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Vorlesung „Geschichte, Begründungskontexte, Organisationsformen des Kindergartens und der Primarschule“ Vorlesung 1 Martin Straumann Geschichte der Kindheit

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Vorlesung „Geschichte, Begründungskontexte, Organisationsformen des Kindergartens und der Primarschule“

Vorlesung 1

Martin Straumann

Geschichte der Kindheit

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Advanced Organizer

• Die historische Entdeckung der Kindheit wie spezifische Kleidung, Spiele, Bilderbücher für Kinder usw. beschreiben lernen

• Kindheit im historischen Wandel als Freistellung eines Lebensabschnitts für Bildung und Erziehung verstehen

• Die zunehmende Disziplinierung der Kinder und den Abbau von Gewalt in den Generationenbeziehungen sehen lernen

• Erste Versuche der Gesellschaft / der Kirche, Armut mit Schulen und elementarer Bildung zu bekämpfen (ab 17. Jhdt).

• Erst die Aufklärung (Ende 18. Jhdt.) bringt die Einsicht, dass alle Menschen unabhängig von Stand und Religion gebildet werden müssen: Menschenerziehung

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Historische Arbeiten zur Geschichte der Kindheit / Schulgeschichte

Postman, Neil: Das Verschwinden der Kindheit. FFM: Fischer, erstmals 1982

Rutschky, Katharina (1983): Deutsche Kinder-Chronik. Wunsch- und Schreckensbilder aus vier Jahrhunderten. Köln: Kiepenheuer und Witsch

Weber-Kellermann, Ingeborg, Ethnologin (1979) Die Kindheit, eine Kulturgeschichte. FFM: Insel.

Comenius, Jan Amos (erstmals 1658, 1978): Orbis Sensualium Pictus. Dortmund: Harenberg. Di bibliophilen Taschenbücher.

Erning Günter (1987): Bilder aus dem Kindergarten. Bilddokumente zur geschichtlichen Entwicklung der öffentlichen Kleinkindererziehung. Ettenheim: Lambertus

Schiffler Horst und Winkeler, Rolf (1985): Tausendjahre Schule. Eine Kulturgeschichte des Lernens. Stuttgart und Zürich: Belser

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Kindheit als sozialgeschichtliche Konstruktion und ihre lebensgeschichtliche Erweiterung

•Infans I : Kinder bis ca. 7 Jahren, dann Erwachsene / Mittelalter 7

•Infans II: Kindheit bis ca. 12 Jahren, erste Schulungen, Firmung, Konfirmation / ab 16. Jahrhundert 12

•Einrichtung von öffentlichen Schulen: Mitte 17. Jahrhundert (Quelle: Schulordnung von 1628 im Kanton Bern) als Folge der Professionalisierung als Lehrer mit Lernort 16

• Allgemeine Schulpflicht: In der Schweiz erste kantonale Gesetzgebungen um 1830 herum. Mit der Entstehung der Nationalstaaten und der parlamentarischen Demokratien entstand die Norm der allgemeinen Schulpflicht, im 19. Jahrhundert (Quelle: Schweizerische Bundesverfassung von 1848).

•EDK 2010: Harmonisierung des Schulwesens: Obligatorische Volksschule von 11 Jahren. der Kindergarten wird Teil der Volksschule

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Theorien zur Geschichte der Kindheit

Kulturgeschichtliche Thesen:

1. Lloyd DeMauss (d1980): Hört ihr die Kinder weinen. ST Wissenschaft, FFMSeit dem Mittelalter stellt sich die Geschichte der Kindheit als eine Emanzipation des Kindes in der Gesellschaft dar (bis zur Uno-Charta für Kinderrechte) -> Schwarze Pädagogik (K. Rutschki)

2. Philipp Ariès (d1978): Geschichte der Kindheit, München, DTV.Auf Bildern werden Kinder als kleine Erwachsenen gemalt. Kindspezifische Lebenswelten sind eine Erfindung der Neuzeit

3. Norbert Elias (d1976): Der Prozess der Zivilisation, ST Wissenschaft, FFMKinder werden seit der Französischen Revolution zunehmend zivilisiert. Die aristokratische Lebensform wurde vom Bürgertum übernommen und galt zunehmend als Verhaltensstandard für die Erziehung. Zusehende Erziehung zur Sitte und Disziplin.

