praktische hygiene im krankenhaus im umgang mit flüchtlingen · nochmalige nachfrage:...
TRANSCRIPT
Praktische Hygiene im
Krankenhaus im Umgang mit
Flüchtlingen
Matthias Sauter, Kempten
Migranten im engeren Einzugsbereich
Basierend auf mdl. Kommunikation des örtlichen Gesundheitsamtes
Ca. 7500 Erstuntersuchungen
Ca. 2000 dauerhaft in dezentralen Unterkünften lebende
Asylsuchende
Derzeit deutlicher Rückgang der Zahlen für Erstaufnahme, nicht zuletzt
durch Errichtung einer zentralen Erstaufnahmeeinrichtung im
Regierungsbezirk Schwaben
Wesentliche Kennzahlen der stationär aufgenommenen
Asylsuchenden
Fallidentifikation über Controlling: Alle Asylsuchenden mit Verweil-
dauer von mind. 2 Tagen, die im Zeitraum von Okt15-Feb16 im KV
behandelt wurden.
Max, 1 % der stationär behandelten Patienten, viele Patienten < 18
Jahre
Alles kein Problem???
Fall aus der Praxis – Neujahr 2016
Anamnese/Körperliche Untersuchung
Flüchtling aus Sudan, spricht kein Deutsch. Übersetzung durch eine Freundin. Seit 2
Tagen Kopf- und Gliederschmerzen, gestern und heute Vormittag 3x Erbrochen, kein
Durchfall. Außerdem Brennen beim Wasserlassen und ein Jucken in der Vagina und am
gesamten Körper mit kleinen Papeln. Seit September in Deutschland, wohnt aktuell mit
ihrem Sohn in […einer Gemeinschaftsunterkunft]. Schließt Schwangerschaft aus, hat
einen Sohn mit 1 Jahr und 3 Monate. Sohn wurde auf Scabies behandelt.
RR 111/65 mmHg, HF 66/min., SaO2 97%(Raumluft), AF 15/min., Temperatur 36.1°C
Vigilanz: wach, ansprechbar , orientiert Kopf: pathologisch, Lymphknoten
retroaurikulär, submanidublär und am Hals tastbar, klein und gut verschieblich.
Schleimhaut: feucht, kl. Papeln am Gaumen Thorax: Ubiquitär am Thorax, Bauch
und Rücken sowie Gesicht kleine Papeln und Pusteln z.T. aufgekratzt. Herztöne:
rein und rhythmisch Lunge: seitengleich belüftet, keine RG`s. Abdomen: weich, kein
Druckschmerz, keine Abwehrspannung, Darmgeräusche regelrecht Extremitäten: keine
Ödeme vorhanden
Aktuelle Situation (ca. 2 h Zeit vergangen)
Patientin nur wenige Minuten im WZ, danach in 1-Bett-Behandlungskabine. Versorgung
durch NA-Personal ohne PSA
1-jähriger Sohn im Wartezimmer mit ehrenamtlichem Flüchtlingshelfer und ca. 15
weiteren Personen (seit ca. 2 Stunden)
Mutter und Tochter leben in Gemeinschaftsunterkunft mit ca. 40 weiteren Personen;
gemeinsamer Sanitärbereich
Keine floriden Vesikel beim Sohn der Patientin, lediglich eingetrocknete Pusteln/Vesikel.
Nochmalige Nachfrage: „Scabies-Behandlung“ vor 7 Tagen
Exponierte Kontaktpersonen?
Dauer der Ansteckungsfähigkeit Die Ansteckungsfähigkeit der Varizellen beginnt 1 -
2 Tage vor Auftreten des Exanthems und endet mit dem vollständigen Verkrusten aller
bläschenförmigen Effloreszenzen, in der Regel 5 - 7 Tage nach Exanthembeginn.
Patienten mit Zoster sind vom Auftreten des Exanthems bis zur vollständigen
Verkrustung der Bläschen, in der Regel 5 - 7 Tage nach Exanthembeginn,
ansteckungsfähig.
