hnelt zu sehr der Annahme eines Phlogiston oder De-scartes‘ feinstofflicher Interaktion von Leib und Seele, um �berzeugen zukçnnen. Umgekehrt kann man auch eine Erkenntnis auf rein gedankli-cher, „platonischer“ Basis annehmen, aber damit verliert man zum einenden Kontakt zum empiristischen Gesamtklima der analytischen Philo-sophie, und zum anderen bietet ein solcher Ansatz keine Ressourcen, umirgendwelche spezifischen Begr�ndungsleistungen zu erkl�ren und ver-bleibt in der Rolle bloßer Provokation (Brown 1991).16

Eine entschlossene Kritik an Gedankenexperimenten �bt Dennett,der sie als rein rhetorisches Mittel („intuition pumps“) abwertet, mit demman f�r bestimmte Ansichten Propaganda macht, anstatt klar zu argu-mentieren.17 Diese Kritik trifft jedoch vor allem diejenigen Gedanken-experimente, die (Dennett) nicht �berzeugen.18 Dennetts kritischer An-satz enth�lt jedoch entgegen seiner eigenen Argumentationsabsicht in-sofern ein fruchtbares Element, wenn man ihn so versteht, dass man„Gedankenexperimente“ als Mittel einsetzen kann, um �ber unsere ele-mentaren und grundlegenden Anschauungen („Intuitionen“) nachzu-denken und diese zu �berpr�fen.

7. Abgesehen von den erçrterten kategorialen Schwierigkeiten kannder Einsatz solcher Beschreibungen von Situationen dadurch zu einerErweiterung der analytischen Philosophie beitragen, dass die Konzen-tration auf die Analyse einzelner S�tze in den Hintergrund tritt undkomplexere Zusammenh�nge in den Blick kommen. Dadurch werden

16 Browns Ansatz wird so zwar regelm�ßig als Alternative angef�hrt, aber zu Rechtnirgends wirklich ernstgenommen.

17 Dennett 1986, Kapitel 1, untersucht das Problem der Freiheit und findet in derLiteratur zahlreiche „Gedankenexperimente“ (angefangen mit Descartes‘ bçsemGeist), die die Existenz von Freiheit in Zweifel ziehen sollen. Dennetts Kritiktrifft hier insofern zu, als er auf Gedankenexperimente Bezug nimmt, dieebenfalls mit empirisch ununterscheidbaren (und daher unentscheidbaren) Fik-tionen arbeiten.

18 In sp�teren Publikationen �ußert Dennett dann auch eine ganz ver�nderte Ein-stellung: „In short, Artificial Life research is the creation of prosthetically con-trolled thought experiments of indefinite complexity.“ (Dennett 1994, 291)Diese Tendenz, den „inexakten“ philosophischen Gedankenexperimenten dieexakten Computersimulationen als die eigentlichen, eben exakten und pr�zisenGedankenexperimente gegen�berzustellen, bleibt jedoch methodisch ebensounreflektiert ; dies kann hier jedoch nicht weiter behandelt werden.

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flexiblere, „realistischere“ und freiere Analysen mçglich, die das Spektrumbehandelter Fragen erweitern und besonders nichtsprachliche Elementein die Analysen mit einbeziehen kçnnen.19

III. Wittgensteins „Gedankenexperimente“

11. In gegenw�rtigen Diskussionen und Darstellungen wird Wittgensteinh�ufig als ein Philosoph angesprochen, der „klassische philosophischeGedankenexperimente“ erfunden und formuliert habe.20 Als solche Ge-dankenexperimente werden angef�hrt: Wittgensteins Beispiele vom K�ferin der Schachtel (PU 283),21 davon, dass ich zu Stein erstarre und meineSchmerzen anhalten (PU 293), seine Fiktion eines Tagebuchs in „Pri-vatsprache“ (PU 243), der Sessel, der plçtzlich verschwindet und wiederauftaucht (PU 80) und insbesondere seine zahlreichen fiktiven „Sprach-spiele“ (das erste in PU 2). Die Frage liegt nun nahe, inwiefern Witt-gensteins Gedankenexperimente denjenigen der analytischen Philosophiemethodisch �hnlich oder un�hnlich sind. Hierzu ist zun�chst zu bemer-ken, dass Wittgenstein in keinem der hier angef�hrten F�lle von „Ge-dankenexperimenten“ spricht, ja dass er dieses Wort nirgends positivverwendet und dessen Verwendung f�r seine eigene Arbeit konsequentablehnt.22 Grunds�tzlich betont er wiederholt, wie wichtig es ist, be-griffliche, philosophische Untersuchungen von empirischen scharf zuunterscheiden und abzugrenzen.23

19 Tyler Burge schreibt in einem Bericht �ber Diskussionen, an denen er nebenPutnam maßgeblich beteiligt war und mit eigenen Gedankenexperimenten f�reinen Anti-Individualismus in der Bedeutungstheorie argumentierte : „Anti-in-dividualism was supported not only through abstract considerations from thetheory of reference, but also through specific thought experiments.“ (Burge 1992,47; zu Burges Beitr�gen vgl. Pessin/Goldberg 1996) Auch bei Burge bleiben dieReflexionen auf die angewendete Methode sp�rlich.

20 Hannah Arendt �ußerte in einer ihrer seltenen Anmerkungen zu Wittgenstein dieMeinung, er sei „in seinen fr�hen Gedankenexperimenten der Auffassung, dasdenkende Ich kçnne am Ende ,bloßer Aberglaube sein‘“ (Arendt 1998, 264).

21 Vgl. etwa die Sammlung philosophischer Gedankenexperimente mit dem Titel„Wittgenstein’s Beetle“.

22 S. den n�chsten Abschnitt.23 Darin stimmt er mit dem f�r die analytische Tradition einflussreicheren Carnap

�berein, der interne und externe Fragen unterscheidet, sich damit aber gegenQuine wirkungsgeschichtlich nicht durchgesetzt hat.

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12. Um die Frage konkreter anzugehen, sei ein besonderes Gedan-kenexperiment Wittgensteins n�her untersucht. In PU 80 skizziert er eineSituation, die an diejenigen Putnams zu erinnern scheint, weil sie vçlligunrealistisch wirkt: Ein Sessel verschwindet ohne erkennbare Ursacheund erscheint wieder:

Ich sage: „Dort steht ein Sessel“. Wie, wenn ich hingehe und ihn holen will,und er entschwindet plçtzlich meinem Blick? —

„Also war es kein Sessel, sondern irgend eine T�uschung.“ —Aber in ein paar Sekunden sehen wir ihn wieder und kçnnen ihn an-

greifen, etc. —„Also war der Sessel doch da und sein Verschwinden war irgend eine

T�uschung.“ —Aber nimm an, nach einer Zeit verschwindet er wieder, – oder scheint zu

verschwinden. Was sollen wir nun sagen? Hast du f�r solche F�lle Regelnbereit, – die sagen, ob man so etwas noch „Sessel“ nennen darf ? Aber gehensie uns beim Gebrauch des Wortes „Sessel“ ab; und sollen wir sagen, daß wirmit diesem Wort eigentlich keine Bedeutung verbinden, da wir nicht f�r alleMçglichkeiten seiner Anwendung mit Regeln ausger�stet sind? (PU 80)24

13. Zun�chst f�llt auf, dass Wittgenstein bei aller Skurrilit�t der Be-schreibung eine Situation entwirft, die spezifisch und insofern als Aus-schnitt unserer Erfahrung25 artikulierbar, also „denkbar“ (wenn auchnicht technisch realisierbar) ist. Er spricht nicht von der Erfahrung ins-gesamt, sondern ver�ndert in seiner Fiktion ein St�ck unserer Erfahrung.In diesem Sinne ist Wittgensteins Vorgehen demjenigen Putnams ent-gegengesetzt : Putnam arbeitet auf eine bestimmte Deutung unserer ge-samten Erfahrung hin, die in all ihren Erscheinungsformen gleichbleibt,w�hrend Wittgenstein unsere Erfahrung in seinem Beispiel in spezifi-schen Punkten auf �berraschende Weise ver�ndert.

