florian bieber, jugoslawien nach 1945
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Jugoslawien nach 1945, Historicum, Jhrg. 22 (2002-2003), S. 22-27.TRANSCRIPT
22 HISTORICUM, Winter 2002/2003
BALKANSTAATEN II
Jugoslawien nach 1945
Die Geschichte Jugoslawiens zwischen 1945
und 1991 ist je nach zeitlicher Perspektive
zugleich die Chronologie eines Erfolges und
jene eines Scheiterns. Bis in die frühen acht-
ziger Jahre galt Jugoslawien als Erfolg. So-
wohl auf internationaler als auch innenpoli-
tischer Ebene schien der Staat die Gründe für
das Scheitern des ersten Jugoslawiens über-
wunden zu haben. Mit wirtschaftlichem Nie-
dergang, Scheitern einer jugoslawischen De-
mokratisierung und dem Zerfall Jugoslawi-
ens durch extremen Nationalismus wurde
Jugoslawiens ein Inbegriff für das Versagen
eines multinationalen Staates.
Die Geschichte Jugoslawiens zwischen
Zweitem Weltkrieg und Staatszerfall läßt sich
in folgende Phasen teilen:
Von Kriegsende bis zum Konflikt mit Stalin,
1945–1948
Der Konflikt mit Stalin und der jugoslawi-
sche Sonderweg, 1948–1968
Der kroatische »Frühling« und Liberalisie-
rung, 1968–1972
Dezentralisierung und das Ende der Ära
Titos, 1972–1980
Die Krisen nach Titos Tod, 1980–1987
Nationalismus und der Zerfall Jugoslawiens,
1987–1991
Jugoslawien nach KriegsendeZwischen dem Ende des Königreich Jugosla-
wien im April 1941 durch die deutsche Beset-
zung und anschließende Zerschlagung des
Staates und der Ausrufung des Antifaschisti-
schen Rates der Volksbefreiung Jugoslawiens
(AVNOJ) im November 1942 lagen nur an-
derthalb Jahre. Der Bruch zwischen den bei-
den Jugoslawien hätte jedoch kaum größer
ausfallen können. Bis zum letztlichen Erfolg
der Partisanenverbände und der Bildung ei-
ner Regierung des Demokratischen Föderati-
ven Jugoslawien im März 1945 vergingen fast
vier Jahre Krieg, mit hunderttausenden Op-
fern, Besatzung und innerjugoslawischem
Bürgerkrieg. Neben der unerwarteten Wie-
derbelebung Jugoslawiens als Staat, fand der
Jugoslawismus als Ideologie durch die Kom-
munistische Partei neuen Rückhalt. Dies war
umso überraschender, als das erste Jugoslawi-
en viel dazu beigetragen hatte, die jugoslawi-
sche Idee in den Augen breiter Bevölkerungs-
teile zu diskreditieren.1 Die Kommunistische
Partei und das neue Jugoslawien vertraten
nicht mehr ein nationales Partikularinteresse,
wie dies noch im Königreich, vertreten durch
das Königshaus Karadjordjevic und die Bel-
grader Elite, der Fall war. Dies ging einher mit
der Anerkennung von Mazedoniern und
Montenegrinern als eigenständigen Natio-
nen2 und der Gründung von sechs Republi-
ken innerhalb Jugoslawiens, die jedoch nach
sowjetischem Vorbild bis in die sechziger
Jahren nur wenig faktische Eigenständigkeit
besaßen. Die Kommunistische Partei Jugo-
slawiens (ab 1952 Bund der Kommunisten
Jugoslawiens) war in den ersten Nachkriegs-
jahren von der Möglichkeit überzeugt, eine
jugoslawische nationale Identität zu schaffen,
in der die verschiedenen Einzelnationalismen
verschmelzen würden. Ob diese Identität die
Charakteristika eines integralen nationalen
Bewußtseins annehmen oder lediglich die be-
stehenden Nationalismen ergänzen und so-
mit abschwächen sollte (dies war die Sicht
von Edvard Kardelj), wurde nie vollends ge-
klärt.3 Dieses Projekt fußte großteils auf der
kommunistischen Sicht der nationalen Frage,
die die Partei aus der UdSSR übernahm: Na-
tionalismus als Ausdruck der Bourgeoisie
würde durch die Errichtung einer kommuni-
stischen Herrschaftsform langsam ver-
schwinden. Die Anerkennung des Nationa-
lismus als bleibendes Phänomen unter kom-
munistischer Herrschaft in den sechziger Jah-
ren führte jedoch zu einem Wandel in der
Politik des Bundes der Kommunisten, auf
den später noch eingegangen wird.
In den frühen Jahren kommunistischer
Herrschaft folgte Jugoslawien einem ähnli-
chen Entwicklungsweg wie die anderen Staa-
ten Mittel- und Osteuropas. Schrittweise
wurden Oppositionsparteien verdrängt und
letztlich verboten, bürgerliche Freiheiten
wurden aufgehoben. Da sich große Teile der
möglichen Opposition durch ihre Unterstüt-
zung der Kriegsverlierer diskreditiert hatten
und keine politische Alternative im Rahmen
des jugoslawischen Staatswesens formlierten,
konnte die Kommunistische Partei bereits in
den ersten Monaten nach Kriegsende ihre
Dominanz festigen.4
Im Aufbau eines kommunistischen Sy-
stems lehnte sich Jugoslawien in den ersten
Nachkriegsjahren eng an die Sowjetunion an.
In einzelnen Bereichen bestanden jedoch be-
reits vor dem Bruch mit Stalin 1948 wichtige
Unterschiede. So blieb die Landwirtschaft
überwiegend in privater Hand. 1949 befand
sich 91,4 Prozent des Landes im Besitz von
Bauern.5
Der Konflikt mit Stalin undder jugoslawische SonderwegAußer Albanien gelang Jugoslawien als einzi-
gem Land des kommunistischen Osteuropa
der Bruch mit der Sowjetunion. Obwohl bis
zum Juni 1948 die Beziehungen zwischen
Jugoslawien und der Sowjetunion insgesamt
gut waren, finden sich bereits in den ersten
Nachkriegsjahren die Ursachen des späteren
Zerwürfnisses. Da die Partisanen unter Füh-
rung der Kommunistischen Partei Jugoslawi-
en großteils selbst befreit hatten und auch die
anschließende Machtkonsolidierung mit nur
geringfügigem Einfluß durch die Sowjetunion
erreicht hatten, besaß die Partei eine Legitimi-
tät, die bei der Machtübernahme den kommu-
nistischen Parteien in den anderen Republi-
ken nicht gegeben war. Das Selbstbewußtsein
Titos und der Partei stellte indirekt die absolu-
te Dominanz Stalins und der Sowjetunion in
Frage. Ideologische Unterschiede gewannen
erst nach dem Bruch an Wichtigkeit.
