florian bieber, jugoslawien nach 1945

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Jugoslawien nach 1945, Historicum, Jhrg. 22 (2002-2003), S. 22-27.

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Page 1: Florian Bieber, Jugoslawien nach 1945

22 HISTORICUM, Winter 2002/2003

BALKANSTAATEN II

Jugoslawien nach 1945

Die Geschichte Jugoslawiens zwischen 1945

und 1991 ist je nach zeitlicher Perspektive

zugleich die Chronologie eines Erfolges und

jene eines Scheiterns. Bis in die frühen acht-

ziger Jahre galt Jugoslawien als Erfolg. So-

wohl auf internationaler als auch innenpoli-

tischer Ebene schien der Staat die Gründe für

das Scheitern des ersten Jugoslawiens über-

wunden zu haben. Mit wirtschaftlichem Nie-

dergang, Scheitern einer jugoslawischen De-

mokratisierung und dem Zerfall Jugoslawi-

ens durch extremen Nationalismus wurde

Jugoslawiens ein Inbegriff für das Versagen

eines multinationalen Staates.

Die Geschichte Jugoslawiens zwischen

Zweitem Weltkrieg und Staatszerfall läßt sich

in folgende Phasen teilen:

Von Kriegsende bis zum Konflikt mit Stalin,

1945–1948

Der Konflikt mit Stalin und der jugoslawi-

sche Sonderweg, 1948–1968

Der kroatische »Frühling« und Liberalisie-

rung, 1968–1972

Dezentralisierung und das Ende der Ära

Titos, 1972–1980

Die Krisen nach Titos Tod, 1980–1987

Nationalismus und der Zerfall Jugoslawiens,

1987–1991

Jugoslawien nach KriegsendeZwischen dem Ende des Königreich Jugosla-

wien im April 1941 durch die deutsche Beset-

zung und anschließende Zerschlagung des

Staates und der Ausrufung des Antifaschisti-

schen Rates der Volksbefreiung Jugoslawiens

(AVNOJ) im November 1942 lagen nur an-

derthalb Jahre. Der Bruch zwischen den bei-

den Jugoslawien hätte jedoch kaum größer

ausfallen können. Bis zum letztlichen Erfolg

der Partisanenverbände und der Bildung ei-

ner Regierung des Demokratischen Föderati-

ven Jugoslawien im März 1945 vergingen fast

vier Jahre Krieg, mit hunderttausenden Op-

fern, Besatzung und innerjugoslawischem

Bürgerkrieg. Neben der unerwarteten Wie-

derbelebung Jugoslawiens als Staat, fand der

Jugoslawismus als Ideologie durch die Kom-

munistische Partei neuen Rückhalt. Dies war

umso überraschender, als das erste Jugoslawi-

en viel dazu beigetragen hatte, die jugoslawi-

sche Idee in den Augen breiter Bevölkerungs-

teile zu diskreditieren.1 Die Kommunistische

Partei und das neue Jugoslawien vertraten

nicht mehr ein nationales Partikularinteresse,

wie dies noch im Königreich, vertreten durch

das Königshaus Karadjordjevic und die Bel-

grader Elite, der Fall war. Dies ging einher mit

der Anerkennung von Mazedoniern und

Montenegrinern als eigenständigen Natio-

nen2 und der Gründung von sechs Republi-

ken innerhalb Jugoslawiens, die jedoch nach

sowjetischem Vorbild bis in die sechziger

Jahren nur wenig faktische Eigenständigkeit

besaßen. Die Kommunistische Partei Jugo-

slawiens (ab 1952 Bund der Kommunisten

Jugoslawiens) war in den ersten Nachkriegs-

jahren von der Möglichkeit überzeugt, eine

jugoslawische nationale Identität zu schaffen,

in der die verschiedenen Einzelnationalismen

verschmelzen würden. Ob diese Identität die

Charakteristika eines integralen nationalen

Bewußtseins annehmen oder lediglich die be-

stehenden Nationalismen ergänzen und so-

mit abschwächen sollte (dies war die Sicht

von Edvard Kardelj), wurde nie vollends ge-

klärt.3 Dieses Projekt fußte großteils auf der

kommunistischen Sicht der nationalen Frage,

die die Partei aus der UdSSR übernahm: Na-

tionalismus als Ausdruck der Bourgeoisie

würde durch die Errichtung einer kommuni-

stischen Herrschaftsform langsam ver-

schwinden. Die Anerkennung des Nationa-

lismus als bleibendes Phänomen unter kom-

munistischer Herrschaft in den sechziger Jah-

ren führte jedoch zu einem Wandel in der

Politik des Bundes der Kommunisten, auf

den später noch eingegangen wird.

In den frühen Jahren kommunistischer

Herrschaft folgte Jugoslawien einem ähnli-

chen Entwicklungsweg wie die anderen Staa-

ten Mittel- und Osteuropas. Schrittweise

wurden Oppositionsparteien verdrängt und

letztlich verboten, bürgerliche Freiheiten

wurden aufgehoben. Da sich große Teile der

möglichen Opposition durch ihre Unterstüt-

zung der Kriegsverlierer diskreditiert hatten

und keine politische Alternative im Rahmen

des jugoslawischen Staatswesens formlierten,

konnte die Kommunistische Partei bereits in

den ersten Monaten nach Kriegsende ihre

Dominanz festigen.4

Im Aufbau eines kommunistischen Sy-

stems lehnte sich Jugoslawien in den ersten

Nachkriegsjahren eng an die Sowjetunion an.

In einzelnen Bereichen bestanden jedoch be-

reits vor dem Bruch mit Stalin 1948 wichtige

Unterschiede. So blieb die Landwirtschaft

überwiegend in privater Hand. 1949 befand

sich 91,4 Prozent des Landes im Besitz von

Bauern.5

Der Konflikt mit Stalin undder jugoslawische SonderwegAußer Albanien gelang Jugoslawien als einzi-

gem Land des kommunistischen Osteuropa

der Bruch mit der Sowjetunion. Obwohl bis

zum Juni 1948 die Beziehungen zwischen

Jugoslawien und der Sowjetunion insgesamt

gut waren, finden sich bereits in den ersten

Nachkriegsjahren die Ursachen des späteren

Zerwürfnisses. Da die Partisanen unter Füh-

rung der Kommunistischen Partei Jugoslawi-

en großteils selbst befreit hatten und auch die

anschließende Machtkonsolidierung mit nur

geringfügigem Einfluß durch die Sowjetunion

erreicht hatten, besaß die Partei eine Legitimi-

tät, die bei der Machtübernahme den kommu-

nistischen Parteien in den anderen Republi-

ken nicht gegeben war. Das Selbstbewußtsein

Titos und der Partei stellte indirekt die absolu-

te Dominanz Stalins und der Sowjetunion in

Frage. Ideologische Unterschiede gewannen

erst nach dem Bruch an Wichtigkeit.

