bestechung: wenn der zufall auf sich warten lässt
DESCRIPTION
Ein Artikel von Uli Reiter, der mit Hilfe der soziologischen Systemtheorie nach Niklas Luhmann Bestechung als funktionales Äquivalent für Zufall beschreibt.Der Artikel erschien erstmals in der Revue für postheroisches Management /Heft 6.Siehe auch das Buch des Autors Uli Reiter zum selben Thema: http://www.laermende-geschenke.deTRANSCRIPT
5/16/2018 Bestechung: Wenn der Zufall auf sich warten l sst - slidepdf.com
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5/16/2018 Bestechung: Wenn der Zufall auf sich warten l sst - slidepdf.com
http://slidepdf.com/reader/full/bestechung-wenn-der-zufall-auf-sich-warten-laesst 2Revue für postheroisches Management/ Heft 63Editorial
Zufälle
Je planmäßiger das Vorgehen, desto wirksamer trifft der Zufall, heißt es.
Wenn wir diesem Spruch folgen, dann könnte eine Hinwendung zum Zu-
fall unsere Aufmerksamkeit auf mögliche Ereignisse richten, deren Auf-
treten wir allenfalls ahnen können, ohne dass wir wissen, was konkret
auf uns zukommen wird. Und wir hätten den Zufall sogleich mit Existenz-
fragen jeder Unternehmung verknüpft, denen sich Management und Be-
ratung nicht verschließen sollten. In der mehr oder weniger wissenschaft-
lichen Management- und Beratungsliteratur kommt der Zufall jedoch kaum
vor, was sicher kein Zufall ist, kratzt dieser doch allzu sehr an den unge-
schriebenen Gesetzen der Ratgeberliteratur (und der Wissenschaft). Eine
erwähnenswerte Stellung nimmt der Zufall allenfalls in unternehmerischen
Erfolgsberichten und Erzählungen ein, kaum eine Erfindung kommt (ex
post) ohne Zufälle zustande, kaum eine Unternehmenshistorie kommt (ex
post) ohne Zufälle aus. Man schmückt sich mit dem Zufall, mehr aber auch
nicht.
Wer Komplexität ernst nimmt (und dazu können wir nur anraten!),
wird Verhältnisse in den Blick bekommen, in denen nicht immerfort allesmit allem verknüpft werden kann. Wenn dem so ist, wird es notwendig
zu Ereignisverkopplungen, Gelegenheiten und Begebenheit kommen, die
bisher nicht beobachtet wurden, und die Marktchancen, Kooperationsmög-
lichkeiten oder auch Produktinnovationen versprechen. Vor diesem Hinter-
grund ist zu fragen: Wann sind Ereignisse Zufälle, wie ist deren produktive
oder unproduktive Wirkung, und vor allem, kann der Zufall besser genutzt
werden? Zu diesen Fragen haben wir in dieser Ausgabe ganz unterschied-
liche Beobachtungen vereint. Wir laden Sie ein, Spielarten des Zufalls zu
erkunden, ökonomischen, soziologischen, künstlerischen-philosophischen
Überlegungen zu folgen und sich an einer Vielzahl, teilweise absurder zu-
fälliger Ereignisse in Management und Beratung zu erfreuen.Dass künstlerische Perspektiven uns bei diesem Thema besonders weiter-
helfen werden, war schnell klar: Anders als in Unternehmen gibt es in der
Kunst von jeher eine größere Nähe zum Ungeplanten. Die Arbeit »Striptease
in the Morning« unseres Featured Artists Dorothea Goldschmidt zeigt uns,
wie im künstlerischen Schaffensprozess konzeptionelle Ansätze mit dem
situativen Umgang unkoordinierter Elemente in Einklang gebracht werden.
Goldschmidts mehrschichtig mit Filzstift auf Wände aufgetragenen Zeich-
nungen sind eine collagenhafte Mischung aus Text und Bildmotiven. Auch
die Beraterin Claudia Köhler arbeitet mit ihrem CollagenWerk an der Frage,
wie man das Experimentelle in der täglichen Beratungspraxis einführen
kann. Und die Schriftstellerin Tanja Dückers schildert, wie der Zufall uns
das Grauen lehren kann.
Selbstverständlich findet sich in diesem Band auch eine Fülle grundsätz-
licher Beiträge über die Entstehung des Begriffs des Zufalls und über die
Möglichkeiten, diesen für Management und Beratung nutzbar zu machen:
Thomas Stölzel untersucht den Begriff zunächst etymologisch und zeigt auf,
dass es um Wahrgebung des Zufalls geht. In welcher Form Individuen und
T o r
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d r e a s S z a n k a y
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5/16/2018 Bestechung: Wenn der Zufall auf sich warten l sst - slidepdf.com
http://slidepdf.com/reader/full/bestechung-wenn-der-zufall-auf-sich-warten-laesst 34Editorial Revue für postheroisches Management/ Heft 6
Organisationen auf Zufälle reagieren können, behandelt der Beitrag von
Barbara Heitger und Annika-Nora Serfass. Hier wird der Begriff der Resilienz
als Maß der Widerstandsfähigkeit und Offenheit gegenüber zufälligen Er-
eignissen eingeführt. Und während Maren Lehmann in einer historisch-
soziologischen Perspektive den Zufall als Ordnungsprinzip der Revolution
sieht, zeigt Gereon Uerz aus der Perspektive eines Zukunftsforschers, wie der
moderne Begriff der Zukunft eine Emanzipation erfahren hat, die der Begriff
des Zufälligen noch nicht vollzogen hat.
Zufall, Spiel und Improvisation, da sollte es doch Zusammenhänge ge-
ben! – Fritz B. Simon weist auf die Ähnlichkeiten des Glücksspiel und des
Kapitalismus, vor allem des Finanzmarktes, hin, und Robert Vitek zeigt am
Beispiel des Pokerspiels, dass der Erfolg einiger Spieler mehr als nur Zufall
ist, insofern können Management und Beratung vom Pokern einiges lernen.
Mit dem Fokus auf Bestechungen und Korruption nimmt Uli Reiter funktio-
nale Äquivalente für den Umgang mit dem Zufall in den Blick. Auch dies sind
Mittel und Wege, Erwartungssicherheit herzustellen. Reinhard Tötschinger
fragt mit Weick, ob wir erst handeln oder erst denken sollten, und fordert
dazu auf, über Improvisationen dem Zufall zu begegnen. Ganz ähnlich argu-mentiert Gerhard P. Krejci, wenn er die Interaktion als Kommunikations-
form hervorhebt, in der Zufälle eher bearbeitbar sind. Welche Schwierigkei-
ten Organisationen mit dem Unerwarteten haben, zeigt Eva Ludwig-Glück
am Beispiel von Stiftungen.