Nach einem Abzug sowjetischer Exper-
ten aus Jugoslawien im März 1948 erklärte
das Informationsbüro der kommunistischen
Parteien nach einer Tagung in Bukarest den
Ausschluß der Kommunistischen Partei Ju-
goslawiens und verurteilte die Führungsspit-
ze um Tito. Trotz der Anklage durch die
Kominform brach die jugoslawische Füh-
rung erst zögerlich mit Stalin – längst nach-
dem Stalin bereits mit ihr gebrochen hatte.
Jugoslawien trieb weiterhin die Einführung
eines sozialistischen Wirtschaftsmodells nach
sowjetischem Vorbild voran.6 Zugleich be-
gann die Partei die tatsächlichen und ver-
meintlichen Anhänger der Kominform aus
der Partei auszuschließen und in »Umerzie-
hungslager« auf der berüchtigten Gefängnis-
insel Goli Otok an der kroatischen Küste
einzuweisen.7
Erst nachdem eine Rückkehr in das so-
Von Florian Bieber
HISTORICUM, Winter 2002/2003 23
zialistische Lager ausgeschlossen schien und
Westeuropa und die Vereinigten Staaten die
nötige Unterstützung nach Wegfall der so-
wjetischen Hilfen und Märkte anboten, ent-
stand ab 1949 schrittweise der »jugoslawische
Weg«. Die häufigen institutionellen Umge-
staltungen Jugoslawiens – es gab alleine vier
verschiedene Verfassungen zwischen 1946
und 1974 – zeigten, daß der Sonderweg nicht
ideologisch festgelegt war, sondern bis zum
Ende Jugoslawiens neu verhandelt wurde.
Außenpolitisch durch Blockfreiheit geprägt,
bemühte sich Jugoslawien durch die Einfüh-
rung der Arbeiterselbstverwaltung um eine
»authentische« kommunistische Politik. Von
größerer Bedeutung für die Bevölkerung,
und hierin lag der wichtigste Unterschied zu
anderen Staaten unter kommunistischer
Herrschaft, war die partielle Liberalisierung
des gesellschaftlichen Lebens. Die Reisefrei-
heit der Bevölkerung (mit Ausnahmen) und
die Versorgung mit Konsumgütern führten
zu einer deutlich besseren Lebensqualität.
Obwohl von Liberalisierung oder einer politi-
schen Öffnung, insbesondere in den fünf-
ziger Jahren, kaum die Rede sein konnte,
durchdrangen Zensur, Bespitzelung und
Überwachung nicht in gleichem Maße die
Gesellschaft wie in anderen kommunisti-
schen Staaten.
In einer weiteren Unterscheidung zum
sowjetischem System begann in Jugoslawien
eine Diskussion um die Dezentralisierung des
Landes. Obwohl die Verfassung von 1946,
eine Kopie der sowjetischen Verfassung von
1936, Jugoslawien als eine Föderation be-
schrieb, blieb der Staat stark zentralisiert.
In der Zeit zwischen dem siebten und
dem achten Kongreß des Bundes der Kom-
munisten, von 1958 bis 1964, war noch keine
Entscheidung zwischen Zentralisierung und
Föderalisierung gefallen. Josip Broz Tito be-
vorzugte zu jener Zeit zwar eine limitierte
Dezentralisierung, förderte jedoch gleichzei-
tig die autoritäre Kontrolle der Partei, was
tendenziell eine Zentralisierung einschloß.
Erst auf dem Parteikongreß 1964 wurden
entscheidende Reformen beschlossen, und
die Zentralisten gerieten zunehmend in die
Minderheit. Dieser Prozeß wurde durch die
Absetzung von Aleksander Rankovic von sei-
nen Ämtern und seinen anschließenden Par-
teiausschluß verdeutlicht. Rankovic war nicht
nur Vize-Präsident, sondern auch der desi-
gnierte Nachfolger von Tito gewesen.8
Mit der Absetzung Rankovics wandelte
sich die Einstellung des Bundes der Kommu-
nisten gegenüber dem Jugoslawismus und
der politischen Organisation des Landes. Die
Rankovic-Ära verkörperte eine unitaristische
Linie, die sich bemühte, eine einheitliche ju-
goslawische Identität unter sozialistischem
Vorzeichen aufzubauen. Obwohl Geheim-
dienst und Polizei unter der Kontrolle Ran-
kovics auch serbische Nationalisten verfolg-
ten, bestand zwischen dieser zentralistischen
Politik und nationalistischen Interessen in
Serbien eine Übereinstimmung, die Konti-
nuität zur Zwischenkriegszeit signalisierte.
Der Sturz Rankovics wurde somit unter brei-
ten Teilen der albanischen Bevölkerung des
Kosovo und bei Muslimen in Bosnien, die
oftmals Ziele der repressiven Politik Ran-
kovics gewesen waren, als ein Befreiungs-
schlag gesehen. Rankovic war jedoch nicht
der alleinige Vertreter der zentralistischen Li-
nie. Vielmehr bedeutete seine Absetzung ei-
nen Wechsel in der Linie des Bundes der
Kommunisten, der sich später in einer weit-
gehenden Dezentralisierung des Staates nie-
derschlug.
Liberalisierung und derKroatische »Frühling«Im Rahmen der beginnenden Dezentralisie-
rung Jugoslawiens begannen die Republiken,
eine eigenständige Politik zu verfolgen. In der
Folge gelangten in den meisten Republiken
wirtschaftliche und kulturelle Interessen der
Republik beziehungsweise der jeweils domi-
nanten Nation auf die politische Agenda. Ins-
besondere die Dominanz des Zentrums,
symbolisiert durch Belgrad, auf wirtschaftli-
cher und sprachlicher Ebene wurde in Slo-
wenien und Kroatien, aber auch in Mazedo-
nien Auslöser einer eigenständigen Politik.
Die größte Bedrohung dieser Entwicklung
für das kommunistische Jugoslawien ging
vom »kroatischen Frühling«9 aus. Der »kroa-
tische Frühling« begann als ein Politikwandel
des kroatischen Bundes der Kommunisten.
