pcii chemische reaktionskinetik m. quack hs 2012 ubung 10 · stand photolysiert. die konzentration...

13
PCII Chemische Reaktionskinetik M. Quack HS 2012 ¨ Ubung 10 Ausgabe: Freitag, 16.11.2012 uckgabe: Freitag, 23.11.2012 vor der Vorlesung (bis 7:45Uhr) Besprechung: Mi./Fr./Mo. 28.11./30.11./03.12.2012 in den ¨ Ubungsgruppen Verantwortlich: 1. Inga Jordan / 2. Eduard Miloglyadov 10.1 Lesen Sie Kapitel 3 des Kinetik-Skriptes (soweit verteilt), und stellen Sie Fragen (schriftlich), wo Sie Verst¨ andnisprobleme haben oder Fehler vermuten. Erarbeiten Sie sich insbesondere auch Kapitel, die nicht explizit in der Vorlesung behandelt wurden. Ihre schriftlich gestellten Fragen hierzu werden in einer speziellen ¨ Ubungs- stunde besprochen werden. 10.2* In einem Experiment zur Rekombinationskinetik von Iodatomen werde blitzlicht- photolytisch 1 bar I 2 Dampf bei 220 C komplett zu Iodatomen ( 2 P 3/2 ) im Grundzu- stand photolysiert. Die Konzentration der Iodatome werde IR-absorptionsspektro- skopisch durch den Feinstruktur- ¨ Ubergang 2 P 1/2 2 P 3/2 bei 7603 cm 1 bestimmt. 10.2.1 Berechnen Sie die Dopplerbreite bei 220 C. 10.2.2 Was ist die Geschwindigkeitskonstante f¨ ur die Stossverbreiterung und Δ˜ ν Stoss in cm 1 mit der Annahme eines effektiven Stossquerschnitts σ eff von 1.0 nm 2 ur St¨ osse von zwei Iodatomen bei 220 C? 10.2.3 Wie ¨ andert sich der maximale Absorptionsquerschnitt σ abs max im Linienspektrum, wenn die Konzentration der Iodatome auf die H¨ alfte abnimmt und der effekti- ve Querschnitt f¨ ur St¨ osse von I mit I 2 nur 10% des effektiven Stossquerschnittes ur St¨ osse von zwei Iodatomen betr¨ agt? Darf man hier Δ˜ ν Stoss = Δ˜ ν Stoss I mit I + Δ˜ ν Stoss I mit I 2 annehmen? Darf man mit einem gew¨ ohnlichen Lambert-Beer-Ansatz ur das Linienmaximum quantitative spektroskopische Konzentrationsbestimmun- gen vornehmen? Hinweis: 1. Das Lambert-Beersche Gesetz gilt unter der Vorraussetzung, dass σ druck- und konzentrationsunabh¨ angig ist; 2. Im Verlauf des Experiments ¨ andert sich die Druckverbreiterung. Was bleibt hingegen konstant? 10.2.4 Nennen Sie ein allgemeines Vorgehen zur quantitativen spektroskopischen Konzen- trationsbestimmung, welches nicht durch das Problem der Stossverbreiterung be- hindert wird. 10.3 Die im Skript angegebenen Pr¨ adissoziationslebensdauern des Methylradikals (CH 3 und CD 3 ) stammen aus den Jahren 1975–1977 (Gl¨ anzer et al. 1976/77). Dort wur- den ¨ altere Spektren, die mit Blitzlichtphotolyse auf Photoplatten aufgenommen 1

Upload: others

Post on 24-Sep-2020

1 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

Page 1: PCII Chemische Reaktionskinetik M. Quack HS 2012 Ubung 10 · stand photolysiert. Die Konzentration der Iodatome werde IR-absorptionsspektro-skopisch durch den Feinstruktur-Ubergang¨

PCII Chemische Reaktionskinetik M. Quack HS 2012

Ubung 10

Ausgabe: Freitag, 16.11.2012Ruckgabe: Freitag, 23.11.2012 vor der Vorlesung (bis 7:45Uhr)Besprechung: Mi./Fr./Mo. 28.11./30.11./03.12.2012 in den UbungsgruppenVerantwortlich: 1. Inga Jordan / 2. Eduard Miloglyadov

10.1 Lesen Sie Kapitel 3 des Kinetik-Skriptes (soweit verteilt), und stellen Sie Fragen(schriftlich), wo Sie Verstandnisprobleme haben oder Fehler vermuten. ErarbeitenSie sich insbesondere auch Kapitel, die nicht explizit in der Vorlesung behandeltwurden. Ihre schriftlich gestellten Fragen hierzu werden in einer speziellen Ubungs-stunde besprochen werden.

10.2* In einem Experiment zur Rekombinationskinetik von Iodatomen werde blitzlicht-photolytisch 1 bar I2 Dampf bei 220◦C komplett zu Iodatomen (2P3/2) im Grundzu-stand photolysiert. Die Konzentration der Iodatome werde IR-absorptionsspektro-skopisch durch den Feinstruktur-Ubergang 2P1/2 ←

2P3/2 bei 7603 cm−1 bestimmt.

10.2.1 Berechnen Sie die Dopplerbreite bei 220◦C.

10.2.2 Was ist die Geschwindigkeitskonstante fur die Stossverbreiterung und ∆νStoss incm−1 mit der Annahme eines effektiven Stossquerschnitts σeff von 1.0 nm2 fur Stossevon zwei Iodatomen bei 220◦C?

10.2.3 Wie andert sich der maximale Absorptionsquerschnitt σabsmax im Linienspektrum,

wenn die Konzentration der Iodatome auf die Halfte abnimmt und der effekti-ve Querschnitt fur Stosse von I mit I2 nur 10% des effektiven Stossquerschnittesfur Stosse von zwei Iodatomen betragt? Darf man hier ∆νStoss = ∆νStossI mit I

+∆νStossI mit I2

annehmen? Darf man mit einem gewohnlichen Lambert-Beer-Ansatzfur das Linienmaximum quantitative spektroskopische Konzentrationsbestimmun-gen vornehmen?

Hinweis: 1. Das Lambert-Beersche Gesetz gilt unter der Vorraussetzung, dass σ

druck- und konzentrationsunabhangig ist; 2. Im Verlauf des Experiments andertsich die Druckverbreiterung. Was bleibt hingegen konstant?

