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Inhalt Schwerpunktthema: Indigenität – Eine Herausforderung für die Sozialwissenschaften Indigenität in den Sozialwissenschaften 5 Eine knappe Einführung Pradeep Chakkarath Indigenität, Nationalismus und Benennungspolitiken in Bangladesch 11 Eva Gerharz Auf der Suche nach der »eigenen« Wissenschaft 27 Indigene Psychologie in China Doris Weidemann Ontologische Verwicklungen – die Vernunft und die Geister 45 Dieter Haller Für indigene (und moderne) Zukünfte, die anders sind als die Vergangenheiten 61 Gan ma: Eine Allegorie – umgesetzt im Mathematikunterricht der Grundschule Helen Verran Freie Beiträge »Wir haben dafür zu sorgen, dass die Aussonderung differenziert geschieht« 83 Hans Thomae und die Begutachtung junger Menschen während des Zweiten Weltkriegs André Postert &Christoph Hanzig Wiedergelesen: Zur Psychoanalyse der Kriegsneurosen (1919) 97 Ellen Reinke Rezension 127 Dank an die Gutachterinnen und Gutachter 131 psychosozial 39. Jg. (2016) Heft IV (Nr. 146) 1

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Inhalt

Schwerpunktthema:Indigenität – Eine Herausforderungfür die Sozialwissenschaften

Indigenität in den Sozialwissenschaften 5Eine knappe EinführungPradeep Chakkarath

Indigenität, Nationalismus undBenennungspolitikenin Bangladesch 11Eva Gerharz

Auf der Suche nach der »eigenen«Wissenschaft 27Indigene Psychologie in ChinaDoris Weidemann

Ontologische Verwicklungen –die Vernunft und die Geister 45Dieter Haller

Für indigene (und moderne) Zukünfte,die anders sind als die Vergangenheiten 61Ganma: Eine Allegorie – umgesetzt imMathematikunterricht der GrundschuleHelen Verran

Freie Beiträge

»Wir haben dafür zu sorgen, dass dieAussonderung differenziert geschieht« 83Hans Thomae und die Begutachtung jungerMenschen während des Zweiten WeltkriegsAndré Postert & Christoph Hanzig

Wiedergelesen: Zur Psychoanalyseder Kriegsneurosen (1919) 97Ellen Reinke

Rezension 127

Dank an die Gutachterinnen undGutachter 131

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Zeitschrift »psychosozial«im Psychosozial-Verlag

Herausgeber: Michael B. Buchholz, Pradeep Chakkarath, Oliver Decker, Jörg Frommer, Benigna Gerisch, RolfHaubl, Marie-Luise Hermann, Vera King, Carlos Kölbl, Joachim Küchenhoff, Jan Lohl, Katja Sabisch, JürgenStraub und Hans-Jürgen Wirth

Ehemalige Herausgeber: Hellmut Becker, Dieter Beckmann, Iring Fetscher, Hannes Friedrich, Hartmut vonHentig, Albrecht Köhl, Kathrin Mörtl, Annegret Overbeck, Horst-Eberhard Richter, Hans Strotzka, AmbrosUchtenhagen, Eberhard Ulich, Jürg Willi, Gisela Zenz und Jürgen Zimmer

MitHeft I/2014 fusioniertedieZeitschrift »Psychotherapie&Sozialwissenschaft«mitderZeitschrift »psychosozial«.

Geschäftsführender Herausgeber: Dr. Pradeep Chakkarath, Ruhr-Universität Bochum, Sozialtheorie und Sozial-psychologie, GB 03/41, D-44780 Bochum, E-Mail: [email protected]

Redaktion: Dr. Marie-Luise Hermann, Rychenbergstr. 26, CH-8400 Winterthur,E-Mail: [email protected]

Abo-Verwaltung: Telefon 06 41 - 96 99 78 18, E-Mail: [email protected]

Verlag: Psychosozial-Verlag, Walltorstraße 10, D-35390 GießenE-Mail: [email protected], www.psychosozial-verlag.de

Umschlaggestaltung: nach Entwürfen des Ateliers Warminski, Büdingen

Umschlagabbildung: »Sukhavati« © Sandra Plontke

Satz: metiTec-Software, me-ti GmbH, Berlin

Bezugsgebühren: Für das Jahresabonnement EUR 49,90 (inkl. MwSt.) zuzüglich Versandkosten. Studentenabon-nement 50% Rabatt (inkl. MwSt.) zuzüglich Versandkosten. Lieferungen ins Ausland zuzüglich Mehrporto. DasAbonnement verlängert sich jeweils um ein Jahr, sofern nicht eine Abbestellung bis zum 15. November erfolgt.Preis des Einzelheftes: EUR 19,90.

