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Perspektivische Amerikanisierung.
Thomas Mann, Peter Viereck und die deutsche Romantik
Stefan Matuschek
Zwei Vierecke und drei Punkte
Thomas Manns Roman Doktor Faustus arbeitet – vom trutzigen Lutherdeutsch
über die Burschenschaften bis zum bildungsbürgerlichen Gymnasiallehrer und
dessen genialischem Künstlerfreund als faustischem Teufelsbündler – ausgiebig
mit den Klischees des deutschen Nationalcharakters, insbesondere mit denen
der Romantik. Der Lindenbaum, unter dem die Hauptfigur Adrian Leverkühn
zum ersten Mal zur Musik findet, gehört dazu: natürlich eine „alte Linde“ (221),
unter der das Kind Adrian mit der bäuerlichen Magd auf dem elterlichen Hof
die ersten Kanons singt. Schon im Zauberberg hat Thomas Mann das
Lindenbaum‐Motiv mit Schuberts Lied „Am Brunnen vor dem Tore…“ als
Inbegriff der Romantik zelebriert.2 Im Doktor Faustus kehrt es als Initiationsort
des deutschen Tonsetzers wieder, eingefügt in ein dichtes Gewebe deutscher
Klischees, die in diesem Roman nicht einfach verwendet, sondern zugleich in
ihrer mythischen Qualität wie ihrer geschichtlichen und aktuellen Wirksamkeit
bedacht werden. Sie sind der Grundwortschatz, mit dem Thomas Mann hier
das Deutsche von dessen prägenden historischen Figuren und
Nationaltypologien bis zum Nationalsozialismus verhandelt. So vieles kommt
dabei zur Sprache, dass ein Roman‐Kommentar in dieser Hinsicht geradezu ein
Handbuch der deutschen Nationalklischees ergäbe. Die Motive sind dicht und
stimmig gefügt: Zum Lindebaum stellt auch der Roman eine umlaufende Bank,
er erwähnt die „herrlich duftenden Blüten“ zur „Junizeit“ (22) und er lässt in
seinem Schatten zwei Kinder und eine Magd Volkslieder singen. Dass Adrian
nicht anders als durchs kindliche Volksliedsingen überhaupt zur Musik kommt,
bezeichnet die wohlberechnete Position, die der Lindenbaum hier in der
1 Nachweise unter Angabe der Seitenzahl nach der Ausgabe: Thomas Mann, Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde. Hg. und textkritisch durchgesehen von Ruprecht Wimmer unter Mitarbeit von Stephan Stachorski, Frankfurt a. M. 2007 (= Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 10.1). 2 Am Ende des Kapitels „Fülle des Wohllauts“.
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deutschen Musikerbiographie einnimmt. Das Romantische, das er
repräsentiert, wird überdies als etwas Sentimentales gekennzeichnet und
damit aus der Perspektive der technisch‐pragmatisch fortgeschrittenen
Moderne gesehen: Dem Fuhrverkehr auf dem Hofe, heißt es, ist der Baum
längst im Wege, doch lässt man ihn aus Nostalgie stehen. So knapp und so
prägnant zeichnet der Autor den romantischen Ursprung seiner modernen
deutschen Künstlerfigur.
Das einzige Detail, das in diesem Arrangement beliebig scheint, ist der Hinweis,
dass der Hof, auf dem die Linde steht, ein „offenes Viereck“ (22) bildet. Das
Viereck gehört nicht zum deutsch‐romantischen Klischeebestand. Aber es kehrt
wieder. Auch der Hof der Familie Schweigestill, auf dem der erwachsene
Leverkühn dann wie in einem Abbild seines Elternhauses wohnt, wobei nur
statt der Linde eine Ulme im Zentrum steht: auch dieser Hof, heißt es, bildet
ein „Viereck“ (372). Und damit nicht genug. Der Kompositionsweise des
deutschen Tonsetzers wird wörtlich „eine gewisse Viereckigkeit“ (583)
bescheinigt. Es ist der Konzertagent Saul Fitelberg, der das sagt, und zwar in
ausdrücklich nationalcharakterlichem Sinne: Die „gewisse Viereckigkeit“ sei
gerade das Deutsche an Leverkühn, sei, wie der aus Paris Angereiste sagt, seine
„qualité d’Allemand“ (583). Das Steife kennen wir als deutsches Klischee; aber
das Viereckige? Und wie passt das Viereck zum idyllischen Linden‐ und
Ulmenschattenplatz? Der Roman ist motivisch so dicht und kulturgeschichtlich
so gelehrt, dass man auch hier unwillkürlich nach der Stimmigkeit fragt. Und es
gibt eine Antwort. Denn was motivisch hier nicht ganz schlüssig erscheint, passt
doch auf andere Weise; auf eine Weise, die der Roman strukturell auch an
anderer Stelle nutzt. Viereck ist ein Name, ein hier einschlägiger Name. Peter
Viereck ist der Autor eines Buches, das 1941 in Amerika erschien und das als
eines der ersten einen Zusammenhang zwischen der deutschen Romantik und
dem Nationalsozialismus behauptet. Thomas Mann hat das Buch gekannt, er
hat es öffentlich kommentiert und es hat eine deutliche Spur in seinem Werk
hinterlassen, insbesondere was das Verständnis der deutschen Romantik und
deren Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus betrifft. Wer seinen
Ratgeber Adorno mit dem Wort „Wiesengrund“ (84) im Roman markiert, dem
darf man zutrauen, dass er auch einen anderen Namen auf ähnlich indirekte
Weise aufnimmt. Was als Form und als metaphorische qualité d’Allemand
beliebig erscheint, wird stimmig, wenn man darin eine versteckte Erinnerung
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an den amerikanischen Autor sieht. Viereck wirkte dabei nicht so
durchschlagend, wie es Adorno für die musikphilosophischen Passagen des
Romans war. Sein Einfluss geht dem Roman vielmehr unmittelbar voraus und
ist am deutlichsten in Manns Essays über Deutschland vom Anfang der
Vierzigerjahre greifbar. Doch schlägt er sich auch noch im Roman nieder. Und
ich halte es für keine überschießende Phantasie, dort noch einen weiteren
Hinweis auf Vierecks Buch zu sehen. Es trägt den Titel Metapolitics. From
Wagner and the German Romantics to Hitler. Im Teufelsgespräch des Doktor
Faustus gibt es eine Passage, in der eine Reihe von Komposita von der
medizinischen zur ideologischen Ansteckungsgefahr führt: eine Überleitung, die
der Romanidee entspricht, im Motiv des Teufelspaktes die Ansteckung mit
Syphilis mit der Ausbreitung der nationalsozialistischen Ideologie zu
verknüpfen. Die Reihe führt von der „Metastasierung ins Metaphysische,
Metavenerische, Metainfektiose“ (340), und sie endet nicht mit diesem letzten
Wort, sondern setzt sich mit drei Punkten „…“ ins Offene fort. Das lässt ein
weiteres „Meta…“‐Kompositum erwarten. Kein anderes wäre hier einschlägiger
als das Titelwort von Peter Viereck, „Metapolitics“. Denn es bezeichnet genau
das, worum es in der Komposita‐Reihe im Roman geht: die wie eine Krankheit
sich ausbreitende deutsche Ideologie. Wenn die von Thomas Mann gesetzten
drei Punkte nach den vier Meta‐Komposita nicht beliebig sind, dann kann man
sie als Platzhalter für Vierecks Buchtitel verstehen. Sapienti sat: eine Ästhetik
der Anspielung, die dem Autor ja nicht fremd ist.
Die versteckten Hinweise auf Vierecks Buch wären bloße Spekulation und
erübrigten sich auch der Sache nach, wenn die Beziehungen zwischen Thomas
Mann und Peter Viereck, zwischen Doktor Faustus und Metapolitics kein festes
sachliches Fundament hätten. Sie haben es. Da der amerikanische Autor und
sein Buch in Deutschland, insbesondere auch in der Thomas‐Mann‐Forschung
kaum bekannt sind3, stelle ich beide kurz vor.
Peter Viereck
Peter Viereck wurde 1916 als Sohn eines deutschen Emigranten in New York
geboren. Er studierte Geschichte und Literatur in Harvard, wo er 1941 mit dem
Buch, um das es hier geht, promovierte. Metapolitics. From Wagner and the
German Romantics to Hitler ist eine Havard‐Dissertation aus den ersten Jahren 3 Einen kurzen Hinweis auf Viereck und Metapolitics gibt jetzt Hans Rudolf Vaget, Thomas Mann, der Amerikaner. Leben und Werk im amerikanischen Exil 1938‐1952, Frankfurt a. M. 2011, S. 338‐341.