Nach einem Abzug sowjetischer Exper-

ten aus Jugoslawien im März 1948 erklärte

das Informationsbüro der kommunistischen

Parteien nach einer Tagung in Bukarest den

Ausschluß der Kommunistischen Partei Ju-

goslawiens und verurteilte die Führungsspit-

ze um Tito. Trotz der Anklage durch die

Kominform brach die jugoslawische Füh-

rung erst zögerlich mit Stalin – längst nach-

dem Stalin bereits mit ihr gebrochen hatte.

Jugoslawien trieb weiterhin die Einführung

eines sozialistischen Wirtschaftsmodells nach

sowjetischem Vorbild voran.6 Zugleich be-

gann die Partei die tatsächlichen und ver-

meintlichen Anhänger der Kominform aus

der Partei auszuschließen und in »Umerzie-

hungslager« auf der berüchtigten Gefängnis-

insel Goli Otok an der kroatischen Küste

einzuweisen.7

Erst nachdem eine Rückkehr in das so-

Von Florian Bieber

Page 2: Florian Bieber, Jugoslawien nach 1945

HISTORICUM, Winter 2002/2003 23

zialistische Lager ausgeschlossen schien und

Westeuropa und die Vereinigten Staaten die

nötige Unterstützung nach Wegfall der so-

wjetischen Hilfen und Märkte anboten, ent-

stand ab 1949 schrittweise der »jugoslawische

Weg«. Die häufigen institutionellen Umge-

staltungen Jugoslawiens – es gab alleine vier

verschiedene Verfassungen zwischen 1946

und 1974 – zeigten, daß der Sonderweg nicht

ideologisch festgelegt war, sondern bis zum

Ende Jugoslawiens neu verhandelt wurde.

Außenpolitisch durch Blockfreiheit geprägt,

bemühte sich Jugoslawien durch die Einfüh-

rung der Arbeiterselbstverwaltung um eine

»authentische« kommunistische Politik. Von

größerer Bedeutung für die Bevölkerung,

und hierin lag der wichtigste Unterschied zu

anderen Staaten unter kommunistischer

Herrschaft, war die partielle Liberalisierung

des gesellschaftlichen Lebens. Die Reisefrei-

heit der Bevölkerung (mit Ausnahmen) und

die Versorgung mit Konsumgütern führten

zu einer deutlich besseren Lebensqualität.

Obwohl von Liberalisierung oder einer politi-

schen Öffnung, insbesondere in den fünf-

ziger Jahren, kaum die Rede sein konnte,

durchdrangen Zensur, Bespitzelung und

Überwachung nicht in gleichem Maße die

Gesellschaft wie in anderen kommunisti-

schen Staaten.

In einer weiteren Unterscheidung zum

sowjetischem System begann in Jugoslawien

eine Diskussion um die Dezentralisierung des

Landes. Obwohl die Verfassung von 1946,

eine Kopie der sowjetischen Verfassung von

1936, Jugoslawien als eine Föderation be-

schrieb, blieb der Staat stark zentralisiert.

In der Zeit zwischen dem siebten und

dem achten Kongreß des Bundes der Kom-

munisten, von 1958 bis 1964, war noch keine

Entscheidung zwischen Zentralisierung und

Föderalisierung gefallen. Josip Broz Tito be-

vorzugte zu jener Zeit zwar eine limitierte

Dezentralisierung, förderte jedoch gleichzei-

tig die autoritäre Kontrolle der Partei, was

tendenziell eine Zentralisierung einschloß.

Erst auf dem Parteikongreß 1964 wurden

entscheidende Reformen beschlossen, und

die Zentralisten gerieten zunehmend in die

Minderheit. Dieser Prozeß wurde durch die

Absetzung von Aleksander Rankovic von sei-

nen Ämtern und seinen anschließenden Par-

teiausschluß verdeutlicht. Rankovic war nicht

nur Vize-Präsident, sondern auch der desi-

gnierte Nachfolger von Tito gewesen.8

Mit der Absetzung Rankovics wandelte

sich die Einstellung des Bundes der Kommu-

nisten gegenüber dem Jugoslawismus und

der politischen Organisation des Landes. Die

Rankovic-Ära verkörperte eine unitaristische

Linie, die sich bemühte, eine einheitliche ju-

goslawische Identität unter sozialistischem

Vorzeichen aufzubauen. Obwohl Geheim-

dienst und Polizei unter der Kontrolle Ran-

kovics auch serbische Nationalisten verfolg-

ten, bestand zwischen dieser zentralistischen

Politik und nationalistischen Interessen in

Serbien eine Übereinstimmung, die Konti-

nuität zur Zwischenkriegszeit signalisierte.

Der Sturz Rankovics wurde somit unter brei-

ten Teilen der albanischen Bevölkerung des

Kosovo und bei Muslimen in Bosnien, die

oftmals Ziele der repressiven Politik Ran-

kovics gewesen waren, als ein Befreiungs-

schlag gesehen. Rankovic war jedoch nicht

der alleinige Vertreter der zentralistischen Li-

nie. Vielmehr bedeutete seine Absetzung ei-

nen Wechsel in der Linie des Bundes der

Kommunisten, der sich später in einer weit-

gehenden Dezentralisierung des Staates nie-

derschlug.

Liberalisierung und derKroatische »Frühling«Im Rahmen der beginnenden Dezentralisie-

rung Jugoslawiens begannen die Republiken,

eine eigenständige Politik zu verfolgen. In der

Folge gelangten in den meisten Republiken

wirtschaftliche und kulturelle Interessen der

Republik beziehungsweise der jeweils domi-

nanten Nation auf die politische Agenda. Ins-

besondere die Dominanz des Zentrums,

symbolisiert durch Belgrad, auf wirtschaftli-

cher und sprachlicher Ebene wurde in Slo-

wenien und Kroatien, aber auch in Mazedo-

nien Auslöser einer eigenständigen Politik.

Die größte Bedrohung dieser Entwicklung

für das kommunistische Jugoslawien ging

vom »kroatischen Frühling«9 aus. Der »kroa-

tische Frühling« begann als ein Politikwandel

des kroatischen Bundes der Kommunisten.

