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Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 33 (2010): Rezensionen Fazit: Mit der Faksimileedition von Bronns Darwin-Ƞbersetzung liegt nun dieser fɒr die deutschsprachige Rezeption zentrale Text endlich hervorragend zugȨnglich vor, wobei er schon seit 2005 auch digital im Netz verfɒgbar war (ɒbrigens mit dem Prospectus und Verlagswerbung am Ende; www.zum.de/stueber/darwin/arten2/index. html). Zum nȨheren VerstȨndnis dieser Ƞberset- zung, ihrer Entstehung, ihres Kontextes und ihrer Rezeption ist freilich Gliboffs Buch unverzichtbar. Seine sorgfȨltige Studie ɒberzeugt in ihrem Kern, der differenzierten Rekonstruktion biologischer Theorien in Deutschland, ihrer Traditionslinien und ihrer notwendigen Transformationen durch die Auseinandersetzung mit Darwins Evolutions- theorie. Am Ende steht die Rehabilitation von zwei fɒhrenden deutschen Naturforschern als ernsthafte Vertreter des Darwinismus. Gliboffs auf einer sehr sorgfȨltigen Textinterpretation beruhen- de ausgewogene Neubewertung der KontinuitȨten und DiskontinuitȨten der deutschen Lebenswis- senschaften macht das Buch zu einem Standard- werk fɒr die Biologiegeschichte des 19. Jahrhun- derts. Kai Torsten Kanz (Lɒbeck) 438 i 2010 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim Ber. Wissenschaftsgesch. 33 (2010) 436–446 DOI: 10.1002/bewi.201001506 Suman Seth, Crafting the Quantum. Arnold Sommerfeld and the Practice of Theory, 1890–1926. (Transformations: Studies in the History of Science and Technology). Cambridge, Mass., London: MIT Press 2010. vii, 378 S., USD 32,00. ISBN-13: 978-0-262-01373-4. Manchmal lenkt der Titel eines Buches den Leser auf eine falsche FȨhrte. Suman Seth geht es nicht primȨr um eine Geschichte der Quantentheorie und auch nicht um eine Biografie Arnold Sommer- felds. Beides dient vielmehr der Vorstellung eines neuen programmatischen Ansatzes, mit dem auf einer „mesoskopischen Ebene“ unterschiedliche wissenschaftliche Stile verglichen werden kɆnnen. Das Ziel dieser Studie erschließt sich am besten, wenn man zuerst einen Blick auf die Schlussfolge- rung am Ende wirft: „In general, as the preceding pages have surely shown, the Sommerfeld School was one of the centers of innovation in German theoretical physics for more than a quarter of a century. Our loss of memory of these innovations may come down to the fact that, given a choice be- tween a story of similar events told in terms of cri- ses and foundational change and a story told in terms of a succession of puzzles solved – however similar the endpoints – historians have opted for the romance of revolutions.“ (S. 269) Mit anderen Worten: Seth kritisiert, dass die Ge- schichte der theoretischen Physik – nicht nur der Quantentheorie – meist als Abfolge wissenschaft- licher Revolutionen beschrieben wird. Er relati- viert diese von Thomas Kuhn geprȨgte Sicht und stellt den krisenhaften VerȨnderungen in den phy- sikalischen Grundvorstellungen verschiedene Theoriepraktiken gegenɒber: das Arbeiten an Problemen, das er mit dem Begriff „crafting“ (= handwerklich fertigen) umschreibt, im Gegensatz zu einem an Prinzipien orientierten Theoretisie- ren. Das Motto dazu lieferte ihm Sommerfeld, der in einem Brief an Einstein einmal geschrieben hat: „Ich kann nur die Technik der Quanten fɆrdern, Sie mɒssen ihre Philosophie machen“. Seth er- kennt das von Thomas Kuhn geprȨgte Bild wissen- schaftlicher Revolutionen auf der Ebene von Grundlagen und Prinzipien durchaus an, doch auf einer „mesoskopischen“ Ebene, wo Wissenschaft- lergruppen wie die Sommerfeldschule in den Blick geraten, versage die Kuhnsche ErklȨrung. Crafting the Quantum ist ein PlȨdoyer fɒr eine Wissen- schaftsgeschichte von unten, von den Problemen her, mit denen sich Physiker wie Sommerfeld ans Werk machten, um das GebȨude der Quanten- theorie zu errichten. Der von Seth propagierte Ansatz sieht also nicht im Unterschied von „normaler“ und „revolutionȨ- rer Wissenschaft“ das wesentliche Merkmal bei der Entstehung neuer wissenschaftlicher Erkennt- nisse, sondern in einer grundsȨtzlichen Dichoto- mie von problem- und prinzipienorientierten Wis- senschaftsstilen. Die Vorgeschichte des Buches verdeutlicht dies: Crafting the Quantum ging aus einer Dissertation mit dem Thema „Principles and Problems: Constructions of Theoretical Physics in Germany, 1890–1918“ hervor, mit der Seth 2003 an der UniversitȨt in Princeton promoviert wurde. Er steht in der historiographischen Tradition seines Doktorvaters Norton Wise, der den Problembe- zug physikalischer Theorien besonders betont hat (z. B. bei seiner zusammen mit Crosbie Smith ver- fassten Kelvin-Biografie). Pate standen auch Ka- thryn Olesko und Andrew Warwick mit ihren Ar- beiten ɒber das KɆnigsberger Seminar bzw. die