Die ursprünglich tolerantere Linie der kroati-
schen Partei wandelte sich schon bald zu
einer nationalistischen Politik, insbesondere
durch einflußreiche Organisationen außer-
halb des Parteiapparates wie die kroatische
Kulturorganisation Matica Hrvatska und die
katholische Kirche. Dem Bund der Kommu-
nisten blieb keine andere Wahl, als dem zu-
nehmend nationalistischen Diskurs zu fol-
gen. Die beiden dominanten Themen kroa-
tischer Nationalisten waren die wirtschaftli-
che Dominanz des Zentrums Belgrad und die
kulturelle Unterordnung der kroatischen un-
ter die »serbokroatische« Sprache und Kul-
tur.10
Neben den zunehmend radikalen Forde-
rungen der kroatischen Nationalisten began-
nen auch die anderen Nationen in Jugoslawi-
en ihre Forderungen zu artikulieren. So ver-
trat die lokale Parteiorganisation im Kosovo
zunehmend albanische Interessen und hörte
auf, in erster Linie die serbische Bevölkerung
zu fördern, wie dies während der Unterdrük-
kung der Albaner durch Rankovic üblich ge-
wesen war. Nach den Unruhen der Albaner
1968 und deren Forderungen nach größerer
Autonomie forderte die Partei größere Au-
tonomierechte für die Provinz und verstärkte
wirtschaftliche Förderung.11 Die Rolle der
Albaner – einer nichtslawischen Minderheit –
war im Staat Jugoslawien nie ausreichend ge-
klärt. Die zunehmende Selbstverwaltung der
Albaner und des Kosovo insgesamt rief ser-
bische Kritik hervor. Die lokale Partei wurde
der »Diskriminierung« und der »Förderung
des Irredentismus« beschuldigt.12
Aufgrund der Schwächung des zentrali-
stischen Flügels nach dem Sturz von Ranko-
vic gelangte in Serbien der weniger zentrali-
stische und undogmatische Parteiflügel an die
Macht. Die Zentralisten besaßen vorüberge-
hend keine ausreichende Machtbasis in Ser-
bien, um die von den anderen Republiken
betriebenen Verfassungsreformen zu verhin-
dern. Die Vorschläge des serbischen Parla-
ments dienten in Folge als Grundlage der
Verfassungsreform, die von der jugoslawi-
schen Parteiführung 1971 in Brioni diskutiert
und vom Bund der Kommunisten und dem
Bundesparlament im Juni des selben Jahres
angenommen wurde. Diese Reformen gin-
gen weiter als die Verfassung, die drei Jahre
später verabschiedet wurde. Die Verfas-
sungsänderung führte das Vetorecht der Re-
publiken für alle wichtigen Beschlüsse des
Bundesparlaments und der Bundesregierung
ein. Die Kompetenzen des Bundesstaates
wurden auf Außenpolitik, Verteidigung und
Sicherheit sowie die Erhaltung des einheitli-
chen Marktes beschränkt. Weiters verdeut-
lichte die Finanzierung des Bundes die kon-
föderale Struktur des Staates. So wurden
Bundesinstitutionen und das Bundesbudget
in erster Linie durch Abgaben der Republi-
ken finanziert. Die Reformen führten auch
die Präsidentschaft als Exekutive ein, die aus
je drei Mitgliedern der Republiken und zwei-
en der autonomen Provinzen bestand.
Die liberalen und nationalistischen Strö-
mungen in den Republiken alarmierten zu-
nehmend die etablierte Parteiführung um
Tito. In der Folge mußte die kroatische Par-
teiführung um Mirko Tripalo und Savka
Dabcevic-Kucar Ende 1971 zurücktreten,
und die Matica Hrvatska wurde geschlossen.
In Kroatien verloren 5000 Funktionäre ihre
Ämter, und 50000 Parteimitglieder traten aus
dem Bund der Kommunisten Kroatiens aus
oder wurden ausgeschlossen. 1972 folgte der
erzwungene Rücktritt der serbischen Partei-
führung. Marko Nikezic und Latinka Perovic
waren während der Krise 1971 durch ihre
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anti-nationalistische Position aufgefallen und
bemühten sich um eine Modernisierung des
Bundes der Kommunisten, konzentrierten
ihre politische Aufmerksamkeit jedoch aus-
schließlich auf Serbien. Die Unterdrückung
liberaler Tendenzen in ganz Jugoslawien
machte die beiden prominenten Politiker zu
Zielscheiben, insbesondere nachdem sie die
Absetzung von anderen Führungsmitglie-
dern der kroatischen Kommunisten bei der
Unterdrückung des »kroatischen Frühlings«
nicht unterstützten.13 Ähnlich wie in Kroatien
und Slowenien folgte auch in den anderen
Republiken die Absetzung des liberalen Par-
teiflügels.
Die Dezentralisierung JugoslawiensTrotz der Beendigung des »kroatischen Früh-
lings« und der Absetzung von Liberalen in-
nerhalb der Partei in allen Republiken wurde
die Dezentralisierung in den folgenden Jah-
ren vorangetrieben. Diese Reformen, die mit
dem achten Kongreß des Bundes der Kom-
munisten 1964 begonnen hatten, mündeten
in die Verfassung von 1974. Die Ziele der
Reformen in den frühen siebziger Jahren
wurden oftmals durch vier Komponenten
beschrieben: Dezentralisierung, Entstaatli-
chung, Entpolitisierung und Demokratisie-
rung.14 Davon wurde lediglich eine Dezen-
tralisierung erreicht. Die »Entstaatlichung«
durch die Schaffung der Arbeiterselbstver-
waltung führte in der Realität meist zu einem
Anwachsen der Bürokratie auf der Ebene der
Republiken. Diese Reformen stellten viel-
mehr einen »Ersatz für einen nie abgeschlossenen
Entstaliniseriungsprozeß« dar.15 Anstatt gesamt-
jugoslawische Wirtschaftsreformen anzu-
strengen, reduzierten sich die Neuerungen
auf Dezentralisierung und einen Machttrans-
fer hin zu den Republiken. Da in den meisten
Republiksparteien in den vorangehenden
Jahren eine »Säuberungswelle« durchgeführt
worden war, konnten Opportunisten und
Dogmatiker innerhalb der kommunistischen
Parteien eine bestimmende Position einneh-
men. Damit verschlechterten sich die Chan-
cen auf eine Reform der Wirtschaftspolitik
oder gar eine Demokratisierung des Systems.