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des Zweiten Weltkriegs. Seit 1939 hat Viereck daran gearbeitet, im November
und Dezember 39 erschienen Vorabdrucke des Wagner‐Kapitels in der
amerikanischen Zeitschrift Common Sense, 1941 dann das ganze Buch, Anfang
1942 wurde die Promotion in Harvard vollzogen. 1943 und 44 stand Viereck in
Nordafrika und in Italien im Dienst der amerikanischen Armee, nicht als
kämpfender Soldat, sondern aufgrund seiner guten Deutschkenntnisse vor
allem als Übersetzer und Interpret der abgehörten deutschen
Militärkommunikation. Nach Dozentenstellen in Havard in den Jahren 1946/47
gelangte er 1948 als Geschichtsprofessor an das Mount Holyoke College, eine
(bis heute) ausschließlich Studentinnen vorbehaltene exklusive
Privathochschule in Massachusetts. Ihr blieb Viereck bis 1997, also fast 50
Jahre lang, verbunden. Knapp zehn Jahre später, 2006, starb er.
Neben dieser eher verborgenen beruflichen Karriere steht die des Autors Peter
Viereck. Sie ist weitaus sichtbarer, und sie vollzieht sich in zwei Bereichen: in
der Lyrik und der politischen Publizistik. Als Lyriker wurde Peter Viereck im
Jahre 1949 mit dem Pulitzer Prize ausgezeichnet, als politischer Publizist gilt er
als einer der Väter des modernen Konservativismus in Amerika, als ein
unorthodoxer allerdings. Denn trotz seines politisch konservativen
Bekenntnisses und trotz seiner vehementen Opposition gegen Sozialismus und
Kommunismus trat er doch ebenso entschieden gegen den Senator McCarthy
und dessen Politik und für den Demokraten Roosevelt auf. Ein Jahr vor Vierecks
Tod, also 2005, brachte The New Yorker einen Artikel über ihn, um ihn als, wie
die Überschrift sagt, „The First Conservative“4 neu in Erinnerung zu rufen. Der
Artikel ist geradezu eine Hommage an Viereck, der hier als ein kluger,
besonnener Ahnherr bewusst gegen das aktuelle Erscheinungsbild des
amerikanischen Konservativismus in Stellung gebracht wird. Die konservative
National Review hat die Botschaft verstanden und diese politische
Vorläuferschaft im Gegenzug prompt bestritten.5
Die Doppelrolle von Lyriker und politischem Publizisten hat Peter Viereck nicht
neu für sich gefunden, sondern von seinem Vater, George Sylvester Viereck,
4 Tom Reiss, The First Conservative. How Peter Viereck inspired – and lost – a movement, in: The New Yorker, October 24, 2005, S. 38ff. 5 Vgl. John J. Miller, Veering Off Course. The New Yorker tries to revive Peter Viereck, in: National Review Online (http://old.nationalreview.com/miller200510260817.asp). Eine ausgewogene, wissenschaftliche Beurteilung des politischen Publizisten Peter Viereck versucht Claes G. Ryn, The Legacy of Peter Viereck: His Prose Writings, in: Humanitas, Vol. XIX, Nos. 1 and 2, 2006, S. 38‐49. Allerdings kann man hier insofern von Befangenheit sprechen, als Viereck zu Lebzeiten Mitherausgeber dieser Zeitschrift war.
5
übernommen. Es ist nicht unwichtig, das zu wissen, denn es gibt seiner
Dissertation, um die es hier geht, eine eigene Dimension persönlicher
Betroffenheit. Der Vater, George Sylvester Viereck, muss eine schillernde Figur
gewesen sein. Im Alter von 12 Jahren wanderte der in München Geborene mit
seiner Familie nach New York aus, um dort dann später als Vermittler
Deutschlands in den USA zu wirken. Er hielt sich selbst für einen illegitimen
Enkel Kaiser Wilhems I., für dessen offiziellen Enkel, Wilhelm II., er größte
Bewunderung hegte. In den 1920‐ und 30er‐Jahren trat er früh und sehr
engagiert für den Nationalsozialismus ein. 1923 veröffentlichte er als erster in
Amerika ein Interview mit Hitler, 1934 trat er im Madison Square Garden als
Redner vor den „Friends of the New Germany“ auf, einer Großveranstaltung
mit Hakenkreuzfahnen und Hitler‐Porträts. Gleichzeitig popularisierte er die
Lehren Sigmund Freuds in Amerika, brachte ein Interview mit Albert Einstein
heraus und publizierte philosemitische Unterhaltungsromane. Auch Thomas
Mann hat er für die amerikanische Presse interviewt; aus dieser Zeit, Ende der
Zwanziger‐, Anfang der Dreißigerjahre sind auch einige Briefe zwischen beiden
überliefert.6 1941, in dem Jahr, in dem Peter Viereck mit seiner Dissertation
sein erstes Buch veröffentlicht, wird George Sylvester Viereck als ein von
Deutschland aus verdeckt bezahlter Nazi‐Agent und ‐Propagandist in Amerika
inhaftiert, bis 1947 sitzt er im Gefängnis. Peter Vierecks Dissertation ist ein
öffentliches Manifest gegen den Geist seines Vaters. Sein anschließender
Dienst in der amerikanischen Armee ist der Versuch, sich gegen seine
verdächtige Herkunft im Krieg gegen Deutschland als loyaler amerikanischer
Staatsbürger zu erweisen.
Metapolitics ist ein Buch, mit dem ein kaum 25jähriger Mann kulturhistorisch
zu diagnostizieren versucht, was er in seinem Vater verkörpert sehen konnte:
den Nationalsozialismus nicht als kulturellen Bruch, sondern als Fortsetzung
einer aus dem 19. Jahrhundert stammenden deutschnationalen Begeisterung.
Diagnose ist dabei nur die halbe Wahrheit, oder vielleicht sogar weniger als die
Hälfte. Denn als Abrechnung mit der Vaterideologie, als beschwörende Anzeige
und Warnung vor ihr ist das Buch viel emotionaler und affektiver, als man es
für die Gattung Dissertation für möglich halten möchte.
6 Vagets Vermutung, Thomas Mann sei „sich nicht recht bewusst“ gewesen, dass es sich bei Peter Viereck um den Sohn George Sylvester Vierecks handle (Vaget, Thomas Mann, der Amerikaner, wie Anm. 3, S. 339) halte ich für unbegründet, da Thomas Mann Peter Viereck in seinen Tagebüchern wiederholt als den „jungen Viereck“ bezeichnet.
6
Metapolitics. From Wagner and the German Romantics to Hitler
Das Titelwort seiner Dissertation übernimmt Viereck aus dem „Offenen Brief an
Richard Wagner“, mit dem der Historiker und Publizist Constantin Frantz auf
Richard Wagners Aufforderung reagierte, zu der Frage „Was ist Deutsch?“
Stellung zu nehmen. Dieser offene Brief erschien ebenso wie Wagners
Aufforderung 1878 in den Bayreuther Blättern. Was er unter „deutsch“
versteht, entwickelt Frantz in ausdrücklicher Opposition zur Bismarckschen
Politik, indem er gegen deren nationalstaatliche Reichsgründung die größere
Dimension des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation beschwört. Diese
Dimension, die er sich vage als einen europäischen Föderalismus unter
deutscher Führung vorstellt, versteht er als das wahrhaft Deutsche, und es ist
genau diese visionäre Überbietung der Realpolitik, die er am Ende auf den
Begriff „Metapolitik“ bringt. Der Begriff ist also ganz affirmativ gemeint. In
Frantz‘ Wortlaut: „um wirklich deutsch zu sein muss daher die Politik über sich
selbst hinaus gehen. Sie muss sich zur Metapolitik erheben, als welche sich zur
gemeinen Schulpolitik ähnlich verhält, wie zur Physik die Metaphysik.“7
Hier setzt Vierecks Diagnose an. In der visionären Überbietung der Realpolitik
sieht er das charakteristisch Deutsche, das genau in dem Moment zur realen
politischen Gefahr werde, in dem die militärische Stärke Deutschlands in den
Dienst der Visionen trete. Genau diesen Moment sieht er mit Hitler gekommen.