Sie merken, die Liste an Beiträgen zum Zufall ist lang, und sie wird noch
länger, denn ein wenig versteckt im Heft findet sich ein absoluter Klassiker
der Organisationstheorie. Angesichts der Themenstellung kamen wir einfach
nicht umhin, Ihnen das Garbage Can Model von Cohen, March und Olsen in
Erinnerung zu rufen. Klassiker der Organisationstheorie sind die Kolumnen
der Professoren Baecker, Simon und Priddat noch nicht, wohl aber unver-
zichtbare, feste Beiträge in der Revue – insofern unsere internen Klassiker.Und zuletzt wollen wir noch auf unsere Rubrik »per Zufall« hinweisen. Wir
haben unsere Leser dazu aufgerufen, uns ihre Begegnungen mit dem Zufall
zu schildern, und haben die Einsendungen durch das Heft verteilt einge-
streut. An dieser Stelle noch einmal besten Dank für die rege Beteiligung.
Wir wünschen Ihnen viel Spaß beim Lesen und ein angeregtes Stolpern über
den Zufall, er kommt ganze 507 Mal auf den nächsten 130 Seiten vor.
Für die Herausgeber: Torsten Groth und Andreas Szankay
R e d a k t i o n s t e a m : ( v o n o b e n n a c h u n t e n ) T o r s t e n G r o t h ,
D i r k B a e c k e r , K a t r i n G l a t z e l , A n d r e a s S z a n k a y ,
F r i t z B .
S i m o n , R
u d o l f W i m m e r . I l l u s t r a t i o n : C l e m e n s H a b i c h t
, w w w . c
l e m e n s h a b i c h t . c o m
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I n h a l t
Inhalt Revue für postheroisches Management/ Heft 6
3 Editorial von Torsten Groth, Andreas Szankay
6 Thomas Stölzel
Der Zufall als Anwalt der Freiheit
12 Featured Artist
Dorothea Goldschmidt
20 Barbara Heitger, Annika-Nora SerfassDem Zufall ein Schnippchen schlagen – durch Resilienz
Unerwartetes meistern
28 Maren Lehmann
Zufällige Elemente. Die Organisation der Revolution
38 Claudia Köhler im Interview
Das CollagenWerk
40 Michael D. Cohen, James G. March, Johan P. Olsen
A Garbage Can Model of Organizational Choice
50 Gereon UerzDurchkreuzte Pläne – Zur sozialkonstruktivistischen Dimension
von Wild Cards
56 Fritz B. Simon
Zocken oder: Psychologische Erfolgsfaktoren des Kapitalismus
70 Caroline Rudzinski, Andreas Szankay
Learning Journeys
72 Tanja Dückers
Minnas Geheimnis
76 Reinhard Tötschinger
Zuerst handeln oder zuerst denken?
80 Gerhard P. Krejci
Weniger Organisation, mehr Interaktion
86 Robert Vitek
Management by Poker
90 Uli Reiter
Bestechung: Wenn der Zufall auf sich warten lässt
98 Julian Hagen, Felix Langenmayr
Die Universität als Forschungsprojekt
102 Christian Strunden
Entwicklungshelfer, rauf aufs Fahrrad!
106 Hollywood Zufälle? von Fritz B. Simon
110 Wozu Wirtschaft? Zufällen als modus operandus von Birger P. Priddat
112 Management für Fortgeschrittene Krisen sind normal
von Dirk Baecker
116 Eva Ludwig-Glück
Über den Umgang mit unwahrscheinlicher Kommunikation –
Eine systemtheoretische Betrachtung des Stiftungswesens
124 Hören & Sehen
130 Überblick, Bestellservice, Impressum
5/16/2018 Bestechung: Wenn der Zufall auf sich warten l sst - slidepdf.com
http://slidepdf.com/reader/full/bestechung-wenn-der-zufall-auf-sich-warten-laesst 5Revue für postheroisches Management/ Heft 690Bestechung: Wenn der Zufall auf sich warten lässt
»dann wird daz bley zu gold, dann fällt der zufall hin, wann ich mit
gott durch gott in gott v erwandelt bin«. 1
Die Vollendung der göttlichen Schöpfung bringt es mit
sich, so der Theologe und Lyriker Silesius 1675, dass Blei
in Gold verwandelt wird und dass der Zufall hinfällt, was
soviel bedeutete wie vergeht oder verdirbt (corrumpere).
Er fiel dann als böser Widersacher der göttlichen Vor-
sehung nicht mehr zu, sondern war im Angesicht der
finalen Perfektion im doppelten Sinne des Wortes hin-
fällig.
In letzter Zeit taucht vermehrt der Ausdruck Zufalls-
management auf, der zum einen den Versuch meint,
durch planende Steuerung zu verhindern, dass Prozesse
zufällig verlaufen. Die Differenz von Zielen und Ergeb-
nissen soll minimiert werden, damit Erfolg nicht als
Zufallsprodukt, sondern als beabsichtigtes Resultat von
Entscheidungen erscheint. Die Studien des Sportwissen-schaftlers Martin Lames führen die andere Seite dieser
Sichtweise ein, nach der Zufall beim Fußballspiel nicht
verhindert, sondern durch die Produktion störender Un-
ruhe begünstigt werden soll, damit sich überraschende
Gelegenheiten für gewinnbringende Spielzüge ergeben.