Die ursprünglich tolerantere Linie der kroati-

schen Partei wandelte sich schon bald zu

einer nationalistischen Politik, insbesondere

durch einflußreiche Organisationen außer-

halb des Parteiapparates wie die kroatische

Kulturorganisation Matica Hrvatska und die

katholische Kirche. Dem Bund der Kommu-

nisten blieb keine andere Wahl, als dem zu-

nehmend nationalistischen Diskurs zu fol-

gen. Die beiden dominanten Themen kroa-

tischer Nationalisten waren die wirtschaftli-

che Dominanz des Zentrums Belgrad und die

kulturelle Unterordnung der kroatischen un-

ter die »serbokroatische« Sprache und Kul-

tur.10

Neben den zunehmend radikalen Forde-

rungen der kroatischen Nationalisten began-

nen auch die anderen Nationen in Jugoslawi-

en ihre Forderungen zu artikulieren. So ver-

trat die lokale Parteiorganisation im Kosovo

zunehmend albanische Interessen und hörte

auf, in erster Linie die serbische Bevölkerung

zu fördern, wie dies während der Unterdrük-

kung der Albaner durch Rankovic üblich ge-

wesen war. Nach den Unruhen der Albaner

1968 und deren Forderungen nach größerer

Autonomie forderte die Partei größere Au-

tonomierechte für die Provinz und verstärkte

wirtschaftliche Förderung.11 Die Rolle der

Albaner – einer nichtslawischen Minderheit –

war im Staat Jugoslawien nie ausreichend ge-

klärt. Die zunehmende Selbstverwaltung der

Albaner und des Kosovo insgesamt rief ser-

bische Kritik hervor. Die lokale Partei wurde

der »Diskriminierung« und der »Förderung

des Irredentismus« beschuldigt.12

Aufgrund der Schwächung des zentrali-

stischen Flügels nach dem Sturz von Ranko-

vic gelangte in Serbien der weniger zentrali-

stische und undogmatische Parteiflügel an die

Macht. Die Zentralisten besaßen vorüberge-

hend keine ausreichende Machtbasis in Ser-

bien, um die von den anderen Republiken

betriebenen Verfassungsreformen zu verhin-

dern. Die Vorschläge des serbischen Parla-

ments dienten in Folge als Grundlage der

Verfassungsreform, die von der jugoslawi-

schen Parteiführung 1971 in Brioni diskutiert

und vom Bund der Kommunisten und dem

Bundesparlament im Juni des selben Jahres

angenommen wurde. Diese Reformen gin-

gen weiter als die Verfassung, die drei Jahre

später verabschiedet wurde. Die Verfas-

sungsänderung führte das Vetorecht der Re-

publiken für alle wichtigen Beschlüsse des

Bundesparlaments und der Bundesregierung

ein. Die Kompetenzen des Bundesstaates

wurden auf Außenpolitik, Verteidigung und

Sicherheit sowie die Erhaltung des einheitli-

chen Marktes beschränkt. Weiters verdeut-

lichte die Finanzierung des Bundes die kon-

föderale Struktur des Staates. So wurden

Bundesinstitutionen und das Bundesbudget

in erster Linie durch Abgaben der Republi-

ken finanziert. Die Reformen führten auch

die Präsidentschaft als Exekutive ein, die aus

je drei Mitgliedern der Republiken und zwei-

en der autonomen Provinzen bestand.

Die liberalen und nationalistischen Strö-

mungen in den Republiken alarmierten zu-

nehmend die etablierte Parteiführung um

Tito. In der Folge mußte die kroatische Par-

teiführung um Mirko Tripalo und Savka

Dabcevic-Kucar Ende 1971 zurücktreten,

und die Matica Hrvatska wurde geschlossen.

In Kroatien verloren 5000 Funktionäre ihre

Ämter, und 50000 Parteimitglieder traten aus

dem Bund der Kommunisten Kroatiens aus

oder wurden ausgeschlossen. 1972 folgte der

erzwungene Rücktritt der serbischen Partei-

führung. Marko Nikezic und Latinka Perovic

waren während der Krise 1971 durch ihre

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24 HISTORICUM, Winter 2002/2003

anti-nationalistische Position aufgefallen und

bemühten sich um eine Modernisierung des

Bundes der Kommunisten, konzentrierten

ihre politische Aufmerksamkeit jedoch aus-

schließlich auf Serbien. Die Unterdrückung

liberaler Tendenzen in ganz Jugoslawien

machte die beiden prominenten Politiker zu

Zielscheiben, insbesondere nachdem sie die

Absetzung von anderen Führungsmitglie-

dern der kroatischen Kommunisten bei der

Unterdrückung des »kroatischen Frühlings«

nicht unterstützten.13 Ähnlich wie in Kroatien

und Slowenien folgte auch in den anderen

Republiken die Absetzung des liberalen Par-

teiflügels.

Die Dezentralisierung JugoslawiensTrotz der Beendigung des »kroatischen Früh-

lings« und der Absetzung von Liberalen in-

nerhalb der Partei in allen Republiken wurde

die Dezentralisierung in den folgenden Jah-

ren vorangetrieben. Diese Reformen, die mit

dem achten Kongreß des Bundes der Kom-

munisten 1964 begonnen hatten, mündeten

in die Verfassung von 1974. Die Ziele der

Reformen in den frühen siebziger Jahren

wurden oftmals durch vier Komponenten

beschrieben: Dezentralisierung, Entstaatli-

chung, Entpolitisierung und Demokratisie-

rung.14 Davon wurde lediglich eine Dezen-

tralisierung erreicht. Die »Entstaatlichung«

durch die Schaffung der Arbeiterselbstver-

waltung führte in der Realität meist zu einem

Anwachsen der Bürokratie auf der Ebene der

Republiken. Diese Reformen stellten viel-

mehr einen »Ersatz für einen nie abgeschlossenen

Entstaliniseriungsprozeß« dar.15 Anstatt gesamt-

jugoslawische Wirtschaftsreformen anzu-

strengen, reduzierten sich die Neuerungen

auf Dezentralisierung und einen Machttrans-

fer hin zu den Republiken. Da in den meisten

Republiksparteien in den vorangehenden

Jahren eine »Säuberungswelle« durchgeführt

worden war, konnten Opportunisten und

Dogmatiker innerhalb der kommunistischen

Parteien eine bestimmende Position einneh-

men. Damit verschlechterten sich die Chan-

cen auf eine Reform der Wirtschaftspolitik

oder gar eine Demokratisierung des Systems.