Exposition heißt […]: Aufenthalt eine Stunde oder länger mit infektiöser Person in
einem Raum oder face-to-face-Kontakt oder Haushaltskontakt. Auf Vermeidung von
Kontakten zu Risikopersonen sollte strikt geachtet werden.
Exponierte Kontaktpersonen?
Gemeinschaftsunterkunft? ???
Personen im Wartezimmer? eher nicht, soweit eruierbar keine Risikopersonen
Personal der Notaufnahme? Erfragung des Immunstatus
Weitere Patienten der Klinik Kontrollierbares Risiko/Expositionen vermeiden!
Weiteres Vorgehen
Telefonische Kontaktaufnahme Rufbereitschaft Gesundheitsamt
(Freitag, 1.1.2016; 18:00 Uhr)
Meldepflichtige Erkrankung nach §6 IfSG
Situation in Gemeinschaftsunterkunft/größeres Ausbruchsgeschehen?
Riegelungsimpfung?
Angemeldetes Gynäkologisches Konsil (erfolgt im Kreißsaal!) storniert
Indikationsstellung zur stationären Aufnahme wegen
Relativ schlechtem AZ und KVB-Einweisung
Unklarer Situation in Gemeinschaftsunterkunft / gebotene Isolierung nicht möglich
(1 Toilette für 40 Personen)
Form der Unterbringung?
Wie kommt die Patientin in ihr Zimmer?
FFP2-Maske (ohne Ausatemventil!)
Gut zugedeckt mit frischer Decke
Transportliege mit hochgeklappten Gittern
Handkontaktflächen der Liege abgewischt
Vorhut zur Sicherstellung von minimiertem Kontakt mit anderen (Risiko-)Personen
(Immunsupprimierte Patienten, Neugeborene,…)
Aufzug-Sonderfahrt
Kind auf Arm der Begleitung
Ausführliche Aufklärung über Isolationsmaßnahmen auf Englisch (und Übersetzung
durch Begleitperson) sowie Unterschrift
Verlauf
Molekularbiolog. Diagnosesicherung (pos. VZV-PCR) aus Vesikelinhalt
Symptomatische Therapie
Entlassung am 7.1. in Rspr. GA
Keine Folgefälle bei Patienten oder Personal
http://www.rki.de/DE/Content/Ge
sundheitsmonitoring/Gesundheits
berichterstattung/GesundAZ/Cont
ent/A/Asylsuchende/Inhalt/melde
pflichtige_Infektionskrankheiten_
bei_Asylsuchenden.pdf?__blob=
publicationFile
Varizellen-Immunität bei Asylsuchenden
Epid Bull 2015; Nr. 19
Häufige Infektionserkrankungen
bei Asylsuchenden
Tuberkulose
(+)
Influenza
(+)
Hepatitis B
(+)
Rotavirus – Gastroenteritis
+
Norovirus – Gastroenteritis
(+)
Hepatitis A
-
MRE-Screening bei Asylsuchenden?
Stand 28.1.2016:
Krankenhaus-Eingangsscreening
1) Argumente für ein Krankenhaus-Eingangsscreening sind
eine mögliche erhöhte Prävalenz in den Herkunftsländern und eine mögliche
Steigerung des Risikos durch die Umstände der Flucht.
2) Argumente gegen ein Aufnahmescreening im Krankenhaus sind
keine Daten zur erhöhten Prävalenz in Herkunftsländern
keine gültige Empfehlung zum Aufnahmescreening von Personen oder
Reiserückkehrern aus Hochendemieländern (wie z. B. Griechenland) ohne Kontakt
zum Gesundheitswesen,
Stigmatisierung und mögliche Diskriminierung durch Screening und Isolation
eine schlechtere medizinische Behandlung von Personen in
Isolationszimmern (besonders bei Isolation direkt bei Aufnahme). Effekt
stärker bei Asylsuchenden?
http://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GesundAZ/Content/A/Asylsuchende/Inhalt/MRE-
Screening_Asylsuchende.pdf?__blob=publicationFile
Ein MRE-Screening bei Aufnahme in ein Krankenhaus ist geboten bei Patienten aus
Hochendemiegebieten, die Kontakt zum Gesundheitssystem in ihrem Heimatland oder
im Verlauf ihrer Flucht hatten bzw. bei diesbezüglich unklarer Anamnese (s.
entsprechende KRINKO-Empfehlungen).