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Bildnachweis: Weber-Kellermann (1979)

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Bildnachweis: Weber-Kellermann (1979)

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Bildnachweis: Weber-Kellermann (1979)

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Bildnachweis: Schiffler und Winkeler (1985)

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Bildnachweis: Schiffler und Winkeler (1985)

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Höfische Sitten werden zum Knigge und Mittel der Erziehung

• Das Tischgebet als gemeinsamer Anfang. Heute auch «Mahlzeit»

• Nur mit Messer, Gabel und Löffel essen. Ausnahmen werden benannt

• Salat nicht mit dem Messer schneiden

• Nicht über den Teller des Nachbarn langen

• Vor dem Trinken den Mund wischen

• Rülpsen, spucken und furzen ist verboten. Niesen nur abgewandt und mit Naseputzen. Der Oberkörper ist bedeckt mit Hemd usw.

• Aufstehen ist nur erlaubt, wenn der Herr der Tafel die Tafel aufhebt

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Kulturanthropologie: Das Verhältnis der Generationen verändert sich

Margret Mead, Kulturanthropologin: a. Die post-figurative Kultur: Kinder lernen direkt von den Vorfahren

(Lernen aus Erfahrung)b. Die ko-figurative Kultur: Erwachsenen und Kinder lernen von Anderen

(Schule, Bildung)c. Die pre-figurative Kultur: Die jüngere Generation ist in Teilbereichen des Wissens überlegen, Erwachsenen lernen von Kindern

Mead suggests that “we must, in fact, teach ourselves how to alter adult behavior so that we can give up post-figurative upbringing, with its tolerated co-figurative components, and discover pre-figurative ways of teaching and learning that will keep the future open.” Margaret Mead, Culture and Commitment: A Study of Generational Gap (Garden City: Natural History Press, 1970).

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Neil Postman: Das Verschwinden der Kindheit Basislektüre

1. Kindheit ist ein Produkt der Gesellschaft und entfaltet sich als Folge neuer Kommunikationsmittel (erneut) vom 16. bis in das 20. Jahrhundert.Mit der Druckerkunst wird es möglich, Schriften massenweise zu produzieren. Im selben Zeitpunkt verlangen die Reformatoren, dass alle Menschen die Bibel lesen können und deshalb im Lesen gebildet werden müssen.

2. Kindheit unterscheidet sich von der Erwachsenenwelt durcha. Soziale Literalität („Bildung“ als Notwendigkeit sich durch Lesen in die Welt der Erwachsenen einzuarbeiten)b. Entfaltung des Schamgefühls (Kinderschutz, Sexualität als „Geheimnis“ der Erwachsenen, Tabuisierung der Nacktheit usw.)c. Erziehung zur Sittlichkeit: Sitten und Gebräuche müssen in der Familie vermittelt werden (-> Bild)

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3. Kindheit als geschützte Lebenswelt ist heute bedroht durch die Massenkommunikation und die Massenwerbung. Im Fernsehen ist alles allen zugänglich. In der Warenökonomie werden „Erwachsenen- Kinder“ (Brook Shield) und Kinder-Erwachsenen (Werbung Milchschnitte) propagiert. Kinderwelten mit eigenen und exklusiven Spiele, Gesängen Bücher, Kleider sind auf dem Rückmarsch (Jeans für alle, Rock en roll für Ü60)

4. Schule bleibt das letzte Refugium, wo Erwachsenenwelt (repräsentiert durch die Lehrperson) und Kinder (Kindheit) sich gegenübertreten. Schule kann neueKompetenzen (Wissen, Können und Haltungen) vermitteln, die die Eltern nicht kennen. Die Lehrperson als Autorität ist durch das Verschwinden der Kindheit bedroht. Die Lehrperson ist nicht mehr die alleinige Identifikationsfigur. Diskussion: Die Lehrperson als Erwachsenen-Kind (Gspüri, Laveri, Motzi) und die Kinder als Kinder-Erwachsene (Mode, Handy, peer-groups, Drogen, Rauchen, Alkohol).