Bestellungen richten Sie bitte direkt an den Psychosozial-Verlag oder wenden Sie sich an Ihre Buchhandlung.

Anzeigen: Anfragen bitte an: [email protected]

Copyright: © 2016 Psychosozial-Verlag, Gießen

Erscheinungsweise: Viermal im Jahr

Die in der Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbesondere das derÜbersetzung in fremde Sprachen, bleiben vorbehalten. Kein Teil dieser Zeitschrift darf ohne schriftliche Genehmi-gung des Verlages in irgendeiner Form – durch Fotokopie, Mikrofilm oder andere Verfahren – reproduziert oderunter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Manuskripte: Die Redaktion lädt zur Einsendung von Manuskripten (in zweifacher Ausfertigung) ein. Mit derAnnahme des Manuskriptes erwirbt der Verlag das ausschließliche Verlagsrecht auch für etwaige spätere Veröf-fentlichungen.

Datenbanken: Die Zeitschrift »psychosozial« wird regelmäßig in der Internationalen Bibliographie der geistes-und sozialwissenschaftlichen Zeitschriftenliteratur (IBZ – De Gruyter Saur) und in der PublikationsdatenbankPSYNDEX des Leibniz-Zentrums für Psychologische Information und Dokumentation (ZPID) erfasst.

CIP-Einheitsaufnahme der Deutschen Bibliothek: Psychosozial. – Gießen: Psychosozial-Verl. Erscheint jährlichviermal – Früher im Rowohlt-Taschenbuch Verl., Reinbek bei Hamburg, danach in der Psychologie Verl. Union,Beltz Weinheim. – Erhielt früher Einzelbd.-Aufnahme. – Aufnahme nach 53. Jg. 16, H. 1 (1993).

ISSN 0171-3434

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Schwerpunktthema:

Indigenität – Eine Herausforderungfür die Sozialwissenschaften

Herausgegeben von Pradeep Chakkarath

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Indigenität in den SozialwissenschaftenEine knappe Einführung

Pradeep Chakkarath

Mit diesem Heft widmet sich psychosozialnoch einmal dem Thema »Indigenität«, dasmit dem vorangegangenen Schwerpunktheft(Kölbl, 2016) und mit einem Fokus auf das re-gional- und länderspezifische Beispiel Bolivienbereits vorgestellt wurde und viele Facetten in-digener und indianistischer Diskurse in einemhistorisch, politisch, global, lokal und sozio-kulturell hochkomplexen Kontext illustrierte.

Im vorliegenden Heft wird versucht, die so-wohl disziplinär als auch international breiteresozial- und kulturwissenschaftliche Relevanzund die damit verbundenen akademischen Her-ausforderungen weiter herauszuarbeiten. Diesscheint ganz besonders auf denjenigenGebietenvonnöten, die an psychologische Forschungs-und Praxisfelder angrenzen, ohne dass die Psy-chologie bislang sonderlich viel Aufmerksam-keit für Themen wie »Indigenität«, »indige-ne Praktiken«, »indigenes Wissen«, »indigeneWissenschaften«, »indigene Identitäten« etc.aufgebracht hat.Vonnöten ist ein tiefergehendesInteresse an dieser Thematik allerdings auch insozialwissenschaftlichen Disziplinen, die sichzumindest demPhänomenweltweiter indigenerBewegungen schon seit Langem angenommenhaben. Zwar hat man dort nämlich die Bedeu-tung und Brisanz der angesprochenen Themenim Rahmen von sozialemWandel, Verteilungs-und Machtkonflikten, Autonomie- und Mitbe-stimmungskämpfen schon lange erkannt unddiskutiert, doch liegt der Schwerpunkt der Aus-einandersetzung mit Indigenität hier vor allemauf ihren politischen Gehalten, wobei die Zu-schreibung wie auch die Beanspruchung vonIndigenität vor allem daraufhin beleuchtet wird,wie das Konzept von wem zu welchen Zwe-cken strategisch instrumentalisiert wird.