Dieser ist in Vierecks Augen der Mann, der in die Tat umsetzt, was im
deutschen politischen Denken von je her als irrationaler, visionärer
Überschwang in Kurs war. Der Nationalsozialismus ist demnach inhaltlich nichts
Neues, sondern nur die massenpädagogische Eintrichterung und materiell‐
militärische Umsetzung des deutschen metapolitischen Denkens. Als deren
hauptsächliche Bestandteile nennt er (1.) Romantik, (2.) einen sich
wissenschaftlich gebenden Rassismus. (3.) einen vagen Hang zum Sozialismus,
der tatsächlich nur negativ als Antikapitalismus bestimmt sei, und (4.) eine
irrational übernatürliche Vorstellung vom Volk.8 Schon auf der dritten Textseite
7 Constantin Frantz, Offener Brief an Richard Wagner, in: Bayreuther Blätter 6, 1878, S. 149‐170, hier S. 169. Wagners Aufforderung „Was ist Deutsch?“ dort im Heft 2, 1878, S. 29‐42. 8 „I shall use “metapolitics“ to mean the semi‐political ideology resulting from the intertwining of four distinct strands. These four are romanticism (as interpreted in the chapter following this); the “science” of racism; a vague economic socialism, protesting sometimes demagogically and sometimes sincerely against capitalist materialism; and the alleged supernatural and unconscious forces of Volk collectivity.”Peter Viereck, Metapolitics. From Wagner and the German Romantics to Hitler. Expanded edition, with a new introduction by the author, New Brunswick, London 2007, S. 4. Alle weiteren Nachweise aus diesem Buch unmittelbar im Text mit der Sigle V.
7
räumt Viereck die „oversimplification“ (V 5) seines Erklärungsansatzes ein.
Doch sieht er sie nicht nur gerechtfertigt, sondern notwendig für die Botschaft
seines Buches. Um sie heute zu verstehen, muss man die zeitgenössische
Diskussionslage in Amerika sehen, auf die sich Viereck bezieht. Ihm geht es zum
einen darum, dass der Nationalsozialismus kein irritierender plötzlicher Störfall
in Deutschland sei, der übersteh‐ und behebbar wäre, sondern die Konsequenz
aus einer langen deutschen Kulturgeschichte. Dies richtet sich gegen diejenigen
in Amerika, die das aktuelle böse vom alten guten Deutschland trennen und
sich die alte Deutschland‐, insbesondere auch Wagner‐Liebe nicht nehmen
lassen wollen. Zum anderen geht es ihm darum, mit der kulturhistorischen
Herleitung und Ausmalung des Nationalsozialismus das so gesehen durch
Jahrhunderte angereicherte und aufgelaufene Bedrohungspotenzial zu zeigen,
mit dem man es hier zu tun hat. Dies richtet sich gegen diejenigen in Amerika,
die es ablehnten oder zögerten, ob die Amerikaner sich im anfangs ja fernen
europäischen Krieg engagieren und sich selbst aktiv an der militärischen
Bekämpfung Deutschlands beteiligen sollten. Vierecks Buch ist in erster Linie
politische Rhetorik. Es will das bedrohliche Ausmaß der aktuellen deutschen
Politik bewusst machen und damit zu deren aktiver Bekämpfung motivieren.
Gleich die ersten Sätze machen das deutlich:
“The type of politics discussed in this book is not really ‘politics’ in the
unpretentious American sense of the word but is best described as – well,
there is no ordinary English word for it – as Metapolitik: metapolitics. No
English word expresses so well the Weltanschauung which Hitler has instilled
into German youth and which, backed by German military and economic
efficiency, is the menace of the hour to all free peoples.” (V 3)
Bedenkt man dieses auf die aktuelle amerikanische Deutschland‐Diskussion
bezogene Engagement, dann wundert man sich nicht über das hingebungsvolle
Analogisieren, mit dem Viereck aus den Germanen, aus den Romantikern und
Idealisten, aus Wagner und den Wagnerianern, aus dem Turnvater Jahn und
den Nationalsozialisten ein unheilvolles Panorama des deutschen politischen
Irrationalismus aufspannt. Man wundert sich höchstens, dass dies in der
Gattung Dissertation auftreten konnte. Man kann es als Indiz für die derzeitige
Situation der Harvard‐Universität nehmen, an der offenbar eine
Empfänglichkeit für Vierecks Botschaft herrschte – oder, umgekehrt gesehen,
8
ein intellektuelles Milieu, das Vierecks Arbeit inspiriert hat.9 Denn sie steht mit
ihren Thesen nicht allein. Während des Zweiten Weltkriegs waren im
amerikanischen und auch englischen Universitätsmilieu Rückführungen des
Nationalsozialismus auf den deutschen Idealismus keine Seltenheit, wobei es
im akademischen Zusammenhang insbesondere um die Disqualifizierung der
alten Philosophie durch die aktuelle Politik Deutschlands ging. Der
Namhafteste, der so urteilte, ist wohl der Philosoph John Dewey.10 Auch bei
Viereck kommen Fichte und Hegel zwar knapp, doch eindeutig als die geistigen
Ahnherren der aktuellen deutschen Machtpolitik vor (vgl. V 192, 201f.).
Vierecks Schwerpunkt liegt allerdings woanders. Sein Beitrag ist die
Dokumentation derjenigen, die er für die entscheidenden Transformatoren der
romantischen Ideen in moderne, massenwirksame Botschaften hält. Das sind
Friedrich Ludwig Jahn (der „Turnvater“), Richard Wagner und Alfred Rosenberg.
Ihnen gibt Vierecks Buch den größten Raum, und nicht zufällig wählt es seinen
Leitbegriff „Metapolitik“ aus den Bayreuther Blättern. Viereck zitiert viel,
insbesondere aus Wagners Prosaschriften, die er als ideologische und auch
stilistische Vorlagen für Hitlers Mein Kampf präsentiert. Das versteht sich als
ein dokumentarischer Angriff auf die amerikanischen Wagnerianer, die ihre
Opernliebe vom nationalsozialistischen Wagner‐Kult frei und getrennt sehen
wollen. Eben dies will Viereck seinen Landsleuten als Naivität oder Selbstbetrug
austreiben und statt dessen, wie er in formaler Anleihe an den Operndichter
alliterierend sagt, „Wagner’s warped genius“ als „the most important single
fountainhead of current Nazi ideology“ (V 91) sichtbar machen. Die
materialreiche Dokumentation ist ein Verdienst Vierecks, gerade im Blick auf
seine amerikanischen Leser, die das meiste, was Viereck bringt, kaum gekannt
haben dürften. Das Gesamtbild der verhängnisvollen deutschen Metapolitik ist
in seiner kruden Völkerpsychologie der alarmierten politischen Situation und
dem Engagement geschuldet, Amerika gegen Deutschland zu mobilisieren.
Viereck selbst schwankt zwischen pauschalen, fast aphoristischen Sprüchen
über die ewig irrationalen Deutschen einerseits („Germans have a strange habit
of fleeing not from prisons but into prisons.“ V 27) und andererseits dem
Versuch, zwischen den alten Romantikern und den aktuellen Politikern trotz
aller Kontinuität zu differenzieren. Zu Johann Gottfried Herder etwa sagt er:
9 Claes G. Ryn (vgl. Anm. 5, S. 38) nennt den Komparatisten Irving Babbitt, der Viereck durch seine kritische Perspektive auf die Romantik beeinflusst habe. 10 Vgl. Wolf Lepenies, Kultur und Politik. Deutsche Geschichten, Frankfurt a. M. 2008, S. 43.
9
„The Nazi and Wagnerian cult of the organic instinctive Volk could not have
existed without him. Yet he would be jailed as a pacifist and internationalist if
he lived in Germany today.“ (V 52) Und auch wenn er Jahn und Wagner
ideologisch so eng mit dem Nationalsozialismus verbindet, beharrt er doch auf
dem Unterschied zwischen Gedanken und Taten: „A few years under Hitler
would have been the best cure and return to sanity for all the nineteenth‐
century proto‐Nazis we have been discussing, including Wagner and Jahn.“ (V
182)
Das Hauptproblem von Vierecks Buch liegt, wie bei seiner These kaum anders
zu erwarten, in der Verflochtenheit von Gegenstand und Methode. Wo Viereck
den Zusammenhang einer mythisch‐irrationalen Selbstberauschung in der
deutschen Kulturgeschichte kritisch erkennen und analysieren will, stellt er ihn
vielfach durch seine suggestiven Analogien erst selbst her. Mythendiagnose
und Mythenbildung sind hier eng ineinander verwickelt. Der wissenschaftliche
Wert jenseits der Materialsammlung ist also eher gering – was allerdings nicht
daran gehindert hat, dass Vierecks Buch bis heute in einem gängigen
amerikanischen Lehrwerk über Nazi‐Deutschland zur weiterführenden Lektüre
empfohlen wird.11 Der Wert des Buches bemisst sich im Verhältnis zu dem
damaligen deutschlandpolitischen Informations‐ und Diskussionsstand in
Amerika, den es erweitert und herausfordert. Auch in seiner Dissertation
erscheint Viereck also als politischer Publizist.