24 Zur Verdeutlichung des Perspektivenwechsels ist hier nach den langen Gedan-kenstrichen jeweils ein Zeilenumbruch eingef�gt worden. Dieser Wechsel derPerspektive geschieht hier, anders als bei Putnam, innerhalb unserer Erfahrung:Wir erleben Geschehnisse, die uns an unseren Begriffen zweifeln lassen undversuchen nun, f�r diese ungewohnte Erfahrung die richtigen Worte zu finden.Bei Putnam gibt es umgekehrt Worte, zu denen wir keine entsprechende Er-fahrung dingfest machen kçnnen.

25 Betrachtungen von einem „absoluten“, von unserer Erfahrung unabh�ngigenStandpunkt, und damit verbundene Fragen zu Realismus, Idealismus oder Anti-Realismus, gibt es beim sp�ten Wittgenstein nicht. Dummetts „Anti-Realismus“,mit dem er sich auf Wittgenstein beruft, ist insofern eine ungl�ckliche Verge-genst�ndlichung und „Metaphysisierung“ von ablehnenden BemerkungenWittgensteins.

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Weiterhin ist das Ziel des Gedankenexperiments jeweils ganz ver-schieden: Putnam mçchte eine bestimmte Bedeutungstheorie bzw. einebestimmte Gesamtdeutung unserer Erfahrung pr�fen bzw. widerlegen; esgeht ihm um die Frage, welche Art von Bedeutung unsere Wçrter ins-gesamt haben, indem er das Vorhandensein bestimmter Fakten (abernicht Wortgebrauchsweisen) untersucht, w�hrend Wittgenstein in seinemBeispiel nur die spezifische Gebrauchsweise des Wortes „Sessel“ unter-sucht (also eine sprachlich-begriffliche Institution, kein empirischesFaktum). Die Reaktion auf das im Gedankenexperiment entwickelteBeispiel lautet bei Wittgenstein: „Was sollen wir dazu sagen?“ Er bemerktdazu weiter, dass unsere Gebrauchsweisen der Wçrter f�r Normalf�lleeingerichtet und an ihnen orientiert sind, so dass wir f�r den Fall, dass wirganz außergewçhnliche und extrem abweichende Erfahrungen machen(die aber spezifisch anzugeben und auszumalen sind), uns neu �berlegenm�ssen, was wir dazu sagen sollen. Die Ausnahmef�lle bekr�ftigen oderwiderlegen bei Wittgenstein gar nichts, sondern sie werfen neue Problemedes Ausdrucks und der Darstellung auf, weil wir auf solche Situationennicht eingerichtet sind. Bei Putnam kommen solche Situationen derNeuorientierung gerade nicht vor, weil f�r die Sprecher in den Situa-tionen alles „ganz normal“ ist und die Merkw�rdigkeiten jeweils un-sichtbar werden. Putnams �berlegungen, die in diese Richtung gehen,sind s�mtlich aus einer Beobachterperspektive und somit von außerhalbder unmittelbaren Sprachverwendung entworfen: Es geht ihm nichtdarum zu untersuchen, wie sich ein solches Gehirn im Tank ausdr�ckenw�rde, denn Putnam setzt ja voraus, dass das Gehirn im Tank sich„vollkommen normal“ ausdr�cken und keinerlei Problembewußtseinentwickeln w�rde. Insofern ist Putnams Gedankenexperiment f�r Witt-genstein leerlaufend, weil es an keiner Stelle den tats�chlichen Sprach-gebrauch oder die konkrete empirische Situation spezifisch ver�ndert,w�hrend Putnam mit der spezifischen, vereinzelten VorgehensweiseWittgensteins seinerseits nichts anfangen kann, weil es ihm um dieStruktur der gesamten Erfahrung geht. In diesem Sinne ist Putnam mitKant vergleichbar, der auch die Bedingung der Mçglichkeit f�r Erfahrung�berhaupt untersucht, nicht nur die, wenn auch exemplarisch gemeinte,Erfahrung etwa von Sesseln.26

26 Daher ist Wittgenstein in dieser Hinsicht ganz unkantisch. Zudem zeigt sichPutnams philosophische Grundhaltung als derjenigen Wittgensteins entgegen-gesetzt (dem widersprechen nicht die relativ ausgedehnten Versuche Putnams, vor

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14. Wittgensteins Gedankenexperimente sind daher einerseits „em-pirischer“ als die Putnams und der analytischen Philosophie, weil sie sichganz innerhalb unseres Rahmens der Beschreibung empirischer Vorg�ngebewegen und keine „transzendentalen“, auf die Gesamtheit der Erfahrungbezogenen Elemente aufweisen, zum anderen sind sie „begrifflicher“, weilsie ganz darauf verzichten, irgendwelche Tatbest�nde beweisen oder wi-derlegen zu wollen. Existenzfragen jeglicher Art, etwa ob wir Gehirne imTank sind oder ob es Qualia gibt etc; spielen bei Wittgenstein keinerleiRolle.27 Die Diskussion solcher Existenzfragen ist aber ein ganz wesent-liches Element der analytischen Gedankenexperimente und vor allem einHauptmotiv daf�r, den Ausdruck „Gedankenexperiment“ zu verwenden:Man betont damit die Analogie zur Entscheidung empirischer Fragendurch Experimente, nur dass im Fall der Philosophie die „Experimente“eben nicht von empirischer, sondern rein gedanklicher Art sein sollen.

15. Wittgenstein fragt im Gegensatz dazu regelm�ßig nur danach, wiewir eine bestimmte reale oder fiktive Situation mit unseren gegenw�rti-gen Wçrtern und Begriffen am ehesten angemessen beschreiben, d. h. erverzichtet konsequent darauf, auf philosophischem Wege irgend etwas zuerkl�ren oder irgendwelche Tatsachen zu etablieren. Das Medium, in demWittgenstein (mit seinen „Gedankenexperimenten“) arbeitet, bildetweder die Erfahrung mit ihren Tatsachen noch das Reich der abstraktenGedanken und apriorischen Erkenntnisse, sondern die Sprache mit ihrenkomplexen Verwendungsweisen. Er nennt seine Untersuchungen daherauch „grammatische Betrachtungen“.

16. Ein Gegenbeispiel zu dieser Auffassung scheinen diejenigen�berlegungen Wittgensteins zu sein, die aufweisen sollen, dass eineprivate Sprache unmçglich ist und daher nicht existieren kann, da mandies als allgemeine These �ber die Sprache verstehen kann. Dieses Er-

allem in seinen sp�teren Schriften, einzelne Wittgensteinsche Einsichten seinemeigenen Denken anzugliedern).

27 In diesem Sinne stimmt Wittgenstein mit Hume gegen den analytischen Main-ACHTUNGTRENNUNGstream darin �berein, dass man keine Existenz- und Tatsachenfragen durch„reines Denken“ entscheiden kann. Die Verwendung von Gedankenexperimen-ten in der analytischen Philosophie kann man auch als Versuch interpretieren,um diese fundamentale, elementare Klarstellung Humes herumzukommen undwieder Zwischenformen in die Philosophie einzuf�hren. Das Wesen der Meta-physik kann man genau in solchen Zwischenformen sehen. Man kçnnte solcheVersuche, zwischen den Alternativen Tatsachenfeststellung oder Begriffskl�rungvage hindurchgleiten zu wollen, mit Cora Diamond auch als „chickening out“bezeichnen.

