lipomatosis dolorosa – ein häufig übersehenes krankheitsbild
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Der Nervenarzt 2•2002 | 183
Zusammenfassung
Die Lipomatosis dolorosa (Dercum's disease)
ist ein wenig bekanntes Krankheitsbild, das
insbesondere Frauen im mittleren Lebensal-
ter betrifft. Charakteristisch sind subkutane
Fettgewebsablagerungen insbesondere an
der Oberarminnenseite, am Ellenbogenge-
lenk, Bauch, Gesäß, an der Oberschenkelau-
ßen-/innenseite und am Kniegelenk. Dabei
bestehen stärkste Schmerzen schon bei
leichter Berührung oder Druck. Konventio-
nelle Analgetika oder schmerzmodulierende
Substanzen sind meist wirkungslos.Wie der
vorliegende Fallbericht zeigt, ist bei Kenntnis
des Krankheitsbildes eine effektive Behand-
lung der ansonsten nahezu unerträglichen
Schmerzen möglich: Durch eine intravenöse
Therapie mit 5 mg Lidocain/kg Körperge-
wicht über 30–90 min wird oft wochen- bis
monatelange Schmerzfreiheit erzielt. Alter-
nativ oder ergänzend ist die Gabe von
150–750 mg Mexiletin täglich in Tabletten-
form möglich. Eine vorübergehende Besse-
rung kann auch durch die Exzision oder Fett-
absaugung besonders schmerzhafter sub-
kutaner Fettgewebsablagerungen erreicht
werden. Der Effekt lässt jedoch im Verlauf
nach und es können Rezidive auftreten.
Schlüsselwörter
Lipomatosis dolorosa · Dercum's disease ·
Lidocain · Mexiletin · Liposuktion
Die Lipomatosis dolorosa ist ein rela-tiv unbekanntes Krankheitsbild, obwohldie Erstbeschreibung durch den ameri-kanischen Neurologen Francis XavierDercum (1856–1931) bereits 1888 erfolg-te [9, 10]. In der medizinischen Fachlite-ratur findet sich eine Reihe von Synony-men, u. a.: Adiposalgie,Adiposis doloro-sa,Adipositas dolorosa, Dercum-Krank-heit,Fettgewebs-Rheumatismus (Schwe-den), Lipalgie oder Neurolipomatosis.Die WHO hat dem Syndrom die ICD-10-Nummer E88.210 zugeordnet.
Dieses eigentlich dermatologischeKrankheitsbild ist aufgrund der damitverbundenen Schmerzhaftigkeit subku-taner Fettablagerungen auch für Neuro-logen und Schmerztherapeuten von Re-levanz. Die Beschwerden sind nämlichdurch konventionelle Analgetika odereine klassische schmerzmodulierendeTherapie (Amitriptylin, Carbamazepin,etc.) kaum beeinflussbar.
Eine bessere Kenntnis der charak-teristischen Symptome könnte zu einerfrüheren Diagnosestellung und Vermei-dung unnötiger Therapieversuche bei-tragen. Ziel des vorliegenden Artikels istdeshalb, den derzeitigen Wissensstandund Möglichkeiten einer erfolgverspre-chenden Schmerzbehandlung vorzustel-len.
Kasuistik
Eine mittlerweile 47-jährige Patientin be-merkte Ende der 80er Jahre erstmalsmultiple Knötchen an beiden Oberarm-innenseiten, später auch 2 tiefliegende
Knoten an der linken Oberschenkelin-nenseite. Als 1990 eine Berührungs- undDruckschmerzhaftigkeit der Hautverän-derungen auftrat, stellte sie sich bei ei-nem Allgemeinmediziner vor, der ihrmitteilte,es handle sich um Lipome – die-se könnten jedoch keine Schmerzen ver-ursachen. Dennoch führte der Leidens-druck 1992 zur Entfernung 15 dieser Tu-more. Histologisch handelte es sich umLipome, teils auch Angiolipome. In denfolgenden Jahren entstanden erneut Li-pome vorwiegend an der Oberarminnen-seite und in der Nähe des Ellenbogenge-lenks (Abb. 1), die wiederum druck- undberührungsempfindlich waren.