Es ist deshalb ganz angemessen, dass sein Wagner‐Kapitel in einer politischen
Zeitschrift vorab gedruckt wurde: in dem in New York herausgegebenen
Magazin Common Sense. Es war 1932 aus dem Parteimagazin der League for
Independent Political Action hervorgegangen, einer sozialistisch orientierten
Bewegung, die unter dem Vorsitz des schon genannten Philosophen John
Dewey eine politische Alternative zwischen den etablierten Republikanern und
Demokraten auf der einen und den Marxisten auf der anderen Seite suchte. Die
League löste sich 1936 auf, die Zeitschrift hielt sich bis 1946. Der Viereck‐
Auszug erschien in zwei Teilen im November‐ und im Dezemberheft 1939 unter
dem Titel „Hitler and Richard Wagner“. Über ihn bahnt sich der Weg zu Thomas
Mann. Denn einer der Herausgeber von Common Sense, Alfred M. Bingham,
schickte Vierecks Aufsatz an seine Adresse: als Herausforderung, was denn der
11 Vgl. Joseph W. Bendersky, A Concise History of Nazi Germany, 3. ed., Lanham, Boulder, New York, Toronto, Plymouth 2007, S. 58.
10
berühmte Wagner‐Verehrer zu dieser Zusammenstellung des Verehrten mit
Hitler zu sagen habe. Die Herausforderung war dabei nicht nur intern durch die
persönliche Zusendung gestellt, sondern auch öffentlich durch Vierecks Text
selbst. Denn in ihm wird Thomas Mann als Wagner‐Bewunderer suggestiv
neben Hitler gestellt, insbesondere im Blick auf die Hochachtung für Wagners
Prosaschriften:
„Thomas Mann, noblest and greatest of anti‐Hitler Germans […] is expounding
his love and admiration not only for Wagner the musician but for Wagner the
thinker. Mann is referring to Wagner’s Prose: ‚essays of astonishing
intelligence.‘ Flashback to Germany: Hitler’s ‚favorite reading‘ is the ‚political
compositions of Richard Wagner.‘“12
Das hier zitierte Wagner‐Lob konnte Viereck dem Vortrag „Leiden und Größe
Richard Wagners“ entnehmen, den Thomas Mann nach anderen Gelegenheiten
und Orten auch in New York an der New School for Social Research gehalten
hatte. Dort bezeichnet er Wagners Prosaaufsätze als „Künstlerschriften von
erstaunlicher Gescheitheit“.13 Thomas Mann nahm die Herausforderung an.
Thomas Mann und Peter Viereck zum Ersten: eine entwaffnende Antwort und
dankbarste Reaktionen
Manns Antwort an Common Sense, die dort im Januarheft 1940 gedruckt
wurde, gibt ein eindrucksvolles Beispiel, wie man eine Herausforderung nicht
defensiv, sondern offensiv annehmen kann: durch Zustimmung, Überbietung
und punktuell zielgenauen Tadel. Denn genau so reagiert Thomas Mann, und es
ist irreführend, dass diese Reaktion in Common Sense unter dem Titel „In
Defence of Wagner“ erschien, einem Titel, der offenbar nicht vom Autor,
sondern von der amerikanischen Redaktion stammt. Aus redaktioneller Sicht ist
er auch gut verständlich, weil er eine Kontroverse inszeniert – noch dazu mit
dem namhaftesten Repräsentanten deutscher Kultur. Dieser jedoch ließ sich
gar nicht auf eine Kontroverse ein, sondern gab der Herausforderung recht, ja
mehr noch: er dehnte ihre Perspektive aus. Ich zitiere aus der deutschen
Fassung, die heute in den Thomas‐Mann‐Ausgaben zu finden ist:
12 Peter Viereck, Hitler and Richard Wagner, in: Common Sense, vol. VIII, no. 11, November 1939, S. 3‐6, hier S. 3. 13 Thomas Mann, Leiden und Größe Richard Wagners, in: T. M., Leiden und Größe der Meister, Frankfurt a. M. 1982, S. 716‐779, hier S. 731. (= Gesammelte Werke in Einzelbänden. Frankfurter Ausgabe. Hg. und mit Nachbemerkungen versehen von Peter de Mendelssohn).
11
„National‐Sozialismus, in all seiner unsäglichen empirischen Gemeinheit, ist die
tragische Konsequenz der mythischen Politikfremdheit des deutschen Geistes.
– Sie sehen, ich gehe ein wenig weiter als Herr Viereck. Ich finde das nazistische
Element nicht nur in Wagners fragwürdiger ‚Literatur‘, ich finde es auch in
seiner ‚Musik‘, in seinem ebenso, wenn auch in einem erhabeneren Sinne,
fragwürdigen Werk“.14
Thomas Mann stimmt Viereck grundsätzlich zu und wiederholt dessen These
nur mit eigenen Worten, wenn er sagt, dass in Deutschland „mythische
Surrogate für das wirklich Soziale“ (821) eintreten und dass im
Nationalsozialismus genau diese deutsche Charaktereigenschaft zur
verhängnisvollen realen Politik werde. Insofern bestätigt er Vierecks
Herleitung, für die er geradezu eine aphoristische Zusammenfassung liefert:
„National‐Sozialismus heißt: ‚Ich will überhaupt das Soziale nicht, ich will das
Volksmärchen.‘“ (821) Auch Vierecks Leitbegriff „Metapolitik“ nimmt er auf, so
wie er die vielen suggestiven Analogien mit aller Überzeugung als die „von
Herrn Viereck aufgedeckten Beziehungen“ (820) anerkennt. Man weiß, wie
sehr auch Thomas Mann zu solchen völkerpsychologischen Perspektiven neigt.
Schließlich stimmt er auch in den appellativen Ton Vierecks ein, wenn er von
der „‘metapolitischen‘ Bewegung“ spricht, „die heute den Schrecken der Welt
bildet, und die geschlagen werden muß“. (822)
Wogegen Thomas Mann sich indes verwahrt, ist die Rolle, die ihm Viereck als
Wagner‐Bewunderer an der Seite Hitlers zugewiesen hat. Es ist allerdings nicht
der Ton empörter Richtigstellung, in dem er dies tut, sondern in dem der
verletzten Sensibilität : „was mich betroffen macht, ist, daß Herr Viereck, in
seinem vorzüglichen Artikel, den Anschein erweckt, als hätte ich mich recht
stumpf erwiesen vor der Bedenklichkeit des Phänomens und zu der
simplistischen Auffassung beigetragen, Wagner sei ein eindeutiger Vertreter
des ‚guten Deutschland‘ im Gegensatz zu dem bösen des Herrn Hitler.“ (817)
Dass Thomas Mann dieser Trennung in Gut und Böse nicht anhing, belegt vor
allem sein Essay „Bruder Hitler“, dessen Titel schon die ganz andere,
kompliziertere und selbstkritische Perspektive anzeigt. Dieser Essay ist im März
1939 in englischer Übersetzung auch in Amerika erschienen. Insofern hat
14 Thomas Mann, Zu Wagners Verteidigung. Brief an den Herausgeber des Common Sense, in: T. M., Leiden und Größe der Meister (wie Anm. 13), S. 815‐823, hier S. 821. Die weiteren Nachweise unmittelbar im Text durch Seitenzahlen.
12
Thomas Mann einen guten Grund, sich gegen diese „simplistische Auffassung“
zu verwahren. In dem Wagner‐Vortrag, auf den sich Viereck bezieht und der ja
schon deutlich früher, Anfang 1933 entstanden ist, liegen die Dinge allerdings
noch anders. Die „Bedenklichkeit des Phänomens“ Wagner hat hier
begreiflicherweise noch nicht die Dimension, die sie bei Viereck und dann in
Manns Antwort auf Viereck gewinnt. Die Herausforderung, die Common Sense
an Mann adressiert, konfrontiert also eine ältere Position des Autors mit der
seit Kriegsbeginn verschärften politischen Situation. Hätte Viereck indes den
anderen Wagner‐Essay gekannt, den Thomas Mann im November 1937 in
Zürich gehalten hat („Richard Wagner und der ‚Ring des Nibelungen‘“), dann
hätte er dort seine eigene Perspektive wiederfinden können. Es begegnen dort
dieselben Formulierungen, die Mann zwei Jahre später zur Antwort und
Bestätigung Vierecks wiederverwenden wird. Im November 1937 heißt es dort
über Richard Wagner:
„Angesichts zeitlicher Probleme führt er zu Lösungsversuchen, die
Ausweichungen sind und das Gepräge mythischer Surrogate für das wirklich
Soziale tragen. Es ist nicht schwer, im heutigen deutschen Staats‐ und
Gesellschaftsexperiment ein solches mythisches Surrogat zu erkennen. Aus der
politischen Terminologie ins Psychologische übersetzt besagt dies Heutige: ‚Ich
will überhaupt das Soziale nicht, ich will das Volksmärchen.‘“15
An dieser Stelle wird nicht nur das Textbausteinverfahren Thomas Manns
deutlich, sondern auch die Tatsache, dass Vierecks Stoßrichtung bei ihm durch
offene Türen führte. Was im Antwortbrief von 1939/40 als pointierte
Zusammenfassung des Viereckschen Artikels erscheint, ist Eigenes von 1937.