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gebnis des in der Literatur, aber nicht von Wittgenstein selbst so ge-nannten „Privatsprachenarguments“ kommt jedoch in dieser Gestalt beiWittgenstein gar nicht vor. Tats�chlich stellt er eine ganze Reihe von�berlegungen an, in denen er anhand fiktiver Situationen Mçglichkeitendurchspielt, eine solche private Sprache, die kein anderer verstehen kann,weil sie sich konsequent nur auf die eigenen Empfindungen bezieht, zubeschreiben. In PU 258 beschreibt er etwa den Fall eines Tagebuchs �berdie Empfindung E. Die Beschreibung dieser Situation entwickelt sichnun aber ganz anders als im Sesselbeispiel, weil Wittgenstein n�mlichwiederholt pr�zisierende Fragen stellt, um die Art der angestrebten pri-vaten Sprache genauer zu bestimmen. Das Resultat dieser Fragen bestehtnun darin, dass sich herausstellt, dass im skizzierten Fall von einemrichtigen oder falschen Verwenden des Zeichens E gar nicht die Rede seinkann, weil kein Kriterium f�r die richtige oder falsche Verwendungvorliegt. Dieser Mangel wiederum ist nicht zuf�llig, sondern ist begriff-lich mit der Privatheit der angestrebten Sprache verbunden: Diese soll jagerade so eingerichtet sein, dass kein anderer sie verstehen, und damitauch ihre korrekte Anwendung �berpr�fen kann. Die �berlegungkommt also zu dem Resultat, dass die skizzierte Situation (�hnlich wieweitere Versuche in dieser Richtung) gar nicht als Beschreibung einer(privaten) Sprache anzusehen ist; weitere �berlegungen, die Wittgensteinanstellt, zeigen auf, dass auch andere Wege zu diesem Ziel nicht erfolg-reich sind, weil immer wieder �hnliche begriffliche Hindernisse auftau-chen. In diesem Sinne zeigt Wittgenstein, dass man eine „private Spra-che“ gar nicht beschreiben kann, dass man also gar nicht pr�zise angebenkann, was eine solche Sprache w�re. Die Wortpr�gung „private Sprache“erweist sich so als in der Luft h�ngend und insofern bedeutungslos : wirkçnnen diesem Ausdruck keinen klaren Sinn, keinen konsequenten undkonsistenten Gebrauch in unserer Sprache geben.

Wittgensteins Vorgehen ist hier wieder demjenigen Putnams geradeentgegengesetzt : Putnam setzt implizit voraus, dass die Annahme, wirkçnnten Gehirne im Tank sein, sinnvoll ist, denn sonst w�rde sich eineDiskussion dar�ber, ob sie wahr oder falsch ist, er�brigen. Wittgensteindagegen setzt seine �berlegungen eine Stufe fr�her an und fragt, ob dieAnnahme einer privaten Sprache �berhaupt sinnvoll gemacht, alsodurchgef�hrt werden kann und kommt zu einem negativen Ergebnis. Indiesem Sinne wird auch der Ausdruck „Gedankenexperiment“ f�r dieseUntersuchungsart Wittgensteins unpassend, denn im strengen Sinnescheitert ja bereits der Versuch, ein solches Gedankenexperiment (die

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Konstruktion einer privaten Sprache) zu beschreiben.28 Es ist nicht so, alsf�hrte Wittgenstein ein Gedankenexperiment mit negativem Ergebnisdurch, sondern das „Ergebnis“ seiner grammatischen Betrachtung bestehtdarin, dass es uns gar nicht erst gelingt, die vage Intuition in eine kon-krete Situationsbeschreibung zu �berf�hren. Wenn man hier von „Ex-periment“ sprechen wollte, kçnnte es hçchstens darin bestehen, dass mandas Experiment anstellt, ob man eine bestimmte Situation �berhauptbeschreiben kann.29 Dies w�re ein Experiment, das die Beschreibungs-f�higkeit betrifft und nicht irgendeine „Realit�t“.

Man kçnnte nun mit Wittgensteins Einsicht auch Putnams Be-schreibung auf den Verdacht hin pr�fen, dass sie streng genommen in-koh�rent und insofern unsinnig ist, so dass die Annahme, wir seienGehirne im Tank, auf �hnliche Weise wie die Annahme einer privatenSprache nicht falsch, sondern unsinnig w�re. Eine solche „Deutung“ h�tteallerdings zur Folge, dass man Putnams Vorgehen ganz anders auffassenund darstellen m�sste.

IV. Wittgenstein �ber den Ausdruck „Gedankenexperiment“und seine Versuchungen

21. Wittgensteins „grammatische Betrachtungen“ sind also, wie gesehen,methodisch den „Gedankenexperimenten“ der neueren analytischenPhilosophie gerade entgegengesetzt. Dazu passt, dass Wittgenstein selbstsein methodisches Vorgehen wiederholt gegen�ber der (�lteren) Rede von„Gedankenexperimenten“ abgrenzt. Solche kl�renden Abgrenzungen sinddas haupts�chliche Ziel der verstreuten Bemerkungen, in denen Witt-

28 Man kçnnte hier das Wort „Gedankenversuch“ oder „Gedankenexperiment“ soverstehen, dass man zu einem vorgegebenen Terminus der philosophischenTradition versucht, eine konkrete Situation, in der er tats�chlich angewendetwerden kann, zu entwerfen und zu beschreiben. Solche Versuche w�ren dannArbeiten daran, den Sinn von Ausdr�cken zu �berpr�fen. Passender w�re hierjedoch ein Ausdruck wie „Beschreibungsversuch“, w�hrend die Rede von „Ex-periment“ schon voraussetzt, dass wir es mit sinnvollen Ausdr�cken zu tunhaben. Wittgensteins ber�hmter K�fer, der sich als funktionslos erweist (PU293), ist insofern strukturell mit Punams leerlaufenden Szenarien zu vergleichen.Eine ausf�hrlichere Darstellung der Problematik der „privaten Sprache“ findetsich in Kienzler 2007, Kapitel 5.

29 Der Fall ist �hnlich dem einer naturwissenschaftlichen Experimentbeschreibung,bei deren Umsetzungsversuch man ihre Unrealisierbarkeit bemerkt (etwa weilman die Mçglichkeit eines Perpetuum mobile implizit vorausgesetzt hat).

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genstein zwar nur bedingt auf Gedankenexperimente, daf�r aber wie-derholt auf den Ausdruck „Gedankenexperiment“ eingeht.30 Er erkenntbeispielsweise kein einziges philosophisches Gedankenexperiment an undbemerkt wiederholt, dass es etwas Derartiges nicht gibt, es handele sichum eine „grammatische Fiktion“, eine Vorspiegelung, die aus einemMissverstehen der Sprache und der Philosophie entspringt.31 Wittgen-steins Hauptverdacht gegen�ber „Gedankenexperimenten“ stimmt mitseiner Diagnose der Hauptursache philosophischer Unklarheiten �berein:Es handelt sich dabei um die Vermengung empirischer und begrifflicherFragen, sowie darum, dass man sachliche Fragen mit Fragen der Dar-stellungsweise verwechselt. Diese Verwechslungen kçnnen jedoch in un-terschiedlichen Formen auftreten und insofern sind die genauen Dia-gnosen auch unterschiedlich. Insgesamt zeigen Wittgensteins verstreute

30 Wittgensteins Stellung zu „Gedankenexperimenten“ behandeln auch Kroß 2004und Griesecke/Kogge 2005. K�hne 2005, 218– 220 erw�hnt zwar Wittgenstein,findet aber keinen produktiven Zugang. Kroß betont, dass f�r WittgensteinGedankenexperimente definitiv keine Experimente sind (133), und er bemerkttreffend: „Die ,Experimente‘, die Wittgenstein […] ersinnt, sind beeindruckendeBelege f�r seine Erfindungsgabe.“ (134) Insgesamt bleibt seine Darstellung je-doch relativ textfern und �hnlich wie Fuhrmann 2001 an der Frage des Ver-h�ltnisses von Mçglichkeit und Wirklichkeit (139) orientiert.

Griesecke/Kogge versuchen demgegen�ber bei Wittgenstein einen positivenBegriff vom Gedankenexperiment aufzuzeigen, indem sie entsprechend einem„neuen Experimentalismus“ ein „experimentelles Denken“ zu fassen versuchen,das sie als „materiales Handeln“ begreifen (45). Dabei deuten sie zum einenWittgensteins „grammatische Betrachtungen […] als Paradigma f�r experimen-telles Denken“ (46; erneut 62), indem sie die Bemerkung zu Mach (s.u.) um-gekehrt lesen. Vor allem aber glauben sie eine Entwicklung in WittgensteinsAuffassung zu entdecken, die weiter unten zu diskutieren sein wird. Der Fest-stellung, dass Wittgenstein auf immer wieder �berraschende Weise Beobach-tungen zusammenstellt und dadurch fruchtbare „Konstellationen kreiert“ (69),ist nur zuzustimmen; Wittgenstein selbst spricht davon, dass er durch neueBeispiele das von einseitiger Di�t verformte Denken der Philosophen erweiternwill. Dadurch wird jedoch noch keine Korrektur an Wittgensteins methodischerTrennung von Empirischem und Begrifflichem erforderlich; immerhin ist derHinweis (u. a. mit Fleck und Kuhn, 66) berechtigt, dass der Begriff des Expe-riments um einiges komplexer ist als in Wittgensteins Bemerkungen, die esschlicht mit dem Empirischen gleichzusetzen scheinen. Dies ist aber eine Kor-rektur an Wittgensteins Gebrauchsweise von „Experiment“, nicht an seinerGrundunterscheidung und seinen Ausf�hrungen zur nicht-empirischen Naturseiner philosophischen Untersuchungen.