Dass Indigenität dabei nach wie vor zumeistals eine Thematik verstanden und untersuchtwird, die vor allem Minoritätsgruppen in oderneben Majoritätsgesellschaften betrifft, hängtsicherlich mit geschichtlichen, auch begriffsge-schichtlichen und diskursiven Aspekten, aberebenso mit ganz bestimmten politischen Am-bitionen bestimmter Bevölkerungsgruppen undBewegungen zusammen. Wenn die Zahlen zudieser Thematik auch variieren, so lässt sichdoch vorsichtig schätzen, dass inmindestens 70Staaten zusammengenommen mindestens 300Millionen Menschen leben, die sich Indigenitätentweder selbst zusprechen oder die aufgrundderZuschreibungvon außen als »Indigene« gel-ten. Selbst- und Fremdzuschreibungen könnensich dabei durchaus erheblich darin unterschei-den, was unter dieser Kennzeichnung von wemauf welche Weise verstanden und was damitvon wem bezweckt wird. Aus diesen Asym-metrien entspringen mal kleinere, mal größereKonflikte, die auch das Potenzial haben kön-nen, Verständnisse von Heimat, Territorium,Nation, Staat, Staatsangehörigkeit, Zugehörig-keit, Gleichheit, Andersartigkeit, Autonomieusw. zu problematisieren und mit gravieren-den soziopolitischen Folgen ins Wanken zubringen.

Was dabei aus dem Blick gerät, sind die– vor allem psychologisch interessierenden –Fragen, was es eigentlich heißt, sich indigenzu fühlen, woraus dieses Gefühl resultiert, wor-auf es sich im Genaueren richtet und unterwelchen Bedingungen Indigenität als ein be-stimmender Teil persönlicher und kollektiverIdentität entwickelt und angeeignet wird. Einintensiveres psychologisches Interesse würdeman sich auch hinsichtlich des Umstands er-

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warten, dass Menschen, deren Indigenitätsan-sprüche sie kennzeichnend prägen, sich nichtnur politisch, sondern auch psychisch gefährdetfühlen, wenn die innerlich wahrhaftig empfun-dene Indigenität von außen (z.B. auch in wis-senschaftlichen Stellungnahmen) argumentativinfrage gestellt oder gar gewaltsam bedrohtwird, wie es in immer mehr Regionen der Weltder Fall ist. Auf dem Terrain der Indigenitäts-Thematik tummeln sich keineswegs nur Men-schenrechtsgruppen, Berufspolitiker und poli-tische Aktivisten, sondern durchaus auch Wis-senschaftlerinnen und Wissenschaftler aus ver-schiedensten sozialwissenschaftlichen Fächern(s. etwa Gerharz et al., 2017), doch ist das In-teresse der Psychologie verglichen etwa mitdem Interesse der Ethnologie/Sozialanthropo-logie oder auch der Politik-, Geschichts- undRechtswissenschaft deutlich geringer ausge-prägt. Und was die interessierteren Disziplinenangeht, so scheinen darin Sichtweisen zu do-minieren, die im Konzept »Indigenität« denessenzialisierenden Anspruch bemängeln, denviele indigene Bewegungen damit zu verbindenscheinen, wobei sie quasi postkolonial einho-len, was einstmals vor allem als herabsetzendekolonialistische Zuschreibung mit biologisti-schen und rassistischenKonnotationen geläufigwar. Die größere Debatte, die Adam KupersArtikel mit dem provokativen Titel »The Re-turn of the Native« (2003) auslöste, darf fürdiese Thematik als exemplarisch gelten.