Die gesamte jugoslawische Struktur gestaltete

sich autokratischer und antidemokratischer

als in den späten sechziger und frühen siebzi-

ger Jahren.16

Das Fehlen einer zentralen Kontrolle

über die Wirtschaft sowie die Abwesenheit

eines freien Marktes schufen ein atomisiertes

wirtschaftliches System. Innerhalb der

Selbstverwaltungseinheiten wurde nur wenig

oder gar nicht auf die Bedürfnisse des jugosla-

wischen Marktes, geschweige denn des Welt-

marktes, geachtet. Die Fragmentierung läßt

sich auch auf politischer Ebene beobachten,

wo sich der Bund der Kommunisten auf

Republiksebene nur um die Partikularinter-

essen der jeweiligen Republik bemühte und

sich kaum um landesweite Entwicklungen

kümmerte.17

Die Bundesinstitutionen waren damit

nur ein mit den Republiken gleichgestellter

Akteur. Aufgrund der Einparteienherrschaft

konnten die einzelnen Einheiten des Staates

ohne die Teilnahme des Zentrums miteinan-

der verhandeln und zusammenarbeiten. Die

Hauptaufgabe des Bundesstaates neben Au-

ßenpolitik und Verteidigung18 war die Um-

verteilung von Geldern zur Förderung der

unterentwickelten Republiken und Provin-

zen (Bosnien-Herzegowina, Montenegro,

Mazedonien und Kosovo).19 Da die Republi-

ken und Provinzen als Hauptakteure selbst

Interessen an der Umverteilung hatten, ent-

weder als Geldgeber und somit bemüht, ih-

ren Anteil zu reduzieren, oder als Empfänger

mit der Absicht, größere Geldmittel zu erhal-

ten, entwickelten sich die Bundesinstitutio-

nen zu Verhandlungsforen für die Aushand-

lung von Kompromissen zwischen den Re-

publiken. Die finanzielle Umverteilung rück-

te damit in das Zentrum der Beziehungen

zwischen den Republiken. Sie nahm später

eine nationale Komponente an. Dadurch litt

nicht nur die für Geldtransfers notwendige

Solidarität, es öffnete sich auch eine Arena für

andere nationale Spannungen, die zuneh-

mend offen ausgetragen wurden. Auch auf

anderer Ebene blieben die Beziehungen zwi-

schen den Republiken nicht spannungsfrei.

So entbrannte ein Konflikt zwischen Slo-

wenien und den anderen Republiken sowie

der Bundesverwaltung über den Straßen-

bau.20 Obwohl solche Differenzen nach 1974

nichts grundsätzlich Neues darstellten, wurde

erstmals ausführlich in den Medien der Repu-

bliken darüber berichtet. Auf diese Weise

übertrugen sich die Konflikte von einer klei-

nen Elite auf ein breiteres Publikum.21

Die Verfassungsreformen führten zu ei-

ner Stärkung der Parteiführung in den Repu-

bliken und deren Verwandlung in autonome

Herrschaftsbereiche der jeweiligen Eliten.

Die Konföderalisierung in den siebziger Jah-

ren brachte eine neue Politikergeneration in

Jugoslawien hervor, die ihre Machtbasis in

erster Linie in einer der jeweiligen Republiken

besaß. Dies stärkte, zunächst auf wirtschaft-

licher Ebene, Partikularinteressen, die zu ei-

ner späteren Orientierung auf eine Natio-

nalpolitik der Republiken beitrugen.22 Ohne

Rückhalt in einer Republik ließ sich nach

Titos Tod kaum noch Politik gestalten.

Die Politik der Republiken nach Verab-

schiedung der Verfassung gliederte sich ent-

lang zweier Achsen. Die erste Achse be-

stimmte, ob die Republik oder Provinz eine

Konföderation beziehungsweise eine Beibe-

haltung der föderalen Verfassung von 1974

anstrebte oder eine Rezentralisierung ver-

langte. Entlang der zweiten Achse gliederten

sich die Republiken nach ihren politischen

und wirtschaftlichen Zielen. Die eine Gruppe

strebte eine Liberalisierung des Systems an,

während eine zweite eine konservative Linie

vertrat. Neben der Stärkung der Republiken

und ihrer politischen Eliten war für Serbien

die Eigenständigkeit seiner beiden Provinzen

Vojvodina und Kosovo von großer Bedeu-

tung. Für Serbien war die Gleichsetzung der

beiden autonomen Provinzen mit den ande-

ren Republiken in der Praxis ein wesentliches

Motiv nationaler Mobilisierung in den achtzi-

ger Jahren.23 Obwohl die Provinzen formal

Bestandteil der Republik Serbiens blieben,

waren sie in der Praxis unabhängige Einhei-

ten. In die jugoslawische Präsidentschaft so-

wie in den Bund der Kommunisten und an-

dere wichtige staatliche und parastaatliche

Organen entsandten die Provinzen ihre Re-

präsentanten unabhängig von der serbischen

Republik. Als einziger bedeutender Unter-

schied zwischen Provinzen und Republiken

in den späten siebziger und frühen achtziger

Jahren besaßen die Provinzen kein Sezes-

sionsrecht, das jedoch auch für die Republi-

ken indirekt und unklar formuliert war.24

Weiters besaßen die Einwohner der Provin-

zen keine Provinzstaatsbürgerschaft, son-

dern die der Republik Serbien, was jedoch

von nur geringer praktischer Bedeutung war.

Beide Provinzen durften nach der Verfas-

sung in den eigenen Kompetenzbereichen

auch selbständige Beziehungen zu anderen

Staaten aufbauen.