31 Leider hat sich Wittgenstein nie zu Gedankenexperimenten in der Physik ge-�ußert (einige �berlegungen dazu und zum Begriff der „Unvollst�ndigkeit derQuantenmechanik“ in Kienzler 2002).

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Bemerkungen zu „Gedankenexperiment“ jedoch ein hohes Maß an me-thodischer Geradlinigkeit und Klarheit.

Bekanntlich hat Ernst Mach den Ausdruck „Gedankenexperiment“ inseinem Buch Erkenntnis und Irrtum (1905, es beruht auf seiner erstenWiener Vorlesung von 1895/96 mit einer Teilverçffentlichung 1897) indie philosophische Sprache eingef�hrt.32 Der systematische Ort des Ab-schnitts „�ber Gedankenexperimente“ liegt in Machs „Psychologie derForschung“ nach „Empfindung, Anschauung, Phantasie“ sowie „Anpas-sung der Gedanken an die Tatsachen und aneinander“ und vor „dasphysische Experiment und dessen Leitmotive“. Das heißt, f�r Machfolgen Gedankenexperimente auf individuelle, mehr oder weniger ge-ordnete Gedanken und Vorstellungen, und sie gehen den wirklichenExperimenten und der wissenschaftlichen Forschung voraus.33 Damitwird ihnen schon hier eine eigent�mliche Zwischenstellung angewiesen,die ihnen bis heute anhaftet:

Das physische Experiment haben wir schon als die nat�rliche Folge desGedankenexperiments kennen gelernt, welche �berall da eintritt, wo eineEntscheidung durch ersteres zu schwierig, oder zu unvollst�ndig, oder un-mçglich ist. (Mach 1991, 201)

Auffassungen wie diese sind von Zeitgenossen wie Duhem und Cassirerheftig kritisiert worden, die Mach die Auffassung zuschrieben, er wollereale Experimente durch vorgestellte einfach ersetzen.

Mach bringt jedoch in seinem Kapitel auch eine ganze Reihe vonBeobachtungen unter, die mit dem erwachenden Forschungsprozessnichts zu tun haben, sondern viel eher auf grunds�tzliches Umdenken

32 Diese Pr�gung scheint in der Luft gelegen zu haben, denn bei verschiedenenZeitgenossen Machs tauchen ganz �hnliche Wendungen auf, und insbesonderewird der Ausdruck von Anfang an so behandelt, als sei er immer schon dagewesen(eine Hauptanregung liegt in Mills Begr�ndung der Geometrie durch „Experi-mente […] mit den Figuren in unserem Geiste“ in seiner Logik, II, 6, § 5, 280).Der Streit betrifft die Frage, ob es Derartiges wirklich gibt, aber nie das Ver-st�ndnis des Terminus selbst. Eine Darstellung der fr�hen Terminusgeschichtemuss aber einer anderen Gelegenheit vorbehalten bleiben.

33 Die von Mach angelegte Systematik ist allerdings auch wieder nicht zu ernst zunehmen, denn als paradigmatische Beispiele f�hrt er Galilei und Newton an, diemit der Anf�ngerphase zwischen kindlich-laienhafter, versuchender �berlegungnoch vor dem �bergang zum wirklichen Experiment nichts zu tun haben,sondern viel eher mit Phasen radikaler Neuorientierung, die auf einem kom-plexen Zusammenspiel von tats�chlich ausgef�hrten realen Experimenten undintensiver gedanklicher Arbeit beruht und in Machs Systematik eigentlich ansEnde gehçrte.

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und Neuorientieren innerhalb von wissenschaftlichen Revolutionen zutun haben, mit Situationen also, in denen ber�hmte Naturwissenschaftlerphilosophisch an den Grundbegriffen ihres Fachs gearbeitet haben. DieseBeispiele, die Wittgenstein „grammatische Betrachtungen“ nennen wird,machen die interessantesten Passagen des Kapitels aus.34

22. Die fr�heste Bemerkung Wittgensteins zum Thema ist auch dieeinzige, die (noch) davon spricht, als handele es sich um eine zu erw�-gende Mçglichkeit. Im Rahmen seiner �berlegungen zur Struktur desGesichtsraums entwirft Wittgenstein um 1929/30 eine ganze Reihe teilsbizarrer Fiktionen. (Keine davon nennt er „Gedankenexperiment“, ob-wohl sie heute h�ufig so angesprochen werden.) Eine davon beschreibt erso:

Angenommen alle Teile meines Kçrpers kçnnten entfernt werden bis aufeinen Augapfel; dieser w�rde unbeweglich irgendwo befestigt und behieltedie F�higkeit zu sehen. Wie w�rde uns die Welt erscheinen? (Ms 106, 128)35

Anhand solcher �berlegungen versucht Wittgenstein philosophische bzw.ph�nomenologische Fragen wie die folgende zu beantworten:

Heißt das alles nun aber, daß das Gesichtsfeld doch wesentlich ein Subjektenth�lt oder voraussetzt? (Ms 106, 132)

Darauf antwortet er sich selbst mit einer Gegenfrage, dass es hier umGeometrie, also Apriorisches, Begriffliches, nicht um Experimente undInformationsgewinn geht:

Oder ist es nicht vielmehr so, daß jene Versuche mir nur rein geometrischeAufschl�sse geben? (Ms 106, 132)

In dieser Bemerkung scheint das Wort „Versuch“ �hnlich wie „Experi-ment“ verwendet zu werden, als wolle Wittgenstein mit solchen Fiktionentats�chlich „Gedankenexperimente“ vornehmen. Er lehnt einen solchen„experimentellen“ Ansatz bzw. ein derartiges Verst�ndnis seiner Unter-suchungen aber doch ab:

Es ist nicht notwendig, ausschaltende Experimente (etwa Gedankenexperi-mente) zu machen. Der Gesichtsraum, so wie er ist, hat eine selbst�ndigeRealit�t. Er selbst enth�lt kein Subjekt. Er ist autonom. Er l�ßt sich un-mittelbar beschreiben (aber wir sind weit davon entfernt, eine Ausdrucks-weise zu kennen, die ihn beschreibt). (Ms 107, 1)

34 Auf eine gehe ich in Kienzler 2005a, 19 ein.35 Wittgensteins Orthographie und Zeichensetzung in seinen Manuskripten ist

durchgehend normalisiert, entsprechend seiner eigenen Praxis bei der Textbear-beitung.

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Wittgenstein formuliert hier seine Grundeinsicht, dass er an Problemender Ausdrucksweise f�r die Ph�nomene des Gesichtsraumes arbeitet, unddass in einer solchen Untersuchung Variationen und Fiktionen hilfreichsind, dass Experimente irgendwelcher Art hier jedoch keine Stelle haben,unter anderem deshalb, weil sie eine funktionierende Ausdrucksweisenicht schaffen kçnnen, sondern sie bereits voraussetzen m�ssen. Diesdr�ckt Wittgenstein so aus, dass die Beschreibungen „unmittelbar“, alsonicht durch Experimente vermittelt geschehen kçnnen und m�ssen.Immerhin ist er in dieser Phase der Versuchung, etwas wie Gedanken-experimente anzunehmen, so nah wie nie zuvor oder danach.36 Bereitskurze Zeit sp�ter, in Bemerkungen gegen Ende von Ms 107, die in dasBig Typescript aufgenommen wurden, behandelt Wittgenstein die Frageviel distanzierter.

