kas auslandsinformationen 09/2010
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In KAS Auslandsinformationen werden internationale Fragen, Außenpolitik und Entwicklungszusammenarbeit erörtert. Die monatlich erscheinende Publikation hat das Ziel, einen Teil der im Zusammenhang mit der Auslandsarbeit der Konrad-Adenauer-Stiftung gesammelten Informationen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das Buch erscheint auf deutsch und englisch.TRANSCRIPT
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Polen – Nachbar, Partnerund Freund im Osten. Die deutsch-polnischen Beziehungen seit 1989Stephan Georg Raabe
Bewährte Partnerschaftenmit Potential – Die Bezie-hungen Deutschlands zu Tschechien und der SlowakeiHubert Gehring / Tomislav Delinić / Andrea Zeller
Die Beziehungen Deutsch-lands zu den baltischen Ländern seit der Wieder-vereinigungAndreas M. Klein / Gesine Herrmann
Über die Befindlichkeitendes deutsch-französischen Paares zwei Jahrzehnte nach der WiedervereinigungJörg Wolff / Laura-Theresa Jaspers
Die Beziehungen zwischenGroßbritannien und dem wiedervereinigten Deutsch-landClaudia Crawford
Union für das Mittelmeer –Realitäten anerkennen und Chancen nutzen!Gerrit F. Schlomach
Die Philippinen nach denWahlen vom 10. Mai 2010Peter Köppinger
Vom Uribismo zur UnidadNacional – Kolumbien nach den Kongress- und Präsi-dentschaftswahlenStefan Jost
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ISSN 0177-7521Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.26. Jahrgang
Tiergartenstraße 35D-10785 BerlinTelefon (030) 2 69 96-33 83Telefax (030) 2 69 96-35 63Internet: http://www.kas.de http://www.kas.de/auslandsinformationenE-Mail: [email protected]
Bankverbindung:Commerzbank AG Filiale Bonn,Kto.-Nr. 110 63 43, BLZ 380 400 07
Herausgeber:Dr. Gerhard Wahlers
Redaktion:Frank SpenglerHans-Hartwig BlomeierDr. Stefan FriedrichJens PaulusDr. Hardy OstryDr. Helmut Reifeld
Verantwortliche Redakteure:Stefan Burgdörfer
Gekennzeichnete Artikel geben nicht unbedingtdie Meinung der Redaktion wieder.
Bezugsbedingungen:Die KAS-Auslandsinformationen erscheinenzwölfmal im Jahr. Der Bezugspreis für zwölfHefte beträgt 50,– € zzgl. Porto. Einzelheft5,– €. Schüler und Studenten erhalten einenSonderrabatt.
Die Bezugsdauer verlängert sich jeweils umein Jahr, sofern das Abonnement nicht biszum 15. November eines Jahres schriftlichabbestellt wird.
Bestellungen: Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.(obige Anschrift)
Das Copyright für die Beiträge liegt bei denKAS-Auslandsinformationen.
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Umschlagpapier aus 60 % FSC-zertifizierten Recycling- Fasern, Innenseiten aus 100 % FSC-zertifiziertem Recycling-Papier.