Die gesamte jugoslawische Struktur gestaltete
sich autokratischer und antidemokratischer
als in den späten sechziger und frühen siebzi-
ger Jahren.16
Das Fehlen einer zentralen Kontrolle
über die Wirtschaft sowie die Abwesenheit
eines freien Marktes schufen ein atomisiertes
wirtschaftliches System. Innerhalb der
Selbstverwaltungseinheiten wurde nur wenig
oder gar nicht auf die Bedürfnisse des jugosla-
wischen Marktes, geschweige denn des Welt-
marktes, geachtet. Die Fragmentierung läßt
sich auch auf politischer Ebene beobachten,
wo sich der Bund der Kommunisten auf
Republiksebene nur um die Partikularinter-
essen der jeweiligen Republik bemühte und
sich kaum um landesweite Entwicklungen
kümmerte.17
Die Bundesinstitutionen waren damit
nur ein mit den Republiken gleichgestellter
Akteur. Aufgrund der Einparteienherrschaft
konnten die einzelnen Einheiten des Staates
ohne die Teilnahme des Zentrums miteinan-
der verhandeln und zusammenarbeiten. Die
Hauptaufgabe des Bundesstaates neben Au-
ßenpolitik und Verteidigung18 war die Um-
verteilung von Geldern zur Förderung der
unterentwickelten Republiken und Provin-
zen (Bosnien-Herzegowina, Montenegro,
Mazedonien und Kosovo).19 Da die Republi-
ken und Provinzen als Hauptakteure selbst
Interessen an der Umverteilung hatten, ent-
weder als Geldgeber und somit bemüht, ih-
ren Anteil zu reduzieren, oder als Empfänger
mit der Absicht, größere Geldmittel zu erhal-
ten, entwickelten sich die Bundesinstitutio-
nen zu Verhandlungsforen für die Aushand-
lung von Kompromissen zwischen den Re-
publiken. Die finanzielle Umverteilung rück-
te damit in das Zentrum der Beziehungen
zwischen den Republiken. Sie nahm später
eine nationale Komponente an. Dadurch litt
nicht nur die für Geldtransfers notwendige
Solidarität, es öffnete sich auch eine Arena für
andere nationale Spannungen, die zuneh-
mend offen ausgetragen wurden. Auch auf
anderer Ebene blieben die Beziehungen zwi-
schen den Republiken nicht spannungsfrei.
So entbrannte ein Konflikt zwischen Slo-
wenien und den anderen Republiken sowie
der Bundesverwaltung über den Straßen-
bau.20 Obwohl solche Differenzen nach 1974
nichts grundsätzlich Neues darstellten, wurde
erstmals ausführlich in den Medien der Repu-
bliken darüber berichtet. Auf diese Weise
übertrugen sich die Konflikte von einer klei-
nen Elite auf ein breiteres Publikum.21
Die Verfassungsreformen führten zu ei-
ner Stärkung der Parteiführung in den Repu-
bliken und deren Verwandlung in autonome
Herrschaftsbereiche der jeweiligen Eliten.
Die Konföderalisierung in den siebziger Jah-
ren brachte eine neue Politikergeneration in
Jugoslawien hervor, die ihre Machtbasis in
erster Linie in einer der jeweiligen Republiken
besaß. Dies stärkte, zunächst auf wirtschaft-
licher Ebene, Partikularinteressen, die zu ei-
ner späteren Orientierung auf eine Natio-
nalpolitik der Republiken beitrugen.22 Ohne
Rückhalt in einer Republik ließ sich nach
Titos Tod kaum noch Politik gestalten.
Die Politik der Republiken nach Verab-
schiedung der Verfassung gliederte sich ent-
lang zweier Achsen. Die erste Achse be-
stimmte, ob die Republik oder Provinz eine
Konföderation beziehungsweise eine Beibe-
haltung der föderalen Verfassung von 1974
anstrebte oder eine Rezentralisierung ver-
langte. Entlang der zweiten Achse gliederten
sich die Republiken nach ihren politischen
und wirtschaftlichen Zielen. Die eine Gruppe
strebte eine Liberalisierung des Systems an,
während eine zweite eine konservative Linie
vertrat. Neben der Stärkung der Republiken
und ihrer politischen Eliten war für Serbien
die Eigenständigkeit seiner beiden Provinzen
Vojvodina und Kosovo von großer Bedeu-
tung. Für Serbien war die Gleichsetzung der
beiden autonomen Provinzen mit den ande-
ren Republiken in der Praxis ein wesentliches
Motiv nationaler Mobilisierung in den achtzi-
ger Jahren.23 Obwohl die Provinzen formal
Bestandteil der Republik Serbiens blieben,
waren sie in der Praxis unabhängige Einhei-
ten. In die jugoslawische Präsidentschaft so-
wie in den Bund der Kommunisten und an-
dere wichtige staatliche und parastaatliche
Organen entsandten die Provinzen ihre Re-
präsentanten unabhängig von der serbischen
Republik. Als einziger bedeutender Unter-
schied zwischen Provinzen und Republiken
in den späten siebziger und frühen achtziger
Jahren besaßen die Provinzen kein Sezes-
sionsrecht, das jedoch auch für die Republi-
ken indirekt und unklar formuliert war.24
Weiters besaßen die Einwohner der Provin-
zen keine Provinzstaatsbürgerschaft, son-
dern die der Republik Serbien, was jedoch
von nur geringer praktischer Bedeutung war.
Beide Provinzen durften nach der Verfas-
sung in den eigenen Kompetenzbereichen
auch selbständige Beziehungen zu anderen
Staaten aufbauen.