10.2.4 Nennen Sie ein allgemeines Vorgehen zur quantitativen spektroskopischen Konzen-trationsbestimmung, welches nicht durch das Problem der Stossverbreiterung be-hindert wird.

10.3 Die im Skript angegebenen Pradissoziationslebensdauern des Methylradikals (CH3

und CD3) stammen aus den Jahren 1975–1977 (Glanzer et al. 1976/77). Dort wur-den altere Spektren, die mit Blitzlichtphotolyse auf Photoplatten aufgenommen

1

Page 2: PCII Chemische Reaktionskinetik M. Quack HS 2012 Ubung 10 · stand photolysiert. Die Konzentration der Iodatome werde IR-absorptionsspektro-skopisch durch den Feinstruktur-Ubergang¨

wurden, mit Hilfe von densitometrischen Methoden und einer Simulation der er-haltenen Spektren ausgewertet. Die entsprechenden Linienbreiten fur den Schwin-gungsgrundzustand von CH3 betragen Γ(CH3) = 60 cm−1 und Γ(CD3) = 8 cm−1

im angeregten elektronischen Zustand. Die Linienbreiten zeigen einen grossen Iso-topeneffekt, der auf einen Tunneleffekt (verschieden fur H und D) zuruckgefuhrtwerden kann. Die vermutete geringe Abhangigkeit vom Rotationszustand konn-te aufgrund der fruheren Daten nicht ermittelt werden. In zwei Arbeiten, ca. 15Jahre spater (Westre et al. 1991) und 25 Jahre spater (Settersten et al. 2003)wurde mit verschiedenen, relativ aufwendigen und fortgeschrittenen Lasertechni-ken auch die Abhangigkeit der Pradissoziationslinienbreiten vom Rotationszustandermittelt. Die Daten von Westre et al. (1991) sind in der Tabelle 1 angegeben. DieRotationszustande im elektronisch angeregten (oberen) Zustand (′) sind durch dieRotationsquantenzahl N ′ bestimmt. Die Daten von Settersten et al. (2003) sindin der Tabelle 2 angegeben. Aussern Sie sich zu den Unterschieden in den Er-gebnissen der beiden Arbeiten und zur Signifikanz der Rotationsabhangigkeit derPradissozationsgeschwindigkeiten. Berechnen Sie die Lebensdauern, die den Linien-breiten entsprechen.

Tabelle 1: Pradissoziationslinienbreiten Γ von CH3 und CD3 nach Westre et al. (1991).

Γ / cm−1

N′ CH3 CD3

2 7.03 7.04 65 7.05 77 7.26 80 9.87 80 9.88 85 9.89 85 10.010 90 10.911 90 11.015 15.0

10.4* Erganzung zum Dopplereffekt (freiwillig)

10.4.1 Sie fahren im Zug an einer festmontierten Sirene, die einen sauberen Tonemittiert, vorbei. Die Tone, welche Sie jeweils bei Annaherung und Entfernunghoren, entsprechen genau dem bekannten Kuckuckstonpaar wie aus dem Volkslied

”Kuckuck, Kuckuck, rufts aus dem Wald“. Was ist die Geschwindigkeit des Zuges?Aussern Sie sich zum Messfehler bei Ihrer Geschwindigkeitsbestimmung.

10.4.2 Feldversuch: Aussern Sie sich aus dem Gedachtnis zu folgenden Aussagen:Das Intervall im wirklichen Kuckucksruf ist i) grosser, ii) kleiner, iii) genau gleich,iv) sehr variabel von Kuckuck zu Kuckuck im Vergleich zum

”Volksliedintervall“.

Die Absolutfrequenz ist fur alle Kuckucke v) ahnlich oder vi) sehr variabel vonKuckuck zu Kuckuck.

10.4.3 Wie schnell mussen Sie auf eine Ampel, die auf Rot steht, zufahren, damitSie wahrheitsgemass sagen konnen, Sie hatten Grun gesehen?

2

Page 3: PCII Chemische Reaktionskinetik M. Quack HS 2012 Ubung 10 · stand photolysiert. Die Konzentration der Iodatome werde IR-absorptionsspektro-skopisch durch den Feinstruktur-Ubergang¨

Tabelle 2: Pradissoziationslinienbreiten Γ von CH3 nach Settersten et al. (2003).

Γ(a) / cm−1 Γ(a) / cm−1 Γ(a) / cm−1

N′

K′(b) CH3 N

′K

′(b) CH3 N′

K′(b) CH3

1 0∗ 79(10) 4 3∗ 70 (6) 6 3∗ 88 (6)1 0∗ 84(17) 4 3∗ 74 (7) 6 3∗ 80 (7)2 2 83(13) 4 3∗ 98 (9) 6 3∗ 81(15)3 0∗ 82 (9) 4 3∗ 106(12) 6 6∗ 97(11)3 0∗ 103(19) 4 3∗ 94(20) 6 6∗ 93(14)3 2 76(14) 5 3∗ 84 (6) 6 6∗ 88(14)3 3∗ 86 (4) 5 3∗ 86 (7) 7 0 112(25)3 3∗ 81 (9) 5 3∗ 75 (9) 7 3 98 (7)3 3∗ 80(10) 5 3∗ 69(10) 7 7 93(20)3 3∗ 101(13) 5 3∗ 110(10) 8 3 111(18)3 3∗ 80(18) 5 3∗ 103(16) 9 9∗ 78(12)4 2 93 (9) 5 5 98(10) 9 9∗ 104(15)

(a) Die Zahl in Klammern bezeichnet den Messfehler (2σ-Abweichung) in Einheiten derletzten Stelle des Messwertes.

(b)K

′ ist eine zweite Rotationsquantenzahl, die beim sogenannten symmetrischenKreisel (mit D3h Symmetrie) wichtig ist.

∗ Fur einige Rotationsniveaus wurde die Pradissoziationslinienbreite aus mehrerenunabhangigen Messungen ermittelt.

10.5 Die Linienform (freiwillig)

Das folgende Bild (Abb. 1) wird als Logo einer wissenschaftlichen Gesellschaft ver-wendet, die nach einem Begrunder der Spektroskopie benannt ist (R.W.Bunsen).Versuchen Sie durch eine entsprechende Analyse der Linienform (Abb. 2) heraus-zufinden, ob es sich um eine Dopplerlinienform, eine Lorentzlinienform oder eineandere haufig auftretende Linienform handelt.