Im Winter und bei psychischer Be-lastung wurden die Beschwerden stär-ker. Intermittierend litt die Patientin un-ter Kribbel-Parästhesien an den Finger-spitzen mit Schwierigkeiten beim Grei-fen.Außerdem bestand eine Neigung zuEkchymosen. Da die Patientin über einegelegentliche, für Tage anhaltendeSchwellung der Finger und Mund-trockenheit klagte, wurde unter der An-nahme einer rheumatischen Erkran-kung vorübergehend eine Schmerzthe-rapie mit Meloxicam (Mobec®) durch-geführt. Später wurde die Medikationauf Tramadol (Tramal®) umgestellt. Eshalf jedoch keines der beiden Medika-mente.
Ergebnisse & KasuistikNervenarzt2002 · 73:183–187 © Springer-Verlag 2002
J. Steiner1 · K. Schiltz2 · F. Heidenreich1 · K.Weissenborn1
1 Neurologische Klinik, Medizinische Hochschule Hannover2 Neurologische Klinik II, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg
Lipomatosis dolorosa – ein häufig übersehenesKrankheitsbild
Dr. J. SteinerNeurologische Klinik, Medizinische
Hochschule Hannover, Carl-Neuberg-Straße 1,
30625 Hannover
Ergebnisse & Kasuistik
J. Steiner · K. Schiltz · F. HeidenreichK.Weissenborn
Dercum's disease – an often overlooked disease entity
Summary
Dercum's disease (lipomatosis dolorosa) is a
relatively unknown illness.The disorder usu-
ally affects middle-aged females. Subcutane-
ous fatty tissue deposits may occur in many
parts of the body.The upper arms, elbows,
stomach wall, buttocks, thighs, or knees are
most commonly affected. Severe hyperalge-
sia is found on light pressure and touch.
Analgesics or pain-modulating drugs usually
have little or no effect.The following case re-
port demonstrates successful symptomatic
treatment of the otherwise nearly unbear-
able complaints: intravenous infusions of
5 mg/kg body weight of lidocaine over
30–90 min may give pain relief lasting sever-
al weeks or even months. Alternatively, pa-
tients are treated with 150–750 mg orally
administered mexiletine daily. Surgical exci-
sion or liposuction of these fatty tissue
deposits have shown significant reduction of
pain. However, this effect reduces over time
and recurrences often develop.
Keywords
Lipomatosis dolorosa · Dercum's disease ·
Lidocaine · Mexiletine · Liposuction
1998 bestanden so starke Schmer-zen, dass die Patientin unter Schlafstö-rungen litt und die Arme nicht mehr anden Rumpf anlegen konnte. Es kam zurersten Vorstellung in unserer Abteilung,zunächst unter der Annahme, es liege ei-ne Neurofibromatose vor. Die neurolo-gische Untersuchung ergab keine Auffäl-ligkeiten außer einer schmerzhaften Be-wegungseinschränkung an beiden Ar-men. Café-au-lait-Flecke bestandennicht und die kraniale und zervikaleMRT-Untersuchung waren unauffällig –insbesondere konnten keine Neurofibro-me nachgewiesen werden. In der Labor-untersuchung waren sämtliche Routine-parameter im Normbereich, BKS 16/42n.W., RF, ANA, cANCA und pANCA wa-ren negativ. Ein Raynaud-Phänomenmit typischer kälteinduzierter Verfär-bung der Akren (Trikolore-Phänomen)konnte differenzialdiagnostisch ausge-schlossen werden. Elektroneurogra-phisch fanden sich auch keine Hinweisefür das Vorliegen eines Sulcus-ulnaris-oder Karpaltunnel-Syndroms.Aufgrundder charakteristischen Befundkonstella-tion stellten wir die Diagnose einerLipomatosis dolorosa.
Im November 1998, Januar 2000, Ju-li 2000, Oktober 2000 und Mai 2001wurden systemische Lidocain-Gabendurchgeführt. Dabei wurde zunächst ei-ne Testdosis von 100 mg Lidocain über2–3 min i.v. verabreicht. Anschließenderfolgte bei jedem Therapiezyklus fürinsgesamt 4 Tage die Gabe von 300 mg
Lidocain als Infusion über 90 min. Nachder 2. Infusion wurde die Patientin jedesMal schmerzfrei. Nach 3–6 Monatenkam es allmählich wieder zum Auftretender Beschwerden, jedoch nicht in derstarken Intensität wie vor Beginn der Li-docain-Therapie. Nebenwirkungen tra-ten, abgesehen von einem leichten Blut-druckabfall und einem Wärmegefühlam ganzen Körper, nicht auf.