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Page 1: Rezension: Crafting the Quantum. Arnold Sommerfeld and the Practice of Theory, 1890–1926 von Suman Seth

Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 33 (2010): Rezensionen

Fazit: Mit der Faksimileedition von BronnsDarwin-�bersetzung liegt nun dieser f�r diedeutschsprachige Rezeption zentrale Text endlichhervorragend zug�nglich vor, wobei er schon seit2005 auch digital im Netz verf�gbar war (�brigensmit dem Prospectus und Verlagswerbung amEnde; www.zum.de/stueber/darwin/arten2/index.html). Zum n�heren Verst�ndnis dieser �berset-zung, ihrer Entstehung, ihres Kontextes und ihrerRezeption ist freilich Gliboffs Buch unverzichtbar.Seine sorgf�ltige Studie �berzeugt in ihrem Kern,der differenzierten Rekonstruktion biologischerTheorien in Deutschland, ihrer Traditionslinien

und ihrer notwendigen Transformationen durchdie Auseinandersetzung mit Darwins Evolutions-theorie. Am Ende steht die Rehabilitation vonzwei f�hrenden deutschen Naturforschern alsernsthafte Vertreter des Darwinismus. Gliboffs aufeiner sehr sorgf�ltigen Textinterpretation beruhen-de ausgewogene Neubewertung der Kontinuit�tenund Diskontinuit�ten der deutschen Lebenswis-senschaften macht das Buch zu einem Standard-werk f�r die Biologiegeschichte des 19. Jahrhun-derts.

Kai Torsten Kanz (L�beck)

438 i 2010 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim Ber. Wissenschaftsgesch. 33 (2010) 436–446

DOI: 10.1002/bewi.201001506

Suman Seth, Crafting the Quantum. Arnold Sommerfeld and the Practice of Theory,1890–1926. (Transformations: Studies in the History of Science and Technology).Cambridge, Mass., London: MIT Press 2010. vii, 378 S., USD 32,00. ISBN-13:978-0-262-01373-4.

Manchmal lenkt der Titel eines Buches den Leserauf eine falsche F�hrte. Suman Seth geht es nichtprim�r um eine Geschichte der Quantentheorieund auch nicht um eine Biografie Arnold Sommer-felds. Beides dient vielmehr der Vorstellung einesneuen programmatischen Ansatzes, mit dem aufeiner „mesoskopischen Ebene“ unterschiedlichewissenschaftliche Stile verglichen werden k�nnen.Das Ziel dieser Studie erschließt sich am besten,wenn man zuerst einen Blick auf die Schlussfolge-rung am Ende wirft: „In general, as the precedingpages have surely shown, the Sommerfeld Schoolwas one of the centers of innovation in Germantheoretical physics for more than a quarter of acentury. Our loss of memory of these innovationsmay come down to the fact that, given a choice be-tween a story of similar events told in terms of cri-ses and foundational change and a story told interms of a succession of puzzles solved – howeversimilar the endpoints – historians have opted forthe romance of revolutions.“ (S. 269)