Bei der Thematisierung von Bestechung und Korrup-
tion ist dagegen viel von böser Absicht und kaum von
Zufall die Rede und wenn, dann spielt er die Rolle des
Kommissars Zufall, der die Aufgabe hat, die niedrige Auf-
klärungsquote zu verbessern. Und sobald Ereignisse in
einem so eigenartigen Verhältnis stehen, dass sowohlFehlleistung als auch Zufall als Erklärung ausfallen,
dann kommt offensichtlich nur noch Bestechung als
Erfolgs- oder als Enttäuschungserklärung in Betracht:
»Einen Elfmeter zu übersehen okay, aber derer gleich 4
ist ein Skandal. Das kann kein Zufall sein. Schiedsrichter
klar bestochen«.2
Der Vergleich von Zufall und Bestechung wird uns im
Folgenden beschäftigen, und wenn wir zunächst einmal
fragen, wovon sich Zufall unterscheidet, stoßen wir auf
eine Leerstelle, die im Laufe der Evolution des Zufalls
unterschiedlich besetzt wird. Mal wird er vom Wesent-
lichen, mal von Wissen oder Kausalität, Zweck oder De-
terminiertheit oder auch von Notwendigkeit unterschie-
den3, und zwar derart, dass der Zufall seine andere Seite
als nicht zufällig markiert. Das Positive des Jokers Zu-
falls, so der erste Eindruck, ist sein Potenzial der Negation
von Schemata, die Zusammenhänge erklären. Dadurch
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G e s c h i c h t e u n d F u n k t i o n v o n B e s t e c h u n g
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A u t o r s b e s c h ä f t i g t s i c h m i t P h ä n o m e n u n d F u n k t i o n d e r I l l e g a l i t ä t . w w w . l a e r m e n d e - g
e s c h e n k e . d e w w w . u n d o . d e
5/16/2018 Bestechung: Wenn der Zufall auf sich warten l sst - slidepdf.com
http://slidepdf.com/reader/full/bestechung-wenn-der-zufall-auf-sich-warten-laesst 691 Revue für postheroisches Management/ Heft 6Bestechung: Wenn der Zufall auf sich warten lässt
entsteht ein Freiraum zur Beobachtung von Ereignissen,
deren Zusammenhang zum Beobachter nur darin be-
steht, dass sie nicht mit seinen Strukturen zusammen-
hängen – aber überraschenderweise zusammenhängen
könnten.
Bei der Erklärung von Ereignissen mithilfe von Beste-
chung wie im Falle des verdächtigten Schiedsrichters
ergibt sich ein ähnliches, aber doch anderes Bild. Auch
hier geht es um die Frage des Zusammenhangs von Er-eignissen, wobei der Fokus darauf liegt, dass eigentlich
kein Zusammenhang bestehen sollte und deshalb zufäl-
lige Fehlentscheidungen vermutet werden, wobei deren
Aneinanderreihung jedoch als nicht mehr zufällig er-
scheint. So entsteht der Verdacht, dass es sich bei dieser
Überraschung nicht um Zufall oder eine Fehlleistung,
sondern um Bestechung handeln könnte.
Zufall und Bestechung, das ist unsere These, kreisen
beide auf ähnliche Weise um die Paradoxie der Koordi-
nation unkoordinierter Ereignisse – so werden ja zufäl-
lige, günstige Gelegenheiten auch als bestechend be-schrieben, und Bestechung scheint sich andererseits am
Zufall zu nähren. Aber wie lassen sich diese Impressio-
nen erklären und von welchem Begriff des Zufalls wollen
wir dabei ausgehen?
Zufall
Es lassen sich drei Ordnungsgrade des Zufalls unter-
scheiden. Der Zufallsbeobachter erster Ordnung bezieht
sich auf die Welt als Faktum und richtet sein Verhalten
nach vorgefundenen Gegebenheiten aus, zu denen auch
gute und böse Überraschungen und Gelegenheiten ge-
hören. Zufall erster Ordnung ermöglicht zudem ein Aus-
blenden der Unterscheidbarkeit des Zufalls überhaupt,
sodass Zufall entweder alles sein kann oder auch nichts.
Nahezu jedes Ereignis kann oder konnte dann, wie im
Falle kultischer, schicksalsbestimmter oder religiöser
Beobachtungsweisen, als durch den unergründlichen
Ratschluss des Schicksals oder der Götter vorausbe-
stimmt erscheinen – so auch überraschende Ereignis-
se, die dann z.B. bei den Griechen als günstige oder un-
günstige Fügungen der launischen Göttin Tyche oder als
günstige Gelegenheiten des Gottes Kairos kommunikativ
weiterbearbeitbar waren.4
Der Zufallsbeobachter zweiter Ordnung vergleicht
Beobachter erster Ordnung und kann das, was diesen
jeweils als Gegebenheit zufällt, ihrer eigenen Beobach-
tungsweise zurechnen. Er sieht auf diese Weise, dass ein
System den Zufall als fehlende Koordination von Um-
weltereignissen mit den eigenen Strukturen beschreibt.
Da die Komplexität der Systemumwelt für ein System
unvorhersehbar und unkontrollierbar bleibt, kann sie
nur in Form überraschender Störungen aufgegriffen und
im Rahmen der eigenen Beschränkungen als Gelegen-
heit genutzt, d.h. in Strukturänderungen transformiert
werden. Nach Niklas Luhmann ist dann Zufall die Fä-higkeit, »Ereignisse zu benutzen, die im System weder
vorhergesehen noch produziert werden können«.5 Doch
zufällige Ereignisse überraschen nicht schon deshalb, da
sie mit den Systemzuständen vor ihnen und nach ihnen
nicht koordiniert sind, sondern da sie zugleich so er-
scheinen, als ob sie koordiniert sein könnten.
Der Zufallsbeobachter dritter Ordnung beobachtet
den Zufall schließlich als selbstbezügliche Perspektive
der Evolution. Es sind dann nicht mehr nur die Struk-
turen, die dem Zufall Raum lassen und ein System zu
Entscheidungen zwingen, sondern der Zufall erzeugt dieSystemstrukturen, die dann wiederum die Bedingung
dafür sind, dass von einem beobachtenden System Er-
eignisse im Nachhinein als zufällig beobachtet werden
können.6 Der Zufallsbeobachter dritter Ordnung beob-
achtet die Rolle des Zufalls bei der Systementstehung
und -auflösung, und dann hängt der Fortbestand eines
Systems nicht mehr nur davon ab, den Zufall zu vermei-
den oder auf ihn zu warten und ihn zu nutzen, sondern
1 Silesius, Angelus: Cherubinischer Wandersmann. Ca. 1675. Buch 1.
Reim: 102. Die geistliche Goldmachung
2 Internet-Blog. http://de.woobby.com/result/show/42694
(02.01.10)
3 Hoffmann, Arnd: Zufall und Kontingenz in der Geschichtstheorie:
mit zwei Studien zu Theorie und Praxis der Sozialgeschichte.
Bd. 184 Studien zur europäischen Rechtsgeschichte. Frankfurt
a.M. 2005
4 Hoffmann: Zufall a.a.O.
5 Luhmann, Niklas: Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt
1992. S. 564
6 Esposito, Elena: Soziales Vergessen. Frankfurt 2002. S. 327
Zufall und Bestechung, das istunsere These, kreisen beide
auf ähnliche Weise um die Para-
doxie der Koordination unkoor-
dinierter Ereignisse …
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http://slidepdf.com/reader/full/bestechung-wenn-der-zufall-auf-sich-warten-laesst 792 Revue für postheroisches Management/ Heft 6Bestechung: Wenn der Zufall auf sich warten lässt
zunehmend vom Potenzial, den Zufall, also das Unpro-
duzierbare, selbst zu produzieren. Infolgedessen müssen
auch die steigenden Anforderungen an die Transformation
dieser Gelegenheiten in Strukturen und die nachhal-
tigen Legitimationskosten für nicht genutzte Gelegen-
heiten bewältigt werden. Der Zufall bleibt bei dieser
Beobachtung dritter Ordnung zwar auch unvorherseh-
bar, aber das Unvorhersehbare und Unkoordinierte wird
mit zunehmender Komplexität der Gesellschaft immer
wahrscheinlicher – wobei zugleich auch immer unwahr-
scheinlicher wird, dass sich der Zufall genau dann ein-
stellt, wenn er benötigt wird.