23. Kapitel 95 des Big Typescript tr�gt die (jetzt rhetorisch gemeinte)�berschrift: „Kann man in die Eigenschaften des Gesichtsraumes tiefereindringen? Etwa durch Experimente?“ (BT 443) Wittgenstein stelltohne Zçgern fest :

Die Geometrie unseres Gesichtsraumes ist uns gegeben, d.h. es bedarf keinerUntersuchung bis jetzt verborgener Tatsachen, um sie zu finden. Die Un-tersuchung ist keine, im Sinn einer physikalischen oder psychologischenUntersuchung. Und doch kann man sagen, wir kennen diese Geometrienoch nicht. Diese Geometrie ist Grammatik und die Untersuchung einegrammatische Untersuchung. […]

Niemand kann uns unsern Gesichtsraum n�her kennen lehren. Aber wirkçnnen seine sprachliche Darstellung �bersehen lernen. Unterscheide diegeometrische Untersuchung von der Untersuchung der Vorg�nge im Ge-sichtsraum. (BT 444)

Wittgenstein stellt vollkommen klar, dass er nur an einer „grammatischenUntersuchung“ interessiert ist. Aus dem gleichen Entstehungskontextstammt auch seine bekannteste Bemerkung zum Thema:

Was Mach ein Gedankenexperiment nennt, ist nat�rlich gar kein Experi-ment. Im Grunde ist es eine grammatische Betrachtung. (BT 441/PB 52/Ms107, 284)

Diese lakonische und zun�chst etwas r�tselhafte Bemerkung ist oft alsschlichte Kritik an Mach missverstanden worden. Tats�chlich bezieht sichdie Bemerkung unmittelbar weniger auf Mach als vielmehr auf Witt-gensteins eigene Untersuchungen, etwa zum Gesichtsraum und zur Frage

36 Diese „ph�nomenologische Phase“ habe ich in Kienzler 1997, 105– 142, aus-f�hrlich dargestellt.

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dort anzusiedelnder Experimente.37 Der Sache nach merkt Wittgensteinhier an, dass er dasselbe tut wie Mach, indem er eine „grammatischeUntersuchung“ anstellt, nur mit dem Unterschied, dass sich Mach �berden Status seiner Untersuchung nicht im Klaren war.38 Insbesonderekritisiert Wittgenstein hier die Pr�gung „Gedankenexperiment“ als einertiefsitzenden philosophischen Konfusion entsprungen. F�r ihn ist MachsBescheidenheit, mit der er es ablehnt, „im geringsten Philosoph sein zuwollen“ (Mach 1991, V), tats�chlich ein gravierender und folgenschwererFehler, weil Mach dadurch den kategorialen Unterschied zwischen na-turwissenschaftlichen und philosophischen Untersuchungen zu einembloßen Gradunterschied umdeutet. Diese Nivellierung durchzieht kon-sequent Machs gesamte Darstellung (so wie sp�ter bei Quine). Das vonMach etwa angesprochene Verfahren der „Variation der Tatsachen inGedanken“ (Mach 1991, 188) hat methodisch mit Naturforschung oderExperimenten nichts zu tun und ist durch und durch als philosophisch zubezeichnen. Mach spricht weiter davon, dass wir auf diesem Wege „eineGedankenerfahrung“ (Mach 1991, 186) machen und vermischt damitauch verbal beide Sph�ren. Unmittelbar dagegen formuliert Wittgen-stein:

Die Philosophen, die glauben, daß man im Denken die Erfahrung gleichsamausdehnen kann, sollten daran denken, daß man durchs Telefon die Rede,aber nicht die Masern �bertragen kann. (PB 95/Zettel 256)

Wittgenstein wendet sich damit in aller Klarheit gegen die Auffassung,die der Redeweise von „Gedankenexperimenten“ zugrunde zu liegenscheint, n�mlich dass man in Gedanken eben doch irgendwie �ber die

37 Wittgenstein bezieht sich in BT, Kapitel 98 „Der Gesichtsraum mit einemebenen Bild verglichen“ auch explizit auf Machs ber�hmte Zeichnung des Ge-sichtsfeldes im Anfangskapitel der Analyse der Empfindungen. Er schreibt jetztganz kritisch: „Wer aufgefordert w�rde, das Gesichtsfeld zu malen und es imErnst versuchte, w�rde bald sehen, dass es unmçglich ist.“ (BT 465) Ernst Machschien diese Unmçglichkeit (wie auch sonst genau jene kategorialen Unter-schiede, auf die es Wittgenstein gerade ankam) nicht zu sp�ren, und Wittgen-stein nennt das Bild, das Mach vom Gesichtsfeld entworfen hat, „eines derklarsten Beispiele der Verwechslung zwischen physikalischer und ph�nomeno-logischer Sprache“ (BT 467). Dabei wertet Wittgenstein klare Fehler entschiedenpositiv, verglichen mit unklaren Vermengungen.

38 Diesen positiven Bezug auf Mach betonen auch Griesecke/Kogge 2005, 45.

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bestehende Erfahrung hinausgehen kçnne. Es gibt aber keine „Gedan-kenerfahrung“ in diesem Sinn.39

24. Deutliche Abgrenzungen nimmt Wittgenstein auch in anderenKontexten vor. Um 1933 behandelt er etwa Fragen der „Geometrie derFarben“. Dabei skizziert er nachdr�cklich eine irrt�mliche, weil physi-kalische Deutung der Farbkomplementarit�t :

Man mçchte immer denken, Gr�n mische sich mit Rot nicht, wie �l nichtmit Wasser, oder wie Wasser an einer çligen Fl�che nicht angreift. Fernermeint man, man brauche das Mischen von Rot und Gr�n gar nicht wirklichzu versuchen, sondern es g�be hier ein Gedankenexperiment und das miß-linge! (W�hrend es mit Rot und Gelb gelingt.) Es ist wirklich, als ob dieFarben Gr�n und Gelb sich mischten wie �l mit etwas �ligem, und Gr�nund Rot nicht, als griffe das Rot am Gr�n nicht an, als rinne es ab, wieQuecksilber von einer Eisenplatte. Aber ist es nun wirklich so? (Ts 219, 13)

In einer weiteren Bemerkung des Big Typescript zeigt Wittgenstein, wieman die harmlose T�tigkeit, sich etwas zu �berlegen, philosophischmissdeuten und schließlich als Gedankenexperiment auffassen kann:

Sich etwas �berlegen. Ich �berlege, ob ich jetzt ins Kino gehen soll.40 Ichmache mir ein Bild der Zeiteinteilung des Abends. Aber wozu tue ich das?Ich mache ja kein „Gedankenexperiment“! (111, 138/BT 227)41

Auch hier will Wittgenstein keineswegs etwas leugnen, sondern er erin-nert nur daran, dass eine in gewissem Sinne naheliegende Deutung ge-

39 Die Erfahrung, die man mit dem Denken gewinnen und darin entwickeln kann(n�mlich erfolgreich Gedankeng�nge anzustellen; vgl. Heideggers Aus der Er-fahrung des Denkens), ist hiervon begrifflich zu trennen, ebenso wie die „Erfah-renheit“ im Experimentieren, die Fleck und Kuhn betonen (vgl. dazu Griesecke/Kogge 2005, 66). Auch die sp�tere Bemerkung PU 81, die die „pneumatischeAuffassung des Denkens“ ablehnt, und in Varianten schon auf das BT zur�ck-geht, betont diesen zentralen Punkt (vgl. dazu Kienzler 2006, 26 – 30).

40 Wittgenstein ist gerne und h�ufig ins Kino gegangen.41 In einer wenig sp�teren Variante dieser Bemerkung sind die persçnlichen An-

kl�nge getilgt. Sie lautet: „Wir �berlegen uns Handlungen, ehe wir sie ausf�hren.Wir machen uns Bilder von ihnen; aber wozu? Es gibt doch kein „Gedanken-experiment“!“ (PG 109)

Auch die traditionelle Auffassung der „Normativit�t“ der Logik, in dem Sinne,dass die Logik danach einzurichten ist, dass man ihr folgend die Wahrheit findet(vgl. dazu Kienzler 1997, 63 – 76), spielt hier eine problematische Rolle. Witt-genstein notiert : „Hier kommen wir auch zur Frage: inwieweit hilft Denken dieWahrheit finden? (Johnson)/ „Ich male mir das aus“/ Das Denken faßt in ge-wissem Sinne nur zusammen.“ (111, 138f.) Johnson war 1912 in CambridgeWittgensteins erster Betreuer f�r Logik. Beide haben die Diskussionen �berLogik bald abgebrochen, aber viel �ber Musik gesprochen.