Mit anderen Worten: Seth kritisiert, dass die Ge-schichte der theoretischen Physik – nicht nur derQuantentheorie – meist als Abfolge wissenschaft-licher Revolutionen beschrieben wird. Er relati-viert diese von Thomas Kuhn gepr�gte Sicht undstellt den krisenhaften Ver�nderungen in den phy-sikalischen Grundvorstellungen verschiedeneTheoriepraktiken gegen�ber: das Arbeiten anProblemen, das er mit dem Begriff „crafting“ (=handwerklich fertigen) umschreibt, im Gegensatzzu einem an Prinzipien orientierten Theoretisie-ren. Das Motto dazu lieferte ihm Sommerfeld, der

in einem Brief an Einstein einmal geschrieben hat:„Ich kann nur die Technik der Quanten f�rdern,Sie m�ssen ihre Philosophie machen“. Seth er-kennt das von Thomas Kuhn gepr�gte Bild wissen-schaftlicher Revolutionen auf der Ebene vonGrundlagen und Prinzipien durchaus an, doch aufeiner „mesoskopischen“ Ebene, wo Wissenschaft-lergruppen wie die Sommerfeldschule in den Blickgeraten, versage die Kuhnsche Erkl�rung. Craftingthe Quantum ist ein Pl�doyer f�r eine Wissen-schaftsgeschichte von unten, von den Problemenher, mit denen sich Physiker wie Sommerfeld ansWerk machten, um das Geb�ude der Quanten-theorie zu errichten.

Der von Seth propagierte Ansatz sieht also nichtim Unterschied von „normaler“ und „revolution�-rer Wissenschaft“ das wesentliche Merkmal beider Entstehung neuer wissenschaftlicher Erkennt-nisse, sondern in einer grunds�tzlichen Dichoto-mie von problem- und prinzipienorientierten Wis-senschaftsstilen. Die Vorgeschichte des Buchesverdeutlicht dies: Crafting the Quantum ging auseiner Dissertation mit dem Thema „Principles andProblems: Constructions of Theoretical Physics inGermany, 1890–1918“ hervor, mit der Seth 2003 ander Universit�t in Princeton promoviert wurde. Ersteht in der historiographischen Tradition seinesDoktorvaters Norton Wise, der den Problembe-zug physikalischer Theorien besonders betont hat(z. B. bei seiner zusammen mit Crosbie Smith ver-fassten Kelvin-Biografie). Pate standen auch Ka-thryn Olesko und Andrew Warwick mit ihren Ar-beiten �ber das K�nigsberger Seminar bzw. die

Page 2: Rezension: Crafting the Quantum. Arnold Sommerfeld and the Practice of Theory, 1890–1926 von Suman Seth

Rezensionen

Ausbildung von Mathematikern und Physikern ander Universit�t Cambridge. Damit hat der ,practi-cal turn‘ in der Wissenschaftsgeschichte, der zuerstauf experimentelle Laborstudien beschr�nkt war,auch in die Geschichte der theoretischen PhysikEingang gefunden. Seither ist auch bei theoreti-schen Disziplinen wie der Mathematik und dertheoretischen Physik von einer „Theoriepraxis“die Rede. In seiner Dissertation w�hlte Seth diebeiden Repr�sentanten der theoretischen Physikin Deutschland am Beginn des 20. Jahrhunderts,Max Planck und Arnold Sommerfeld, als Expo-nenten einer prinzipien- bzw. problemorientiertenTheoriepraxis. Im Rahmen des Projekts zur Ge-schichte der Quantentheorie am Max-Planck-In-stitut f�r Wissenschaftsgeschichte dehnte er seinenUntersuchungszeitraum auch auf die Zeitspannevon 1918 bis 1925 aus. Die jetzt vorgelegte Studieumfasst in den ersten zwei Dritteln den Inhalt derDissertation (mit dem Gegensatz Planck – Som-merfeld als Beispiel der Prinzipien-Probleme-Di-chotomie); erst das letzte Kapitel tr�gt die �ber-schrift „Crafting the Quantum“, die dem Buch sei-nen Titel gegeben hat. Darin �bernimmt NielsBohr an Stelle von Planck den Part als Repr�sen-tant einer Prinzipienphysik. Seth l�sst aber in allenTeilen seiner Studie keinen Zweifel daran, dass esihm nicht nur um die Darstellung einzelner F�llevon Prinzipien- versus Problemorientierung geht,sondern dass er diese im Sinn eines Pl�doyers f�reine breitere historiographische Umorientierungder Geschichte der theoretischen Physik begreift.