Nach Tito – Die KriseDas deklarierte Motto von »Nach Tito –
Tito« konnte nach dem Tod des Präsidenten
auf Lebenszeit nur wenige Jahre eingehalten
werden. Bereits die Verfassung von 1974 sah
vor, daß nach dem Tod Titos die Führung
Jugoslawiens durch eine achtköpfige Präsi-
dentschaft von Vertretern der sechs Republi-
ken und beiden autonomen Provinzen über-
nommen würde.25 Nur Tito persönlich konn-
te eine Blockade des Systems verhindern. Die
Präsidentschaft übernahm zwar formal alle
Macht Titos nach dessen Tod, sie besaß je-
doch weder den Willen noch die politische
Stärke, den Republiken Lösungen aufzu-
zwingen, umso weniger, als sich die Präsi-
diumsmitglieder aus den Republiken rekru-
tierten. Somit beschränkte sich die Rolle der
Präsidentschaft auf die Vertretung nach au-
ßen. Im Inneren diente die Präsidentschaft als
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Forum zum Ausgleich der Republiksinter-
essen.26 Obwohl die Nachfolge in Jugoslawi-
en besser geregelt war als in den meisten
anderen Diktaturen, erwies sich das wirt-
schaftliche und politische Erbe der Tito-Ära
für seine Nachfolger als erdrückend. Auf-
grund der »Säuberungen« innerhalb der Par-
tei in den frühen siebziger Jahren verfügte die
Führungsriege des Bundes der Kommuni-
sten kaum über populäre Kräfte, die den
Herausforderungen gewachsen waren. Nach
Jahren der Stabilität und wachsenden wirt-
schaftlichen Wohlstandes zeigte sich bereits
kurz nach dem Tod Titos, daß das System auf
wackeligen Füßen stand. Die erdrückenden
Schulden von über zwanzig Milliarden Dol-
lar, deren Rückzahlung nach dem Tod Titos
erwartet wurde, machten Jugoslawien zu ei-
nem der höchstverschuldeten Länder der
Welt.27 Eine zweistellige Inflationsrate und
steigende Arbeitslosigkeit wirkten sich in den
frühen achtziger Jahren negativ auf den Le-
bensstandard der meisten Einwohner Jugo-
slawiens aus. Obwohl die Partei die schwieri-
ge wirtschaftliche Lage anerkannte, so zu-
nächst durch die Einsetzung der Krajger-
Kommission zur Ausarbeitung von Reform-
vorschlägen, fand sie sich nicht in der Lage,
sich auf die nötigen Reformen zu einigen.28
Zugleich zeigten die Studentenproteste
albanischer Studenten in Pristina, die gewalt-
same Unterdrückung durch die Polizei im
Kosovo und die hysterische Reaktion in Ser-
bien, daß sich Nationalismus weiterhin de-
stabilisierend auf den Staat auswirken konnte.
Auf der einen Seite forderte ein bedeutsamer
Teil der albanischen Bevölkerung die Aufwer-
tung des Kosovo als Republik Jugoslawiens,
ein Schritt, der nach der Verfassung von 1974
in erster Linie symbolische Bedeutung besaß.
Andererseits wurde in Serbien erstmals die
Abwanderung der serbischen Bevölkerung
aus dem Kosovo thematisiert. Die Kritik an
der Lage der Serben im Kosovo durch serbi-
sche Medien, Partei und auch durch Intellek-
tuelle und die serbische orthodoxe Kirche,
der zunehmend Zugang zur Öffentlichkeit
gewährt wurde, war zugleich ein Zeichen zu-
nehmender Meinungsfreiheit und Ausdruck
von neu erstarkendem Nationalismus.
Nach dem Tod Titos begann auch eine
Neubewertung der Tito-Ära in der Wissen-
schaft. Den unerwarteten Anfang macht der
offizielle Biograph Titos Vladimir Dedjier
mit der Veröffentlichung der Neuen
Beiträge zur Biographie Titos. Obwohl
die Publikation Tito nicht kritisierte,
begann mit ihr seine Demystifizie-
rung. Kurz darauf wurde die Inhaf-
tierung von stalintreuen jugoslawi-
schen Kommunisten von Schrift-
stellern wie dem ehemaligen Partisan
Antonije Isakovic und Historikern
kritisch betrachtet.29 Mit einer nüch-
ternen Kritik an der Errichtung des
kommunistischen Machtmonopols
nach dem Zweiten Weltkrieg durch
die Verfassungsrechtler Vojislav
Kostunica und Kosta Cavoski wur-
de 1984 ein weiteres Tabu gebro-
chen.30 Zuletzt wurde auch die do-
minante Interpretation des Zweiten
Weltkriegs durch serbische und
kroatische Historiker und Schrift-
steller in Frage gestellt.31 Obwohl
diese kritischen Betrachtungen nur
langsam eine breite Öffentlichkeit
erreichten, brachen sie die Interpre-
tationshoheit des Bundes der Kom-
munisten über die jüngere Vergan-
genheit.
Die Veröffentlichung des inoffi-
ziellen »Memorandums« der Serbi-
schen Akademie der Wissenschaft
und Künste 1986 und im folgenden
Jahr des »Beitrags zu einem slowenischen
Nationalprogramm« in der sloweni-
schen Zeitschrift Nova Revjia zeigte,
daß die Öffnung Jugoslawiens in erster Linie
nationalistische Strömungen begünstige, die
in den jeweiligen Republiken von den Medien
wohlwollend aufgegriffen wurden.32 Durch
die Dezentralisierung richtete sich die entste-
hende Kritik an der Menschenrechtslage und
mangelnder Demokratisierung überwiegend
gegen die Partei- und Republiksführung. Re-
formdebatten in Jugoslawien wurden in der
Folge zwischen Eliten und intellektueller Op-
position in den Republiken beziehungsweise
zwischen den verschiedenen Republiksfüh-
rungen geführt.