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nauer besehen unsinnig ist, oder, anders ausgedr�ckt, zu einer Hyposta-sierung f�hrt, die philosophische Probleme erst erzeugt.

25. In einer weiteren Bemerkung der Philosophischen Grammatikscheint Wittgenstein erneut thematisch zu Gedankenexperimenten Stel-lung zu nehmen. Den Kontext bildet hier die Darlegung der Grammatikdes Wortes „Denken“, eine Untersuchung, die man auch irref�hrend als„Erforschung des Denkens selbst“ bezeichnen kçnnte. Wittgenstein un-tersucht hier eine Quelle, die dazu f�hren kann, die Rede von „Gedan-kenexperimenten“ einf�hren zu wollen. Diese Versuchung bestehthaupts�chlich in der Neigung zu glauben, dass Gedanken die „Realit�t“in irgendeiner Weise enthalten (oder „konstitutiv auf Realit�t bezogen“sind), wodurch der Schritt zum Gedankenexperiment als der philoso-phischen Bewegung innerhalb dieser Realit�t der Gedanken nahegelegtwird. Ein Missverstehen der Sprachform wird als etwas „Experimentelles“gedeutet:

Der Gedanke kommt uns geheimnisvoll vor. Aber nicht w�hrend wir den-ken. Auch meinen wir nicht psychologisch merkw�rdig. Wir sehen in ihmnicht nur eine besondere Art, Bilder und Zeichen herzustellen; sondern esscheint uns, als h�tten wir in ihm die Realit�t eingefangen.

Er scheint uns ein seltsamer Vorgang nicht wenn wir ihn ansehen ;sondern wenn wir uns von der Sprache f�hren lassen, wenn wir ansehen, waswir �ber ihn sagen.

Dieses Geheimnis verlegen wir in die Natur des Vorgangs. (Wir deutendas R�tselhafte, das durch ein Mißverstehen unserer Sprachform hervorge-bracht wird, als das R�tselhafte eines uns unverst�ndlichen Vorgangs.) […]

Ein Gedankenexperiment kommt auf dasselbe hinaus, wie ein Experi-ment, welches man, statt es auszuf�hren, aufzeichnet, malt oder beschreibt.Und das Ergebnis des Gedankenexperiments ist dann das erdichtete Ergebnisdes erdichteten Experiments. (PG 154 f.)42

Wenn man diesen Gedankengang ernsthaft verfolgt, wird deutlich, dassder „Begriff“ des Gedankenexperiments im Sinne eines in Gedankendurchgef�hrten Experiments eine Absurdit�t darstellt, weil man realeExperimente nat�rlich nicht einfach durch Vorstellungen von Experi-menten ersetzen kann. Diese Auffassung ist gewissermaßen die grçbsteArt, den Ausdruck aufzufassen, und insofern auch die harmloseste, weil

42 Im gedruckten Text steht nach ,Gedankenexperiment‘ ein Komma, das gesetztwurde, als der Satz noch lautete: „Ein Gedankenexperiment, das kommt aufdasselbe hinaus…“, also bevor Wittgenstein das „das“ strich, aber (ebenso wie derHerausgeber) vergaß, das Komma zu tilgen.

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sie so weniger Anlaß zu philosophischer Verwirrung gibt als subtilereVarianten.

26. In Ms 115, 226 (BrB 194)43 entwickelt Wittgenstein die aus-f�hrlichste Erçrterung zum Ausdruck „Gedankenexperiment“. Der the-matische Kontext ist die Erçrterung, wie man das Ph�nomen des Wie-dererkennens eines Gegenstandes richtig beschreibt:

Angenommen, das Spiel bestehe darin, daß B dem A sagt, ob er einenGegenstand erkennt; aber nicht, was der Gegenstand sei. Nach einem Hy-grometer, das er nicht erkennt, zeigt A ihm einen gewçhnlichen Bleistift. Bsagt, er erkennt ihn. – Was geschah da, als er den Bleistift erkannte? Mußteer zu sich selbst sagen – obwohl er es dem A nicht sagte – dies sei einBleistift? Warum sollte das geschehen sein m�ssen? – Als was also erkannteer das Ding? (BrB 193)

Nach einigen Zwischenschritten �berlegt Wittgenstein weiter:

Sollen wir nun sagen, daß B, als A ihm den Bleistift zeigte nach demHygrometer, das er noch nie gesehen hatte, beim Anblick des Bleistifts dasGef�hl der Vertrautheit hatte? Stellen wir uns vor, wie es wirklich geschehensein mag. Er sah den Bleistift, l�chelte, f�hlte Erleichterung, und sagte sichinnerlich das Wort, oder sprach es aus.44 (BrB 193 f.)

Anhand dieser Beschreibung fragt Wittgenstein nun:

Aber wie ist es : haben wir hier ein ,Gedankenexperiment‘ gemacht? (BrB194)

Wittgenstein stellt zun�chst n�chtern fest, dass die eben gegebene Be-schreibung in keiner Weise auf einem „Versuch“ beruht; allerdings inGestalt einer Frage:

Wie wissen wir denn, daß es sich so verh�lt, bloß dadurch, daß wir es uns sovorstellen? Was ist das f�r eine seltsame Weise, festzustellen, wie sich eineSache verh�lt? (Ebd.)45

In einem Exkurs, der sich nicht auf seine eigene Vorgehensweise bezieht,greift Wittgenstein nun die Rede von einem Versuch zun�chst auf:46

43 Dazu gibt es in Ms 152, 17 f. eine Vorstufe.44 Am Rand tr�gt dieses Beispiel die „Sprachspielnummer“ (95).45 In einer Zwischenpassage lehnt er auch die Introspektion als mçgliche Quelle ab.46 Griesecke/Kogge 2005, 53 und 72, interpretieren diese Passage als Beleg f�r eine

�nderung in Wittgensteins Auffassung von Gedankenexperiment. Dabei �ber-sehen sie jedoch den Status der Ausf�hrungen als Exkurs, der etwas expliziert, wasmit Wittgensteins eigener Methode gerade nichts zu tun hat.

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Nun kann man ja wirklich ein Experiment machen, dadurch, daß man sichetwas vorstellt. Nicht ein Experiment in der Vorstellung, das ist, das bloßeVorstellungsbild eines Experiments. (Ein Laboratorium kann man nichtdadurch �berfl�ssig machen, daß man sich Apparate und Versuche einfachvorstellt.) Wenn mich zum Beispiel jemand fragt, „Wie begr�ßt Du den N.,wie gehst Du auf ihn zu?“, so kann ich, um antworten zu kçnnen, mirvorstellen, N. trete herein und ich mache etwa dabei die Bewegung desBegr�ßens. Und dies ist ein Versuch. Er mag mich t�uschen, und waswirklich in so einem Fall geschieht, mag etwas anderes sein; aber die Er-fahrung lehrt vielleicht, daß wirklich meist das geschieht, was so ein Versuchzeigt. H�tte also die Frage gelautet –, „L�chelt ein Mensch in so einem Fall?“,so h�tte ich allerdings den Versuch durch ein Vorstellen machen kçnnen.[…] Aber kçnnte es nicht vorkommen, daß mir ein Augenzeuge sagte: „Ichversichere Dir, Du hast in diesen F�llen nie gel�chelt“; und ist es nichtmçglich, daß ich ihm glaubte? (BrB 194 f.)

Ein Versuch der beschriebenen Art ist tats�chlich mçglich, um sich etwasklarzumachen (�hnlich wie durch ein Rollenspiel), aber dieser Versuchselbst entscheidet die Frage gar nicht, sondern das Ergebnis muss sei-nerseits gegen�ber der Erfahrung, an der auch andere beteiligt sind,�berpr�ft werden. Insofern kann ein solcher Versuch wohl als heuristi-sches Werkzeug zur Besinnung dienen, er reicht aber nicht zur Begr�n-dung von Resultaten aus; insofern fehlt hier die gerade Kontrollinstanz,die ein zentrales Element tats�chlicher Experimente darstellt.