Diskussion und Literaturübersicht
Die Diagnose „Lipomatosis dolorosa“wird nach wie vor – ähnlich wie bei derFibromyalgie – rein klinisch gestellt.Charakteristischerweise finden sichschmerzhafte subkutane Fettgewebsab-lagerungen bei übergewichtigen Frauen(„Rubens-Figur“) im mittleren Lebens-alter. Auch die von uns behandelte Pati-entin war übergewichtig (80 kg, 158 cm).Frauen erkranken 5–30-mal häufiger alsMänner. Die Mehrzahl der Fälle trittsporadisch auf – wie im hier dargestell-ten Fall. Lediglich 3 Publikationen be-schreiben eine familiäre Häufung auf-grund eines autosomal-dominantenErbgangs mit unvollständiger Penetranz[4, 5, 18]. Verlässliche Angaben über diePrävalenz fehlen, da das Krankheitsbildwenig bekannt ist. Brorson und Fagher
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Abb. 1 � Druckschmerzhaftes Lipom an der Innenseite des Ellenbogengelenkes
Abb. 2 � Prädilektionsstellen
schätzten jedoch,dass in Schweden min-destens 10.000 Menschen an Lipomato-sis dolorosa leiden [3].
Druck- und berührungsempfindli-ches Fettgewebe findet sich insbesonde-re an verschieden Prädilektionsstellen:Oberarminnenseite und Ellenbogenge-lenk,Bauch,Gesäß,Oberschenkelaußen-/innenseite und Kniegelenk (Abb. 2). DasGesicht und die Hände bleiben in derRegel ausgespart. Gewöhnlich nimmtdie Schmerzsymptomatik über Monatebis Jahre schleichend zu.Leichter Druck,Berührungsreize, eng anliegende Klei-dung oder das Wasser beim Duschenkönnen als unangenehm empfundenwerden. Der Schmerz ist witterungsab-hängig und bessert sich in der Regel beitrockener Hitze. Unsere Patientin be-richtete, dass sich die Symptomatik vor-übergehend nach einem heißen Bad ver-ringere.
Nach dem Verteilungsmuster derSchmerzen kann folgende Subtypisie-rung durchgeführt werden [3]:
◗ Typ I (juxta-artikulär): schmerzhafteFettwülste an der Knieinnenseite, anden Hüften, seltener am Ellenbogen-gelenk.
◗ Typ II (diffus-generalisiert): diffuseSchmerzhaftigkeit am dorsalenOberarm, axillär, glutaeal, am Bauch,Rücken und an den Fußsohlen;manchmal können Bauchschmerzenim Vordergrund stehen.
◗ Typ III (nodulär): insbesonderedruckschmerzhafte Lipome, manch-mal auch ohne Übergewicht. Einigedieser Lipome wurden – wie im vorlie-genden Fall – histologisch als Angioli-pome klassifiziert, da sie einen ausge-prägten Blutgefäßreichtum aufweisen.
Die Lipomatosis dolorosa verursacht ei-ne Reihe psychosozialer Probleme. Soführt die chronische Hyperalgesie oft zusexuellen Beziehungsstörungen oderzur Berufsunfähigkeit. In der Literaturwurden wiederholt psychische Verände-rungen beschrieben, wie z. B. Reizbar-keit, Depression, Müdigkeit, Antriebs-mangel, Schlaf- oder Gedächtnisstörun-gen. Diese Beschwerden könnten jedochals psychoreaktive Begleitsymptome imRahmen der chronischen Schmerzsym-ptomatik verstanden werden (s. Erfah-rungsberichte der US-amerikanischenSelbsthilfegruppe Dercum's Support:http://www.dercum.org).
Viele der in der Kasuistik genann-ten Beschwerden unserer Patientin sindtypische Begleitsymptome der Lipoma-tosis dolorosa [3]:
◗ Schwellung der Hände und Fingermit begleitenden Parästhesien,Taubheitsgefühl oder Karpaltunnel-Syndrom,
◗ Gelenksteifigkeit nach Ruhe, beson-ders morgens,
◗ Augen- und Mundtrockenheit,◗ Teleangiektasien mit erhöhter
Brüchigkeit der dilatierten Gefäße;dadurch Neigung zu blaurötlicherVerfärbung und Ekchymosen; Gerin-nungsstörungen liegen nicht vor,
◗ Kopfschmerzen (Spannungskopf-schmerz, Migräne, zervikogenerKopfschmerz).