Zufall unterscheidet in Bezug auf die eigenen Struk-
turen eines Systems koordinierte von unkoordinierten
Ereignissen7, wobei die Seite koordiniert als Platzhalter
für Wissen, Wesentlichkeit, Kausalität, Zweck, Determi-
niertheit oder Notwendigkeit etc. dienen kann. Und je
nachdem, welchen Wert ein System dieser Seite zuweistund dann als nicht zufällig markiert, lassen sich andere
Systemereignisse als koordiniert (als nicht zufällig) und
andere Umweltereignisse als unkoordiniert und damit
als zufällig beobachten. Zufall ist folglich nicht nur und
ausschließlich beobachteter Zufall, sondern seine Be-
stimmung hängt außerdem negativ davon ab, wie das
beobachtende System seine eigene Reproduktion erklärt,
d.h., welche Ereignisse es als koordiniert und damit als
nicht zufällig behandelt. Daraus resultiert, dass immer
zwei oder mehr Systeme als Koproduzenten an der
Produktion von Zufall beteiligt sind. Denn damit für einSystem die eigenen Operationen überhaupt als nicht
zufällig und koordiniert beobachtbar sind, müssen sie
von denen anderer Systeme unterscheidbar sein, die
dann in Relation zu den eigenen Strukturen als unkoor-
diniert bzw. als Störungen erscheinen und nur so als
zufällige Gelegenheiten genutzt werden können.
Auch Bestechung und Korruption nutzen und produ-
zieren überraschende Störungen und Gelegenheiten und
ermöglichen deren Transformation in Strukturen, aber
niemand käme auf die Idee, sie mit Zufall gleichzu-
setzen. Denn sie gelten als Inbegriff absichtsvoller, dem
Eigennutz verpflichteter Planungsvorhaben, welche die
Welt und damit auch Gesellschaft nicht als schicksal-
haft, gottgegeben oder zufällig hinnehmen, sondern
versuchen, unangenehme Überraschungen per Eigen-
initiative und mit verschwörerischer Entschiedenheit
auszuschließen.
Zufall und Evolution
Wir nähern uns der Frage nach dem Zusammenhang
von Bestechung und Zufall, indem wir zunächst die
evolutionäre Rolle des Zufalls beleuchten. Evolution, ver-
standen als beobachtete Änderung, unterscheidet Va-
riation, Selektion und Restabilisierung. Unter Variation
verstehen wir negierende Mitteilungen, unter Selektion
die positive oder negative Auswahl einer Variation in
Bezug auf bestehende Strukturen und unter Restabi-
lisierung den Einbau einer geänderten Struktur in ein
sich reproduzierendes System.8 Selektion kann also
Vorhandenes ändern, aber genauso gegen Variation
schützen, die zunächst lediglich das Vorkommen eines
bestimmten Neins meint. Dieses erzwingt eine Auswahl-
entscheidung und wird zum Anlass einer Strukturände-
rung, wobei zu bedenken ist, dass jede Änderung einem
System nicht einfach etwas hinzufügt oder vorenthält,
sondern den bisherigen Zusammenhang irreversibel ver-ändert und die Komplexität eines Systems erhöht, was
dann durch Restabilisierung ausgeglichen werden muss.
Als evolutionär erfolgreich gelten nicht nur angenom-
mene, sondern auch abgelehnte Variationen, da beide
Selektionsweisen die Strukturen ändern. Ablehnungen
erfordern sogar oft einen höheren Aufwand, denn die
beibehaltenen Strukturen können gegenüber den negier-
ten Alternativen unter Legitimationsdruck geraten.9
Zufall beziehen wir im Gegensatz zur klassischen
Evolutionstheorie nicht auf das Vorkommen von Varia-
tionen, sondern darauf, ob Variationen positiv oder ne-gativ selektiert werden, und auch auf die an jede Aus-
wahlentscheidung anschließende Restabilisierung. Das
heißt, dass die Bestimmtheit eines Neins noch nichts
darüber aussagt, ob es angenommen oder abgelehnt
wird, und dass die Bestimmtheit einer Annahme oder
Ablehnung offen lässt, welche strukturellen Restabilisie-
rungen daraus resultieren. Dieses unkoordinierte Zusam-
menspiel von Auswahlentscheidungen und Restabilisie-
rungen führt dazu, dass evolvierende Systeme an ihren
inneren Grenzen unkontrolliert resonanzfähig sind und
auftretende Störungen jederzeit und nicht planbar dazu
führen können, dass ein System diese Anlässe als zufäl-
lige Gelegenheiten zur Strukturtransformation nutzt.
Doch wo kommt Zufall zum Einsatz, wenn wir den
Blick auf die großen Funktionssysteme wie Wirtschaft,
Recht, Wissenschaft und deren Organisationen richten?
Jedes System verfügt über Codewerte und Programme,
5/16/2018 Bestechung: Wenn der Zufall auf sich warten l sst - slidepdf.com
http://slidepdf.com/reader/full/bestechung-wenn-der-zufall-auf-sich-warten-laesst 8/Revue für postheroisches Management/ Heft 693Bestechung: Wenn der Zufall auf sich warten lässt
welche die Bedingungen für die richtige und falsche
Zuweisung der Codewerte festlegen. Rechtliche Opera-
tionen orientieren sich beispielsweise ausschließlich an
der Codierung Recht/Unrecht und an Gesetzen als recht-
lichen Programmen. Das Recht muss verhindern, dass
systemfremde Kriterien wie Zahlungsfähigkeit oder wis-
senschaftlicher Erfolg darüber entscheiden, was als
Recht und was als Unrecht gilt, aber andererseits er-
möglicht die Programmierung jedes Systems die Berück-
sichtigung und den Wiedereinschluss systemfremder
Aspekte. Der zufallsabhängige, umweltoffene Resonanz-
bereich ansonsten geschlossener Systeme findet sich
also im Bereich ihrer Programme, der Umprogrammie-
rung dieser Programme und der damit verbundenen
Veränderung ihrer Selektionskriterien.