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EDITORIAL
POLEN – NACHBAR, PARTNER UND FREUND IM OSTEN.DIE DEUTSCH-POLNISCHEN BEZIEHUNGEN SEIT 1989Stephan Georg Raabe
BEWÄHRTE PARTNERSCHAFTEN MIT POTENTIAL – DIE BEZIEHUNGEN DEUTSCHLANDS ZU TSCHECHIEN UND DER SLOWAKEIHubert Gehring / Tomislav Delinić / Andrea Zeller
DIE BEZIEHUNGEN DEUTSCHLANDS ZU DENBALTISCHEN LÄNDERN SEIT DER WIEDERVEREINIGUNGAndreas M. Klein / Gesine Herrmann
ÜBER DIE BEFINDLICHKEITEN DES DEUTSCH-FRANZÖSISCHEN PAARES ZWEI JAHRZEHNTENACH DER WIEDERVEREINIGUNGJörg Wolff / Laura-Theresa Jaspers
DIE BEZIEHUNGEN ZWISCHEN GROSSBRITANNIEN UND DEM WIEDERVEREINIGTEN DEUTSCHLANDClaudia Crawford
UNION FÜR DAS MITTELMEER – REALITÄTEN ANERKENNEN UND CHANCEN NUTZEN!Gerrit F. Schlomach
DIE PHILIPPINEN NACH DEN WAHLEN VOM 10. MAI 2010Peter Köppinger
VOM URIBISMO ZUR UNIDAD NACIONAL – KOLUMBIEN NACH DEN KONGRESS- UND PRÄSIDENTSCHAFTSWAHLENStefan Jost
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EDITORIAL
Liebe Leserinnen und Leser,
zwei Jahrzehnte nach dem Fall der Mauer ist Deutschland umgeben von Freunden. Die Wiedervereinigung ist eine Erfolgsgeschichte – nicht nur eine nationale, sondern eine europäische. Die Beziehungen des wiedervereinten Deutschlands zu seinen Nachbarn sind vertrauensvoll, die Rolle der Bundesrepublik als europäischer Partner wird ausgesprochen positiv bewertet. Nach Jahrhunderten kriegerischer Auseinandersetzungen und zwei Weltkriegen hat das europäische Projekt Demokratie, Wohlstand und Sicherheit gebracht. Die Wiedervereinigung Deutschlands hat diesen Prozess nicht gestört oder aufgehalten, sondern vorangebracht. Gegenteilige Befürchtungen einzelner europäischer Partner, aber auch im eigenen Land, haben sich nicht bewahrheitet.
In diesem und dem vergangenen Jahr wurden in zahlrei-chen Veranstaltungen bundesweit die Jubiläen von Frei-heit und Einheit begangen: 60 Jahre Bundesrepublik, 20 Jahre Wiedervereinigung. Dabei war der Blick vor allem nach innen gerichtet. Die Deutschen haben eine nationale Erfolgsgeschichte gefeiert. Die Wiedervereinigung war jedoch ebenso ein internationales Ereignis. Sie markierte das Ende der bipolaren Weltordnung mit den USA auf der einen und Russland auf der anderen Seite. Im ungarischen Sopron an der österreichischen Grenze öffnete sich erst-mals der Eiserne Vorhang. Die Ausreise einer großen Zahl von DDR-Bürgern über die Nachbarländer Polen, Tsche-chien und Ungarn brachte schließlich das Grenzregime zum Kollabieren.
Mit der deutschen Wiedervereinigung begann ein neues Kapitel in der deutschen Außenpolitik. Die Beziehungen zu den Nachbarstaaten, die vielfach ebenfalls inmitten von Transformationsprozessen waren, haben sich hervorragend entwickelt. Die Überwindung sozialistischer Strukturen, eine Eingliederung in die Strukturen der NATO, schließlich
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die Aufnahme in die Europäische Union – diesen Weg der östlichen Nachbarn begleitete Deutschland in den vergan-genen 20 Jahren. Mit ihnen, aber auch mit den bewährten Partnern in der Europäischen Union, gestaltete Deutsch-land in partnerschaftlicher Weise die Zukunft Europas. Die Ratifizierung des Vertrags von Lissabon hat diese Erfolgs-geschichte fortgesetzt.
Es waren die Christdemokraten, die auf eine baldige Wiedervereinigung gedrängt haben. Die Bundesregierung nutzte entschlossen die sich bietenden Möglichkeiten. Rückblickend hat sie Recht behalten. Deutschland ist nicht in Nationalismus zurückgefallen. Bei der Fußballweltmeis-terschaft im eigenen Land, aber auch kürzlich während des Turniers in Südafrika ist internationalen Gästen und Beobachtern ein neuer deutscher Patriotismus begegnet – sympathisch, nie abschätzig gegenüber anderen Nati-onen und fähig, Bevölkerungsgruppen unterschiedlicher Herkunft zu integrieren.