Differenzialdiagnosen
Neben der Lipomatosis dolorosa existie-ren weitere Erkrankungen, die zu einerFettgewebsverteilungsstörung führen,und deshalb differenzialdiagnostisch inErwägung gezogen werden müssen. Bei-spielsweise finden sich bei der benignensymmetrischen Lipomatose Fettgewebs-polster, die im Gegensatz zur Lipomato-sis dolorosa, nicht schmerzhaft sind. Be-troffen sind überwiegend Männer immittleren Lebensalter.Eine Fettansamm-lung im Bereich des oberen Mediasti-nums kann zur Kompression der Atem-wege führen. Nach Donhauser et al. [13]werden – entsprechend der Lokalisationder Fettpolster – verschiedene Typenunterschieden:
I. Madelung-Fetthals bzw. zervikonu-chaler Typ,
II. Schultergürtel- bzw. pseudoathle-tischer Typ,
III. Beckengürtel- bzw. gynäkoiderTyp.
Es wird eine alkoholtoxische bzw. hepa-topathische Ätiologie angenommen.
Das Lipödem tritt hingegen beiFrauen mit einer genetisch fixiertenFettverteilungsstörung auf. Die zugrun-de liegende Lipohypertrophie, bei derdie Extremitäten im Vergleich zumRumpf symmetrisch verdickt sind, be-trifft überwiegend die Beine und ist an-fangs schmerzlos. Eine Lymphostase –durch den Druck vermehrter Fettzellenauf kleine Lymphgefäße – führt im Ver-
lauf zur Ödembildung. Es entstehendann Beschwerden in Form von Schwe-regefühl, Spannungsschmerzen undDruckempfindlichkeit. Typisch ist einkragenartiger Abschluss des Ödems überden Sprung- bzw. Handgelenken [15].
Erst seit wenigen Jahren ist be-kannt, dass Fettverteilungsstörungenauch bei HIV-Patienten im Rahmen ei-ner retroviralen Therapie mit Protea-seinhibitoren auftreten können. Diesesog. HIV-Lipodystrophie geht mit einerFettgewebsatrophie an Gesicht,Extremi-täten und Gesäß einher. Eine Fettge-websvermehrung findet sich hingegenam Rumpf (Stammfettsucht) undNacken (Stiernacken). Es resultiert einCushing-Habitus, der oft mit metaboli-schen Störungen wie Hyperlipidämie,Hypercholesterinämie und Diabetesmellitus assoziiert ist. Schmerzen tretendabei in der Regel nicht auf – es wurdenjedoch Fälle mit schmerzhaften Angio-lipomen beschrieben [7].
Pathogenese
Die zugrunde liegenden pathogeneti-schen Mechanismen sind nach wie vorunbekannt. Außerdem existieren keinesystematischen Untersuchungen größe-rer Fallzahlen und viele sowjetische undschwedische Publikationen sind derwestlichen Medizin kaum zugänglich.
Als Ursache der Erkrankung wur-den beispielsweise Störungen des Fett-metabolismus oder hormonelle Störun-gen vermute: Blomstrand et al. fanden in2 Fällen eine Störung der Synthese vonC18-Fettsäuren [2]. Fagher et al. kamenjedoch bei einer Untersuchung von 13Patienten zu einem gegenteiligen Ergeb-nis und fanden in der histologischenUntersuchung im Vergleich zu Kontroll-personen gleichen Gewichts vergrößer-te Fettzellen [14]. Histologische Untersu-chungen erbrachten bislang uneinheit-liche Ergebnisse, wobei meist unauffälli-ges Fettgewebe nachweisbar war. Der-cum hatte 1888 Hinweise für eine Neuri-tis gefunden – dieser Befund blieb je-doch unbestätigt [9]. Bis Mitte des 20.Jahrhunderts wurde eine Verwandt-schaft der lipomatösen Hautverände-rungen mit dem Myxödem vermutet.Dies beruhte auf wiederholt beobachte-ter Assoziation des Krankheitsbildes mitSchilddrüsenfunktionsstörungen, insbe-sondere Hypothyreosen. Als jedoch inden 50er Jahren eine Patientin mit einer
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Ergebnisse & Kasuistik
Schilddrüsenhormon-Präparation be-handelt wurde und verstarb, wurde die-se Hypothese verlassen [22]. Auch beiunserer Patientin wurde 1991 wegen ei-ner Struma nodosa eine subtotale Re-sektion der Schilddrüse durchgeführtund danach Thyroxin substituiert. EineHypothyreose bestand jedoch nicht.