Die vergleichsweise geringe Auseinander-setzung mit der Thematik in der Psychologiehat vermutlich auch damit zu tun, dass »Indi-genität« aus psychologischer Sicht (allerdingsauch aus Sicht so manch anderer Disziplin)als ein Thema betrachtet werden kann, dasin anderen Thematiken des Faches im Grundeschon immermitbehandelt wird. Identitätstheo-rien fallen einem da wohl zu allererst ein, dochsind es auch international geführte Debatten umdie vermeintliche »psychic unity of mankind«oder das Bild von der »unity in diversity«,die stetig mitgeführte »nature-nurture-contro-versy«, die altbekannte Gegenüberstellung vonUniversalismus und Relativismus, die Unter-scheidung von Normalität und Abnormalität,daswissenschaftstheoretische ProblemdesEth-

no- oder Nostrozentrismus und damit einher-gehende methodologische Überlegungen, dieihren Ausdruck in etischen vs. emischen For-schungsansätzen finden. Im Grunde kann manin all diesen Thematiken immer auch die Frageerkennen, ob es so etwas wie das ganz Andere,das nur bestimmten Individuen oder Gruppeneigen, anderen aber fremd ist, geben könnte,ob es sie – je nachdem, welches wissenschaft-liche Paradigma man bevorzugt – überhauptgeben kann, geben darf, geben sollte oder gargeben muss. Die Frage nach der Indigenitätwürde dann als Frage psychologische und wis-senschaftstheoretische Relevanz gewinnen, obes so etwas wie eine indigene Psyche beispiels-weise geben könnte, geben kann, geben darf.In der psychologischen Praxis sind mit solchenFragestellungen vor allem auch Therapeutin-nen und Therapeuten in westlichen Regionenkonfrontiert, die schon lange nicht mehr nurmit Menschen aus ihren eigenen Regionen zutun haben.

Vor dem Hintergrund der bisherigen An-merkungen ist es durchaus interessant, einer fürvieleMainstream-Psychologen eher exotischenEntwicklung in der internationalen Psychologieetwas Aufmerksamkeit zu schenken, nämlicheiner jüngeren Form der sogenannten kultur-sensiblen oder auch kulturinformierten psycho-logischen Subdisziplinen: die Rede ist von derIndigenous Psychology. Die Indigene Psycho-logie bzw. die indigenen Psychologien habensich seit einigen Jahrzehnten, unter anderemim Anschluss an Perspektiven der Postcoloni-al Studies insbesondere außerhalb Europas, vorallem in Asien und Lateinamerika, aber bei-spielsweise auch in Australien, Neuseeland undKanada etabliert. Ohne hier auf das alles in al-lem doch recht bunte Spektrum der indigenenPsychologie(n) und ihrer Ambitionen detaillierteingehen zu können (für eine breitere Darstel-lung siehe Chakkarath, 2012), möchte ich an-hand des Hinweises auf ein ganz spezifischesund jüngeres psychologiegeschichtliches Do-kument wenigstens in aller Kürze illustrieren,dass der Anspruch auf »Indigenität« keines-wegs nur als Anspruch von Minoritäten gegen-über Majoritäten verstanden werden muss unddass es trotz anderslautender wissenschaftli-

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cher Debatten durchaus erfahrungsbasierte, dasheißt empirisch fundierte Gründe geben kann,eine Indigenität psychologischer Phänomenebzw. ihrer soziohistorischen und soziokulturel-len Einbettung anzunehmen.

Vor 14 Jahren taten sich am Rande der»National Conference on Yoga and Indian Ap-proaches to Psychology« im südindischen Pon-dicherry 160 renommierte Psychologinnen undPsychologen zusammen und verabschiedetendas sogenannte »Pondicherry Manifesto of In-dian Psychology«. Zwar reflektieren die Aussa-gen indiesemManifest spezifischeErfahrungenund Einschätzungen indischer Psychologinnenund Psychologen in indischen Kontexten undArbeitsfeldern, doch bringt das Dokument mei-ner Einschätzung nach auch allgemeinere, überIndien hinausgehende Einstellungen und Mo-tivationen der sogenannten »Indigenous Psy-chology«-Bewegung zumAusdruck. Da es diesunverschleierter tut als die meisten Verlautba-rungen der Indigenous Psychology in inter-nationalen Sammelbänden und Journals, seienhier einige längere Passagen der Deklarationübersetzt wiedergegeben:1

»Wir, die Delegierten […], verabschieden diefolgende Deklaration […], um das psychologi-sche Studium, psychologische Forschung undpsychologische Praxis in Indien zu stärken.