Abbildung 1: Das Logo.

0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 100.0

0.2

0.4

0.6

0.8

1.0

Abbildung 2: Die Linienform.

10.6* C. N. Parkinson hat in seinem lesenswerten Buch”Parkinson’s law and other studies

in administration“ ein allgemeines empirisches Wachstumsgesetz fur Verwaltungenvorgeschlagen, wobei er sich auf Daten zur Zahl des Personals der britischen Kolo-nialverwaltung beruft (siehe beiliegender Text).

3

Page 4: PCII Chemische Reaktionskinetik M. Quack HS 2012 Ubung 10 · stand photolysiert. Die Konzentration der Iodatome werde IR-absorptionsspektro-skopisch durch den Feinstruktur-Ubergang¨

Prufen Sie durch geeignete graphische Auftragung nach, ob es sich wie vorgeschla-gen um ein Wachstumsgesetz entsprechend einer Kinetik erster Ordnung handelt.Bestimmen Sie die Geschwindigkeitskonstante fur diesen Fall und ermitteln Sie denKorrelationskoeffizienten sowie die Verdopplungszeit. Ermitteln Sie auch, wann nachdiesem hypothetischen Wachstumsgesetz die Zahl 7 Milliarden fur die Kolonialver-waltung erreicht ware (das ist etwa die Weltbevolkerung 2011).

10.7* Lesen Sie den verteilten Artikel Von den”unmeßbar schnellen“ chemischen Reak-

tionen zur Bestimmung ultrakurzer Zeiten fur chemische Primarprozesse aus demAkademiejournal 2003 zum Jahr der Chemie (S. 38–44) und stellen Sie Fragen, woSie Verstandnisprobleme haben oder weitere Erlauterungen wunschen.

INJO, 13. November 2012

4

Page 5: PCII Chemische Reaktionskinetik M. Quack HS 2012 Ubung 10 · stand photolysiert. Die Konzentration der Iodatome werde IR-absorptionsspektro-skopisch durch den Feinstruktur-Ubergang¨

Kopie nur für Vorlesungszw

ecke

Page 6: PCII Chemische Reaktionskinetik M. Quack HS 2012 Ubung 10 · stand photolysiert. Die Konzentration der Iodatome werde IR-absorptionsspektro-skopisch durch den Feinstruktur-Ubergang¨
Page 7: PCII Chemische Reaktionskinetik M. Quack HS 2012 Ubung 10 · stand photolysiert. Die Konzentration der Iodatome werde IR-absorptionsspektro-skopisch durch den Feinstruktur-Ubergang¨

38

Akademie-Journal 1/2003

Von den „unmeßbar schnellen“chemischen Reaktionen zur Bestimmungultrakurzer Zeiten für chemische Primärprozesse

Martin Quack

Die moderne chemische Reaktionskinetik begann vor etwa 50 Jahren mit der Messungvon zuvor für „unmeßbar schnell“ gehaltenen Reaktionen in Zeiten von Millionstel Se-kunden (Mikrosekunden) durch die Techniken der Relaxationskinetik und der Blitzlicht-photolyse [1, 2]. Mit der Einführung von Laserpulstechniken konnten im Verlaufe derJahrzehnte immer schnellere chemische Reaktionen erfaßt werden bis hin zu Femtose-kunden (10-15 s, Milliardstel einer Millionstel Sekunde [3, 4]). Daneben stehen die hoch-auflösend spektroskopischen Methoden der “quantenchemischen Kinetik“ [5-9], die heu-te die Primärprozesse der Molekülbewegung bei sogar noch kürzeren Zeiten auf derGrundlage der zeitabhängigen Schrödingergleichung [10] untersuchen. Moleküle in Be-wegung stehen am Beginn jeder chemischen Umwandlung. Das Verständnis der Mole-külbewegung führt zu einem tieferen Verständnis der molekularen Kinetik (vom Griechi-schen für Bewegung), der Lehre von den Geschwindigkeiten chemischer Reaktionen. Be-sonders wichtig sind hierbei die Prozesse der Energiewanderung in Molekülen. Das Ver-ständnis solcher Prozesse ist wichtig für zukünftige Entwicklungen selektiver Chemie, ei-ner Art physikalischer „Molekülchirurgie“. Spekulativ kann man solche Prozesse sogarverknüpfen mit Überlegungen zu einer molekularen Grundlage von Gedanken und Wil-lensfreiheit. Molekülbewegung kann aber auch zur Untersuchung fundamentaler Symme-trieprinzipien in der Natur und der Zeit selbst benutzt werden. Aristoteles bemerkte: „Wirmessen Zeit durch Bewegung und Bewegung durch Zeit“. Während die genaue Messungvon Zeitintervallen mit Atom- und Moleküluhren heute schon unser tägliches Leben be-einflußt, gibt es bis heute ein prinzipielles Rätsel in der Bestimmung der Zeitrichtung,welches mit der Frage nach dem wirklichen Ursprung des zweiten Hauptsatzes der Ther-modynamik zusammenhängt, der in seiner kinetischen Formulierung von R. Clausius inZürich 1865 vorgestellt wurde. Es zeigt sich, daß die Bewegung chiraler Moleküle imVergleich zur Bewegung von entsprechenden Molekülen aus Antimaterie unter gewissen,heute noch hypothetischen Voraussetzungen die Konstruktion einer absoluten Molekül-uhr erlaubt, die auch die Zeitrichtung absolut festlegt [11].