Die Verknappung des Zufalls
Damit das Potenzial des Zufalls nutzbar wird, muss erschnell erkannt werden. Das Bezugsereignis kann eine
Wahrnehmung, ein Einfall oder eine andere ereignisför-
mige Gelegenheit sein, die zunächst einmal nur darin
besteht, dass sie als momentan gegebene Möglichkeit
beobachtet wird, die plötzlich vorkommt und wieder
verschwindet, wenn sie nicht genutzt wird.10 Sie wird,
so sagt ein römisches Sprichwort, »schwer erlangt, aber
leicht verloren«. Und wenn eine solche Gelegenheit un-
genutzt verstrichen ist – dann ist (kommunikativ) auch
nichts gewesen. Es sei denn, dass sie als verpasste Ge-
legenheit thematisiert wird, auf deren Wiederholungdann gewartet werden muss. Aber was tun, wenn der
Zufall auf sich warten lässt oder wenn sich die sich bie-
tenden Gelegenheiten als ungelegen oder unbrauchbar
erweisen? Sind überhaupt gleichwertige Alternativen
verfügbar, wenn mehr, weniger oder andere Überra-
schungen benötigt werden, als sich zufällig ergeben?
Und was, wenn auch die erwartbaren Routinen der gän-
gigen Verfahrensweisen der Gesellschaft unerwünschte
oder unbrauchbare Resultate liefern?
Für Individuen und Organisationen sind diejeni-
gen Verfahrensweisen von besonderem Interesse, welche
über ihre Teilnahmemöglichkeiten an der Gesellschaft,
also über Inklusion und Exklusion entscheiden. Die Pro-
gramme dieser formalen Auswahlverfahren sind durch
Moral geschützt und rechtlich normiert und schließen
informale Verhandlungen über ihre Veränderung aus.
Dadurch werden auch zufällige Störungsmöglichkeiten
verknappt, denn die ausgeschlossenen, informalen Ver-
handlungen sind als vertrauliche oder heimliche Inter-
aktionen Zufallsbegünstiger par excellence.11 Normierte
Auswahlverfahren nehmen jedoch mit dem Übergang
zur Moderne sprunghaft zu und die Verlagerung der
Veränderung ihrer Selektionskriterien in andere Verfah-ren verknappt den Zufall im Rahmen der Verfahren
selbst oder schließt ihn sogar aus. So kann z.B. die
Verfahrensweise eines Vergabeverfahrens für staatliche
Bauaufträge nicht im Rahmen desselben Verfahrens ge-
ändert werden, sondern es bedarf eines separaten Verfah-
rens zur Veränderung der entsprechenden Vorschrift.
Diese Verlagerung der Veränderung von Selektionskri-
terien bzw. Entscheidungsprämissen in andere Verfah-
renssysteme desselben Systems kann auch als Trennung
von Selektion und Restabilisierung bezeichnet werden,
die mit der Moderne an Bedeutung gewinnt, da sie eineBedingung dafür ist, dass die Verfahrensweisen von
Systemen überhaupt ungestört und unabhängig von un-
erwünschten Umweltpressionen funktionieren können.
Das führt jedoch andererseits dazu, dass die betroffenen
Verfahren die Umweltadäquatheit ihrer Leistungen
nicht selbst überprüfen und korrigieren können. Sie sind
deshalb von einer ständigen Knappheit an Zufalls- und
7 Luhmann, Niklas: Weltkunst. In: Gerhards, Jürgen: Soziologie
der Kunst: Produzenten, Vermittler und Rezipienten.
Opladen 1997. S. 84
8 Baecker, Dirk: Management im System. In: Organisation und
Management. Frankfurt 2003. S. 274 ff.
9 Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt
a.M. 1997. S. 428
10 Luhmann, Niklas: Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt
a.M. 1992. S. 465 ff.
11 Fuchs, Peter: Autopoiesis, Mikrodiversität, Interaktion.
In: Jahraus, Oliver/Ort, Nina (Hrsg.): Bewußtsein – Kommuni-
kation – Zeichen, Wechselwirkungen zwischen Luhmannscher
Systemtheorie und Peircescher Zeichentheorie. Tübingen 2001
Für Individuen und Organisa-
tionen sind diejenigen Verfah-
rensweisen von besonderem
Interesse, welche über ihre Teil-
nahmemöglichkeiten an derGesellschaft, also über Inklusion
und Exklusion entscheiden.
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Resonanzfähigkeit geprägt, was zugleich zu einer enor-
men Steigerung des Variationsdrucks im Umfeld dieser
Verfahren führt.
Die bestechende Evolution der Miete
Bestechung entzündet sich an Knappheitsproblemen,
bearbeitet jedoch im Unterschied zu Wirtschaft eine
besondere Form der Knappheit, nämlich die Knappheit
der Übertragbarkeit von Knappheiten, und lässt sich
nicht auf ökonomische Sachverhalte beschränken.12 Ob
es um Knappheiten an Aufträgen, an Zahlungsfähigkeit,
an Liebe, an Seelenheil, an Aufmerksamkeit, an Zuge-
hörigkeit bzw. Mitgliedschaft in Haushalten und Orga-
nisationen, an sportlicher Leistungsfähigkeit oder um
Knappheiten an Wählerstimmen, Machterhalt, Kontak-
ten oder an Konkurrenz- oder Kooperationsmöglichkei-
ten geht, spielt für Bestechung keine Rolle – sie ist in
dieser Hinsicht universell und generell verfügbar. Wirkönnen Bestechung deshalb allgemein auf die Frage der
Übertragbarkeit von Knappheiten im Hinblick auf die
Teilnahmemöglichkeiten von Individuen und Organi-
sationen und auf das Leistungsverhältnis von Systemen
beziehen. Solange Bestechung nicht verboten ist, prüft
und vollzieht sie vertraulich Formen der Übertragbar-
keit von Knappheiten und entfaltet ihr Potenzial in
den dadurch entstehenden Grauzonen der Evolution. Sie
stellt den zur jeweiligen Zeit üblichen, aber knappen
Übertragbarkeitsformen nicht übliche gegenüber, die
nicht verboten sind, aber auch nicht ausdrücklicherlaubt, und unterscheidet dabei Übertragbarkeiten, die
nicht mehr üblich (und deshalb anrüchig) sind, von sol-
chen, die noch nicht üblich (und deshalb verdächtig)
sind. Soweit schriftliche Aufzeichnungen dies erschlie-
ßen lassen, finden sich außerdem zu allen Zeiten Be-
stechungsformen, die erlaubt oder als solche nicht zur
Kenntnis genommen werden, und Formen, die politisch
bekämpft und rechtlich verboten werden.