Wir sind der Auffassung, dass sich die Psy-chologie in Indien in einem nicht sonderlichschmeichelhaften Zustand befindet. Tatsächlichmeinen wir, dass die Psychologie in Indien un-fähig ist, ihrer unverzichtbaren Rolle für unserenationale Entwicklung gerecht zu werden. Einerweit verbreiteten Auffassung nach, verdankt sichdiese unglückliche Lage der Dinge weitgehenddem Umstand, dass es sich bei der Psycholo-gie in Indien imWesentlichen um ein westlichesTransplantat handelt, das nicht in der Lage ist,sich mit dem indischen Ethos und den paralleldazu situierten gemeinschaftlichen Rahmenbe-dingungen zu verbinden. Es ist daher immerwieder festgestellt worden, dass psychologischeStudien in Indienwestliche Studien alles in allemnur imitieren und replizieren, dabei der Origina-lität entbehren und unfähig sind, neues Terrainzu ergründen oder abzudecken.

Diese Situation ist umso überraschender alsdas klassische indische Denken reich an psycho-logischen Inhalten ist. Unsere Kultur hat eineReihe von Praktiken initiiert, die Relevanz ha-ben – angefangen von Stressreduktion bis hin zuSelbstrealisierung. Reich im Gehalt, anspruchs-voll hinsichtlich der Methoden und wertvoll inder Anwendung steckt die indische Psychologievoller Potenzial für die Geburt neuer psychologi-scher Modelle, die nicht nur für Indien, sondernauch für die Psychologie im Allgemeinen Re-levanz hätten. Was wir gegenwärtig in Indienhaben, ist eine Art von Psychologie, doch keineindische Psychologie. Mit indischer Psycholo-gie meinen wir eine ausgeprägte psychologischeTradition, die im indischen Ethos und Denkenwurzelt, einschließlich der Vielzahl an psycho-logischen Praktiken, die in unserem Lande exis-tieren. Wir glauben, dass die Einführung von›Indischer Psychologie‹ als einem Studiengangund als Fundament für Grundlagen- und Anwen-dungsforschung die Psychologie in Indien ausihrem gegenwärtigen Dämmerzustand erweckenund zu einer aktiven und aufgeklärten Bemü-hung um einVerständnis dermenschlichenNaturführen und unser Wohlbefinden wie auch unserPotenzial fördern könnte.

Wir glauben außerdem, dass die indischenPsychologiemodelle enorme Implikationen fürdie Gesundheitspsychologie, Erziehung, Organi-sationsmanagement, wie auch menschliche undsoziale Entwicklung haben würden. Die Beto-nung indischer Psychologie würde eine umfas-sende Grundlegung und eine erfrischend neueund indigene Orientierung aller Zweige der Psy-chologie gewährleisten.«

ImAnschluss an diese allgemeinere und äußerstkritische Diagnose zur Lage der Psychologie inIndien unterbreiten die Unterzeichnerinnen undUnterzeichner der Erklärung Vorschläge für dieinstitutionelle Einführung einer indischen Psy-chologie an indischen Universitäten und auf al-lerlei akademischen Ebenen, einschließlich derSeminar- und Lehrbuchinhalte, eines ergänztenMethodentrainings, der entsprechenden Schu-lung und Fortbildung des Lehrpersonals, derEinführung spezieller Fellowships wie aucheiner medialen Bekanntmachung und Verbrei-

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tung solcher Initiativen. Und tatsächlich hat dieInitiative seit ihrem Start einige Resonanz inder indischen Psychologie gefunden, die sichimmer sichtbarer bemüht, als »indische« Psy-chologie von einer »westlichen« Psychologieunterscheidbar zu sein.