Chemische Reaktionskinetikvor 150 Jahren und„quantenchemische Kinetik“ heute

Zu Beginn der Lehre von den Geschwindigkeitenchemischer Reaktionen steht die Untersuchungder Hydrolyse (“Inversion“) von Rohrzuckerdurch Wilhelmy im Jahre 1850, der erstmals einekinetische Differentialgleichung formulierte

wobei Z für die Konzentration des Zuckers steht,S für die Konzentration der Säure, die als Kataly-sator wirkt, und M eine Proportionalitätskonstan-te ist (heute meist als Geschwindigkeitskonstantek bezeichnet). Die Beschreibung der Geschwin-digkeit chemischer Reaktionen mit Hilfe solcher

Gleichungen gehört zum Lehr- und Lernstoff derersten Semester im Chemiestudium. Durch Mes-sung der Kinetik bei immer kürzeren Zeiten sindüber viele Jahrzehnte enorme Fortschritte ge-macht worden. Um 1950 sprach Manfred Eigen[1] von der Messung „unmeßbar schneller Reak-tionen“ auf einer Zeitskala von Mikrosekunden(1 µs = 10-6 s, Millionstel Sekunden). Heute istdas Zauberwort „Femtosekundenchemie“ (1 fs =10-15 s = 1 Milliardstel einer Mikrosekunde [2,3]). Wir haben in Zürich einen vom Konzept herneuen Zugang zur Untersuchung sehr schnellermolekularer Prozesse entwickelt mit effektivenZeitauflösungen bis zu zehntel Femtosekunden(bis ca. 0,2 fs) und prinzipiell auch schneller [5].Das Verfahren beruht auf der sehr genauen Mes-sung und Analyse der Frequenzen von Spektral-linien im Infrarotspektrum von Molekülen (imWesentlichen ohne Zeitmessung) und Auswer-

With

com

plim

ents

from

Pr

of. M

artin

Qua

ck, E

TH Z

üric

h, La

bora

toriu

m fü

r Phy

sika

lisch

e Ch

emie

,

Wol

fgan

g-Pa

uli-S

tras

se 10

, CH

-809

3 Zü

rich,

Sch

wei

z Re

prin

ted

from

Ak

adem

ie-Jo

urna

l der

Uni

on d

er d

euts

chen

Aka

dem

ien

der W

isse

nsch

afte

n

(The

men

schw

erpu

nkt C

hem

ie) 1

, 38

– 44

(200

3)

Page 8: PCII Chemische Reaktionskinetik M. Quack HS 2012 Ubung 10 · stand photolysiert. Die Konzentration der Iodatome werde IR-absorptionsspektro-skopisch durch den Feinstruktur-Ubergang¨

39

Akademie-Journal 1/2003

tung mit Hilfe der von Schrödinger 1926 in Zü-rich erstmals formulierten zeitabhängigen Schrö-dingergleichung [10], einer Differentialglei-chung für die zeitabhängige molekulare „Wel-lenfunktion“ Ψ.

Die Methode ist in Abb.1 schematisch erläutert.Am Ausgangspunkt stehen die modernen Ent-wicklungen infrarotspektroskopischer Methoden,welche einerseits die Erfassung großer Spektral-bereiche erlauben (wie die Fourier-Transforma-tions-Infrarotspektroskopie, die alle Wellenlän-gen von den längsten im Bereich der Wärme-strahlung bis zu den recht kurzen im sichtbarenBereich des Spektrums gewissermaßen auf einenSchlag erfaßt) oder andererseits sehr hohe Fre-quenzauflösung ermöglichen. Mit einem Dioden-laser im nahen Infrarot erreicht man ohne weite-res ein instrumentelles Auflösungsvermögenν/∆ν > 108, wobei ν die Frequenz und ∆ν die Fre-quenzunbestimmtheit ist. Abb. 2 zeigt ein Bei-spiel einer sehr genauen Frequenzmessung imSpektrum des Methanmoleküls. Wesentlich hö-here Rekordzahlen von 1013 bis 1015 sind mitSpezialtechniken erreichbar. Wichtiger als dieseZahlen ist aber die Möglichkeit der Analyse sol-cher Spektren, mit manchmal wenigen Dutzen-den, oft aber auch vielen Tausenden von Linien.Sie erst führt zum Ergebnis der zeitabhängigenBewegung von Molekülen, die wegen ihrerquantenmechanischen Natur allerdings recht ver-

Abb. 1Schema zur Ermitt-lung der Moleküldy-namik aus Molekül-spektren. Der Aus-gangspunkt sind ex-perimentell beobach-tete Infrarotspektrenvon Molekülen, diein mehreren Schrit-ten einer komplexenAnalyse ausgewertetwerden können, wo-bei am Ende die Ki-netik und Bewegungvon Molekülen er-schlossen wird. Prin-zipiell wäre auch einrein theoretischesVorgehen möglich(„ab initio“). DieGenauigkeit solcherRechnungen ist aberheute noch ungenü-gend. PrinzipielleFragen (wie z. B.nach den grundle-genden Symmetrienin der Dynamik) las-sen sich nur experi-mentell beantworten[5, 11]

Abb. 2Beispielhaftes Spektrum des Methanmoleküls CH4 im nahen Infrarotmit einem hochfrequenzreinen Diodenlaser in einer gepulsten Über-schallstrahlexpansion gemessen. Die Analyse der Dopplerlinienformergibt eine effektive Temperatur Teff = 53.7 (2) K für P(1). Das Niveau-schema b) am Fuß der Abbildung zeigt die genau vermessenen Ener-gieniveaus, die mit ihren Symmetriesymbolen bezeichnet sindM. Hippler und M. Quack, 2002, zitiert aus [7]

schieden ist von unseren makroskopischen Mo-dellvorstellungen, die gelegentlich auch inscheinbar „didaktischen“ Molekülbildern undFilmen niedergelegt werden. Details zur quan-tenmechanischen Analyse der wirklichen mole-kularen, „quantenchemischen Kinetik“ findensich in [5-11] und der dort zitierten Literatur. Wirwollen hier einige beispielhafte Anwendungenerwähnen:

Hochauflösende MolekülspektroskopieFourier Transform Spektroskopie

Laserspektroskopie

Effektive Hamilton-

(Effektive Symmetrien)

Molekulare Hamilton-

(Beobachtete Symmetrien)

Zeitevolutionsoperator

Molekulare Kinetik und Statistische Mechanik (Erhaltungssätze und Konstanten der Bewegung)

Ab initio Hamiltonoperatoren

RovibronischeSchrödingergleichung

ElektronischeSchrödingergleichung

Ab initio Potentialflächenund Hamiltonoperatoren

MOLEKÜLSPEKTREN

MOLEKÜLDYNAMIK

(Theoretische Symmetrien)

(Symmetrien)