Ohne diese programmatische Komponentek�nnte vieles, was Seth zur Geschichte der Quan-tentheorie ausbreitet, als bloße Wiederholung undZusammenfassung von fr�heren Arbeiten erschei-nen. Kaum ein Gebiet der neueren Physikge-schichte wurde so gr�ndlich erforscht wie dieQuantentheorie. John Heilbron, Paul Forman,David Cassidy und andere haben seit den 1960erJahren auch die Arbeiten von Sommerfeld und sei-nen Sch�lern einer gr�ndlichen Analyse unterzo-gen. Darin kam der Problembezug durchaus nichtzu kurz: Formans Studien �ber den anomalen Zee-man-Effekt und das Dublett-Problem beschreibenund behandeln die „physics of problems“ in denfr�hen 1920er Jahren in solcher Gr�ndlichkeit,dass man dem kaum Neues hinzuf�gen kann. Hierliefert Seth mit der Gegen�berstellung von Prob-lem- und Prinzipienorientierung kein neues Bild;er zeichnet lediglich einige Konturen sch�rfer. Wiein anderen Arbeiten der zweiten oder dritten Ge-

neration zur Geschichte der Quantentheorie wer-den dadurch die �lteren Studien der Kuhn-Heil-bron-Forman-Generation (wenn man die Repr�-sentanten des Projekts „Sources for the History ofQuantum Physics“ als erste Generation ansieht)nicht entwertet. Seth macht durch die h�ufigenVerweise darauf im Gegenteil deutlich, dass diesein den 1960er Jahren begr�ndete Tradition physik-historischen Arbeitens auch 50 Jahre danach nochsehr lebendig ist.

Die prononcierte Dichotomie von Prinzipien-und Problemorientierung bringt es mit sich, dassf�r Differenzierungen nicht immer ausreichendPlatz bleibt. So wird in einem Kapitel unter der�berschrift „Pedagogical Economics“ der Som-merfeldsche Lehrbetrieb mit Vorlesungen, �bun-gen, Kolloquium und Seminar eher pauschal be-handelt und so dargestellt, wie er sich in den Erin-nerungen von Sommerfeldsch�lern verfestigt hat.Dies erlaubt weder eine Unterscheidung nach Pro-blemfeldern (was man gerade f�r eine problemo-rientierte Studie w�nschen w�rde) noch eine zeit-liche Differenzierung. Ver�nderungen im Lehrbe-trieb geraten aus dem Blick, wenn die Erinnerun-gen fr�her Sommerfeldsch�ler wie Peter Debyeneben die eines Hans Bethe gestellt werden, derseine Lehrjahre in M�nchen 20 Jahre sp�ter ver-brachte. Es erscheint auch zu pauschal, das mit„The Kaiser’s Physicists“ �berschriebene Kapitel�ber die T�tigkeiten einiger Sommerfeldsch�ler imErsten Weltkrieg mit dem Satz abzuschließen: „Somany students moved easily into areas of war re-search and practice that made explicit use of theirparticular skills and training that it becomes clearthat the practical, problem-driven approach cha-racteristic of the war was developed and honed du-ring peace-time study in Munich.“ (S. 91)

Solche Pauschalierungen sowie kleinere Fehler(auf S. 224 handelt es sich nicht um Otto sondernum Oskar Klein) sollten aber nicht das Verdienstschm�lern, das sich Seth mit dieser Darstellung er-worben hat. Er setzt damit programmatisch unddarstellerisch Maßst�be f�r die neuere Physikge-schichte und dar�ber hinaus. Was die zentrale his-toriographische Botschaft angeht, die Dichotomievon Prinzipien- und Problemorientierung, somuss die Zukunft erweisen, wie weit dieses Pro-gramm f�hrt. Crafting the Quantum sollte jeden-falls nicht nur von Interessenten an der Geschichteder Quantentheorie zur Kenntnis genommen wer-den.

Michael Eckert (M�nchen)

Ber. Wissenschaftsgesch. 33 (2010) 436–446 i 2010 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim 439