Ein Screening sollte MRSA und carbapenemresistente Erreger umfassen.
http://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GesundAZ/Content/A/Asylsuchende/Inhalt/MRE-
Screening_Asylsuchende.pdf?__blob=publicationFile
Bewertung und abgeleitete Maßnahmen - MRSA
(Vorschlag an Hygienekommission)
Im Vgl. zur Normalbevölkerung beim untersuchten Kollektiv wohl erhöhte Häufigkeit von
MRSA-Besiedlung (Gründe?)
Risikoanalyse:
↑ MRSA-Prävalenz
?↑ Übertragungsrisiko (z.B. Sprachbarriere)
(-) MRSA-Screening (Rachen-Nase gepoolt) wenig stigmatisierend/invasiv
↓ negative Effekte der Isolation; Transmissionsrisiko steigt mit Dauer des Aufenthaltes
Konsequenz der Risikobewertung:
Indikation zum MRSA-Screening (gepoolt Rachen-Nase) bei
Asylsuchenden oder
Menschen, die in den vergangenen 12 Monaten in einer Gemeinschaftsunterkunft
für Asylsuchende gelebt haben
UND die mind. 48 Stunden hospitalisiert werden
Keine präemptiven Isolationsmaßnahmen
Bewertung und abgeleitete Maßnahmen - MRGN
(Vorschlag an Hygienekommission)
Evtl. etwas erhöhte Prävalenz von 3MRGN
Kein systematisches Screening der Allgemeinbevölkerung
Screening unter Umständen stigmatisierend
Keine Konsequenz außerhalb Risikobereich
kein systematisches Screening
Risiko für 4MRGN bei Kontakt mit Gesundheitswesen im Heimatland oder auf der Flucht
Screening und präemptive Isolation bis zum Ergebnis der Abstriche analog
Urlaubsrückkehrern
Falls konklusive Anamnese nicht möglich: Risikoeinschätzung des behandelnden
Arztes (chronische Erkrankungen)
Noch ein Fallbericht…
Aufnahme 30.6.2014 (vor „Eboloahysterie“ und „Flüchtlingskrise“)
Patient geb. 1975
Sprachbedingt erschwerte Anamneseerhebung. Kommt in Begleitung der
Bundespolizei. Heute am Bahnhof aufgegriffen (erster Tag in Deutschland). Flucht
aus Eritrea via Italien. Dauer und Weg der Flucht nicht konklusiv eruierbar. Soweit
erfragbar seit 4-7 Tagen Schwäche, Fieber, Schluckbeschwerden. Habe in ital.
Apotheke deswegen Medikamente gekauft (welche, sind nicht erinnerlich). Kein
Durchfall, kein Erbrechen, kein Husten. Soweit eurierbar keine Vorerkrankungen.
Insbesondere kein HIV (unklar, ob jemals Test erfolgt.). Keine Dauermedikation
Vitalparameter: RR 118/70 mmHg. PF 109/min., sO2 98% (RL), AF 24/min., T.
38,8 °C
Körperliche Untersuchung:
Vigilanz: wach, ansprechbar , etwas Kältezittern, aber kein Schüttelfrost. Haut:
unauffällig, Extremitäten kühl. Schleimhaut: feucht, Rachen gerötet, Tonsillen nicht
vergrößert. Keine Eiterstippchen. Pupillen: mittel , isokor , Pingueculum li.
Lymphknoten: unauffällig, cervikal. Herztöne rein und rhythmisch, tachykard.