(Matrix)

operatoren

operatoren

H

U

Page 9: PCII Chemische Reaktionskinetik M. Quack HS 2012 Ubung 10 · stand photolysiert. Die Konzentration der Iodatome werde IR-absorptionsspektro-skopisch durch den Feinstruktur-Ubergang¨

40

Akademie-Journal 1/2003

Intramolekulare Energiewanderung unddie Schwingungsdynamik funktionellerGruppen

Viele Moleküle besitzen charakteristische Struk-turelemente, die in unterschiedlichen Molekülenwiederkehren und eine ähnliche „Funktion“ aus-üben. Man kann dies vergleichen mit dem Struk-turelement „Bein“, das ja nicht nur bei den Men-schen, sondern auch bei vielen Tieren in ähnli-cher Form auftritt und eben der Funktion desLaufens dient.Ein solches in organischen und Biomolekülenhäufig wiederkehrendes Strukturelement ist dieCH-Gruppe am vierbindigen Kohlenstoffatom.Man spricht auch vom Alkyl-CH-Chromophor,da er über weite Bereiche des Infrarot- und auchdes sichtbaren Spektrums zu Absorptionen führt(„Farbe trägt“ gemäß dem griechischen „Chro-mophor“). Eines der „Beine“ des Moleküls inAbb. 5 weiter unten kann z.B. eine solche Grup-pe sein (entweder Chr1 oder R1).Es ist nun eine interessante Frage, was im Mole-kül passiert, wenn man ein solches Strukturele-ment in Bewegung versetzt, etwa durch Absorp-tion von Lichtenergie. Es zeigt sich, daß inCHX3-Molekülen auf sehr kurzen Zeitskalen vonweniger als 100 Femtosekunden eine anfänglicheStreckbewegung mit Verlängerung und Verkür-zung des C-H-Abstandes in eine Knickbewegungder C-H-Bindung gegenüber dem CX3-Gerüstumgewandelt wird. Die quantenmechanische Na-tur dieser Bewegung ist sehr interessant, und inAbb. 3 für das Freon CHF3 dargestellt. Man kanndies als eine quantenmechanische Wellenbewe-gung entlang zweier Koordinaten auffassen (xund y in Abb. 4), die der Dehnung der CH-Bin-dung (Qs in Abb. 3, analog x in Abb. 4) und demKnickwinkel gegenüber dem CX3-Gerüst (Qb inAbb. 3, analog y in Abb. 4) entsprechen, ähnlichden Wellen in einer Badewanne in Längs- undQuerrichtung. Die Höhe der Welle entsprichthier der Wahrscheinlichkeit, das H-Atom in ei-nem gewissen Abstand vom C-Atom und in ei-nem Knickwinkel gegen das CX3-Gerüst zu fin-den. Das bemerkenswerte quantenmechanischeErgebnis, das sich aus der Spektroskopie vonCHF3 ergab und in Abb. 3 abgelesen werdenkann, ist, daß neben der Umwandlung einer an-fänglichen Streckbewegung (bei 0 fs) in Knick-bewegung auch eine Delokalisierung des H-Atoms eintritt, ein „Strukturverlust“. Nach 80 fsist es etwa gleich wahrscheinlich, das H-Atom inirgend einem Abstand und irgend einem Winkelzum CX3-Gerüst zu finden, soweit dies mit derGesamtenergie des Moleküls überhaupt verein-bar ist (große Auslenkungen in jeder der beidenRichtungen erfordern Energie [8]). Es wäre ganzfalsch zu sagen, zu einer bestimmten Zeit (80 fs)hätte das CHX3-Molekül eine bestimmte Struktur

(wie etwa ein geknicktes Bein). Wir können kei-nen Film von dieser Struktur drehen. Dieses Er-gebnis ist charakteristisch für den Alkyl-CH-Chromophor und tritt ähnlich in anderen Mole-külen mit dieser Gruppe auf (auch im MethanCHD3, mit D-Isotopen), während sich zum Bei-spiel die acetylenische R–C≡C–H-Gruppierungvöllig anders verhält. Solche Ergebnisse habeneinige Dogmen der Reaktionskinetik umgesto-ßen und sind wichtig für unser zukünftiges Ver-ständnis chemischer Reaktionen und im Hinblickauf eine mögliche Reaktionssteuerung mit La-sern [5, 8].Nach diesen wissenschaftlich gut gesicherten Er-gebnissen wollen wir uns einer sehr spekulativenÜberlegung zu einer möglichen molekülkineti-schen Grundlage der Gedanken- und Entschei-dungsbildung im Gehirn zuwenden, die einenBezug zu neueren, intensiven Diskussionen in-nerhalb der Berlin-Brandenburgischen Akade-mie der Wissenschaften zur menschlichen Wil-lens-und Handlungsfreiheit hat, einem in Philo-sophie, Religion und Literatur natürlich sehr al-ten Thema [12]. Wenn wir gemäß der ersten Hy-pothese einer zukünftigen Molekularpsychologie[7] einmal annehmen, daß ein elementarermenschlicher Gedanke oder eine Entscheidungmolekülkinetisch durch eine chemische Reaktioneines einzelnen Moleküls entsteht, ganz analogzum Elementarakt des Sehens, der mit einer pho-tochemischen cis-trans Isomerisierung des Reti-nalmoleküls beginnt, dann hängt dieser „gedank-liche Primärprozeß“ offenbar von der Natur dermolekularen Prozesse ab. Hierbei stellen sichdrei miteinander verknüpfte Fragen.1. Ist diese molekulare Entscheidung reversibel

(zeitumkehrsymmetrische Moleküldynamik)?2. Ist sie reproduzierbar und vorhersagbar?3. Ist sie durch die Einwirkung eines unabhängi-

gen Phänomens beeinflußbar, das wir als sub-jektiven freien Willen bezeichnen könnten?