Das Verhältnis von Bestechung und Zufall wollen
wir am Beispiel der Entstehung der Miete etwas näher
beleuchten und gehen dafür ca. 500 Jahre in die frühe
Neuzeit zurück. Die zeitliche Distanz verleiht uns
Abstand zu den aktuellen, moralischen Verstrickungen
des Themas Bestechung und wir haben einen längeren
Zeitraum zur Beobachtung evolutionärer Effekte zur
Verfügung. Am Übergang zur Moderne, und damit zur
funktional differenzierten Gesellschaft, haben wir es mit
Auflösungserscheinungen der Schichtordnung des Mit-
telalters zu tun, deren multifunktionale Einrichtungen
den Sinnüberschüssen, der zunehmenden Komplexität
und Mobilität nicht mehr gewachsen waren. Eine der
damit im Zusammenhang stehenden Innovationen war
die Miete, ohne deren für uns selbstverständliche
Leistungen die heutige Gesellschaft nicht vorstellbar
wäre, und wir nehmen an, dass unsere positive Be-
wertung der Miete der von damals entspricht – doch
weit gefehlt. Noch das Deutsche Rechtswörterbuch von
1896 verzeichnet unter Miete nicht nur uns vertraute
Bedeutungsvarianten, sondern auch eine in diesem
Kontext unvertraute: »Leistung zur Erlangung eines
unlauteren (Vermögens-)Vorteils, oft in formelhaften
Wendungen mit Bitte, Freundschaft, Gabe, Geschenk,
Gift, Leid, Lieb, Liebtat oder Liebung«.13 Dem entsprach
die Unterscheidung von »schenck« (gute Geschenke)
und »miet« (böse Geschenke) ab dem Ende des 14. Jhd.im Zusammenhang mit den damals noch obligatori-
schen »schenckpractiken« der entstehenden Stadträte 14
und entsprechend wurde der »mietling« anfangs als
(miete=) Made im Speck des Haushalts verachtet. Mieter
und Vermieter als wechselseitig Bestechende und Be-
stochene und die Miete als Form der Bestechung, als
eine vorteilsorientierte, unlautere »Liebtat«?
Der Haushalt der Schichtgesellschaft des Mittelalters
war eine multifunktionale Einrichtung, die Stabilität
garantierte und in nahezu jeder sozialen Hinsicht für
ihre Angehörigen zuständig war. Die Leute wurden in
ihre Schicht und ihren Haushalt hineingeboren und
verbrachten in diesem Status in der Regel ihr ganzes
Leben. Der Haushalt war durch den Treuebegriff mo-
ralisch und rechtlich geschützt und schloss Familien-
mitglieder und dauerhaft oder vorübergehend asso-
Solange Bestechung nicht
verboten ist, prüft und vollziehtsie vertraulich Formen der
Übertragbarkeit von Knapphei-
ten und entfaltet ihr Potenzial
in den dadurch entstehenden
Grauzonen der Evolution.
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94 Revue für postheroisches Management/ Heft 6Bestechung: Wenn der Zufall auf sich warten lässt
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ziierte Personen ein – und alle anderen als Fremde aus.
Dauerhafte Zugehörigkeit wurde durch die Selektions-
kriterien Verwandtschaft und Geburt bestimmt und
temporäre Zugehörigkeit durch die beginnende Lohn-
arbeit, durch Patronage und durch den rechtlichen
Status des Gastes, der den Fremden (als Gast) wieder
einschloss und zugleich einen bezahlenden Gast als
Möglichkeit ausschloss. Die erforderlichen Entscheidun-
gen über die Haushaltszugehörigkeit ergaben sich aus
diesen vorgegebenen und zu entscheidenden Kriterien,
wobei die Entscheidungen dem Haushaltsvorstand
zugerechnet wurden, dem auch die Ausübung des allge-
meinen Rechts übertragen war.
Die zunehmende Mobilität im Rahmen der Stadt-
bildung und der Ausdifferenzierung von Wirtschaft, Po-
litik und Religion erzeugte einen Überschuss an Varia-
tionen, z.B. einen Übernachtungs- und Wohnbedarf,
dem eine Knappheit an dafür geeigneten Selektions-möglichkeiten gegenüberstand. Doch nicht nur das,
sondern auch die zufälligen Gelegenheiten waren knapp,
aus denen sich die erforderlichen strukturellen Än-
derungen hätten ergeben können. Nehmen wir also
einmal an, dass einer der vielen durchreisenden Ge-
schäftsleute keinen Platz in der Herberge fand, dass ein
ehemals Unfreier sich die Freiheit durch das Leben in der
Stadt erwerben wollte, einer der vielen Pilger nicht als
Gast aufgenommen wurde, weil er als Scheinheiliger
verdächtigt wurde, oder dass ein wohlhabender Gast sei-
nen Gaststatus verlängern musste, weil sich überra-schenderweise die Geschäfte verzögerten, dann ging er
vielleicht ein Risiko ein und fragte beim Hausherrn ver-
traulich nach, ob er ihm etwas anbieten könne und ob er
bei dieser Gelegenheit auch etwas nachfragen dürfe.
Eventuell fühlte sich der Hausherr gestört oder er sah in
der Störung eine günstige Gelegenheit – auf jeden Fall
kam das Angebot überraschend, da es normalerweise an
ihm war, sich um den anklopfenden Fremden oder den
(immer länger bleibenden) Gast zu kümmern. Aber mög-
licherweise ging die Initiative auch vom Hausherrn aus,
der einen gewissen Unmut über die zu niedere Höhe
eines Gastgeschenks in Anbetracht der zunehmenden
Verweildauer erkennen ließ. Das Vorhaben war so oder
so verwerflich und deshalb riskant, jedoch andererseits
auch eine günstige Gelegenheit im Hinblick auf neue
Kontakte oder auf die Knappheiten oder Überschüsse
seiner Haushaltung. Aber würden die zum Vorschein
gekommenen Knappheitsdifferenzen überhaupt zuein-
ander passen, waren sie übertragbar oder nicht und
würden die Übertragungen ihre bestechenden Ver-
sprechungen halten?