Wachsender Nationalismus und ZerfallAb 1987 spitzte sich die Diskussion um die
Zukunft Jugoslawiens zwischen Serbien und
Slowenien zu, während die meisten anderen
Republiken und Provinzen (mit Ausnahme
des Kosovo) eine eher passive Position ein-
nahmen. Die slowenische Parteiführung, er-
mutigt durch die zunehmend selbstbewußte
Presse und Intellektuelle, forderte eine Stär-
kung der Republiken gegenüber dem Bundes-
staat. Zugleich setzte sich die slowenische
Führung für eine Liberalisierung des politi-
schen Systems ein. In Serbien gelangte nach
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einem parteiinternen Coup 1987 Slobodan
Milosevic an die Macht, nachdem er durch die
Forderung nach einem härteren Durchgrei-
fen im Kosovo innerhalb Serbiens zu einem
Volkshelden avanciert war, der eine repressi-
ve Politik gegen die innerserbische Oppositi-
on mit der Forderung nach einer Rezentra-
lisierung Jugoslawiens verband.33 Obwohl
Milosevics parteiinterne »Säuberungen« zu-
nächst keinen Bruch zu vorangegangener
Praxis im Bund der Kommunisten darstell-
ten, zeigte er sich schon bald bereit, Medien
und wohlorganisierte Massen zu seinem Vor-
teil einzusetzen. Während die Machtkämpfe
innerhalb der Partei zuvor meist hinter ver-
schlossenen Türen stattgefunden hatten, ließ
er nun die von ihm kontrollierten Medien
daran teilhaben und sicherte sich somit die
öffentliche Unterstützung, die ihm letztlich
zum Durchbruch verhalf. Massendemonstra-
tionen 1988–89 in Jugoslawien richteten sich
gegen die Führungen der Provinzen Voj-
vodina und Kosovo sowie gegen die monte-
negrinische und andere Republiksführungen,
die noch nicht der neuen Milosevic-treuen
Führung angehörten. Durch eine geschickte
Mischung aus Inszenierung und Kanalisie-
rung weitverbreiteter Frustrationen in der Be-
völkerung über die politische und wirtschaft-
liche Lage zogen hunderttausende Serben
durch Jugoslawien, meist mit wohlor-
ganisierten Kosovo-Serben als Kern, und ver-
liehen den Machtwechseln in der Vojvodina,
im Kosovo und in Montenegro quasi-demo-
kratische und nationalistische Glaubwürdig-
keit. Diese Zurschaustellung von Macht und
Nationalismus bestärkte die Nationalbewe-
gungen in den anderen Republiken.
Nach dem Zerfall des Bundes der Kom-
munisten Jugoslawiens 1990 und vor dem
Hintergrund des Falls kommunistischer Re-
gime im übrigen Osteuropa standen 1990
freie Wahlen in Jugoslawien an. Obwohl die
Bundesregierung durch den reformorientier-
ten Ministerpräsidenten Ante Markovic ab
1988 an Glaubwürdigkeit gewonnen hatte,
fanden Wahlen nur auf Republiksebene statt
– ein deutlicher Indikator des Kräfteverhält-
nisses in Jugoslawiens am Ende der achtziger
Jahre. Bei den Wahlen siegten in allen Repu-
bliken außer in Serbien und Montenegro Par-
teien, die sich für eine stärkere Eigenständig-
keit der Republiken einsetzten. Die politische
Linie Serbiens zeigte ähnlich auch kaum
Rücksicht auf den Bundesstaat.34 Obwohl
keine der neuen und alten Regierungsparteien
offen eine Auflösung Jugoslawiens forderten,
war der Status quo in allen Republiken unan-
nehmbar. Die Forderungen nach der Um-
strukturierung Jugoslawiens beruhten in er-
ster Linie auf nationalen Überlegungen und
erst sekundär auf wirtschaftlichen Gründen,
was eine Annäherung weiter erschwerte.
Durch die gegensätzlichen Positionen der
Republiken wurde im Verlauf von 1990 deut-
lich, daß Jugoslawiens kaum zu erhalten war.
Die Ereignisse 1991 besiegelten das Endes
Jugoslawiens. Die Unabhängigkeitserklärun-
gen Sloweniens und Kroatiens am 25. Juni
1991 bedeuteten das Ende Jugoslawiens,
auch wenn die internationale Anerkennung
erst im Jänner 1992 erfolgte. Spätestens mit
Kriegsausbruch in Kroatien im Juli war der
Erhalt Jugoslawiens ausgeschlossen.
Theorien zum Zerfall JugoslawiensAuch mehr als zehn Jahre nach dem Zerfall
Jugoslawiens besteht in der wissenschaftli-
chen Diskussion kaum Einstimmigkeit über
die Gründe des Zerfalls Jugoslawiens.35 Ne-
ben verschiedenen theoretischen Erklä-
rungsansätzen lassen sich langfristige struktu-
relle Gründen von kurzfristigen Auslösern
unterscheiden. Weiters muß auch zwischen
Ursachen der Zerfalls und Gründen für die
hieraus folgenden Kriege im ehemaligen Ju-
goslawien differenziert werden.36
Im Rahmen der langfristigen strukturel-
len Entwicklungen, die einen Staatszerfall be-
günstigt haben, werden generell das institu-
tionelle Gefüge des sozialistischen Jugoslawi-
en und der wirtschaftliche Abstieg des Lan-
des genannt.
Das institutionelle Argument kritisiert die
Überbetonung der Nationszugehörigkeit in
den Institutionen multinationaler Staaten all-
gemein und in Jugoslawien insbesondere und
hält diese für eine Konfliktursache.37 Die In-
stitutionalisierung nationaler Identität kann
sich nach dieser Ansicht im Krisenfall leichter
in einen nationalen Konflikt verwandeln.38
Insbesondere die föderale Ausgestaltung Ju-
goslawiens, identifiziert mit der Verfassung
von 1974, hat meist »nationale« Republiken
geschaffen, die bereits zahlreiche Attribute
souveräner Staaten besaßen.39
Der wirtschaftliche Ansatz betont den
wirtschaftlichen Niedergang Jugoslawiens
nach dem Tod Titos durch die hohe Schul-
denlast. Dies führte letztlich zu einer Vertei-
lungskrise, die den Zerfall begünstigte.40
Obwohl institutionelle wie auch wirt-
schaftliche Faktoren den Staatszerfall begün-
stigt haben, vermögen sie alleine nicht, diesen
Prozeß zu erklären. Hierfür gilt es verstärkt
einen Blick auf die Entwicklung in Jugoslawi-
en in letzten Jahren vor dessen Ende zu
werfen. Die Rolle verschiedener Akteure tritt
hier in den Vordergrund. Während einige
Ansätze die wachsende Bedeutung von Na-
tionalismus in der Bevölkerung betonen, su-
chen andere Erklärungsmuster die Ursachen
für die Zunahme des Nationalismus bei den
jugoslawischen Eliten.
Die Zunahme des Nationalismus in der
Bevölkerung läßt sich insbesondere um den
Konflikt im Kosovo ab 1981 beobachten.
Einige Autoren betonen besonders den Kon-
flikt zwischen urbanen und ländlichen Be-
völkerungsgruppen in Jugoslawien. Die länd-
lichen Gruppen werden hierbei meist als die
Hauptträger des Nationalismus identifiziert.41
Dieser Ansatz basiert großteils auf Moder-
nisierungstheorien, die von einer unvollstän-
digen Modernisierung ländlicher Gebiete in
Jugoslawien ausgehen und somit den Auf-
stieg des Nationalismus als einen Konflikt
zwischen urbaner Moderne und ländlicher
Vormoderne sehen. Die nationalistische Mo-
bilisierung, wie sie ab den späten achtziger
Jahren in Serbien und ab 1990 auch in Kroa-
tien und den meisten anderen Republiken
Jugoslawien hervortritt, ist jedoch ohne die
Führungsrolle (urbaner) politischer und intel-
lektueller Eliten kaum denkbar.