Die ersten Fragen beziehen sich auf die Möglich-keit einer Zeitumkehr und einer Wiederholungeines Gedankens nach zweifacher Zeitumkehr.Dies würde die Einzigartigkeit einer historischenEntscheidung in Frage stellen. In der „gewöhnli-chen“ Mechanik (auch Moleküldynamik) exi-stiert diese Einzigartigkeit nicht, wohl aber wirdsie im täglichen Leben vorausgesetzt. Die Sym-metriebrechung, die zu dieser Einzigartigkeitführt, könnte de facto oder de lege sein, wir wis-sen die Antwort hierauf nicht [7, 11]. Die zweiteFrage zur Vorhersagbarkeit der molekularen Ent-scheidung hängt mit der potentiellen Unbe-stimmtheit der molekularen Quantendynamik zu-sammen. Wie in Abb. 4 erläutert ist, kennen wirzwei Typen von molekularer Dynamik (von Mo-lekül zu Molekül und sogar je nach Strukturele-ment verschieden).Der erste Typus „S“ entspricht einer statistischdelokalisierten und dementsprechend „unbe-

Page 10: PCII Chemische Reaktionskinetik M. Quack HS 2012 Ubung 10 · stand photolysiert. Die Konzentration der Iodatome werde IR-absorptionsspektro-skopisch durch den Feinstruktur-Ubergang¨

41

Akademie-Journal 1/2003

Abb. 3„Wellenpaketbewe-gung“ der Wahr-scheinlichkeitsdichtefür die Molekülstruk-tur im CHF3 (s.Text)nach [8]

Abb. 4Schema der Äquipo-tentiallinien undWahrscheinlichkeits-dichteverteilungen ineinem Modell zweiergekoppelter Schwin-gungen eines Mole-küls (x könnte dieStreckschwingung Qs

in Abb. 3 sein, y dieKnickschwingungQb). Die Äquipoten-tiallinie in einem„Badewannenmo-dell“ entspricht demNiveau eines gleich-mäßigen Wasser-spiegels am Randeder Badewanne. Imstatistischen Fall Sfüllt die Wahrschein-lichkeitsdichte dem-entsprechend denzur Verfügung ste-henden „Raum“ inder Badewanne aus.Im Fall „N“ werdengewisse Raumberei-che durch das „Was-ser“ nicht erreicht

stimmten“ Dynamik, so wie es für den Fall desCHF3 in Abb. 3 gezeigt ist. Der zweite Typus„N“ entspricht einer quantenharmonischen qua-si-klassischen und praktisch vorhersagbaren Dy-namik. Die Evolution könnte durch Selektion ge-eigneter Moleküle und ihrer Reaktionen einenvon beiden Fällen oder auch nebeneinander bei-de für verschiedene Aufgaben im Gehirn selek-tiert haben. Natürlich wissen wir nichts über dieGedankenbildung und daher sind solche Überle-gungen momentan reine Spekulation. Immerhinzeigen die Möglichkeiten der Molekülkinetik, inwelche Richtung man forschen könnte. Selbst ei-ne quantenmechanisch unbestimmte Dynamikwürde aber nur zu einer „objektiven Willensfrei-heit“ (im Sinne einer objektiven Nichtvorhersag-

barkeit) führen. Eine „subjektive“ Willensfrei-heit auf molekülkinetischer Ebene erfordert An-nahmen, die mit unserem gegenwärtigen physi-

� � � � � � �

��

��

��

� � � �

� � � � �

� � � �

� � � �

� � � � �

� � � � �

� � � � � �

� � � � �

Page 11: PCII Chemische Reaktionskinetik M. Quack HS 2012 Ubung 10 · stand photolysiert. Die Konzentration der Iodatome werde IR-absorptionsspektro-skopisch durch den Feinstruktur-Ubergang¨

42

Akademie-Journal 1/2003

kalisch-chemischen Verständnis der Moleküldy-namik nicht vereinbar sind. Im täglichen Lebengehen wir jedoch davon aus, daß die subjektiveWillensfreiheit existiert (siehe [12]). Nach diesensehr spekulativen Überlegungen wollen wir unsnun wieder molekülkinetischen Vorgängen zu-wenden.

Vielphotonenanregung von Molekülenund Infrarotlaserchemie

Die Anregung der Schwingungsbewegung vonMolekülen mit intensiven Infrarotlasern ermög-licht neue Arten selektiver Chemie. Während ge-wöhnliche Lichtabsorption zur Aufnahme derEnergie hν eines “Photons“ oder Lichtquantesführt (h ist die Plancksche Konstante und ν dieFrequenz des Lichtes), kann intensive Laseranre-gung zur Absorption vieler Photonen durch das-selbe Molekül führen, die schließlich eine Reak-tion auslösen. Beim CF3I-Molekül sind es etwa20 Photonen eines CO2-Lasers, die eine C-I-Bin-dung im Molekül brechen, beim C60-Molekülführt die Absorption von etwa 500 Photonen zurEmission eines Elektrons unter Bildung einesIons und schließlich weiterer Fragmente.

Solche Reaktionen können prinzipiell auch„thermisch“, durch einfaches Aufheizen der Mo-leküle erfolgen. Die Besonderheit der Schwin-gungsanregung mit Lasern ist die mögliche Se-lektivität. Hier können wir prinzipiell zwei Artenvon Selektivität unterscheiden (Abb. 5). Bei derintermolekularen Selektivität gelingt es, in einerReaktionsmischung mit unterschiedlichen Mole-külen A und B durch Auswahl der Laserfrequenznur eines (z. B. A) zur Reaktion zu bringen. So-

Abb. 5Erläuterung der in-termolekularen undder intramolekularenSelektivität in derLaserchemie

gar nahezu gleiche Moleküle, wie etwa das12CF3I, das mit dem zu 99 % in der natürlichenMischung vorliegenden 12C-Isotop des Kohlen-stoffs bestückt ist, und das 13CF3I, welches dasseltenere (ca. 1 %) 13C-Isotop enthält, können aufdiese Weise selektiv in der Mischung zur Reak-tion gebracht werden. Der Prozeß eignet sich zurLaserisotopentrennung und könnte nach einemvon uns an anderen Molekülen entwickelten Ver-fahren auch zur industriellen Produktion von 13Cbenutzt werden. Allerdings haben sich frühereHoffnungen zu einem größeren Einsatz von nichtradioaktiven 13C-Isotopen etwa in der Medizinbis heute nur sehr begrenzt erfüllt, so daß bisherkein großer Markt für dieses Isotop existiert, wasaber für die prinzipielle Frage der Selektiondurch Anregung von Molekülbewegungen nichtrelevant ist. Die Methodik der Infrarotlaser-Iso-topentrennung kann heute als wissenschaftlichweitgehend verstanden gelten und wäre in Zu-kunft mehr „Entwicklung“ als „Forschung“.Demgegenüber ist die intramolekulare Selektivi-tät noch ein weitgehend offenes Forschungsge-biet. Es geht darum, innerhalb desselben Mole-küls bevorzugt eine Stelle (einen bestimmten„Chromophor“ Chr1 oder Chr2) zur Schwin-gungsbewegung und Reaktion zu veranlassen.Dieser Vorgang steht in natürlicher Konkurrenzzum Prozeß der Schwingungsenergiewanderung.Bis zu einer möglichen praktischen Nutzung derintramolekularen Selektivität ist noch ein weiterForschungsweg zurückzulegen, aber spekulativeVorstellungen zu einer Art „Laserchirurgie“ ankleinen und großen Molekülen sowie Biomole-külen gibt es schon heute.