Zeitungskommentare und politische Statements zeigen: Die europäischen Nachbarn fürchten heute keineswegs, Deutschland könne zu mächtig werden. Stattdessen wird gefordert, dass die Bundesrepublik ihr Gewicht bei der Lösung europäischer Probleme noch stärker einbringt. So wird auch die positive wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands im europäischen Ausland überwiegend begrüßt, wie eine aktuelle Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung zeigt (Der Blick von außen, http://www.kas.de/wf/de/33.20195/). Nachrichten über den deutschen Auf- schwung und die sinkenden Arbeitslosenzahlen wecken Hoffnung auf eine positive Entwicklung im eigenen Land. Dieser Aufschwung zeigt: Die Soziale Marktwirtschaft hat sich bewährt. Politik und Sozialpartner haben verant-wortlich gehandelt. Konjunkturprogramme, Deutschland-Fonds, Kurzarbeitergeld, Zeitarbeit und Lohnzurückhaltung
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haben ihre Wirkung gezeigt. Die Europäische Union sollte sich für die Aufgabe, die Märkte und Haushalte wieder ins Gleichgewicht zu bringen und Grundlagen für nachhal-tiges Wachstum zu legen, die Soziale Marktwirtschaft zum Vorbild nehmen. Sie hat zur deutschen Erfolgsgeschichte beigetragen und ebenso zur europäischen. Vor 60 Jahren haben Christdemokraten mit ihr ein Ordnungsmodell etab-liert, das „Wohlstand für alle‟ schafft und soziale Sicherheit gewährleistet.
Dr. Gerhard WahlersStellvertretender Generalsekretär
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Stephan Georg Raabe
Adam Michnik, der ehemalige Solidarność-Vorkämpfer und Herausgeber der liberalen Gazeta Wyborcza, der größten Tageszeitung Polens, kommentierte den Ausgang der jüngsten polnischen Präsidentenwahlen vom 4. Juli 2010 mit den Worten, er freue sich, denn Polen sei nun „das feindliche Gespenst der IV. Republik‟ losgeworden.1 In der Tat: Mit dem Wahlsieg von Bronisław Komorowski, dem Kandidaten der liberal-konservativen „Bürgerplatt-form‟ (Platforma Obywatelska, PO), über seinen national-konservativen Konkurrenten Jarosław Kaczyński, den Vorsitzenden der größten Oppositionspartei „Recht und Gerechtigkeit‟ (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) ist zunächst einmal das politische Reformprojekt der „IV. Republik‟ ad acta gelegt worden.
1 | Adam Michnik: Polacy wybrali politykę racjonalną i opartą na przekonaniu, że Polska jest dla wszystkich (Die Polen wählten eine rationale Politik auf die Überzeugung gestützt, dass Polen für alle Polen da ist), in: Gazeta Wyborcza vom 05.07.2010, 5. Die Erste Republik war die Adelsrepublik mit der ersten modernen Verfassung in Europa überhaupt vom 3. Mai 1791, die nach der dritten polnischen Teilung durch Preußen, Österreich und Russland aufgelöst wurde. Die Zweite Polnische Republik bezeichnet die Geschichte Polens von 1918 bis 1939 in der Zwischenkriegszeit, wobei es seit dem Putsch Józef Piłsudskis im Mai 1926 eine autoritäre Herrschaft in Polen gab. Als III. Republik wird die Zeit nach der friedlichen Revolution 1989/90 betitelt. Vgl. dazu Stephan Georg Raabe, „Geschichte und ihre Interpretation. Zum Verfassungstag in Polen‟, Länderbericht der Konrad- Adenauer-Stiftung, Auslandsbüro Polen vom 04.05.2010; einen guten Überblick gibt Manfred Alexander, Kleine Geschichte Polens, (Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2005).
POLEN – NAcHBAR, PARTNER UND FREUND IM OSTEN.DIE DEUTScH-POLNIScHEN BEzIEHUNGEN SEIT 1989
Stephan Georg Raabe ist Auslandsmitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Warschau.
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DAS GESPENST DER IV. REPUBLIK
Die grundlegende politische Veränderung Polens hatte mit dem doppelten Sieg der Kaczyńskis bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Herbst 2005 nach vier Jahren postkommunistischer Linksregierung begonnen. Damals wurde zunächst die PiS mit 27 Prozent stärkste Partei im polnischen Parlament. Wenig später gewann Lech Kaczyński mit 54 zu 46 Prozent gegen den lange Zeit führenden PO-Vorsitzenden Donald Tusk die Präsidentschaftswahlen. Schließlich bildete die PiS entgegen der weit verbreiteten Erwartung keine Koalition mit der PO, sondern eine Minder-heitsregierung und später ein formelles Regierungsbündnis mit der linkspopulistischen „Selbstverteidigung‟ und der rechtspopulistischen „Liga der Polnischen Familien‟.