Nach Tito – Die KriseDas deklarierte Motto von »Nach Tito –

Tito« konnte nach dem Tod des Präsidenten

auf Lebenszeit nur wenige Jahre eingehalten

werden. Bereits die Verfassung von 1974 sah

vor, daß nach dem Tod Titos die Führung

Jugoslawiens durch eine achtköpfige Präsi-

dentschaft von Vertretern der sechs Republi-

ken und beiden autonomen Provinzen über-

nommen würde.25 Nur Tito persönlich konn-

te eine Blockade des Systems verhindern. Die

Präsidentschaft übernahm zwar formal alle

Macht Titos nach dessen Tod, sie besaß je-

doch weder den Willen noch die politische

Stärke, den Republiken Lösungen aufzu-

zwingen, umso weniger, als sich die Präsi-

diumsmitglieder aus den Republiken rekru-

tierten. Somit beschränkte sich die Rolle der

Präsidentschaft auf die Vertretung nach au-

ßen. Im Inneren diente die Präsidentschaft als

Page 4: Florian Bieber, Jugoslawien nach 1945

HISTORICUM, Winter 2002/2003 25

Forum zum Ausgleich der Republiksinter-

essen.26 Obwohl die Nachfolge in Jugoslawi-

en besser geregelt war als in den meisten

anderen Diktaturen, erwies sich das wirt-

schaftliche und politische Erbe der Tito-Ära

für seine Nachfolger als erdrückend. Auf-

grund der »Säuberungen« innerhalb der Par-

tei in den frühen siebziger Jahren verfügte die

Führungsriege des Bundes der Kommuni-

sten kaum über populäre Kräfte, die den

Herausforderungen gewachsen waren. Nach

Jahren der Stabilität und wachsenden wirt-

schaftlichen Wohlstandes zeigte sich bereits

kurz nach dem Tod Titos, daß das System auf

wackeligen Füßen stand. Die erdrückenden

Schulden von über zwanzig Milliarden Dol-

lar, deren Rückzahlung nach dem Tod Titos

erwartet wurde, machten Jugoslawien zu ei-

nem der höchstverschuldeten Länder der

Welt.27 Eine zweistellige Inflationsrate und

steigende Arbeitslosigkeit wirkten sich in den

frühen achtziger Jahren negativ auf den Le-

bensstandard der meisten Einwohner Jugo-

slawiens aus. Obwohl die Partei die schwieri-

ge wirtschaftliche Lage anerkannte, so zu-

nächst durch die Einsetzung der Krajger-

Kommission zur Ausarbeitung von Reform-

vorschlägen, fand sie sich nicht in der Lage,

sich auf die nötigen Reformen zu einigen.28

Zugleich zeigten die Studentenproteste

albanischer Studenten in Pristina, die gewalt-

same Unterdrückung durch die Polizei im

Kosovo und die hysterische Reaktion in Ser-

bien, daß sich Nationalismus weiterhin de-

stabilisierend auf den Staat auswirken konnte.

Auf der einen Seite forderte ein bedeutsamer

Teil der albanischen Bevölkerung die Aufwer-

tung des Kosovo als Republik Jugoslawiens,

ein Schritt, der nach der Verfassung von 1974

in erster Linie symbolische Bedeutung besaß.

Andererseits wurde in Serbien erstmals die

Abwanderung der serbischen Bevölkerung

aus dem Kosovo thematisiert. Die Kritik an

der Lage der Serben im Kosovo durch serbi-

sche Medien, Partei und auch durch Intellek-

tuelle und die serbische orthodoxe Kirche,

der zunehmend Zugang zur Öffentlichkeit

gewährt wurde, war zugleich ein Zeichen zu-

nehmender Meinungsfreiheit und Ausdruck

von neu erstarkendem Nationalismus.

Nach dem Tod Titos begann auch eine

Neubewertung der Tito-Ära in der Wissen-

schaft. Den unerwarteten Anfang macht der

offizielle Biograph Titos Vladimir Dedjier

mit der Veröffentlichung der Neuen

Beiträge zur Biographie Titos. Obwohl

die Publikation Tito nicht kritisierte,

begann mit ihr seine Demystifizie-

rung. Kurz darauf wurde die Inhaf-

tierung von stalintreuen jugoslawi-

schen Kommunisten von Schrift-

stellern wie dem ehemaligen Partisan

Antonije Isakovic und Historikern

kritisch betrachtet.29 Mit einer nüch-

ternen Kritik an der Errichtung des

kommunistischen Machtmonopols

nach dem Zweiten Weltkrieg durch

die Verfassungsrechtler Vojislav

Kostunica und Kosta Cavoski wur-

de 1984 ein weiteres Tabu gebro-

chen.30 Zuletzt wurde auch die do-

minante Interpretation des Zweiten

Weltkriegs durch serbische und

kroatische Historiker und Schrift-

steller in Frage gestellt.31 Obwohl

diese kritischen Betrachtungen nur

langsam eine breite Öffentlichkeit

erreichten, brachen sie die Interpre-

tationshoheit des Bundes der Kom-

munisten über die jüngere Vergan-

genheit.

Die Veröffentlichung des inoffi-

ziellen »Memorandums« der Serbi-

schen Akademie der Wissenschaft

und Künste 1986 und im folgenden

Jahr des »Beitrags zu einem slowenischen

Nationalprogramm« in der sloweni-

schen Zeitschrift Nova Revjia zeigte,

daß die Öffnung Jugoslawiens in erster Linie

nationalistische Strömungen begünstige, die

in den jeweiligen Republiken von den Medien

wohlwollend aufgegriffen wurden.32 Durch

die Dezentralisierung richtete sich die entste-

hende Kritik an der Menschenrechtslage und

mangelnder Demokratisierung überwiegend

gegen die Partei- und Republiksführung. Re-

formdebatten in Jugoslawien wurden in der

Folge zwischen Eliten und intellektueller Op-

position in den Republiken beziehungsweise

zwischen den verschiedenen Republiksfüh-

rungen geführt.