Tunnelreaktionen und der Einfluß desZ-Bosons der Elementarteilchenphysikauf die Kinetik chiraler Moleküle

Tunnelreaktionen entsprechen Molekülbewegun-gen, die unserer makroskopischen Vorstellungs-welt völlig fremd sind. Beispiele sind Umklapp-Prozesse in chiralen Molekülen, bei denen je-weils zwei verschiedene Formen (zwei Enantio-mere) vorliegen, die sich wie Bild und Spiegel-bild verhalten (Abb. 6). Solche Moleküle sindvon besonderer Bedeutung, vor allem für die or-ganische Chemie und Biochemie. Zu den ein-fachsten Prototypbeispielen zählen das nicht ebe-ne Wasserstoffperoxidmolekül HOOH und ana-loge Schwefelderivate wie H-S-S-H oderCl-S-S-Cl. Die Umwandlung zwischen den bei-den Spiegelbildformen erfolgt bei den wasser-stoffhaltigen Molekülen bevorzugt durch einenTunnelprozeß. Tab. 1 zeigt in der letzten SpalteUmklappzeiten, die von Picosekunden beimH2O2 bis zu Zeiten bei S2Cl2 reichen, die das Al-ter des Universums überschreiten. Dies führt unszu einem in neuester Zeit theoretisch berechne-ten Phänomen, wo neue Ergebnisse aus der

Page 12: PCII Chemische Reaktionskinetik M. Quack HS 2012 Ubung 10 · stand photolysiert. Die Konzentration der Iodatome werde IR-absorptionsspektro-skopisch durch den Feinstruktur-Ubergang¨

43

Akademie-Journal 1/2003

Tab. 1Es ist für chirale Moleküle der in Abb. 6 gezeigten, prinzipiellenchiralen Struktur der paritätsverletzende Energieunterschied∆Epv zwischen der linkshändigen“ und „rechtshändigen“ Form,die Tunnelaufspaltungen ∆E± sowie die Umwandlungszeiten der„rechtshändigen“ (R) Form in die „linkshändige“ (L) Form, τRL

angegeben (die systematische chemische Nomenklatur würdehier von P und M Form sprechen)

Abb. 6Darstellung der Stereomutation im chiralen Cl–S–S–Cl Mole-kül. V(τ) ist die potentielle Energie als Funktion des Torsions-winkels τ. Die chiralen Gleichgewichtsgeometrien im Minimumdes Potentials nahe 90º und 270º sind für beide Spiegelbildfor-men gezeigt. Während beim Cl2S2 die Umwandlung durch Tun-neln vollständig unterdrückt ist, wandelt sich das ansonstenähnliche H2O2-Molekül durch Tunneln bei kleiner Energie in-nerhalb von Picosekunden (Tab. 1) zwischen den beiden For-men um, ohne je die Energie des Potentialmaximums zu errei-chen. Demgegenüber würde eine klassische Umwandlung dasÜberschreiten der Potentialschwelle in der trans-Geometrieoder der cis-Geometrie erfordern, beide planar und achiral,eigentlich Sattelpunkte der vieldimensionalen Potentialenergie-hyperfläche (nach Gottselig et al, zitiert in [6,7])

Hochenergiephysik der Elementarteilchen einenüberraschenden Einfluß auf die Molekülbewe-gung zeigen – und wo umgekehrt das Studiumder Molekülbewegung unter Umständen funda-mentale Fragen der Hochenergiephysik beant-worten könnte.Das im Jahre 1983 am CERN entdeckte Z-Bosonhat eine beispiellos kurze Lebensdauer von 0.26Yoctosekunden (1 ys = 10–24 s) und ist der Über-träger der sog. „schwachen Wechselwirkung“der Physik ganz analog wie das Photon der Über-träger der aus dem täglichen Leben gewohntenelektrischen und magnetischen Kräfte ist. DieBesonderheit der schwachen Wechselwirkungfür die Molekülbewegung besteht darin, daß siedie im Rahmen der gewöhnlich für die Chemiewichtigen elektromagnetischen Kräfte bestehen-de Symmetrie zwischen „linkshändigen“ und„rechtshändigen“ chiralen Molekülen verletzt(man spricht von Paritätsverletzung, da die ent-sprechende Symmetrie auch als Parität, abge-kürzt P, bezeichnet wird). Streng genommen er-laubt uns erst diese Symmetrieverletzung in ei-nem absoluten Sinne von der „Linkshändigkeit“von Molekülen zu sprechen, während ohne dieseSymmetrieverletzung nur der Gegensatz zwi-schen „linkshändig“ und „rechtshändig“ defi-nierbar wäre [11]. Wegen der Paritätsverletzungunterscheiden sich die Energien der beiden En-antiomere chiraler Moleküle um die paritätsver-letzende Energie ∆Epv. Tab. 1 zeigt auch die hier-zu gehörenden Zeiten ∆tpv für die Paritätsum-wandlung in der Bewegung von Molekülen.Wenn ∆tpv sehr viel kleiner ist als die Tunnelre-aktionszeit zwischen den Enantiomeren, wiebeim S2Cl2, so dominiert die Paritätsverletzungdie Molekülbewegung in dem Sinne, daß einechirale Struktur definitiv energetisch bevorzugtund „ausgefroren“ wird, wobei der Tunnelprozeßrestlos unterdrückt wird. Das entspräche einerabsoluten Festlegung der molekularen „Händig-keit“ (z. B. Linkshändigkeit), was vielleicht auchwichtig für die Evolution der Händigkeit in derBiochemie des Lebens sein könnte [11].An diesem Punkt kommt nun noch die Fragenach der absoluten Zeitrichtung und der anfangserwähnten absoluten Moleküluhr ins Spiel. BeiExistenz der sog. CPT-Symmetrie (C für Spiege-lung Materie-Antimaterie, P für Raumspiege-lung, T für Zeitspiegelung) sind die „rechtshändi-gen“ Enantiomere (also z. B. „R“) aus Materieden „linkshändigen“ Molekülen aus Antimate-rie* (also z. B. L*) symmetrisch genau äquiva-lent [5, 11]. Dann ist eine Spiegelungseigen-schaft nicht absolut beobachtbar (also z.B. derUnterschied zwischen vorwärts und rückwärtslaufender Zeit „T“, wobei es allerdings gleich-gültig ist, welche der drei Eigenschaften C, P, Tman hierfür auswählt). Wenn man jedoch einenkleinen Energieunterschied zwischen den L*-und R-Molekülen nachweisen könnte, so könnte