Zwar war schon bald nach 1989 sowohl das Lager der Solidarność wie auch die ehemalige kommunistische Koalition in rivalisierende Gruppen zerfallen, aber der polnischen Gesellschaft blieb doch aufs Ganze gesehen die Teilung bestehen. Sie verlief zwischen denjenigen, die
eher zur Nomenklatura des alten Systems gehört hatten, und jenen, die eher mit der Solidarność gegen dieses System aufbegehrt hatten, und zwischen deren Nachfahren. Dies zeigte sich in den wechselnden Regie-rungsmehrheiten: 1989 bis 1993 regierten zunächst die Solidarność-Kräfte, dann bis
1997 bereits die postkommunistischen Linken, bis 2001 wieder das Wahlbündnis Solidarność unter Premier Jerzy Buzek, welches erneut von einer linken Mehrheit abgelöst wurde, die schließlich 2005 wiederum durch eine Mehrheit der beiden aus der Solidarność-Bewegung hervorgegangen, erst 2001 gegründeten Parteien PO und PiS ersetzt wurde. Einen zweiten ähnlichen politischen Strang bildeten die Präsidentschaften: Zunächst sicherte der Militärdiktator General Wojciech Jaruzelski 1989 die Macht der Kommu-nisten. Erst Ende 1990 folgte der Solidarność-Führer Lech Wałęsa als erster frei gewählter Staatspräsident. Doch bereits 1995 gewann der mit 41 Jahren noch junge Post-kommunist Aleksander Kwaśniewski, der ähnlich wie Egon Krenz in der DDR in kommunistischer Zeit für die Jugend zuständig war und von Jaruzelski gefördert wurde, gegen
Die grundlegende politische Verände-rung Polens hatte mit dem doppelten Sieg der Kaczyńskis bei den Parla-ments- und Präsidentschaftswahlen im Herbst 2005 nach vier Jahren postkommunistischer Linksregierung begonnen.
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Die „IV. Republik‟ der Kaczyński-Brüder spaltete ab 2005 das Land. In einem wahren Gerechtigkeitsfuror sollte Polen gereinigt werden von postkommunistischen Hinterlassen-schaften und Korruption.
den Solidarność-Heroen Wałęsa die Präsidentschaftswahl. Erst nach zwei Amtszeiten wurde Kwaśniewski Ende 2005 im Zuge der damaligen konservativen Wende von Lech Kaczyński abgelöst.
Die „IV. Republik‟ der Kaczyński-Brüder spaltete ab 2005 das Land in neuer Weise. In einem wahren Gerechtigkeitsfuror sollte Polen gereinigt werden von postkommunistischen Hinterlassenschaften und Korruption. Mit den Kommu-nisten und Wendeprofiteuren wollte man jetzt endlich genauso abrechnen, wie mit den ehemaligen Besatzern, den Deutschen und Russen. Mit dem NATO-Beitritt im März 1999 und dem EU-Beitritt im Mai 2004 hatte Polen sein außenpolitisches Hauptziel, die vollständige Integration in die militärischen und politischen Institutionen des Westens, erreicht. Nun galt es, die polnischen Interessen unüber-hörbar zur Geltung zu bringen. Nation und nationale Soli-darität, starker Staat, Recht und Ordnung, Souveränität, Geschichtspolitik, regionale Führung in Mitteleuropa und gleiche Augenhöhe mit dem westlichen Nachbarn waren nun die Leitworte. Längst überholt geglaubte Gedanken aus der Zwischenkriegszeit von der national-konservativen Endecja Roman Dmowskis, die einen homogenen katholi-schen Ein-Volk-Staat anstrebte, von Polen als Führungsmacht in einem „Dritten Europa‟ zwischen Deutschland und Russland oder von der Politik als Unterscheidung von Freund und Feind in Anlehnung an den katholischen deutschen Staatsrechtlers Carl Schmitt traten wieder hervor. Zwar gab es genügend Anlass für grundlegende Reformen. Aber diese politische Einstellung polarisierte genauso wie der rabiate Stil, mit der die Sanierung (sanacja) und die neuen Ambitionen verwirklicht werden sollten. Die Kaczyńskis verstanden Politik als andauernden Kampf und Konfrontation. Innen-politisch wurde die Antikorruptionsbehörde CBA (Centralne Biuro Antykorupcyjne) zu einem wichtigen Instrument. Politische Gegner, unliebsame Kritiker und selbst Regie-rungsmitglieder wurden bespitzelt und öffentlichkeits-wirksam verhaftet, so wie der entlassene Innenminister Janusz Kaczmarek. Im Fernsehen erschienen regelmäßig wackelige Bilder von maskierten Spezialeinheiten, die die Opfer der „Säuberung‟ abführten. Nach kaum mehr
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Die Kaczyńskis verstanden Politik als andauernden Kampf und Konfronta-tion. Politische Gegner, unliebsame Kritiker und selbst Regierungsmitglie-der wurden bespitzelt und öffentlich-keitswirksam verhaftet.