Doch derartige Fragen sind immer erst im Nachhinein
thematisierbar, denn die evolutionäre Erprobung einer
anrüchig-verdächtigen, riskanten Übertragungsweise ist
nicht kommunikabel und erfolgt deshalb vertraulich,
schnell, irreversibel und mit stark bindenden Konse-
quenzen. Es gibt sie nicht auf Probe, und sobald die Ver-
handlung des Verfahrens beginnt, ist es zum Aufhören
bereits zu spät. Die verschwörerische Vertraulichkeit der
Bestechung vollzieht sich, vor allem sobald sie Routinen
entwickelt, durch die Verschränkung unverdächtiger
Symbole, schnell und ohne viele Worte: Wie geht es – ein
Geschenk für die Kinder? Sie dockt an fehlende und
unbrauchbare Gelegenheiten an, ist also auf Knappheit,
auch auf die des Zufalls, angewiesen und konstruiert dieunkoordinierten Ereignisse, die sie für ihren Tausch
zusätzlich benötigt, durch schnell spekulierendes An-
bieten und Nachfragen. Bestechung zieht dabei Va-
riation und Selektion in einer Sequenz zusammen und
erhöht gleichzeitig durch ihre hohe Bindewirkung die
Chancen auf Wiederholung und Restabilisierung. Aber
was wird durch nicht verbotene Bestechung variiert und
wie erreicht sie die sofortige Selektion?
Während der Zufall ganz allgemein unkoordinierte
Ereignisse durch systeminterne Nutzung beobachtbar
macht und dadurch koordiniert, zentriert sich Beste-chung um einen modalen Aspekt, also um die Frage der
Koordinierbarkeit ansonsten unkoordinierbarer Ereignis-
se. Und da sich Bestechung nicht auf Knappheit gene-
rell, sondern auf die Knappheit an Übertragbarkeit von
Knappheiten bezieht, ist auch ihr evolutionärer Fokus
nicht auf Variation oder Selektion generell, sondern auf
die Variation und Selektion von Selektionskriterien
gerichtet, denn nur deren Veränderung ermöglicht eine
Modifizierung von Übertragbarkeiten. Beim Entstehen
der Miete durch Bestechung ging es um die Variation der
bisher üblichen Selektionskriterien zur richtigen Bestim-
mung der Haushaltszugehörigkeit. Dieses Nein zum bis-
95 Revue für postheroisches Management/ Heft 6Bestechung: Wenn der Zufall auf sich warten lässt
12 Reiter, Uli: Lärmende Geschenke. Die drohenden Versprechen
der Korruption. Weilerswist 2009
13 Deutsches Rechtswörterbuch, Stichwort »miete«.
http://drw-www.adw.uni-heidelberg.de/drw/ (12.12.09)
14 Groebner, Valentin: Gefährliche Geschenke. Konstanz 2000
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http://slidepdf.com/reader/full/bestechung-wenn-der-zufall-auf-sich-warten-laesst 1Revue für postheroisches Management/ Heft 6
her Üblichen war jedoch hinter einem attraktiven Ja zu
einem wechselseitigen, positiven Selektionsangebot ver-
borgen, einer sogenannten Win-win-Situation unter
Ausschluss von Publikum, die zudem durch eine zusätz-
liche Gabe unterfüttert werden konnte. Diese symbo-
lisierte vorauseilenden Dank für eine nicht zufällige
und riskante Normabwei-
chung und trug dadurch
dazu bei, eine zufällige
negative Selektion zu ver-
meiden.
Diese verflochtenen
Vorder- und Hintergrün-
digkeiten, die Ja-nein-Os-
zillation des Bestechenden,
die Attraktivität von Spie-
len und Gewinnen und die
sich daraus ergebendeParalysierung der derart
verschränkten Psychen
tragen im Rahmen der
bestechenden Verhand-
lung eines Verfahrens
dazu bei, einen moralisie-
renden Konflikt zu vermei-
den. Denn dieser hätte
eine Thematisierung zur
Folge, was in der Regel zur
Ablehnung von Neuem,Riskantem und Ungewissem führt. Welche kollektiv ver-
bindlichen Resultate sich langfristig und mithilfe vieler
Zufälle aus dem situativen und partikularen Leistungs-
tausch ergeben würden, konnte sowieso niemand abse-
hen, da sich evolutionäre Neuerungen, insbesondere
solche, die sich in der Grauzone der Evolution vollziehen,
erst dann einschätzen lassen, wenn sie sich bewährt
haben und erste Probleme erzeugen. Bestechung dockt
also an die Verknappung des Zufalls und das daraus
resultierende Fehlen von Gelegenheiten zur Verände-
rung von Selektionskriterien an und ersetzt dann dessen
Überraschungseffekt durch ihre bestechenden Ver-
schränkungen. Während der Zufall überraschende Ge-
legenheiten beobachtbar macht, indem er sie nutzt,
dockt Bestechung an der Zufallsverknappung und am
Ausbleiben von Veränderungsmöglichkeiten an: Sie
nutzt das Fehlen von Gelegenheiten als heimliche Gele-
genheit zur Strukturveränderung und lässt sich darum
als funktionales Äquivalent des Zufalls bezeichnen, d.h.,
sie ermöglicht die Lösung desselben Problems – auf an-
dere Art und Weise.
So entstand, mit weitreichenden Folgen und von nie-
mandem beabsichtigt, durch Bestechung die Miete, eine
neue Form des Eigentums, die es ermöglichte, gegen
Bezahlung vorübergehend Wohnraum zu besitzen und
zu nutzen, ohne der Eigentümer zu sein – aber »miet«,
das Wort für die bösen Geschenke, war noch bis zum
Beginn der Moderne ein Synonym für Bestechung und
Korruption.
Restabilisierung und Korruption
Doch wie restabilisierte sich diese bestechende Selektion
einer Variation von Selektionskriterien, wie differen-
zierten sich Miete und Bestechung und welche Unter-
schiede ergeben sich, wenn Bestechung geduldet bzw.