Wachsender Nationalismus und ZerfallAb 1987 spitzte sich die Diskussion um die

Zukunft Jugoslawiens zwischen Serbien und

Slowenien zu, während die meisten anderen

Republiken und Provinzen (mit Ausnahme

des Kosovo) eine eher passive Position ein-

nahmen. Die slowenische Parteiführung, er-

mutigt durch die zunehmend selbstbewußte

Presse und Intellektuelle, forderte eine Stär-

kung der Republiken gegenüber dem Bundes-

staat. Zugleich setzte sich die slowenische

Führung für eine Liberalisierung des politi-

schen Systems ein. In Serbien gelangte nach

Page 5: Florian Bieber, Jugoslawien nach 1945

26 HISTORICUM, Winter 2002/2003

einem parteiinternen Coup 1987 Slobodan

Milosevic an die Macht, nachdem er durch die

Forderung nach einem härteren Durchgrei-

fen im Kosovo innerhalb Serbiens zu einem

Volkshelden avanciert war, der eine repressi-

ve Politik gegen die innerserbische Oppositi-

on mit der Forderung nach einer Rezentra-

lisierung Jugoslawiens verband.33 Obwohl

Milosevics parteiinterne »Säuberungen« zu-

nächst keinen Bruch zu vorangegangener

Praxis im Bund der Kommunisten darstell-

ten, zeigte er sich schon bald bereit, Medien

und wohlorganisierte Massen zu seinem Vor-

teil einzusetzen. Während die Machtkämpfe

innerhalb der Partei zuvor meist hinter ver-

schlossenen Türen stattgefunden hatten, ließ

er nun die von ihm kontrollierten Medien

daran teilhaben und sicherte sich somit die

öffentliche Unterstützung, die ihm letztlich

zum Durchbruch verhalf. Massendemonstra-

tionen 1988–89 in Jugoslawien richteten sich

gegen die Führungen der Provinzen Voj-

vodina und Kosovo sowie gegen die monte-

negrinische und andere Republiksführungen,

die noch nicht der neuen Milosevic-treuen

Führung angehörten. Durch eine geschickte

Mischung aus Inszenierung und Kanalisie-

rung weitverbreiteter Frustrationen in der Be-

völkerung über die politische und wirtschaft-

liche Lage zogen hunderttausende Serben

durch Jugoslawien, meist mit wohlor-

ganisierten Kosovo-Serben als Kern, und ver-

liehen den Machtwechseln in der Vojvodina,

im Kosovo und in Montenegro quasi-demo-

kratische und nationalistische Glaubwürdig-

keit. Diese Zurschaustellung von Macht und

Nationalismus bestärkte die Nationalbewe-

gungen in den anderen Republiken.

Nach dem Zerfall des Bundes der Kom-

munisten Jugoslawiens 1990 und vor dem

Hintergrund des Falls kommunistischer Re-

gime im übrigen Osteuropa standen 1990

freie Wahlen in Jugoslawien an. Obwohl die

Bundesregierung durch den reformorientier-

ten Ministerpräsidenten Ante Markovic ab

1988 an Glaubwürdigkeit gewonnen hatte,

fanden Wahlen nur auf Republiksebene statt

– ein deutlicher Indikator des Kräfteverhält-

nisses in Jugoslawiens am Ende der achtziger

Jahre. Bei den Wahlen siegten in allen Repu-

bliken außer in Serbien und Montenegro Par-

teien, die sich für eine stärkere Eigenständig-

keit der Republiken einsetzten. Die politische

Linie Serbiens zeigte ähnlich auch kaum

Rücksicht auf den Bundesstaat.34 Obwohl

keine der neuen und alten Regierungsparteien

offen eine Auflösung Jugoslawiens forderten,

war der Status quo in allen Republiken unan-

nehmbar. Die Forderungen nach der Um-

strukturierung Jugoslawiens beruhten in er-

ster Linie auf nationalen Überlegungen und

erst sekundär auf wirtschaftlichen Gründen,

was eine Annäherung weiter erschwerte.

Durch die gegensätzlichen Positionen der

Republiken wurde im Verlauf von 1990 deut-

lich, daß Jugoslawiens kaum zu erhalten war.

Die Ereignisse 1991 besiegelten das Endes

Jugoslawiens. Die Unabhängigkeitserklärun-

gen Sloweniens und Kroatiens am 25. Juni

1991 bedeuteten das Ende Jugoslawiens,

auch wenn die internationale Anerkennung

erst im Jänner 1992 erfolgte. Spätestens mit

Kriegsausbruch in Kroatien im Juli war der

Erhalt Jugoslawiens ausgeschlossen.

Theorien zum Zerfall JugoslawiensAuch mehr als zehn Jahre nach dem Zerfall

Jugoslawiens besteht in der wissenschaftli-

chen Diskussion kaum Einstimmigkeit über

die Gründe des Zerfalls Jugoslawiens.35 Ne-

ben verschiedenen theoretischen Erklä-

rungsansätzen lassen sich langfristige struktu-

relle Gründen von kurzfristigen Auslösern

unterscheiden. Weiters muß auch zwischen

Ursachen der Zerfalls und Gründen für die

hieraus folgenden Kriege im ehemaligen Ju-

goslawien differenziert werden.36

Im Rahmen der langfristigen strukturel-

len Entwicklungen, die einen Staatszerfall be-

günstigt haben, werden generell das institu-

tionelle Gefüge des sozialistischen Jugoslawi-

en und der wirtschaftliche Abstieg des Lan-

des genannt.

Das institutionelle Argument kritisiert die

Überbetonung der Nationszugehörigkeit in

den Institutionen multinationaler Staaten all-

gemein und in Jugoslawien insbesondere und

hält diese für eine Konfliktursache.37 Die In-

stitutionalisierung nationaler Identität kann

sich nach dieser Ansicht im Krisenfall leichter

in einen nationalen Konflikt verwandeln.38

Insbesondere die föderale Ausgestaltung Ju-

goslawiens, identifiziert mit der Verfassung

von 1974, hat meist »nationale« Republiken

geschaffen, die bereits zahlreiche Attribute

souveräner Staaten besaßen.39

Der wirtschaftliche Ansatz betont den

wirtschaftlichen Niedergang Jugoslawiens

nach dem Tod Titos durch die hohe Schul-

denlast. Dies führte letztlich zu einer Vertei-

lungskrise, die den Zerfall begünstigte.40

Obwohl institutionelle wie auch wirt-

schaftliche Faktoren den Staatszerfall begün-

stigt haben, vermögen sie alleine nicht, diesen

Prozeß zu erklären. Hierfür gilt es verstärkt

einen Blick auf die Entwicklung in Jugoslawi-

en in letzten Jahren vor dessen Ende zu

werfen. Die Rolle verschiedener Akteure tritt

hier in den Vordergrund. Während einige

Ansätze die wachsende Bedeutung von Na-

tionalismus in der Bevölkerung betonen, su-

chen andere Erklärungsmuster die Ursachen

für die Zunahme des Nationalismus bei den

jugoslawischen Eliten.

Die Zunahme des Nationalismus in der

Bevölkerung läßt sich insbesondere um den

Konflikt im Kosovo ab 1981 beobachten.