Bei der Betrachtung jugoslawischer Eli-
ten fällt der Blick auf politische und intellektu-
elle Eliten. Die Bedeutung intellektueller Eli-
ten liegt überwiegend in der Popularisierung
von Nationalismus und in der ideologischen
Vorbereitung für die Instrumentalisierung
des Nationalismus durch politische Eliten.42
Spätsozialistischen sowie postsozialistischen
politischen Eliten gilt die Aufmerksamkeit
anderer Erklärungsmuster. Die Berufung auf
Nationalismus aus machtpolitischen Grün-
den oder aus Überzeugung wird hierbei als
Hauptauslöser des Staatszerfalls und der
Kriege gesehen. Hier wurde Nationalismus
durch Eliten aufgrund seines Manipulations-
und Mobilisierungspotentials genutzt.43
Obwohl diese vielfältigen Erklärungsan-
sätze oftmals in scheinbarem Widerspruch
zueinander stehen, stellt jedoch erst deren
Verknüpfung den Schlüssel zum Verständnis
des Staatszerfalls Jugoslawiens dar. Die
Kombination der verschiedenen Ansätze ist
vonnöten, um diesen Prozeß begreifen, der
sich über mindestens ein Jahrzehnt vollzogen
hat und in dessen Verlauf verschiedenste
Strukturen und Akteure zum Tragen kamen.
Was bleibt vom Jugoslawismus?Mehr als zehn Jahre nach dem Zerfall der
Sozialistischen Föderativen Republik Jugo-
slawien hörte auch die Bundesrepublik Jugo-
slawien auf zu bestehen. Unabhängig von der
politischen Entwicklung Jugoslawiens in den
letzten Jahrzehnten konnte sich insbesondere
in den siebziger und achtziger Jahren ein
kultureller Raum in Jugoslawien etablieren,
der mehr zum Entstehen einer gemeinsamen
Identität beitrug als der offizielle Jugoslawis-
HISTORICUM, Winter 2002/2003 27
Decaying Totalitarianism, EUI Working Papers
RSC 94/9, Florenz 1994, 10 f.; 33.
17. Rusinow, Yugoslav Experiment 1948–1974
(Anm. 13), 322.
18. Die Republiken verfügten über eine parallelle
Territorialverteidigung, die jedoch stark von
der jugoslawischen Volksarmee abhängig war.
Hierzu siehe James Gow, Legitimacy and the
Military. The Yugoslav Crisis, London 1992, 45–
51, 57–59.
19. Siehe Burg, Conflict (Anm. 8), 279–290.
20. Sabrina Petra Ramet, Nationalism and Federalism
in Yugoslavia, Bloomington, In. 1992, 166–174.
21. Burg, Conflict (Anm. 8), 277, 279.
22. Vgl. Stefan Plaggenborg, Die Entstehung des
Nationalismus im kommunistischen Jugosla-
wien, Südostforschungen 56 (1997), 399–421.
23. Verfassung der Sozialistischen Föderalen Re-
publik Jugoslawien (21.2.1974), Art. 1 und 2.
24. Das Sezessionsrecht war in der jugoslawi-
schen Verfassung von 1974 nur in der Präam-
bel zu finden und besaß nur eine deklarato-
rische Bedeutung. Zudem wurde dieses Recht
in der Verfassung nicht den Republiken, son-
dern den sechs Nationen (Serben, Slowenen,
Kroaten, Muslimen, Montenegrinern und Ma-
kedoniern) zugestanden, nicht jedoch den Na-
tionalitäten (Albanern und Ungarn). Siehe
Monika Beckmann-Petey, Der jugoslawische Fö-
deralismus, München 1990, 128–131.
25. Burg, Conflict (Anm. 8), 325.
26. Ebenda, 327–328.
27. Steven K. Pavlowitch, The Improbable Survivor.
Yugoslavia and its Problems, 1918–1988, Colum-
bus, Oh. 1988, 143.
28. Hierzu siehe Jens Reuter, Der XII. Kongreß
des BdKJ, Südosteuropa 7–8 (1983), 380–382.
29. Oskar Gruenwald, Yugoslav Camp Literature:
Rediscovering the Ghost of a Nation’s Past–
Present–Future, Slavic Review 46/3-4 (1987),
513–528.
30. Vojislav Kostunica/Kosta Cavoski, Party Plu-
ralism or Monism: Social Movements and the Political
System in Yugoslavia, 1944–1949, Boulder Co./
New York 1985.
31. Wolfgang Höpken, Von der Mythologisie-
rung zur Stigmatisierung: »Krieg und Revolu-
tion« in Jugoslawien 1941–1948 im Spiegel
von Geschichtswissenschaft und historischer
Publizistik, in: Eva Schmidt-Hartmann (Hg.),
Kommunismus und Osteuropa. Konzepte, Perspekti-
ven und Interpretationen im Wandel, München
1994, 165–201.
32. Jasna Dragovic-Soso, ›Saviours of the Nation‹,
Serbia’s Intellectual Opposition and the Revival of
Nationalism, London 2002, 177–194.
33. Zu dem slowenisch-serbischen Konflikt siehe
Viktor Meier, Wie Jugoslawien verspielt wurde,
München 1996, 67–112.
34. So argumentiert Daniele Conversi, daß es sich
im Fall Jugoslawiens um eine Sezession des
Zentrums handelt. Daniele Conversi, Central
Secession: Towards a new anlytical concept?
The case of former Yugoslavia, Journal of Ethnic
and Migration Studies 26/2 (2000), 333–355.
35. Hierbei werden nicht einseitig nationale Er-
klärungsversuche (zum Beispiel Unterdrük-
kung der jeweiligen Nation durch andere Na-
tionen im kommunistischen Jugoslawien)
oder Ansätze ohne wissenschaftlichen Wert
(zum Beispiel uralter ethnischer Haß oder der
Kampf der Kulturen) diskutiert.