Mag das Pondicherry Manifesto of IndianPsychology auf den ersten Blick wie ein sehrfach- und auch regionalspezifisches Dokumenterscheinen, so lässt sich die breitere historische,politische und akademische Bedeutung der dar-in aufscheinenden Stellungnahmen doch nur er-fassen, wennman es in den viel breiteren sozial-wissenschaftlichenBlick nimmt und es vor demHintergrund der allgemeineren Diskussionenum Indigenität, Universalität, Ethnozentrismus,Nationalismus, Machtasymmetrien, Ontologi-en, Einheit, Differenz etc. betrachtet, die hiereingangs nur skizzenhaft angerissen werdenkonnten. Anknüpfend an das vorangegange-ne psychosozial-Themenheft sollen die vier imvorliegendenHeft versammelten Schwerpunkt-beiträge exemplarisch aufzeigen, wie bedeut-sam undwie weitreichend Indigenität, wie auchandere der genannten Konzepte und Phäno-mene, als sozialwissenschaftliche Thematikensind, welche Fragen sich im Zusammenhangmit ihnen ergeben und welche Potenziale siesomit für die weitere wissenschaftliche, auchwissenschaftstheoretische Diskussion haben.

Im ersten Beitrag beleuchtet Eva Gerharzam Beispiel von Bangladesch und dem dor-tigen Konflikt zwischen indigenen Aktivistenund der Regierung des Landes die politischenImplikationen des Begriffs »Indigenität«. AmBeispiel der südasiatischen Region themati-siert sie zugleich mit historischen und regio-nalspezifischen Verweisen die Frage, inwie-weit beispielsweise der Ausdruck »indigeneVölker«, der ursprünglich in Bezug auf Be-völkerungsgruppen in Lateinamerika geprägtworden ist, ohne weiteres auf andere Gesell-schaften in anderen Gegenden der Welt mitanderen soziokulturellen und historischen Ent-wicklungen übertragen werden kann. Im selbenZuge lenkt sie den Blick auf strategische Be-nennungspolitiken vonseiten vielfältiger Ak-teure und Institutionen, die nicht nur innerhalb,sondern auch von außerhalb des Landes auf

die politischen und sozialen Prozesse in einemzunehmend von Nationalismus geprägten Ban-gladesch einwirken.

Im zweiten Beitrag lenkt Doris Weidemannden Blick auf die jüngere Geschichte der in-stitutionalisierten Psychologie in China, zeigtjedoch zugleich, inwieweit auch hier die Ein-bettung in eine übergeordnete staatliche, aberauch globale politische Infrastruktur erhebli-chen Einfluss auf die – in diesem Fall aka-demische – Suche nach dem »Eigenen«, nachder »indigenen« Wissenschaft nimmt. Vor al-lem im Vergleich zur indigenen indischen Psy-chologie, wie sie sich etwa im PondicherryManifesto selbst stilisiert, zeigt sich, dass dieEinstellung gegenüber der »westlichen« Psy-chologie nicht überall außerhalb des Westensähnlich reserviert ausfallen muss wie in Indien.Der chinesischen Psychologie geht es wenigerdarum, indigene Ansätze als konkurrenzfähigeoder gar wirksamere Ansätze gegen westlicheKonzepte in Stellung zu bringen; es geht ihreher darum, westliche Konzepte in einer Weiseanzupassen, die dann als erfolgreiche Indigeni-sierung gelten kann.

Mit dem Beitrag von Dieter Haller blickenwir nach Nordafrika, nach Marokko, und dortin eine magische Welt der Geister, der Besesse-nen und der Heiler. Was jetzt schon märchen-haft klingt, erscheint den Angehörigen einervermeintlich seit Langem schon entzauberteneuropäischen Welt, insbesondere vielen ihrerAkademikerinnen und Akademiker, als eineWelt des Scheins, des Trugs und des Tands. DerBeitrag erinnert an die in der europäischen Auf-klärung bereits verfestigte diskursive Vorberei-tung und Zurichtung dieser verbreiteten ethno-zentrischen Sichtweise auf das Unvertraute, dasaufgrund des resultierenden Unverständnissesstets das Unerkannte und Unbekannte bleibt.Unter Aufgriff des Konzepts der differentenOntologien wird gezeigt, dass und wie die na-turalistische Ontologie des heutigen Westensden wissenschaftlichen Blick für die Ontolo-gien anderer Wissenstraditionen verstellt undwie die heutige Sozialwissenschaft desWestensepistemologisch und methodisch von anderenOntologien sehen lernen kann, wenn sie sichauf sie einlässt.