Außerdem beschreibt diese Nebenbemerkung gerade nicht die Me-thode von Wittgensteins eigener philosophischer Untersuchung, wie ergleich anschließend klarstellt :

Aber um einen solchen Versuch hatte es sich in (95) nicht gehandelt. Denndie Frage war nicht, ob das und das uns bekannte Gef�hl in diesem Falleauftrete oder nicht, sondern ob wir bei seiner Betrachtung ein Gef�hl un-terscheiden, das wir ,Gef�hl der Vertrautheit‘ (oder ,Bekanntheit‘) nennenwollten. Wenn ich also sagte: „Stellen wir uns vor, was in so einem Fallegeschehen kçnnte“, so hieß das: stellen wir uns den Fall einmal vor, ohnevon dem Wort ,Gef�hl der Vertrautheit‘ beeinflußt zu sein, also – wie wirsagen kçnnten – ohne grammatisches Vorurteil. Und wir kçnnten fragen: HastDu nun noch das Bed�rfnis zu sagen: er habe beim Anblick des Bleistifts dasGef�hl der Vertrautheit? (BrB 195)

Wittgenstein will also gerade nicht irgendein Gef�hl oder einen Vorgangerforschen, sondern seine Untersuchung betrifft die sprachliche Darstel-lung bestimmter Wortverwendungen. Seine „grammatische Untersu-chung“ richtet sich vielmehr gegen das „grammatische Vorurteil“. Dievon ihm selbst beschriebene Mçglichkeit, „in der Vorstellung Versucheanzustellen“, ist demgegen�ber gerade keine philosophisch interessante

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Methode, und nicht einmal eine empirische �berpr�fungsmethode,sondern, so kçnnte man sagen, ein Mittel, sich bestimmte konkreteVorg�nge oder Handlungsweisen anschaulich zu vergegenw�rtigen. DerPhilosophie geht es aber gerade nicht um solche (oder irgendwelche)Vorg�nge.47

27. In den Philosophischen Untersuchungen kommt der Ausdruck„Gedankenexperiment“ nicht vor – seltsamerweise jedoch im Register.48

Die entsprechende Passage (PU 265 –267) gehçrt in die Erçrterungeneiner privaten Sprache und formuliert den bereits erçrterten (falschen)Gedanken, dass „die Vorstellung des Ergebnisses eines vorgestellten Ex-periments das Ergebnis eines Experiments ist“. Die Vorstellung einerRechtfertigung ist nicht nur nicht dasselbe wie die Rechtfertigung einerVorstellung, sondern �berhaupt keine Rechtfertigung:

Angenommen, ich wollte die Dimensionierung einer Br�cke, die in meinerVorstellung gebaut wird, dadurch rechtfertigen, daß ich zuerst in der Vor-stellung Zerreißproben mit dem Material der Br�cke mache. Dies w�renat�rlich die Vorstellung von dem, was man die Rechtfertigung der Di-mensionierung einer Br�cke nennt. Aber w�rden wir es auch eine Recht-fertigung der Vorstellung einer Dimensionierung nennen? (PU 267)

28. Eine zentrale Gegen�berstellung in Wittgensteins Sp�tphilosophie istdie Unterscheidung von Rechnung und Experiment; dies stellt eine be-sondere Form der Trennung des Begrifflichen vom Empirischen dar.Rechnungen sind etwas, was man wesentlich auf dem Papier (mit Zei-chen oder „in Gedanken“) macht49 und wo eine Bezugnahme auf Er-fahrung widersinnig w�re, was umgekehrt bei Experimenten (in Witt-gensteins Sinn) gerade die (oder zumindest eine) wesentliche Kompo-nente darstellt. Die Unterscheidung ist auch f�r die Bestimmung derPhilosophie wichtig, weil Wittgenstein die T�tigkeit der Philosophie mitRechnungen vergleicht, d. h. mit der Zusammenstellung von Begriffli-chem, was methodisch „apriori“ genannt werden kann, auch dort, wo esmit „empirisch“ zusammengestelltem Material (also etwa unserer faktisch

47 Allerdings ist die Rede von solchen und �hnlichen Vorg�ngen in der Philosophiedes Geistes ausgesprochen verbreitet.

48 Der Ausdruck findet sich im ansonsten sehr brauchbaren und �bersichtlichenRegister von W. Breidert zur Einzelausgabe von 1978, das in die Werkausgabe(1984) und auch in die Kritisch-genetische Ausgabe (2001) �bernommen wurde.

49 Der Handlungscharakter bedeutet nicht, dass hier Empirisches beteiligt w�re,sondern schließt dies gerade aus, weil es hier f�r das richtige Ergebnis nur auf dieHandlungen, aber auf keinerlei Vorg�nge oder Wirkungen ankommt.

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bestehenden Sprache) vorgenommen wird.50 In den Bemerkungen �ber dieGrundlagen der Mathematik untersucht er ausf�hrlich Tendenzen, dieMathematik als „von etwas handelnd“ aufzufassen und insofern mit einerempirischen Untersuchung zu vergleichen oder ihr nahezur�cken. Erstellt fest : „In der Vorstellung kann ich rechnen, aber nicht experimen-tieren.“ (BGM I, 98)

Ein wichtiger Unterschied liegt hier darin, dass ein Experiment ein�berraschendes Resultat haben kann, w�hrend bei Rechnungen und�berlegungen �berraschungen nicht vorgesehen sind.51

Wittgenstein behandelt nun genau diesen Fall: „Eine �berlegung gibtein �berraschendes Resultat.“ (Ms 118, 73v) Das Auftreten solcher�berraschungen kann dazu verleiten, Rechnungen und �berlegungen(„Denken“) als eine Art von Experiment anzusehen, eben ein „Gedan-kenexperiment“. Wittgenstein macht Ernst mit dieser Mçglichkeit52 undf�hrt fort:

Aber eine �berlegung ist ja nur ein Bild; warum �berrascht es Dich? Odersollte ich sagen: „Mich �berrascht nicht das Bild, sondern der Ausgang desGedankenexperiments“? (Ms 118, 73v)

Wittgenstein geht zun�chst auf diese Deutung ein und spricht auch von„Denkexperiment“:

Wenn das Gedankenexperiment – mit allen Vorkehrungen – so verl�uft,dann nehmen wir seinen Gang zur Regel. Ist er bei dem Gedankenexperi-ment erst einen Weg gegangen, so kann es sein, daß er beim ,�berpr�fen‘

50 Wittgenstein verwendet in seinen begrifflichen Untersuchungen vçllig gleich-berechtigt erfundene Sprachspiele und solche, die tats�chlich vorkommen.

51 Die Selbstverst�ndlichkeit, mit der Wittgenstein von �berraschenden Resultatender Experimente spricht, m�sste noch einmal �berpr�ft werden, weil Experi-mente ja genau so gestaltet werden, dass sie ihre mçglichen Resultate bereits inihrer Beschreibung vorwegnehmen. Klassisch sind hier Experimente, die zwi-schen zwei Theorien entscheiden sollen. �berzeugendere Beispiele von �berra-schungen bilden etwa Datenerhebungen, die quantitativ �berraschen kçnnenoder Expeditionen, auf denen z. B. unbekannte Tiere und Pflanzen entdecktwerden. Man denke hier etwa an Formulierungen wie diese: „Das Wunder in derWissenschaft ist, dass es kein Wunder ist.“ Dabei w�re auch das Verh�ltnis von�berraschung und Wunder genauer zu beleuchten. Zur Frage der �berra-schungen vgl. auch M�hlhçlzer 2002.

52 Hier findet sich ein satirisches Element in Wittgensteins Methodik, indem erdurch ein konsequentes Ernst- bzw. Wçrtlichnehmen einer Konzeption derenUnsinnigkeit aufzeigt. Die gemachte Annahme weist daher nicht darauf hin, dassWittgenstein dar�ber im Zweifel ist, ob sie stimmt oder nicht, sondern sie dr�cktdie Auffassung mçglichst klar aus, um ihre Verfehltheit aufzuzeigen.