Molekül 1cm)( −

Δhc

E pv s

pvtΔ 1cm −

±Δhc

E

τ

sRL

H2O2 4 x 10–14 400 11 1.5 x 10–12

D2O2 4 x 10–14 400 2 1 x 10–11

HSOH 4 x 10–13 40 2 x 10–3 8 x 10-9

DSOD 4 x 10–13 40 1 x 10-5 1.5 x 10-6

TSOT 4 x 10–13 40 3 x 10-7 5 x 10-5

H2S2 1 x 10–12 16 2 x 10–6 1 x 10–5

D2S2 1 x 10–12 16 5 x 10–10 0.03

T2S2 1 x 10–12 16 1 x 10–12 16

S2Cl2 1 x 10–12 16 << 10–70 >> 1060

Page 13: PCII Chemische Reaktionskinetik M. Quack HS 2012 Ubung 10 · stand photolysiert. Die Konzentration der Iodatome werde IR-absorptionsspektro-skopisch durch den Feinstruktur-Ubergang¨

44

Akademie-Journal 1/2003

man durch CPT-Verletzung eine Zeitrichtung ne-ben der Eigenschaft der Händigkeit des Raumesund der Materie-Antimaterie-Eigenschaft absolutdefinieren. Prinzipiell realistische Vorschläge fürsolche Experimente mit extrem hoher Genauig-keit nach einem Verfahren aus [5] unter Verwen-dung von chiralen Antiwasserstoffclustern sindschon gemacht worden [7]. Solche Experimentesind allerdings nicht für die nahe Zukunft zu er-warten [5, 7, 11]. Sie sind jedoch über die er-wähnten Experimente und Rechnungen hinausvon grundlegender Bedeutung für unser Ver-ständnis der Natur. Ein denkbarer, „ultralangsa-mer“ chemischer Primärprozeß würde eine fun-damentale, neue Aussage über die Zeit selbst er-lauben.

Anschrift des Verfassers:Prof. Dr. Martin QuackETH ZürichLaboratorium für Physikalische ChemieWolfgang-Pauli-Straße 10CH-8093 Zürich/SchweizTel. 0041-1-632 44 21Fax 0041-1-632 10 21email: [email protected]

Anmerkungen

[1] M. Eigen, „Die unmeßbar schnellen Reaktionen (Ostwalds Klassi-

ker der exakten Naturwissenschaften)“, Vol. 281, Harri Deutsch,

Thun und Frankfurt, 1996.[2] G. Porter, „Flash photolysis into the femtosecond – a race against

time“, chapter 1, p. 3-13, in „Femtosecond Chemistry“, Vol. 1

(Eds.: J. Manz, L. Woeste), Verlag Chemie, Weinheim, 1995.[3] A. H. Zewail, „Femtochemistry: concepts and applications“, chap-

ter 2, p. 15-128, in „Femtosecond Chemistry“, (Eds.: J. Manz, L.

Woeste), Verlag Chemie, Weinheim, 1995.[4] M. Drescher, M. Hentschel, R. Kienberger, M. Uiberacker, V. Ya-

kovlev, A. Scrinizi, T. Westerwalbesloh, U. Kleineberg, U. Heinz-

mann, F. Krausz, Nature, 2002, 419, p. 803-807.[5] M. Quack, „Molecular femtosecond quantum dynamics between

less than yoctoseconds and more than days: Experiment and theo-

ry“, chapter 27, p. 781-818, in „Femtosecond chemistry, Proc. Ber-

lin Conf. Femtosecond Chemistry, Berlin (March 1993)“, (Eds.: J.

Manz, L. Woeste), Verlag Chemie, Weinheim, 1995.[6] M. Quack, Chimia, 2001, 55, p. 753-758.[7] M. Quack, Chimia, 2003, 57, p. 147-160.[8] R. Marquardt, M. Quack, „Energy Redistribution in Reacting Sy-

stems“, chapter A. 3.13, p. 897-936, in „Encyclopedia of Chemical

Physics and Physical Chemistry“, Vol. 1 (Fundamentals) (Eds.: J.

H. Moore, N. Spencer), IOP publishing, Bristol, 2001.[9] D. Luckhaus, M. Quack, „Gas Phase Kinetics Studies“, chapter B.

2.5, p. 1871-1903, in „Encyclopedia of Chemical Physics and Phy-

sical Chemistry“, Vol. 2 (Methods) (Eds.: J. H. Moore, N. Spen-

cer), IOP publishing, Bristol, 2001.[10] E. Schrödinger, Annalen der Physik IV. Folge, 1926, 81, p. 109-

139.[11] M. Quack, Nova Acta Leopoldina, 1999, 81, p. 137-173.[12] In „Das Amulett“ von Conrad Ferdinand Meyer findet sich eine

hübsche Diskussion im dritten Kapitel kurz vor der ersten Erwäh-

nung des „Medaillons“, die aus einer spezifischen Sicht die wesent-

lichen Punkte klar erläutert, die auch in der Diskussion der BBAW

wieder (aus ganz anderer, mehr weltlicher Sicht des Strafrechts)

zum Vorschein kamen.