erlaubt oder geächtet bzw. verboten wird? Den ersten
Hinweis gibt uns das Auftauchen des Wortes »mietherr«,
das jedoch nicht nur den Vermieter, sondern zugleich
auch den zahlungskräftigen Mieter im Unterschied zum
»mietling«, dem nicht so zahlungskräftigen Mieter be-
96Bestechung: Wenn der Zufall auf sich warten lässt
Tr pleflat und L ebl ngse s
»Das würde ich auf keinen Fall machen …« – »… und dann hat er gesagt, ich soll das noch
kopieren, obwohl …« – »… das liegt an der dänischen Ostsee, ganz schön …« – »… kerzengerade
in die Luft …« – »… glaub ich nicht …« – »Wie lange stehen die hier eigentlich schon vor der
amerikanischen Botschaft? Seit dem elften …« – »Hab ich neulich irgendwo gelesen, ich glaub
in der Brigitte.« – »Vorsicht, da liegt wieder so einer von den Haufen!« – »… darüber denk ich
chon seit einiger Zeit nach, ob ich mal wieder was …« – »Nee, ne …« – »Das hat er so entschie-
den, und ich hab dann …« – »Im Cliff war ich schon seit Jahren nicht mehr, die Bedienung
ist einfach miserabel.« – »… süß, eben, oder?« – »Hast Du 'n Tipp?« – »… gruselig, sag ich dir,
öllig abgedreht …« – »… ja, genau, Zahnersatz-Versicherung …« – »Lass uns mal ein bisschen
auf der Brücke stehen bleiben!« – »… abzugsfähig als Werbekosten, ja …« – »… das Neueste ist
ja jetzt Tripleflat ...« – »... darüber mach ich mir Sorgen, muss ich ehrlich sagen …« – »… ichlaub, das war Gandhi …« – »… irgendwas muss ich da anders machen …« – »Lieblingseis …« –
»… lebenslanges Lernen, sagt mein Chef immer, na super!«
nd dann sagt meine Frau zu mir: »Man müsste das mal aufschreiben, was man alles auf
einem Spaziergang rund um die Alster an Gesprächsfetzen mit anhört …« – »Genau, das hab
ich gerade auch gedacht!« Und wir lachen uns an.
artw g Hansen, Ham urg, geb. 1957, Diplompsychologe, lebt in Hamburg und arbeitet
dort als Autor, Herausgeber, Fachlektor und Paar- und Familientherapeut. Zahlreiche Veröf-
fentlichungen, u a. »Respekt – Der Schlüssel zur Partnerschaft«. www.hartwighansen.de
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zeichnete. Das Wort »mietling« hatte allerdings neben
Mieter ebenfalls eine zweite Bedeutung und meinte die
ehemaligen Mägde bzw. Knechte, die ihre Arbeitskraft
vermieteten und sich dadurch von ihrem Ursprungs-
haushalt lösen mussten oder konnten. An der teilweise
katastrophalen Unterbringung der als treulos, feige und
geldgierig geltenden »mietlinge« bzw. »miethleute« ent-
zündete sich dann offensichtlich das formale Recht, was
letztendlich zu einer Legalisierung des Mietrechts und zu
einer Subversion des alten Hausherren- und Gastrechts
führte. Die beginnende Umwertung und Legalisierungder Miete lässt sich sehr gut an einer Anordnung der
Stadt Leipzig von 1701 ablesen, die Strafen androhte,
wenn »befunden würde, dasz in einem hausz so viel
miethleute eingenommen, welche wegen des engen
raums und der geringen feuerstädte ... nicht wohl darin-
nen wohnen könten«15. Auch die ersten »mieht-contrac-
ta« sind aus dieser Zeit bekannt.
Die bestechenden Mietzahlungen wiederholten sich
vermutlich flächendeckend, begleitet von vielen Varia-
tionen und Zufällen, und schon darin bestand die erste
Welle der Bewährung und Restabilisierung. Die Mietewurde schließlich nicht verboten, sondern rechtlich nor-
miert, und hinter den Kulissen der bestechenden Ver-
handlungen nahm der ehemals stabile, mittelalterliche
Haushalt seine neue Form an. An ihm differenzierte sich
die Miete als eine spezifische ökonomische Funktion
aus, die sich um Geld, Zahlungen, Eigentum, Besitz und
das neue, destabilisierende Selektionskriterium des Pro-
fits und dessen Rentabilitätsrechnungen zentrierte, von
da an die Ökonomie der Haushalte mitbestimmte und
schließlich in Form des Leasings generell für die Wirt-
schaft verfügbar wurde. Wir haben es folglich bei der
Miete mit der Variation der Programmierung eines Pro-
gramms durch Bestechung zu tun, welche die Selek-
tionskriterien für die Zugehörigkeit zu einem Haushalt
erweiterte und dadurch diesen, aber auch das Hausher-
ren- und Gastrecht und die Patronage irreversibel verän-
derte. Außerdem entstand mit der Miete auch ein neues
Medium der Kommunikation, neue Rollen, Berufe und
strukturelle Kopplungen wie Mietvertrag oder Melde-
pflicht und eine an das Mieten und Vermieten anschlie-
ßende Kaskade von Variationen und zufälliger und
durch Bestechung ermöglichter Selektionen und Resta-
bilisierungen.
Doch was wäre geschehen, wenn die Miete nicht le-
galisiert und moralisch umgewertet, sondern als Form
der Bestechung verboten worden wäre – wenn also nicht
nur der Zufall, sondern auch der zweite Evolutio-
när, die nicht verbotene Bestechung, durch ein Verbot
verknappt worden wäre? Vielleicht wäre ja dann der
Zufall wieder zu Hilfe gekommen, und es hätte sich eine
andere äquivalente Lösung für das Problem ergeben, an
dem sich die bestechende Miete entzündet hatte. Doch
wenn nicht, dann hätten sich zur Restabilisierung
unvermeidlich korrupte, destabilisierende Strukturen
von hoher Stabilität gebildet, bei denen es dann um einaus der Zufallsknappheit und dem Bestechungsverbot
resultierendes Unvereinbarkeitsproblem gegangen wäre,
als dessen Lösung das heimliche Verfahrenssystem der
Korruption gesehen werden kann. Die Verknappung von
Zufall befördert Bestechung, das Verbot von Bestechung
schafft die Bedingungen für Erpressbarkeit und Korrup-
tion, koppelt die Leistungspotenziale von Bestechung
und Erpressung. Sie verschränkt mit deren medialer Hil-
fe systematisch die Unvereinbarkeiten und Unkoordi-
nierbarkeiten rechtmäßiger Verfahrensentscheidungen
und unrechtmäßiger Verhandlungsergebnisse zu beste-chend erpresserischen Vereinbarkeiten und eröffnet da-
durch Anschlussmöglichkeiten für ein weiteres Medium,
nämlich das der Illegalität. Dieses ermöglicht ebenfalls
und auf ganz eigene Art und Weise die Koordination
unkoordinierbarer Ereignisse und damit eine äquiva-
lente Lösung für das Problem, das sich daraus ergibt,
dass sich der Zufall immer seltener zur richtigen Zeit an
der richtigen Stelle ereignet und mehr und mehr auf
sich warten lässt – die Gesellschaft jedoch nicht über die
dafür erforderliche Wartezeit verfügt.
¶
97Bestechung: Wenn der Zufall auf sich warten lässt
15 Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm.
Leipzig: S. Hirzel 1854-1960. Bd. 12, Spalte 2180
»miet«, das Wort für die bösen
Geschenke, war noch bis zum
Beginn der Moderne ein Synonym
für Bestechung und Korruption.
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