Einige Autoren betonen besonders den Kon-

flikt zwischen urbanen und ländlichen Be-

völkerungsgruppen in Jugoslawien. Die länd-

lichen Gruppen werden hierbei meist als die

Hauptträger des Nationalismus identifiziert.41

Dieser Ansatz basiert großteils auf Moder-

nisierungstheorien, die von einer unvollstän-

digen Modernisierung ländlicher Gebiete in

Jugoslawien ausgehen und somit den Auf-

stieg des Nationalismus als einen Konflikt

zwischen urbaner Moderne und ländlicher

Vormoderne sehen. Die nationalistische Mo-

bilisierung, wie sie ab den späten achtziger

Jahren in Serbien und ab 1990 auch in Kroa-

tien und den meisten anderen Republiken

Jugoslawien hervortritt, ist jedoch ohne die

Führungsrolle (urbaner) politischer und intel-

lektueller Eliten kaum denkbar.

Bei der Betrachtung jugoslawischer Eli-

ten fällt der Blick auf politische und intellektu-

elle Eliten. Die Bedeutung intellektueller Eli-

ten liegt überwiegend in der Popularisierung

von Nationalismus und in der ideologischen

Vorbereitung für die Instrumentalisierung

des Nationalismus durch politische Eliten.42

Spätsozialistischen sowie postsozialistischen

politischen Eliten gilt die Aufmerksamkeit

anderer Erklärungsmuster. Die Berufung auf

Nationalismus aus machtpolitischen Grün-

den oder aus Überzeugung wird hierbei als

Hauptauslöser des Staatszerfalls und der

Kriege gesehen. Hier wurde Nationalismus

durch Eliten aufgrund seines Manipulations-

und Mobilisierungspotentials genutzt.43

Obwohl diese vielfältigen Erklärungsan-

sätze oftmals in scheinbarem Widerspruch

zueinander stehen, stellt jedoch erst deren

Verknüpfung den Schlüssel zum Verständnis

des Staatszerfalls Jugoslawiens dar. Die

Kombination der verschiedenen Ansätze ist

vonnöten, um diesen Prozeß begreifen, der

sich über mindestens ein Jahrzehnt vollzogen

hat und in dessen Verlauf verschiedenste

Strukturen und Akteure zum Tragen kamen.

Was bleibt vom Jugoslawismus?Mehr als zehn Jahre nach dem Zerfall der

Sozialistischen Föderativen Republik Jugo-

slawien hörte auch die Bundesrepublik Jugo-

slawien auf zu bestehen. Unabhängig von der

politischen Entwicklung Jugoslawiens in den

letzten Jahrzehnten konnte sich insbesondere

in den siebziger und achtziger Jahren ein

kultureller Raum in Jugoslawien etablieren,

der mehr zum Entstehen einer gemeinsamen

Identität beitrug als der offizielle Jugoslawis-

Page 6: Florian Bieber, Jugoslawien nach 1945

HISTORICUM, Winter 2002/2003 27

Decaying Totalitarianism, EUI Working Papers

RSC 94/9, Florenz 1994, 10 f.; 33.

17. Rusinow, Yugoslav Experiment 1948–1974

(Anm. 13), 322.

18. Die Republiken verfügten über eine parallelle

Territorialverteidigung, die jedoch stark von

der jugoslawischen Volksarmee abhängig war.

Hierzu siehe James Gow, Legitimacy and the

Military. The Yugoslav Crisis, London 1992, 45–

51, 57–59.

19. Siehe Burg, Conflict (Anm. 8), 279–290.

20. Sabrina Petra Ramet, Nationalism and Federalism

in Yugoslavia, Bloomington, In. 1992, 166–174.

21. Burg, Conflict (Anm. 8), 277, 279.

22. Vgl. Stefan Plaggenborg, Die Entstehung des

Nationalismus im kommunistischen Jugosla-

wien, Südostforschungen 56 (1997), 399–421.

23. Verfassung der Sozialistischen Föderalen Re-

publik Jugoslawien (21.2.1974), Art. 1 und 2.

24. Das Sezessionsrecht war in der jugoslawi-

schen Verfassung von 1974 nur in der Präam-

bel zu finden und besaß nur eine deklarato-

rische Bedeutung. Zudem wurde dieses Recht

in der Verfassung nicht den Republiken, son-

dern den sechs Nationen (Serben, Slowenen,

Kroaten, Muslimen, Montenegrinern und Ma-

kedoniern) zugestanden, nicht jedoch den Na-

tionalitäten (Albanern und Ungarn). Siehe

Monika Beckmann-Petey, Der jugoslawische Fö-

deralismus, München 1990, 128–131.

25. Burg, Conflict (Anm. 8), 325.

26. Ebenda, 327–328.

27. Steven K. Pavlowitch, The Improbable Survivor.

Yugoslavia and its Problems, 1918–1988, Colum-

bus, Oh. 1988, 143.

28. Hierzu siehe Jens Reuter, Der XII. Kongreß

des BdKJ, Südosteuropa 7–8 (1983), 380–382.

29. Oskar Gruenwald, Yugoslav Camp Literature:

Rediscovering the Ghost of a Nation’s Past–

Present–Future, Slavic Review 46/3-4 (1987),

513–528.

30. Vojislav Kostunica/Kosta Cavoski, Party Plu-

ralism or Monism: Social Movements and the Political

System in Yugoslavia, 1944–1949, Boulder Co./

New York 1985.

31. Wolfgang Höpken, Von der Mythologisie-

rung zur Stigmatisierung: »Krieg und Revolu-

tion« in Jugoslawien 1941–1948 im Spiegel

von Geschichtswissenschaft und historischer

Publizistik, in: Eva Schmidt-Hartmann (Hg.),

Kommunismus und Osteuropa. Konzepte, Perspekti-

ven und Interpretationen im Wandel, München

1994, 165–201.

32. Jasna Dragovic-Soso, ›Saviours of the Nation‹,

Serbia’s Intellectual Opposition and the Revival of

Nationalism, London 2002, 177–194.

33. Zu dem slowenisch-serbischen Konflikt siehe

Viktor Meier, Wie Jugoslawien verspielt wurde,

München 1996, 67–112.

34. So argumentiert Daniele Conversi, daß es sich

im Fall Jugoslawiens um eine Sezession des

Zentrums handelt. Daniele Conversi, Central

Secession: Towards a new anlytical concept?

The case of former Yugoslavia, Journal of Ethnic

and Migration Studies 26/2 (2000), 333–355.

35. Hierbei werden nicht einseitig nationale Er-

klärungsversuche (zum Beispiel Unterdrük-

kung der jeweiligen Nation durch andere Na-

tionen im kommunistischen Jugoslawien)

oder Ansätze ohne wissenschaftlichen Wert

(zum Beispiel uralter ethnischer Haß oder der

Kampf der Kulturen) diskutiert.