Vermutet wird, dass die subkutanenFettgewebsablagerungen durch Druck-wirkung auf Nerven zur Schmerzsym-ptomatik führen.Skagen et al.wiesen beieiner Patientin Störungen des subkuta-nen Blutflusses nach. Durch systemischeLidocain-Gaben konnte für jeweils einenMonat Schmerzfreiheit und eine Nor-malisierung des subkutanen Blutflusseserzielt werden. Aus dieser Beobachtungschlossen die Autoren auf einen Zusam-menhang der Schmerzhaftigkeit desFettgewebes mit einer sympathischenDysregulation [21]. Unklar ist, ob undwenn ja, welche Bedeutung der stärkereBlutgefäßreichtum der Angiolipome imVergleich mit den Lipomen spielt. Bei ei-ner systematischen Untersuchung von50 Angiolipomen fanden Dixon et al. je-denfalls keinen Zusammenhang desAusmaßes der Vaskularisation mit derSchmerzintensität [12].
Therapie
Die Behandlung der Lipomatosis dolo-rosa hat in erster Linie zum Ziel, eineSchmerzlinderung zu erreichen. Diechirurgische Exzision oder Fettabsau-gung z. B. juxta-artikulär gelegener Fett-gewebsablagerungen kann vorüberge-hende Schmerzlinderung schaffen. DerEffekt lässt jedoch im Verlauf nach undes treten oft Rezidive auf [3]. Wir wür-den deshalb nur zur chirurgischen Ent-fernung einzelner, besonders schmerz-hafter Lipome raten. Keinen Einfluss aufdie Schmerzsymptomatik scheint eineGewichtsreduktion zu haben und kon-ventionelle Analgetika sind, wie bereitserwähnt, kaum wirksam.
Eine intravenöse Applikation von Li-docain führt hingegen bei vielen Patien-ten für Wochen bis Monate zur völligenSchmerzfreiheit. Dabei wurden in denmeisten Publikationen pro Therapiezy-klus einmalig ca. 5 mg Lidocain/kg Kör-pergewicht über 30–90 min verabreicht[1, 11, 16,20,21]; in einer Fallbeschreibungwurden hingegen ca. 15 mg Lidocain/kgKörpergewicht an 4–5 aufeinanderfol-genden Tagen i.v. appliziert, um anhal-
tende Schmerzfreiheit zu erzielen [17].Systemische Lidocain-Gaben setzt manbereits seit etwa 40 Jahren in derSchmerztherapie ein, insbesondere beischwer behandelbaren neuropathischenSchmerzen. Eine lokale Gabe von Lido-cain ist hingegen meist wirkungslos.
Alternativ oder ergänzend wurdeerfolgreich das LokalanästhetikumMexiletin verwendet, das auch in Tablet-tenform verabreicht werden kann.Dabeiwurden Dosierungen von 150–750 mgtäglich verabreicht [6, 8, 11, 20]. NachRücksprache mit der Abteilung Kardio-logie der MHH wurde bei unserer Pati-entin keine Intervallbehandlung mitMexiletin angestrebt, da mit kardiovas-kulären Nebenwirkungen gerechnetwerden muss. Angesichts des bei unse-rer Patientin vergleichsweise lang anhal-tenden Lidocain-Effekts wäre dieses Ri-siko nicht zu rechtfertigen.
Vor einer systemischen Lidocain-Therapie müssen ein AV-Block II. undIII.Grades oder ein Sick-Sinus-Syndromals Kontraindikationen ausgeschlossenwerden. Die Verträglichkeit der Behand-lung ist nach den bisherigen Veröffent-lichungen in der Regel gut.Während derInfusion sollte jedoch ein kontinuierli-ches EKG- und RR-Monitoring durchge-führt werden, da mit kardiovaskulärenNebenwirkungen gerechnet werdenmuss. Es kann zu Blutdruckabfall, Ar-rhythmien, Bradykardie und in sehr sel-tenen Fällen zur Asystolie kommen. Da-neben treten häufig leichte zentralner-vöse Nebenwirkungen wie Schwindel,Benommenheit oder Parästhesien auf.Manche Patienten berichten nach derInfusion über leichten Kopfschmerzoder Übelkeit. Des weiteren wurdenDesorientiertheit, Seh- und Sprachstö-rungen, Tinnitus und Tremor beobach-tet. Sehr selten können eine Vigilanz-minderung, Atemdepression oder epi-leptische Anfälle auftreten.