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Eine in mancherlei Hinsicht ähnliche unddoch ganz andere Welt zu betreten, erlaubt derBeitrag von Helen Verran. Sie berichtet vonihren Erfahrungen und erfolgreichen Bemü-hungen, gemeinsam mit anderen Kolleginnenund Kollegen an australischen Grundschuleneinen neuartigen Mathematik-Lehrplan zu eta-blieren, der in den Denk- und Wissensweisenzweier indigener Bevölkerungsgruppen wur-zelte. Wir sehen, wie im Lehrplan indigenesWissen praktisch umgesetzt und so an denSchulen zugleich Raum für indigenes Lernenund Wissen geschaffen wurde. Auch in diesemBeitrag wird uns zugemutet, unsere vertrau-ten linguistischen und epistemischen Bahnenzu verlassen und Hürden zu nehmen, die unsunvertraute Ontologien in den Weg stellen,die wir aber wissenschaftlich nehmen müs-sen, um dem Ziel aller Wissenschaft näherzu kommen, dem Erkennen. Wie kein ande-rer der Beiträge führte gerade dieser Berichtein zentrales Problem aller wissenschaftlichenAuseinandersetzung mit Indigenität vor Au-gen, nämlich das Problem der akkuraten Über-setzung. Dieses Problem ergab sich nicht nuraus dem schlichten Umstand, dass der Origi-naltext auf Englisch verfasst wurde und insDeutsche übersetzt werden musste, sondern inbesonderer Weise dadurch, dass die Autorin imenglischen Original versuchte und versuchenmusste, die Aboriginal-Sprache mit ihren Alle-gorien, ihrer Grammatik, ihrer Rhythmik undihren stilistischen Elementen möglichst bedeu-tungsgetreu abzubilden. Der Übersetzerin, diesich diesen Problemen in gleicher Weise erneutstellen musste, und der geduldig für Rückfra-gen stets offenen Autorin sei hier noch einmalganz herzlich für Ihre gemeinsame und lang-wierige Mühe gedankt.

Selbstverständlich gilt mein ganz besonde-rer Dank dem Kollegen und den Kolleginnen,die ihre Beiträge für diese kleine aber feineSammlung zur Verfügung stellten.

Anmerkung1 MeineeigeneÜbersetzungausdemenglischenOriginal.

Vgl. http://www.infinityfoundation.com/mandala/i_pr/i_pr_yoga_conf_frameset.htm (Stand: 31.01.2017)

LiteraturChakkarath, P. (2012). The role of indigenous psycholo-

gies in the building of basic cultural psychology. InJ. Valsiner (Hrsg.), The Oxford Handbook of Cultureand Psychology (S. 71–95). New York: Oxford Uni-versity Press.

Gerharz, E., Uddin, N. & Chakkarath, P. (Hrsg.). (2017).Indigeneity on the move: Varying manifestations of acontested concept. New York: Berghahn Books.

Kuper, A. (2003). The return of the native. Current Anthro-pology, 44, 389–395.

Kölbl, C. (Hrsg.). (2016). Indigene und indianistische Dis-kurse und Praktiken in Bolivien. psychosozial 145.

Der Herausgeber

Pradeep Chakkarath, Dr. phil., ist wissen-schaftlicher Mitarbeiter an der Sektion für So-zialpsychologie und Sozialanthropologie derRuhr-Universität Bochum und (mit JürgenStraub) Co-Direktor des Hans Kilian und LotteKöhler Centrums für sozial- und kulturwissen-schaftlichePsychologieundhistorischeAnthro-pologie. Er ist Fellow Alumnus des Kulturwis-senschaftlichen Kollegs Konstanz, Lehrbeauf-tragter an mehreren Universitäten in Deutsch-land, Österreich und der Schweiz und der-zeitiger Geschäftsführender Herausgeber derpsychosozial. Seine Forschungsschwerpunktesind die Wissenschaftstheorie der Sozialwis-senschaften, indigene Psychologien und diepsychologischen Funktionen vonWeltanschau-ungen.

Kontakt

Pradeep ChakkarathRuhr-Universität BochumSektion für Sozialpsychologie undSozialanthropologieGB 03/41Universitätsstr. 150D-44780 BochumE-Mail: [email protected]

Pradeep Chakkarath: Indigenität in den Sozialwissenschaften

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