Lunge: seitengleich belüftet Abdomen: weich, kein Druckschmerz, keine
Abwehrspannung, spärliche DG, aber ubiquitär vorhanden Extremitäten: keine
Ödeme vorhanden
Labordiagnostik
Weitere Diagnostik
Ultraschalldiagnostik:
• Gallenblase frei mit normaler Wand
• Intra-/extrahepat. Gallenwege nicht gestaut
• Leber ohne fokale oder strukturelle Veränderungen
• Nieren bds. ohne Harnstau, normal groß, normale Mark-
/Rindendifferenzierung
• Pankreas nicht suffizient einsehbar
• Erhebliche Splenomegalie (17 cm)
• Keine freie Flüssigkeit
Urinuntersuchung zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht möglich
Radiologie
Keine Voraufnahmen.
Fleckige peribronchiale Verdichtungen vor allem rechts dorso-basal,
vereinbar mit Bronchitis/Broncho-pneumonie. Übrige Lungenabschnitte frei.
Herz normal groß, keine kardiale Dekompensation.
Ihre Verdachtsdiagnose?
Weitere Maßnahmen
2 Sets Blutkulturen
HIV-Test
Kalkulierte antibiotische Therapie mit Ceftriaxon 2g i.v. und Roxithromycin 300 mg p.o.
Stationäre Aufnahme zur weiteren Diagnostik und Therapie
Isolation des Patienten
notwendig?
…nüchterne Analyse
(Verdachts-)diagnose ambulant erworbene Pneumonie
Tuberkulose keine typischen radiologischen Zeichen, mit klinischem Bild wenig
vereinbar
Influenza Jahreszeit unpassend, klinisches Bild allenfalls bei Superinfektion denkbar
Hämorrhagische Fieber keine klinischen Anhaltspunkte
Durchfallerkrankungen keine anamn./klinischen Anhaltspunkte
Ansteckende Erkrankungen, die sich an der Haut manifestieren keine
anamn./klinischen Anhaltspunkte
MRE Patient bislang gesund. Außer Medikamentenkauf in italienischer Apotheke kein
Kontakt mit Gesundheitswesen
keine Isolation notwendig
Mikrobiologischer Befund
2.7.: Anruf des Labors:
- gramnegatives Stäbchen in BK
Reaktion:
Umstellung Ceftriaxon/Roxithromycin Ceftriaxon/Ciprofloxacin
Hygienemaßnahmen?
Einzelzimmerisolation
Strikte Händehygiene
PSA: Kittel, Handschuhe
Verlauf
Zunächst Regredienz der laborchemischen Entzündungszeichen
Nur zögerliche Besserung des AZ
Am 6.7. (1 Woche nach Aufnahme) akutes Abdomen CT Abdomen
Verlauf
Notfall-Laparotomie mit Resektion eines perforierten Ileumsegmentes, End-zu-End-
Anastomose
Histo: I. Lymphknoten mit ausgeprägten Nekrosen. Nur im Randbereich
noch wenige Lymphozyten. Überwiegend neutrophile
Granulozyten und auch Histiozyten.
II. Dünndarmschleimhaut mit fokaler Ulzeration. Akute
entzündliche Ausbreitung in allen Wandschichten. An der
Serosa Fibrinausscheidung, hier auch mit deutlich vermehrten
neutrophilen Granulozyten. An einer der
Dünndarmresektionsränder akute entzündliche Fortsetzung,
ebenfalls mit flächenhafter Ulzeration. Hier reicht die
akute Entzündung auch bis an die Serosa.
Verlauf
Rasche Besserung nach chirurgischem Eingriff unter antibiotischer Therapie (insgesamt
3 Wochen)
Aufklärung durch MA des Gesundheitsamtes (mit Dolmetscher) vor Entlassung
Take home messages
CAVE: Impfpräventable Erkrankungen, insb. Varizellen
Tuberkulose einkalkulieren und ggfs. ausschließen
Virale Gastroenteritiden (Gemeinschaftsunterkünfte) – Management
wie bekannt
Vorgehen bzgl. MRE nach Risikoanalyse festlegen
Seltene Erkrankungen sind möglich und (für den Infektiologen)
spannend
KEINE PANIK – sondern nüchterne Risikoanalyse