Dass er seine alten Formulierungen nicht als längst schon Gewusstes zitiert,
sondern wie neu als spontane Zustimmung aussehen lässt, hat wohl mit der
Großzügigkeit gegenüber einem jungen amerikanischen Autor zu tun und auch
mit der Pflege seines Erscheinungsbildes in der amerikanischen Presse. Als
Besserwisser wollte er nicht dastehen, eher in Übereinstimmung mit den
jungen, engagierten Intellektuellen.
Der einzige Tadel, den Thomas Mann dann doch gegen Viereck ausspricht,
kommt ebenso wie die Selbstverteidigung aus der verletzten Sensibilität. Der
Vorwurf ist in der Sache zunächst ganz klein: Das einzige, was Thomas Mann, 15 Thomas Mann, Richard Wagner und der „Ring des Nibelungen“,in: T.M., Leiden und Größe der Meister (wie Anm. 13), S. 779‐804, hier S. 803.
13
wie er sagt, in „Herrn Vierecks einsichtsreicher Wagner‐Charakteristik ein
wenig vermisse“, sei „die Nuance“. Dieser kleine Tadel wird jedoch groß durch
den Zusatz, dass es zum Wagner‐Verständnis vor allem auf die Nuance
ankomme. Sie sei hier „das Aller‐Unentbehrlichste“, wofür gerade den
nationalsozialistischen Wagnerianern jedes Verständnis fehle: „Diesem Getier
ist die Nuance, was dem Stiere das rote Tuch.“16 Darin liegt nun doch eine
Portion Bitterkeit gegen Viereck. Er wird hier als ein Grobian hingestellt, dem
die nötige Sensibilität für deutsche Angelegenheiten abgeht. Dieser Tadel ist,
um es mit dem Autor zu sagen, nur eine kleine Nuance in Manns Antwortbrief.
Die Frage, ob sie auch in dieser Angelegenheit das Aller‐Unentbehrlichste ist,
bleibt unter dem dominanten Zuspruch zu Viereck verborgen. Thomas Mann,
weiß man, kann sehr diplomatisch sein.
Viereck selbst jedenfalls hat diese Nuance entweder nicht verstanden oder
nicht so wichtig genommen. Denn seine Reaktion auf Thomas Mann zeigt
größte Dankbarkeit. Sie äußert sich mehrfach, zunächst und vor allem darin,
dass er die suggestive Verbindung von Mann und Hitler in der Buchfassung
streicht und durch ein Zitat aus Manns Antwortschreiben ersetzt, das die
Bestätigung und Erweiterung der Viereckschen Thesen enthält (vgl. V 92). Bei
einem weiteren Thomas‐Mann‐Zitat, das schon in Vierecks
Zeitschriftenfassung steht und sich auf Wagners Volkstümlichkeit bezieht, wird
die Buchfassung so verändert, dass sie nun eindeutig Manns skeptische Distanz
dazu markiert.17 Statt des naiven Wagnerianers zeigt Viereck in Mann nun also
den reflektiert‐kritischen Wagner‐Kenner. Viereck geht es in der Buchfassung
offenbar darum, nicht mehr als Herausforderer, sondern als Verbündeter
Thomas Manns da zu stehen. Zahlreiche weitere affirmative und solidarische
Zitate, auch aus dem Brief an Common Sense (V 135, 183), zeigen dies. Eine
andere Dimension der Dankbarkeit liegt darin, dass er das von Thomas Mann
gebrachte Nietzsche‐Zitat zu den Meistersingern – diese Oper sei „gegen die
Zivilisation“18 – in sein Wagner‐Kapitel aufnimmt (vgl. V 98). Es passt dort
natürlich bestens; die Zeitschriftenfassung kennt es noch nicht. Der
Neuausgabe von Metapoltics, die zuerst 1961 und 65, und dann wieder 2004,
diese zuletzt in dritter Auflage 2007 erschien, stehen Thomas Manns
16 Vgl. Zu Wagners Verteidigung (wie Anm. 14), S. 818. 17 Die Buchfassung verändert den Ausdruck „tentatively“, der in der Zeitschriftenfassung (wie Anm. 12, S. 5) Manns Haltung anzeigt, in „sceptically“ (V 98). 18 Zu Wagners Verteidigung (wie Anm. 14), S. 816 und 823.
14
Antwortschreiben an Common Sense und noch ein weiterer Brief von ihm, der
die erste Buchfassung von 1941 nachdrücklich lobt, wie Adelsbriefe voran (vgl.
V li‐lxi). Auch die hintere Umschlagseite bringt Lobesworte daraus. So dient
Thomas Mann über seinen Tod hinaus als Werbeträger für Metapolitics.
Wenn Viereck Thomas Mann somit plakativ vor sich her führt, so ist es im
umgekehrten Fall anders. Diesen umgekehrten Fall gibt es, denn auch Thomas
Mann führt Viereck noch einige Zeit in seinen Texten mit sich. Mit dem einen
Antwortschreiben an Common Sense ist es nicht getan, auch nicht mit dem sich
daran anschließenden privaten Briefwechsel, in dem sie sich unter anderem
über die politische Dimension der deutschen Romantik, also über Vierecks
Metapolitics‐These, weiter austauschen.19 Vierecks Resonanz reicht darüber
hinaus in einen weniger bekannten und einen sehr bekannten Essay Thomas
Manns sowie schließlich in den Faustus‐Roman. Sie bleibt allerdings insoweit
verborgen, als der Name Viereck dabei nicht mehr genannt wird. Sein Einfluss
aber betrifft Entscheidendes: die Einschätzung und den Begriff der deutschen
Romantik.
Thomas Mann und Peter Viereck zum Zweiten: von Metapolitics zum Geist
von Kaisersaschern
Der erste Text Thomas Manns, in dem Viereck ungenannt präsent ist, erschien
im Juli 1941 unter dem Titel „Germany’s Guilt and Mission“ in der von seinem
Sohn Klaus Mann in New York herausgegebenen Zeitschrift Decision. Der Text
hebt den Blick über den Zusammenhang von Wagner und Hitler hinaus auf die
weitere kulturgeschichtliche Herkunft des Nationalsozialismus. Er wird dabei so
handfest nationaltypologisch, dass er in den Werkausgaben später den
lakonischen Titel „Deutschland“ bekommen hat. Den Anlass zu diesem
kürzeren Essay gab ein in Amerika veröffentlichtes Interview des Prinzen
Bernhard zu Lippe‐Biesterfeld, eines deutschen Adeligen, der wenige Jahre
zuvor die niederländische Thronfolgerin geheiratet hatte und nun, im zweiten
Kriegsjahr im Dienst der Royal Air Force, als eingeheirateter Niederländer
gegen das ihm fremde Deutschland sprach: „the old Germany of culture and
19 Vgl. Thomas Manns Brief an Peter Viereck vom 13.4.1940, nachgewiesen in: Die Briefe Thomas Manns. Regesten und Register, Bd. II: Die Briefe von 1934 bis 1943. Bearbeitet und hg. unter Mitarbeit von Yvonne Schmidlin von Hans Bürgin und Hans‐Otto Mayer, Frankfurt a. M. 1980, S. 401, Nr. 40/208. Ein weiterer Brief an Viereck ist dort für den 13.3.1940 nachgewiesen (S. 396, Nr. 40/178); die Tagebücher erwähnen für 1941 weitere, in den Regesten nicht nachgewiesene Briefe.
15
learning“, sagt dieser in Jena geborene Prinz, sei durch den Nationalsozialismus
so zerstört, dass es niemals wiedererstehen könne.20
Hier setzt Thomas Mann kritisch an: sowohl in der Person, indem er sich über
die kalte Teilnahmslosigkeit dieses deutschen Deutschlandkritikers wundert, als
auch in der Sache, indem er das vom Prinzen für seine eigene Geschichte in
Anspruch genommene Ideal verurteilt: „the old Germany of culture and
learning“ sei ein naives Wunschbild, das sich über die tatsächlichen
Zusammenhänge des alten mit dem aktuellen Deutschland betrüge. Diese Kritik
setzt fort, was der Beitrag „Bruder Hitler“ schon eröffnet hat. Die Füllung, die
diese Perspektive jetzt erhält, entspricht jedoch dem, was Thomas Mann bei
Viereck finden konnte. Seine Namensliste, mit der er den Weg zu Hitler bahnt,
folgt der Nomenklatur in Metapolitics. Dass Mann hier Fichte, Hegel, Wagner,
Chamberlain, Spengler und Rosenberg nennt, ist unspezifisch und muss noch
nichts mit Viereck zu tun haben. Dass er aber gerade Turnvater Jahn und
Treitschke dazusetzt, kommt Vierecks Auswahl und Schwerpunktsetzung sehr
nahe.21 Denn neben den Hauptzeugen Jahn, Wagner und Rosenberg spielt
Treitschke in Vierecks Argumentation eine markante Rolle als Scharnierfigur
zwischen Preußentum und Nationalsozialismus (vgl. V 203‐206).