36. Ein Überblick über verschiedene Erklärungs-
ansätze findet sich bei Dejan Jovic, The Dis-
integration of Yugoslavia. A Critical Ap-
proach to Explanatory Approaches, European
Journal of Social Theory 4/1 (2001), 101–120.
37. Die wichtigsten Vertreter dieses Ansatzes sind
Vesna Pesic, Krieg um Nationalstaaten, in:
Thomas Bremer/Nebojsa Popov/Heinz-
Günther Strobbe (Hg.), Serbiens Weg in den
Krieg, Berlin 1998, 26–27; Valerie Bunce, Sub-
versive Institutions. The Design and the Destruction of
Socialism and the State, Cambridge 1999.
38. Donald L. Horowitz, Democracy in Divided
Societies, Journal of Democracy 4/4 (1993), 18–
38.
39. Der Wettbewerb zwischen den Republiken als
quasi zwischenstaatlichen Wettbewerb wird
deutlich in Sabrina Petra Ramet, Nationalism
and federalism in Yugoslavia. 1962–1991, Bloo-
mington, In. 1992.
40. Diese Argumentation wird insbesondere von
Susan Woodward in Balkan Tragedy. Chaos and
Dissolution after the Cold War, Washington 1995,
vertreten.
41. Sabrina Petra Ramet, Nationalism and the
›Idiocy‹ of the Countryside: The Case of Ser-
bia, Ethnic and Racial Studies 19/1 (1996), 70–
87; Bogdan Bogdanovic, Die Stadt und der Tod,
Klagenfurt 1994.
42. Florian Bieber, Die Rolle und Verantwortung
nationalistischer serbischer Intellektueller
beim Auseinanderbrechen Jugoslawiens, in:
Martina Winkler/Andreas Westerwinter
(Hg.), WortEnde. Intellektuelle im 21. Jahrhun-
dert?, Leipzig 2001, 69–86.
43. V. P. Gagnon, Jr., Ethnic Conflict and Inter-
national Conflict. The Case of Serbia, in: Mi-
chael E. Brown u. a. (Hg.), Nationalism and
Ethnic Conflict, Cambridge Ma./London 1997,
132–167. Einige Autoren schränken die Be-
deutung weiter auf einzelne Persönlickeiten
ein, so insbesondere auf Slobodan Milosevic.
Hierzu siehe Slobodan Antonic, Zarobljena
zemlja. Srbija za vlade Slobodana Milosevica, Bel-
grad 2002.
44. Andrew Baruch Wachtel, Making a Nation,
Breaking a Nation. Literature and Cultural Politics
in Yugoslavia, Stanford 1997.
45. Savezvni zavod za statistiku, Prvi rezultati Popisa
stanovnistva, domacinstava, stanova i poljoprivrednih
gazdinstava 1991. godine, Popis 1991, CD-ROM,
Belgrad 1998.
46. Republikcki zavod za statistiku, Republika Srbije,
Saopstenje 295, 24.12.2002.
47. Siehe zum Beispiel Vesna V. Godina, The
outbreak of nationalism on former Yugoslav
territory: a historical perspective on the pro-
blem of supranational identity, Nations and
Nationalism 4/3 (1998), 409–422.
Anmerkungen1. Siehe unter anderem Ivo Banac, The National
Question in Yugoslavia. Origins, History, Politics,
Ithaca/London 1994.
2. 1963 wurden auch Muslime als eigenständige
Nation anerkannt.
3. Paul Shoup, Communism and the Yugoslav Natio-
nal Question, New York/London 1968, 205–
207.
4. Siehe Srecko M. Dzaja, Die politische Realität des
Jugoslawismus (1918–1991). Mit besonderer Be-
rücksichtigung Bosnien-Herzegowinas, München
2002, 93–121.
5 . Ebenda, 117.
6. Ebenda, 121–123.
7. Hierzu siehe Ivo Banac, With Stalin against Tito.
Cominformist Splits in Yugoslav Communism, Itha-
ca/London 1988.
8. Steven L. Burg, Conflict and Cohesion in Socialist
Yugoslavia. Political Decision Making Since 1966,
Princeton 1983, 28–29.
9. Benannt in Anlehnung an den »Prager Früh-
ling«.
10. Dzaja, Die politische Realität des Jugoslawis-
mus (Anm. 4), 137–146.
11. Jens Reuter, Die albanische Minderheit in Ju-
goslawien, in: Roland Schönfeld (Hg.), Natio-
nalitätenprobleme in Südosteuropa, München 1987,
133–148.
12. Wayne S. Vucinich, Nationalism and Com-
munism, in: ders. (Hg.), Contemporary Yugo-
slavia. Twenty Years of Socialist Experiment, Ber-
keley/Los Angeles 1969, 275–276.
13. Dennison Rusinow, The Yugoslav Experiment
1948–1974, London 1977, 318–326.
14. »Demokratisierung« bezog sich lediglich auf
den Bund der Kommunisten und bedeutete
keineswegs einen politischen Pluralismus au-
ßerhalb der Partei. Gary K. Bertsch, The Re-
vival of Nationalisms, Problems of Communism
22/6 (1973), 3.
15. Laslo Sekelj, Yugoslavia: The Process of Disinte-
gration, Boulder, Co./Highland Lakes, NJ.
1993, 181.
16. Vojin Dimitrijevic, The 1974 Constitution as a
Factor in the Collapse of Yugoslavia or as a Sign of
Dr. Florian Bieber, Nationalism Studies, CentralEuropean University, Nador utca 9, H–1051 Buda-pest, Ungarn, [email protected]
mus, der in den vorangegangenen Jahrzehn-
ten praktiziert worden war.44 Bei der Volks-
zählung 1991 identifizierten sich mehr als
700000 Einwohner Jugoslawiens als »Jugo-
slawen«.45 Obwohl kaum zu ermessen ist, auf
welches Jugoslawien sich diese Eigen-
bezeichnung bezog, kann kein Zweifel beste-
hen, daß der Zerfall Jugoslawiens für viele
Einwohner des Staates eine Herausforderung
in bezug auf die eigene Identität darstellte.
Noch bei der Volkszählung in Serbien 2002
beschrieben sich 80721 Einwohner als »Ju-
goslawen«.46 Der Zerfall Jugoslawiens bedeu-
tete nicht nur den Wegfall jugoslawischer
Identität, sondern auch die Dominanz natio-
naler Identitäten, die wenig Raum für jene
ließ, die sich nicht nur mit einer Nation iden-
tifizieren wollten oder konnten.47