Für eine Behandlung mit Mexiletingelten die gleichen Kontraindikationen,und es können ähnliche kardiovaskulä-re und zentralnervöse Nebenwirkungenauftreten. Daneben bestehen jedoch oftgastrointestinale Beschwerden, wie z. B.Sodbrennen, Bauchschmerzen, Übelkeitund Erbrechen. Seltene Nebenwirkun-gen sind: Hautreaktionen bis hin zumStevens-Johnson-Syndrom, eine Leber-schädigung, Lungenfibrose, Leuko- oderThrombozytopenie. Bei einer ambulan-ten Mexiletin-Behandlung sollten des-
halb wöchentliche EKG- und monatlicheLangzeit-EKG- sowie Blutbild- und Le-berwertkontrollen durchgeführt werden.
Interessanterweise ist die Wirkdau-er der Lidocain-Infusionen (10 h bis12 Monate) meist wesentlich länger alsman aufgrund der biologischen Halb-wertszeit annehmen würde (erste30 min nach der i.v.-Gabe: HWZ7–10 min durch Gewebsverteilung; da-nach: HWZ 90–120 min durch Metabo-lismus und Exkretion). Die zugrundeliegenden Wirkmechanismen sind nochwenig bekannt. Tierexperimentelle Un-tersuchungen lassen vermuten,dass eineerhöhte Dichte spannungsabhängigerNatriumkanäle in geschädigten Axonenund im zugehörigen Spinalganglion zuspontanen ektopen Entladungen unddamit zum neuropathischen Schmerzführt. Elektrophysiologische Untersu-chungen zeigen, dass durch systemischeLidocain-Gaben diese spontanen Entla-dungen unterdrückt werden, ohne dienormale Nervenleitung zu blockieren.Neueren Studien zufolge gibt es mehr als10 verschiedene Natriumkanäle, die fürdie Erzeugung und Weiterleitung einesAktionspotenzials verantwortlich sind.Speziell die Untergruppe der Tetrodoto-xin-resistenten Natriumkanäle scheinteine besondere Rolle in der Schmerzmo-dulation zu spielen. Bei peripheren Ner-venläsionen konnte eine Down-Regula-tion des Tetrodotoxin-resistenten Natri-umstroms und eine Up-Regulation desTetrodotoxin-sensitiven Natriumstromsnachgewiesen werden. Lidocain wirktetwa 4fach stärker auf Tetrodotoxin-sen-sitive Natriumkanäle, und könnte somitdas Ungleichgewicht der Natriumströ-me beim neuropathischen Schmerz kor-rigieren [19].
Zusammenfassung
Charakteristisch für das Krankheitsbildder Lipomatosis dolorosa sind Schmer-zen im Bereich subkutaner Fettgewebs-ablagerungen.Es erkranken insbesonde-re Frauen im mittleren Lebensalter. Diezugrunde liegenden pathogenetischenMechanismen sind leider nach wie vorunbekannt. Vermutet wird jedoch, dassNozizeptoren und afferente Axone durchdie lokale Druckwirkung der Fettge-websablagerungen geschädigt werden.Daneben scheint eine sympathische Dys-regulation und Störung des subkutanenBlutflusses von Bedeutung zu sein.
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Es bestehen chronische (länger als3 Monate anhaltende) Schmerzen, diespontan auftreten oder durch leichte Be-rührungsreize provoziert werden kön-nen (Allodynie). Auch kalte Außentem-peraturen triggern das Auftreten der alsbrennend, schneidend oder stechendbeschriebenen Schmerzen. Die Be-schwerden sind durch konventionelleAnalgetika oder eine klassischeschmerzmodulierende Therapie kaumbeeinflussbar. Aufgrund der genanntenMerkmale halten wir eine Zuordnungder Erkrankung zu den neuropathi-schen Schmerzsyndromen für gerecht-fertigt.
Auf systemische Lidocain- oderMexiletin-Gaben scheint die Lipomato-sis dolorosa gut anzusprechen. DieseTherapie hat sich in der Vergangenheitbereits bei zahlreichen anderen neuro-pathischen Schmerzsyndromen be-währt.
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