Ganz der Viereckschen Vorgabe aber entspricht die entscheidende
Veränderung, die zwischen dem „Bruder Hitler“‐ und dem „Deutschland“‐Essay
eintritt. Sie betrifft die Art und Weise, wie das aktuelle auf das historische
Deutschland bezogen wird. Im älteren Essay spricht Thomas Mann von
„Verhunzung“: „Wagnerisch, auf der Stufe der Verhunzung, ist das Ganze.“22
Der neue Essay sieht in Hitlers Politik dagegen – ganz in Vierecks Sinne – die
„Verwirklichung“ und „politische Erfüllung von Ideen, die seit mindestens
anderthalb Jahrhunderten im deutschen Volk und in der deutschen Intelligenz
rumorten.“23 Damit bezieht Thomas Mann eine Position, gegen die er sich
wenige Jahre zuvor, im Wagner‐Aufsatz von 1937, noch ausdrücklich verwahrt
hat. Dort wird der Wagner‐Bezug der Nationalsozialisten als „Mißbrauch“
bewertet, so entschieden, dass Thomas Mann es ausdrücklich nicht zulassen
will, „hier überhaupt von Verwirklichung, sei es selbst im Sinne des Zerrbilds“, 20 Vgl. Thomas Mann, Deutschland, in: T. M., An die gesittete Welt. Politische Schriften und Reden im Exil. Nachwort von Hanno Helbling, Frankfurt a. M. 1986, S. 426‐434, hier S. 427 (= Gesammelte Werke in Einzelbänden. Frankfurter Ausgabe). 21 Vgl. ebd. S. 431f. 22 Thomas Mann, Bruder Hitler, in: T. M., An die gesittete Welt (wie Anm. 20), S. 253‐260, hier S. 256. 23 Thomas Mann, Deutschland (wie Anm. 20), S. 432f.
16
zu reden.24 Im „Deutschland“‐Essay von 1941 redet er nun selbst davon, und
zwar nicht nur wörtlich von der „Verwirklichung“, sondern mehr noch von der
„politischen Erfüllung“, so als hätten die hergebrachten deutschen Ideen von
sich aus eine Tendenz zur nationalsozialistischen Gewalt. In Manns Worten: Es
sind Ideen, die „den Keim mörderischer Dekadenz immer in sich trugen.“25 Das
ist ein anderer Ton als 1937 und 39. Der Ausbruch und die Entwicklung des
Krieges bis Mitte 1941 führen nicht dazu, dass Thomas Mann die eigene
Gewalt‐Dimension Nazi‐Deutschlands betont, sondern im Gegenteil deren
Verwurzelung in der deutschen Geschichte. Die aktuelle militärisch‐politische
Gewalt fordert ihre historische Dimensionierung heraus, um zu zeigen, welches
Gefahrenpotenzial sich in ihr angehäuft hat. Genau das war die Botschaft von
Metapolitics, und genau das ist die Botschaft von Manns „Deutschland“‐Essay.
Und genau wie das amerikanische Buch spitzt der deutsche Essay die Analyse
der nationalsozialistischen Gefahr darin zu, dass diese die hergebrachten Ideen
dem „technischen Massenzeitalter“ anpasst und damit „eine
Sprengmischungen“ erzeugt habe, „die buchstäblich die ganze Zivilisation
bedroht.“26 Metapolitics endet mit einem Kapitel, das „Neanderthalers in
Airplaines“ (V 312) überschrieben ist und mit den Neandertalern als
Bomberpiloten eine solche Sprengmischung vorstellt: „applying to uncivilized
ends the highest technical achievements of civilization.“ (V 313) Viereck und
Thomas Mann liegen hier eng beieinander.
Unmittelbar vor dem „Deutschland“‐Essay halten die Tagebücher Thomas
Manns Viereck‐Lektüre fest. Am 18. Juni 41 liest er weitere Vorabdrucke von
Metapolitics, am Tag darauf beginnt er mit dem Essay. Die Viereck‐Lektüre wird
mit dem Zusatz „Gut“27 vermerkt, den Niederschlag der Lektüre sieht man dem
Essay an. Nicht zuletzt auch darin, dass Mann wie Viereck die verhängnisvolle
historische Dimension von Nazi‐Deutschland auf den Begriff „Romantik“ bringt.
Noch einmal der Essay: „Was man Nationalsozialismus nennt, ist die virulente
Entartungsform von Ideen, die allerdings den Keim mörderischer Dekadenz
immer in sich trugen, aber in the old Germany of culture and learning gar sehr
zu Hause waren. Sie lebten dort auf vornehmen Fuße, sie hießen ‚Romantik‘
24 Vgl. Thomas Mann, Richard Wagner und der „Ring des Nibelungen“ (wie Anm. 15), S. 803f. 25 Thomas Mann, Deutschland (wie Anm. 20), S. 431. 26 Ebd. S. 431. 27 Thomas Mann, Tagebücher, Bd. 5: 1940‐1943, hg. von Peter de Mendelssohn, Frankfurt a. M. 1982, Eintrag vom 18.6.1941.
17
und hatten viel Faszinierendes für die ganze gebildete Welt.“28 In diesen Sätzen
steckt eine Neubewertung und auch Neudefinition der deutschen Romantik,
die sich in dem bekannteren Essay „Deutschland und die Deutschen“ von 1945
weiter entfalten wird. Auch dabei folgt Mann, wie gleich zu sehen sein wird,
der Viereckschen Inspiration.
Zuvor sei kurz an Thomas Manns eigene, vorangehende Verwendung des
Romantik‐Begriffs erinnert. Maßgeblich ist hier zunächst die Formel
„Sympathie mit dem Tode“, die er als „Grundbestimmung aller Romantik“29 in
den Betrachtungen eines Unpolitischen geprägt und beispielhaft mit Pfitzners
Oper Palestrina belegt hat. Dahinter steckt Goethes Definition des
Romantischen als des Kranken, die Thomas Mann fast überall, wo er von
Romantik spricht, mitführt. Dahinter stecken auch Nietzsche, der die Romantik
als pathologisches Symptom aus der „Verarmung des Lebens“30 ableitet, sowie
Manns eigene epochale Herkunft aus der décadence. So verstanden, ist die
Romantik seltener ein begrifflich erörtertes Thema, häufig dagegen ein breit
ausgeführtes Motiv in Manns Werken. Begrifflich wird die Romantik dann
wieder im Wagner‐Essay von 1933 erfasst, wo sie, im Blick auf Wagners Opern,
als eine doppelte Ambivalenz bestimmt wird: als Zwittrigkeit von Mythos und
moderner Psychologie, von Popularität und elitärer Verfeinerung. Doch geht es
hier mehr um die Spannweite des Phänomens Wagner als um eine
Begriffsanalyse der Romantik. Die Analyse wird nur ansatzweise versucht, um
am Ende durch die Evokation einer komplexen Stimmungslage überboten zu
werden, die für Thomas Mann die eigentliche Bedeutung des Wortes Romantik
ausmacht: „Der Begriff des Romantischen ist noch der tauglichste, sein [sc.
Wagners] Wesen auf einen Nenner zu bringen; aber gerade er ist ja dermaßen
komplex und schillernd, daß er mehr den Verzicht auf Definition als diese selbst
bedeutet.“31 Kurzum: Thomas Mann verwendet das Wort ‚Romantik‘ nicht als
einen Begriff, der das Gemeinte in die Distanz rationaler Benennung und
Erörterung rückt; im Gegenteil verwendet er es evokativ, um eine komplexe
Stimmungslage jenseits rationaler Durchdringbarkeit aufzurufen. Sie speist sich
28 Thomas Mann, Deutschland (wie Anm. 20), S. 431. 29 Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen. Nachwort von Hanno Helbling, Frankfurt a. M. 1983, S. 425 (= Gesammelte Werke in Einzelbänden. Frankfurter Ausgabe). 30 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, in: F. N., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bdn., hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 3, München 1980, S. 343‐651, hier S. 620 (5. Buch, Nr. 370: „Was ist Romantik?“). 31 Thomas Mann, Leiden und Größe Richard Wagners (wie Anm. 13), S. 756.
18
aus dem ganzen Assoziationsinventar der deutschen Kulturgeschichte des 19.
Jahrhunderts. Wer von ‚Romantik‘ bei Thomas Mann liest, ist eingeladen, sich
stimmungshaft in diesen Assoziationsraum zu begeben. Um begriffliches
Verständnis und Objektivierung geht es gerade nicht. Schon die Formel
„Sympathie mit dem Tode“ ist ein Beleg dafür.