als einem Jahr, im Sommer 2007, brach schließlich die rechtspopulistische Regierung in abgrundtiefem Misstrauen auseinander.2
Europa- und außenpolitisch manövrierten die Kaczyńskis und die PiS Polen mehr und mehr an den Rand, weil auch
hier die Durchsetzung eigener nationaler Interessen Vorrang hatte vor konstruktiver Kooperation und geduldigem prozessualen Ausgleich. Während der deutschen EU-Rats-präsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 erreichte diese Art von Politik einen Höhe-
punkt in der Auseinandersetzung um die nationale Stim-mengewichtung im Europäischen Rat („Quadratwurzel oder Tod‟). Der Streit konnte nur mit größter Mühe und unter gehörigem politischem Druck in letzter Minute beigelegt werden. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hieß es nachdenklich: Es ist „der Dämon einer anderen, vergangen geglaubten Zeit, dessen giftiger Atem da plötzlich durch Europa streicht‟.3 Die Kaczyńskis und ihre Gefolgschaft begegneten Deutschland mit blankem Misstrauen, was in Deutschland, das nach 1989 als verlässlicher Fürsprecher für Polen aufgetreten war, Unverständnis hervorrief. Neues Hegemoniestreben, Geschichtsfälschung, Missachtung der polnischen Interessen und anderes mehr wurde jetzt dem deutschen Nachbarn vorgeworfen. Da half es nur wenig, dass die etwa zeitgleich mit den Kaczyńskis an die Regie-rung gelangte Bundeskanzlerin Angela Merkel eine inten-sive, gleichwohl rücksichtsvolle Kontaktpflege mit Polens Regierung und Präsidenten betrieb. Verschiedene Faktoren erschwerten oder blockierten sogar ein gedeihliches und partnerschaftliches Miteinander und ließen die politischen Beziehungen erstarren: Der „Steinbach-Komplex‟4, der Streit um das Gedenken an die Vertreibung in Deutsch-land, oder wie man jetzt in Polen wieder „politisch korrekt‟ sagte, an die „Aussiedlung‟, der häufig wiederholte Vorwurf, „die Deutschen‟ stilisierten sich von „Tätern zu Opfern‟, die unsägliche Diskussion um vermeintliche Restitutions-
2 | Vgl. Stephan Georg Raabe, Polen – Politische Chronik 2007. Länderbericht (Konrad-Adenauer-Stiftung, Auslandsbüro Polen vom 28.01.2008).3 | Vgl. ebd.4 | Vgl. Stephan Georg Raabe, Im Antlitz der Geschichte. Tiefere Ursachen und Lösungsansätze des Streits um Erika Steinbach, Länderbericht (KAS, Auslandsbüro Polen vom 25.03.2009).
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Neues Hegemoniestreben, Geschichts-fälschung, Missachtung der polnischen Interessen und anderes mehr wurde jetzt dem deutschen Nachbarn vorge-worfen.