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Kindheit heute – Sozialisationsaspekte nach Ulrich OevermannDie Sozialisation des Kindes im Sinne eines Prozesses des Aufwachsens ist gekennzeichnet durch

1.Das Kind kennt eine diffuse nicht rollenförmige Beziehung zu den Eltern

2.Es wird ein Urvertrauen Kind – Mutter aufgebaut, das zeitlich und zu Beginn auch räumlich unlimitiert ist. Ausdruck des Urvertrauens ist eine gegenseitige emotional positiv gefärbte Intimität.

3.Mutter und Kind erleben die Geburt als erfolgreiche Krisenbewältigung; dies führt zu einem strukturellen Optimismus bezüglich der Entwicklung des Kindes

4.Die Sorge der Eltern betrifft das Kind als ganzen Menschen (Entwicklung, Bildung, Gesundheit sind nicht getrennt)

5.Eine professionalisierte Beziehung einer Lehrperson zum Kind unterscheidet sich strukturell (1,2,3). Es gibt aber auch Überlappungsbereiche (4).

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Das Verschwinden der Kindheit heute (gemäss Postman)

• Die Massenmedien stellen allen alles zur Verfügung. Dadurch haben Kinder Zugang zu allen Geheimnissen und die Schamgrenze für Kinder fällt

• Kindersendungen werden von Kindern und Erwachsenen gesehen

• Umgekehrt sehen alle Kinder auch Sendungen nur für Erwachsenen

• Kinder und Erwachsenen kleiden sich gleich

• Kinderspiele verschwinden zu Gunsten des Nachwuchs für Erwachsenensport (Fussball, Tennis usw.)

• Kinderliteratur verkauft sich zunehmend schlecht

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Die Massenwerbung vermischt die Adressaten Kinder und Erwachsene

https://www.youtube.com/watch?v=3kxXK5CSpMU

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Thesen zur Kindheit heute – Diskussion in Gruppen

• Massenwerbung und Massenkommunikation unterscheiden nicht zwischen Kindern und Erwachsenen. TV Kanäle, Facebook, Internet können von allen eingesehen und benutzt werden. Gegenbeispiel ist die Mode. Jedoch: sie erzeugt Zwänge und Konsumterror bei Kindern/Jugendlichen, was man tragen muss.

• Zielgruppenspezifische Angebote werden unspezifisch benutzt und sind wählbar. Erwachsenen schauen Pingu. Kinder schauen Tatort als Familienereignis.

• Viele Spiele werden heute von Erwachsenen erfunden und gesteuert. LegoTechnic, FisherPrice, Gaming verhindern das freie Spielen und kommunizieren unter Kindern (Gegenbeispiel Whatsapp)

• Der Lebens- und Spielraum der Kinder wird zunehmend eingeschränkt. Das Kinderzimmer von 8 m2. Fussball nur im Verein. Spielzeug wird im Nu zu Schrott. Bilderbücher und Märchen sind in Teilen der Bevölkerung unbekannt. Es bleiben TV, PC, Gaming und Handies. Gegenargument. Fantasie und Fiktion haben eine grössere Bedeutung als früher.

• Schamgrenzen werden in der Familie und der Schule stark beachtet. Neu haben die Kinder die Möglichkeit das Geheimnis im Internet zu knacken. Dies setzt die Familie und die Schule unter Druck

Welche Strategien oder Gegenstrategien kann der Kindergarten oder die Schule anbieten, resp. den Eltern anbieten? Formulieren Sie ein paar Leitsätze!

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Gruppenarbeit zum Verschwinden der Kindheit (Text von Postman)

1. Was halten Sie von der Grundthese von Postman, dass Kindheit heute am Verschwinden ist? Nenne Sie zwei Beispiele aus ihrem Erleben, die die These belegen könnten.

2. Haben Sie in Praktika oder in Ihrem familiären Umfeld schon derartiges erlebt?

3. Stichworte sind: Mode/Kleidung, Essensgewohnheiten, Filme / TV, Handy in der Schule, Drohnen-Eltern