Wenn es im „Deutschland“‐Essay von 1941 heißt, dass die Romantik in
Deutschland „auf vornehmen Fuße“ lebte und „viel Faszinierendes für die
ganze gebildete Welt“ hatte, dann ist damit recht passend Manns eigene
frühere Rede von der Romantik getroffen. Der Satz kann als Selbstreflexion des
Autors gelten, wie er selbst einst von einem Phänomen gesprochen hat, das er
jetzt ganz anders zu bewerten gelernt hat. Dass die Neubewertung mit der
Viereck‐Lektüre zu tun hat, zeigt sich darin, dass sie genau das neu in sich
aufnimmt, was Metapolitics zur Begriffsbestimmung der Romantik anbietet.
Auch Viereck sieht die ausufernde Überdetermination des Romantik‐Begriffs,
durch die er insgesamt geradezu bedeutungslos geworden sei. Der Ausdruck
‚Romantik‘ sage im Allgemeinen alles und nichts, wenn man nicht jeweils
einschränke, welche besondere Art von ihr man denn meine. Die besondere
Art, die Viereck meint, versteht Romantik als die epochale Erscheinungsweise,
die der ewige deutsche Widerstand gegen die westlichen Zivilisationsstandards
von Aufklärung und Rationalismus im 19. Jahrhundert angenommen habe:
„romanticism is really the nineteenth century’s version of the perennial
German revolt against the western heritage.” (V 19) Das ist freilich ein Klischee,
dem Viereck jedoch durch eine präzisere inhaltliche Bestimmung einen eigenen
Akzent gibt. Dieses Präzisere ist die „not prosaic‐factual but intoxicating‐
ecstatic definition of Life.” (V 22f.) Genau so erklären sich für Viereck die
deutsche Romantik und ihr Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus: als
„intoxicating‐ecstatic definition of Life“. Auch Nietzsche nennt „den Rausch,
den Krampf, die Betäubung“32 als mögliche romantische Symptome. Das
scheint nicht so weit entfernt von der „intoxicating‐ecstatic definition of Life“.
Doch täuscht diese Ähnlichkeit. Denn anders als bei Goethe, Nietzsche und
Thomas Mann hat Vierecks ‚intoxication’ als Merkmal der Romantik nichts mit
Krankheit, Lebensarmut und Todesverfallenheit zu tun. Im Gegenteil. Er
versteht es vitalistisch als „cult of Life (with capital ‚L‘)“ und „dynamism“ (V
22f.). So kann er den Bogen zur nationalsozialistischen Selbstbezeichnung als 32 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft (wie Anm. 30), S. 620.
19
‚Bewegung‘ schlagen: „the cult of Life means ‚dynamism‘, key word of
romanticism and of nazism.“ (V 23)
Vierecks Romantik‐Verständnis hat nichts von der Vornehmheit und
Faszination für die gebildete Welt, von denen Thomas Mann spricht und von
denen er selbst Zeugnis gibt. Es reduziert das Phänomen vielmehr auf einen
trivialen Irrationalismus, den er – in gesuchter Pointe – ebenso in
Schundromanen wie in Goethes Faust verkörpert sieht. In der „intoxicating‐
ecstatic definition of Life“ kommen für ihn die trivialsten Groschenheft‐ und
Leinwandfiguren mit Goethes Dramenfigur überein. Das ist eine beachtliche
Faust‐Interpretation, die näher am Text ist als die Botschaft vom titanischen
Geisteshelden und Erkenntnisstreber. Beachtlich auch darin, dass sie Faust als
Negativ‐ und Warnfigur auffasst und damit der heutigen Germanistik näher
kommt als die meisten Germanisten in den Dreißiger‐ und Vierzigerjahren.
Insgesamt zielt Vierecks Romantik‐Verständnis darauf ab, den deutschen
Dichter‐ und Denker‐Nimbus wegzublasen und die Sache als gefährlichen
Irrationalismus bloßzustellen. Deshalb auch die Überblendung von Faust und
Schundroman. Viereck hat sichtlich Gefallen daran und zeiht sich selbst
genüsslich des Sakrilegs, den dies in den Augen der „Goethe‐snobs (those
philosophical blood‐suckers of Goethe’s greatness)“ (V 23) darstellen müsse.
Es ist dieser ganz und gar nicht vornehme, die gebildete Welt kaum
faszinierende Aspekt des irrationalen Lebenskultes, den Thomas Mann in sein
Romantik‐Verständnis aufnimmt. Und weil dies seiner bisherigen Vorstellung,
die er deshalb nicht einfach aufgibt, sondern zugleich festhält, widerspricht,
wird die Romantik für ihn zu einem „verwirrenden Paradox“ von „irisierender
Doppeldeutigkeit“. Wenn Thomas Mann das so sagt, gewinnt man eingedenk
seiner früheren Äußerungen zur Romantik den Eindruck, dass er dieses Paradox
im Vortrag „Deutschland und die Deutschen“ nicht nur seinen Hörern, sondern
zugleich auch sich selbst klar zu machen versucht: „Dies ist ihr verwirrendes
Paradox, daß sie [sc. die Romantik], die die irrationalen Lebenskräfte
revolutionär gegen die abstrakte Vernunft, den flachen Humanitarismus
vertritt, eben durch ihre Hingabe an das Irrationale und die Vergangenheit,
eine tiefe Affinität zum Tode besitzt. Sie hat in Deutschland, ihrem eigentlichen
Heimatland, diese irisierende Doppeldeutigkeit, als Verherrlichung des Vitalen
20
gegen das bloß Moralische und zugleich als Todesverwandtschaft, am stärksten
und unheimlichsten bewährt.“33
Durch die Aufnahme des Viereckschen Aspekts verschiebt sich der Horizont, in
dem Thomas Mann die Romantik sieht. War sie für ihn früher eine Sache der
Psychologie und der Kunst, geht es nun um ihre praktische und
gesellschaftliche Dimension, um Romantik als Politikum. Das wird gleich dort
deutlich, wo Thomas Mann den Begriff im Vortrag „Deutschland und die
Deutschen“ einführt. Hier wird das psychologisch‐ästhetische vom praktischen
und politischen Verständnis geradezu korrigiert: „Die deutsche Romantik, was
ist sie anderes als ein Ausdruck jener schönsten deutschen Eigenschaft, der
deutschen Innerlichkeit? Viel Sehnsüchtig‐Verträumtes, Phantastisch‐
Geisterhaftes und Tief‐Skurriles, auch ein hohes artistisches Raffinement, eine
alles überschwebende Ironie verbindet sich mit dem Begriff der Romantik. Aber
nicht dies ist es eigentlich, woran ich denke, wenn ich von deutscher Romantik
spreche. Es ist vielmehr eine gewisse dunkle Mächtigkeit […] der Seele, welche
sich den chthonischen, irrationalen und dämonischen Kräften des Lebens, das
will sagen: den eigentlichen Quellen des Lebens nahe fühlt und einer nur
vernünftigen Weltbetrachtung und Weltbehandlung die Widersetzlichkeit
tieferen Wissens, tieferer Verbundenheit mit dem Heiligen bietet.“34 Vierecks
Stichwort ist hier gleich doppelt aufgenommen („irrationale Kräfte des Lebens“,
„eigentliche Quellen des Lebens“) und führt zur praktischen Dimension der
Romantik, die Thomas Mann wie Viereck in ihrer Verbindung mit Bismarcks
Realpolitik verfolgen.35
Im Wagner‐Essay von 1933 bezeichnet Thomas Mann das politische Versagen
des deutschen Bürgertums mit der dann bekannt gewordenen Formel der
„resignierten, machtgeschützten Innerlichkeit.“ Das Versagen wird hier in der
Abkehr von aller Politik gesehen, in der „bürgerlich‐deutschen Selbsttäuschung
[…], man könne ein unpolitischer Kulturmensch sein“; ein „Wahn“, so heißt es
weiter, „der Deutschlands Elend verschuldet hat.“36 Der Essay von 1945 geht
hier einen Schritt weiter und diagnostiziert Deutschlands Elend nicht im
Unpolitischen, sondern im Politischen der romantischen Innerlichkeit. Deren
33 Thomas Mann, Deutschland und die Deutschen, in: T. M., An die gesittete Welt (wie Anm. 20), S. 701‐723, hier S. 720. 34 Ebd. S. 717. 35 Vgl. ebd. S. 718; bei Viereck das Kapitel „Realpolitik: Fichte, Hegel, Treitschke, Hitler“, V 189‐208. 36 Thomas Mann, Leiden und Größe Richard Wagners (wie Anm. 13), S. 771.
21
Geschichte wird nun nicht mehr wie noch 1933 als Weg „von der Revolution
zur Enttäuschung, zum Pessimismus“ und zur Resignation37 beschrieben.