36. Ein Überblick über verschiedene Erklärungs-

ansätze findet sich bei Dejan Jovic, The Dis-

integration of Yugoslavia. A Critical Ap-

proach to Explanatory Approaches, European

Journal of Social Theory 4/1 (2001), 101–120.

37. Die wichtigsten Vertreter dieses Ansatzes sind

Vesna Pesic, Krieg um Nationalstaaten, in:

Thomas Bremer/Nebojsa Popov/Heinz-

Günther Strobbe (Hg.), Serbiens Weg in den

Krieg, Berlin 1998, 26–27; Valerie Bunce, Sub-

versive Institutions. The Design and the Destruction of

Socialism and the State, Cambridge 1999.

38. Donald L. Horowitz, Democracy in Divided

Societies, Journal of Democracy 4/4 (1993), 18–

38.

39. Der Wettbewerb zwischen den Republiken als

quasi zwischenstaatlichen Wettbewerb wird

deutlich in Sabrina Petra Ramet, Nationalism

and federalism in Yugoslavia. 1962–1991, Bloo-

mington, In. 1992.

40. Diese Argumentation wird insbesondere von

Susan Woodward in Balkan Tragedy. Chaos and

Dissolution after the Cold War, Washington 1995,

vertreten.

41. Sabrina Petra Ramet, Nationalism and the

›Idiocy‹ of the Countryside: The Case of Ser-

bia, Ethnic and Racial Studies 19/1 (1996), 70–

87; Bogdan Bogdanovic, Die Stadt und der Tod,

Klagenfurt 1994.

42. Florian Bieber, Die Rolle und Verantwortung

nationalistischer serbischer Intellektueller

beim Auseinanderbrechen Jugoslawiens, in:

Martina Winkler/Andreas Westerwinter

(Hg.), WortEnde. Intellektuelle im 21. Jahrhun-

dert?, Leipzig 2001, 69–86.

43. V. P. Gagnon, Jr., Ethnic Conflict and Inter-

national Conflict. The Case of Serbia, in: Mi-

chael E. Brown u. a. (Hg.), Nationalism and

Ethnic Conflict, Cambridge Ma./London 1997,

132–167. Einige Autoren schränken die Be-

deutung weiter auf einzelne Persönlickeiten

ein, so insbesondere auf Slobodan Milosevic.

Hierzu siehe Slobodan Antonic, Zarobljena

zemlja. Srbija za vlade Slobodana Milosevica, Bel-

grad 2002.

44. Andrew Baruch Wachtel, Making a Nation,

Breaking a Nation. Literature and Cultural Politics

in Yugoslavia, Stanford 1997.

45. Savezvni zavod za statistiku, Prvi rezultati Popisa

stanovnistva, domacinstava, stanova i poljoprivrednih

gazdinstava 1991. godine, Popis 1991, CD-ROM,

Belgrad 1998.

46. Republikcki zavod za statistiku, Republika Srbije,

Saopstenje 295, 24.12.2002.

47. Siehe zum Beispiel Vesna V. Godina, The

outbreak of nationalism on former Yugoslav

territory: a historical perspective on the pro-

blem of supranational identity, Nations and

Nationalism 4/3 (1998), 409–422.

Anmerkungen1. Siehe unter anderem Ivo Banac, The National

Question in Yugoslavia. Origins, History, Politics,

Ithaca/London 1994.

2. 1963 wurden auch Muslime als eigenständige

Nation anerkannt.

3. Paul Shoup, Communism and the Yugoslav Natio-

nal Question, New York/London 1968, 205–

207.

4. Siehe Srecko M. Dzaja, Die politische Realität des

Jugoslawismus (1918–1991). Mit besonderer Be-

rücksichtigung Bosnien-Herzegowinas, München

2002, 93–121.

5 . Ebenda, 117.

6. Ebenda, 121–123.

7. Hierzu siehe Ivo Banac, With Stalin against Tito.

Cominformist Splits in Yugoslav Communism, Itha-

ca/London 1988.

8. Steven L. Burg, Conflict and Cohesion in Socialist

Yugoslavia. Political Decision Making Since 1966,

Princeton 1983, 28–29.

9. Benannt in Anlehnung an den »Prager Früh-

ling«.

10. Dzaja, Die politische Realität des Jugoslawis-

mus (Anm. 4), 137–146.

11. Jens Reuter, Die albanische Minderheit in Ju-

goslawien, in: Roland Schönfeld (Hg.), Natio-

nalitätenprobleme in Südosteuropa, München 1987,

133–148.

12. Wayne S. Vucinich, Nationalism and Com-

munism, in: ders. (Hg.), Contemporary Yugo-

slavia. Twenty Years of Socialist Experiment, Ber-

keley/Los Angeles 1969, 275–276.

13. Dennison Rusinow, The Yugoslav Experiment

1948–1974, London 1977, 318–326.

14. »Demokratisierung« bezog sich lediglich auf

den Bund der Kommunisten und bedeutete

keineswegs einen politischen Pluralismus au-

ßerhalb der Partei. Gary K. Bertsch, The Re-

vival of Nationalisms, Problems of Communism

22/6 (1973), 3.

15. Laslo Sekelj, Yugoslavia: The Process of Disinte-

gration, Boulder, Co./Highland Lakes, NJ.

1993, 181.

16. Vojin Dimitrijevic, The 1974 Constitution as a

Factor in the Collapse of Yugoslavia or as a Sign of

Dr. Florian Bieber, Nationalism Studies, CentralEuropean University, Nador utca 9, H–1051 Buda-pest, Ungarn, [email protected]

mus, der in den vorangegangenen Jahrzehn-

ten praktiziert worden war.44 Bei der Volks-

zählung 1991 identifizierten sich mehr als

700000 Einwohner Jugoslawiens als »Jugo-

slawen«.45 Obwohl kaum zu ermessen ist, auf

welches Jugoslawien sich diese Eigen-

bezeichnung bezog, kann kein Zweifel beste-

hen, daß der Zerfall Jugoslawiens für viele

Einwohner des Staates eine Herausforderung

in bezug auf die eigene Identität darstellte.

Noch bei der Volkszählung in Serbien 2002

beschrieben sich 80721 Einwohner als »Ju-

goslawen«.46 Der Zerfall Jugoslawiens bedeu-

tete nicht nur den Wegfall jugoslawischer

Identität, sondern auch die Dominanz natio-

naler Identitäten, die wenig Raum für jene

ließ, die sich nicht nur mit einer Nation iden-

tifizieren wollten oder konnten.47