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einen anderen Weg geht, und erkl�rt, er habe sich beim ersten geirrt. (Ms118, 75)

Diese �berlegung weist auf, dass die Rede von einem „Gedankenexpe-riment“, trotz ihrer scheinbaren Griffigkeit und �berzeugungskraft,wenn man sie hier ernstnimmt, leerl�uft: Ein Gedankenexperiment kann,wenn man es als einzelnen Vorgang auffasst, kein mathematisches Resultatbegr�nden, sondern muss sich der �berpr�fung stellen und kann beiNichtbestehen als „Irrtum“ ausgeschieden werden. Hier zeigt schon dieRedeweise von „Irrtum“, dass wir uns nicht in der Sph�re der Erfahrung,sondern in der der Rechnung befinden.

Diese �berlegungen sind im �brigen entgegen dem ersten Anscheinkeine abstrusen Spekulationen, sondern gehçren zu Wittgensteins Be-m�hungen, methodische Unklarheiten im modernen Verst�ndnis derMathematik aufzukl�ren, f�r die die Rede von besonderen �berra-schungen eine wichtige Rolle spielt. Er stellt dabei auch einen engenZusammenhang zu Diskussionen um Gçdels Beweise her (in BGM Teil I,Anhang III). In Anhang II (zum �berraschenden) schreibt er:

Hievon verschieden ist aber eine heute herrschende Auffassung, der das�berraschende, das Erstaunliche darum als Wert gilt, weil es zeige, in welcheTiefe die mathematische Untersuchung dringt – wie wir den Wert einesTeleskops daran ermessen kçnnten, daß es uns Dinge zeigt, die wir ohnedieses Instrument nicht h�tten ahnen kçnnen.53 Der Mathematiker sagtgleichsam: „Siehst du, das ist doch wichtig, das h�ttest du ohne mich nichtgewußt.“ So als w�ren durch diese �berlegungen, als durch eine Art hçherenExperiments, erstaunliche, ja die erstaunlichsten Tatsachen ans Licht gefçr-dert worden. (BGM I, Anhang II, 1)

Gegen�ber solchen, im Kern platonischen Auffassungen von „hçherenExperimenten“ (dazu werden auch Gçdels Forschungen gerechnet) be-tont er den konstruktiven Charakter der Mathematik. F�r ihn ist derMathematiker, wie er pointiert formuliert, ein Erfinder, kein Entdecker.54

29. In einer isolierten Aufzeichnung zu Vorlesungen notiert Witt-genstein in einem sonst englischen Manuskript das deutsche Wort „Ge-dankenexperiment“. Er behandelt dort die Thematik, dass wir, sozusagenmit dem geistigen Auge, mathematische Gegebenheiten erkennen kçn-

53 Diese Auffassung findet sich schon bei Frege, der im Vorwort seiner Begriffsschriftseine Logik mit einem Mikroskop vergleicht.

54 Durch ihre Betonung des Handlungscharkters des Experimentellen verwischenGriesecke/Kogge tendenziell diesen zentralen Unterschied. Zu WittgensteinsVerh�ltnis zu Gçdels Resultaten vgl. Kienzler 2008.

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nen, auch ohne einen Beweis zu haben, also unabh�ngig, sozusagen ab-solut, gegen�ber einer bestimmten Beweismethode:

„We seem to recognize mathematical truths by experience before we canprove them.“ (Ms 161, 16)

30. In einer sehr sp�ten Bemerkung greift Wittgenstein die Unterschei-dung von Experiment und Rechnung noch einmal auf. Der Zusam-menhang ist hier die Untersuchung des Aspektsehens:

Der Aspekt leuchtet nur auf, er bleibt nicht stehen. Und das muß einebegriffliche Bemerkung sein, keine psychologische. Der Ausdruck des Sehensdes Aspekts ist der Ausdruck der neuen Wahrnehmung. (Ms 137, 128/LS518)

Solche auf den ersten Blick Fakten und Vorg�nge konstatierenden Be-merkungen stellt Wittgenstein in das richtige Licht, indem er an dieserStelle betont:

Ich mache scheinbar ,Gedankenexperimente‘. Nun, es sind eben keine Ex-perimente. Viel eher Rechnungen. (Ms 137, 128/LS 519)

31. Die Synopse der unterschiedlichen Beispiele, in denen sich Witt-genstein mit ,Gedankenexperimenten‘ auseinandersetzt, zeigen insgesamtalso eine hohe Konstanz der Einsch�tzung: Immer wieder grenzt er seineigenes grammatisches, begriffliches und sprachbeschreibendes Verfahrengegen�ber Tendenzen ab, die in der Philosophie zumindest in Teilen eineempirische, experimentelle55 Untersuchung sehen wollen. Dies gilt glei-chermaßen von Untersuchungen zu Begriffen der Gesichtswahrnehmung,

55 Den Begriff des Experimentellen fasst Wittgenstein dabei so, dass damit derAufbau einer Versuchsanordnung f�r Naturerscheinungen gemeint ist, im Un-terschied zum Entwerfen von Regeln oder Handlungszusammenh�ngen, derenErgebnis wir noch nicht vollst�ndig �bersehen. Das Auftreten von Widerspr�-chen in der Logik gehçrt etwa zum zweiten Fall, wird aber h�ufig als unange-nehme �berraschung derart aufgefasst, als sei man einem schrecklichen Natur-ereignis begegnet. Wittgenstein deutet die Widerspr�che als Symptome f�rschlichte Unklarheit in unseren Regelwerken, die durch Kl�rung dieser Regel-werke zu beheben sind. Dieser Ansatz wurde h�ufig so gedeutet, als nehmeWittgenstein die Widerspr�che in Logik und Mathematik nicht richtig ernst ;tats�chlich weist er darauf hin, dass die „experimentelle“ Deutung dieser Wi-derspr�che eine kategoriale Fehlinterpretation (als „Ereignis“ �hnlich einemphysikalischen Vorgang, etwa einem Experiment, das nicht den gew�nschtenAusgang findet) darstellt. Nicht das logische Schicksal, sondern begrifflicheUnklarheiten waren die Ursache f�r das Scheitern von Freges Versuch, dieArithmetik aus der Logik zu begr�nden.

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zum Begriff bzw. der verzweigten Verwendung des Wortes „Denken“,oder auch „Wiedererkennen“, aber auch in Fragen der Mathematik undschließlich des Aspektsehens. In allen F�llen erweisen sich die angeblichenGedankenexperimente als seltsame Zwitterwesen zwischen Begrifflichemund Empirischem, wobei der Begriff des Experimentes selbst zuweilenzwischen beiden Aspekten schwanken kann.

Die Rede von Gedankenexperimenten in der neueren analytischenPhilosophie kann in ihrem methodischen Status durch einen Vergleichmit Wittgensteins Anwendung scheinbar �hnlicher Methoden (Sprach-spiele, Fiktionen) beleuchtet werden. Die markante Divergenz undKontr�rit�t beider Ans�tze best�tigt sich durch die Beschreibung undAnalyse seiner Bemerkungen zu Tendenzen, das Wort „Gedankenexpe-riment“ anzuwenden. Wittgenstein versucht zwar einerseits eine Auflo-ckerung des philosophischen Instrumentariums, insbesondere durch dieBetrachtung einer Vielzahl realer wie fiktiver Beispiele, verbindet diesaber mit einer strikten methodischen Trennung empirischer und be-grifflicher Fragen. Die Philosophie hat es f�r Wittgenstein nur mit be-grifflichen Fragen zu tun. Allerdings tauchen dabei an verschiedenenStellen Situationen auf, wo die Versuchung naheliegt, von Experimenten,oder auch Gedankenexperimenten zu sprechen. Einige dieser F�lle be-handelt Wittgenstein in seinen Manuskripten. Diese lokalen Abgren-zungsarbeiten f�hren bei ihm allerdings nicht zu einem zusammenh�n-genden Text, der die Frage der Gedankenexperimente thematisiert. Diemethodische Linie bleibt jedoch von dieser Lokalit�t unber�hrt.

Machs Wortpr�gung „Gedankenexperiment“ erweist sich so als ei-nerseits �beraus griffig und eing�ngig, aber zugleich methodisch unklar,so dass der haupts�chliche Ertrag von Machs Vorschlag darin besteht, dassman mit seiner Hilfe einige methodische Fehlerscheinungen besondersklar aufzuweisen vermag.

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