Vielmehr wird die revolutionäre Durchschlagskraft der Romantik selbst betont:
als „romantische Gegenrevolution“38 gegen Rationalismus, Aufklärung und
Demokratie. So tritt Thomas Manns Romantik‐Verständnis aus dem
bildungsbürgerlichen Assoziationsraum von Psychologie und Ästhetik hinaus in
die politische Praxis. Was zuvor mit den Ausdrücken Sehnsucht, Phantasie,
Traum, Tiefsinn, Raffinement und Ironie vage, aber anteilnehmend positiv
konnotiert war, erscheint nun eindeutig negativ als Demokratiefeindlichkeit.
Die romantische Mittelalterverehrung verliert ihren weichen kunstreligiösen
Zug und steht nun brutal als Zwang und Gewalt der voraufklärerischen
Gesellschaftsform da. Kurzum: Thomas Manns Romantik‐Verständnis wechselt
vom psychologisch‐ästhetischen Faszinosum zum politischen Tremendum. Der
Vortrag „Deutschland und die Deutschen“ entwickelt dies geradlinig thesenhaft
als deutsche Nationalpsychologie, der gleichzeitig entstehende Faustus‐Roman
in komplizierterer perspektivischer Brechung. Vierecks Buch gibt gewiss nicht
den einzigen, aber doch einen entscheidenden Anstoß dazu. In den beiden
Deutschland‐Essays erscheinen Vierecks Thesen kondensiert und pointiert; im
Roman werden sie durch die Erzählerfigur Zeitbloom so verkörpert, dass sie als
eine zwischen Faszination und Grauen angespannte, benommene, teilweise
verwirrte Perspektive kenntlich werden. Der Wechsel von Faszinosum und
Tremendem ist, so zeigt es der Roman, nicht einfach die Wahrheit über das
romantische Deutschland, sondern auch die psychische Disposition derjenigen,
die Deutschland so sehen. Insofern reicht die Reflexion des Romans über
Viereck und zugleich über Thomas Manns eigene Essays hinaus: Er präsentiert
nicht einfach eine Ursprungserzählung des Nationalsozialismus, er präsentiert
zugleich deren Erzähler und dessen Situation, so dass die emotionale
Anspannung deutlich wird, die solch eine mythisierende Deutung gebiert.
Doktor Faustus ist nicht einfach ein Roman über Nazi‐Deutschland, sondern
zugleich über die aktuellen Deutungsreaktionen, die es hervorruft. Die
erfundene Erzählerfigur gibt der Emotionalität und Irrationalität der spontanen
Verstehensanstrengung Gestalt, so dass sie nicht stillschweigend in die
Deutschlanderzählung einfließen, sondern in ihrem Einfluss erkennbar werden.
37 Vgl. ebd. 38 Thomas Mann, Deutschland und die Deutschen (wie Anm. 33), S. 717.
22
In den Essays wie im Roman verbindet Thomas Mann Außen‐ und Innensicht.
Seine völkerpsychologische Diagnose erscheint zugleich als autobiographische
Revision. Analytiker und Patient, könnte man sagen, sprechen hier in einer
Person. In der Thomas‐Mann‐Forschung ist in diesem Zusammenhang Eckhard
Heftrichs Rede von der „radikalen Autobiographie“39 aufgenommen worden.
Als äußerer Umstand spielt die amerikanische Staatsbürgerschaft eine Rolle,
die Thomas Mann 1944 erlangt und in der sein Blickpunkt der historischen
Innen‐ und aktuellen Außensicht offiziell wird. Der Vortrag „Deutschland und
die Deutschen“ macht diese Sprechsituation eigens zum Thema, indem Thomas
Mann hier dankbar die Richtigkeit betont, die es hat, „daß ich Amerikaner
geworden bin.“40 Das ist, wie gesagt, nicht nur eine Sache der
Staatsangehörigkeit, sondern auch der Perspektive. Vierecks Buch ist ein
Beitrag dazu. Es befördert die perspektivische Amerikanisierung Thomas
Manns. Sie betrifft das Romantik‐Verständnis und sie besteht darin, sich vom
bildungsbürgerlichen Ansehen der Romantik zu distanzieren und sie
stattdessen politisch als den entscheidenden Rückschritt zu bewerten, der in
die Katastrophe des Nationalsozialismus geführt hat. Im Faustus‐Roman ist
dieses neue Romantik‐Verständnis als Geist von „Kaisersaschern“ artikuliert, als
Geist einer Stadt, die den ganzen Kanon der romantisch‐deutschen Merkmale
nicht mehr als bürgerliches Bildungsgut, sondern als Zeichen der politischen
Rückschlagsgefahr in die Barbarei trägt. Als „latente seelische Epidemie“ und
„altertümlich‐neurotische Unterteuftheit“ wird dieser Geist bezeichnet; er
habe insgesamt etwas „dem Geiste der Neuzeit ins Gesicht Schlagendes“ (58).
Exemplarisch wird dafür die Aktion der „Bücherverbrennung“ (58) genannt: im
Roman der erste unmittelbare Zusammenschluss der musikerbiographischen
Herkunftserzählung mit dem Nationalsozialismus. Aus diesem romantischen
Städtebild ist alle bildungsbürgerliche Vornehmheit und Faszination
verschwunden. Was bleibt, ist der gesellschaftliche Rückfall hinter die
Aufklärung.
Über den Geist von Kaisersaschern hinaus zeigt sich das neue
Romantikverständnis auch in der musiktheorietischen Diskussion des Romans,
begrifflich am pointiertesten dort, wo Leverkühn das Romantische als „falsche
39 Vgl. Eckhard Heftrich, Vom Verfall zur Apokalypse. Über Thomas Mann, Frankfurt a. M. 1982, insbesondere das Kapitel „Radikale Autobiographie und Allegorie der Epoche: Doktor Faustus“, S.173‐289. 40 Thomas Mann, Deutschland und die Deutschen, in: T. M., An die gesittete Welt (wie Anm. 20), S. 701‐723, hier S. 702.
23
Primitivität“ (467) definiert. Das alte Romantikverständnis und die zugehörige
Faszination der psychologisierenden Bildungsbürger verkörpert die Figur
Zeitblom. Sie kokettiert damit, wenn sie gesteht, dass sie als „altmodischer
Mensch“ bei „gewissen, mir lieben romantischen Anschauungen stehen
geblieben“ (42) sei, und sie steigert die Koketterie, wenn sie diese
Anschauungen „romantischen Brimborium“ (42) nennt. Als Beispiel dafür wird
der „pathetisierende Gegensatz von Künstlertum und Bürgerlichkeit“ (42) –
Manns eigenes langjähriges Thema, wie man weiß – angeführt. Was aus der
Figurenperspektive dabei als Selbstironie erscheint, rückt der Roman auf
kritische Distanz. Denn er lässt ja keinen Zweifel daran, dass die alten
Anschauungen des Bildungsbürgers Zeitblom vor der Gegenwart kapitulieren.
In seiner politischen Konversion zu Beginn der Zwanzigerjahre, in der er sich zu
Republik und Demokratie bekannte, hielt Thomas Mann am positiven
Romantik‐Verständnis fest. Auch wenn er sich von dem verabschiedete, was er
später „machtgeschützte Innerlichkeit“ nannte, war für ihn die Romantik
dadurch keinesfalls diskreditiert. Im Gegenteil. Dem neu bekehrten
Demokraten lag vielmehr alles daran, seine neue politische Überzeugung „an
die Sphäre der deutschen Romantik anzuschließen“, Demokratie und Republik,
wie er mit kurioser Formulierung sagt, auf „das Niveau der deutschen
Romantik“ zu heben. So heißt es 1922 in der Rede „Von deutscher Republik“,
die „den edlen und geisteszarten Namen der Romantik“ von aller politischen
Reaktion und allem politischen Obskurantismus unterschieden wissen will.41 An
dieser bildungsbürgerlichen Romantik‐Verehrung hielt Thomas Mann lange
fest, auch noch, als er den Zusammenhang zwischen dem Nationalsozialismus
und Richard Wagner sah. Erst nach der Viereck‐Lektüre ändert es sich. Das
neue, viel distanziertere und kritische Romantik‐Verständnis ist die Spur, die
diese Lektüre in Manns Werk hinterlassen hat. Es ist deshalb keine
überschießende Phantasie, wenn man das „Viereck“ im romantischen
Initiationsort des deutschen Tonsetzers und das unausgeschriebene „Meta‐
“Kompositum im Teufelsgespräch als Erinnerungen an die Harvard‐Dissertation
von 1941 liest.
41 Vgl. Thomas Mann, Von deutscher Republik, in: T. M., Von deutscher Republik. Politische Schriften und Reden in Deutschland. Nachwort von Hanno Helbling, Frankfurt a. M. 1984, S. 118‐159, Zitate S. 139, 143 und 125 (= Gesammelte Werke in Einzelbänden. Frankfurter Ausgabe).