ansprüche einer so genannten „Preußischen Treuhand‟5 und um Entschädigungsforderungen Polens als Reaktion darauf, das an Polen vorbei geplante russisch-deutsche Joint Venture Ostsee-Gaspipeline6, der Streit um den euro-päischen Verfassungsvertrag und den Einfluss in der EU und die Diskussion um die Stationierung von Elementen der US-Raketenabwehr in Polen. Die Kommunikation auf politischer Ebene war gestört, und die Medien multipli-zierten diese Störung.7 Politisch hatte in Polen von Neuem das Misstrauen gegenüber Deutschland die Oberhand gewonnen.8
Der polnische Publizist Adam Krzemiński bemerkte 2006 zu Recht, mit Jarosław Kaczyński regiere „der erste Zornige der IV. Republik‟.9 Denn diese Republik gewann ihre Motivation gerade aus einer Art von „Zorn-Aufladung‟ gegen die „III. Republik‟ und deren Krank-heiten wie Korruption, Ineffizienz und soziale und histo-rische Ungerechtigkeit.10 Sie manifestierte sich alsbald bei den „ehrgeizigen und empörungsstarken Akteuren‟ in einer „Politik der Ungeduld‟11, in der Forderung nach Recht und Ordnung, nach Anerkennung der bisher sozial und
5 | Vgl. Stephan Georg Raabe, „Restitutionsansprüche abgewie- sen. Ursache und Genese eines politischen Konfliktes‟, in: Die Politische Meinung, 11 (2008), 65-69; ders.: „Die Klagen der ‚Preußischen Treuhand‛. Zwischen politischer Hysterie und rechtlichen Fragen‟, in: Die Politische Meinung, 5 (2007) 69-73.6 | Vgl. Stephan Georg Raabe, „Der Streit um die Ostsee-Gas- pipeline. Bedrohung oder notwendiges Versorgungsprojekt?‟, in: KAS Auslandsinformationen 2/2009, 67-94.7 | Vgl. Beata Ociepka, Agnieszka Łada, Jarosław Ćwiek-Karpowicz: „Die Europapolitik Warschaus und Berlins in der deutschen und polnischen Presse.‟ Forschungsbericht hrsg. vom Institut für Öffentliche Angelegenheiten Warschau mit Unterstützung der Konrad-Adenauer-Stiftung, Warschau 2008.8 | Vgl. Stephan Georg Raabe: „Schwierige Nachbarschaft. Aktuelle Entwicklungen und Probleme in den deutsch- polnischen Beziehungen‟, Vortrag vor der Jahrestagung 2007 des Landesverbandes Bayern der Deutschen Vereinigung für Politische Bildung: http://www.kas.de/proj/home/pub/48/1/ year-2008/dokument_id-12727/index.html; ders.: „Poten- zielle Stabilität. Polen nach dem Ende der IV. Republik‟, in: KAS Auslandsinformationen 6/2008, 27-40. 9 | Adam Krzemiński: „Tiefe Risse in der Demokratie‟, in: Internationale Politik 5/2006, 23-29, hier 24.10 | Vgl. Peter Sloterdijk: Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch, Frankfurt am Main 2006, 61-73: Die post- kommunistische Situation, hier 66 f.11 | Sloterdijk, a.a.O. 71 f.
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Die „IV. Republik“ zeigte die Spaltung Polens in den wohlhabenderen Westen und den ärmeren Osten, die Stadt- und die Landbevölkerung, die Gebildeteren und die weniger Gebildeten, die Jün-geren und die Älteren.
historisch hinten Anstehenden, nach sozialer Gerechtig-keit und Durchsetzung der nationalen Interessen. Die „IV. Republik‟, aber auch die jüngste Präsidentenwahl, zeigen die Spaltung Polens geografisch wie soziologisch in den wohlhabenderen Westen und den ärmeren Osten, die Stadt- und die Landbevölkerung, die Gebildeteren und die weniger Gebildeten, die Jüngeren und die Älteren. Diese Spaltung lässt sich bei allen Wahlen seit 2005 deutlich beobachten. Während die einen die eher ausgleichenden Liberalen oder Linken wählen, stimmen die anderen für die Zorn-Fraktionen nationaler oder populistischer Ausprä-gung, wobei rund die Hälfte der Wahlberechtigten gewöhn-lich sowieso der Wahl fernbleibt.12 Aber eine politische Kultur des Zornes schlägt leicht in Hass um und vergiftet die Gesellschaft.
Im Verhältnis zu Deutschland strebt Polen nach Beach-tung, Rücksichtnahme, Anerkennung, Gleichberechtigung, Wertschätzung, eben nach „gleicher Augenhöhe‟ trotz der selbstverständlich vorhandenen und oftmals fast schon
rituell angeführten Asymmetrien, Ungleich-gewichte, des wirtschaftlichen Niveauun-terschiedes zwischen beiden Ländern und ihrer ungleichzeitigen Entwicklung. Hier wirkt sich sozialpsychologisch die Longue durée (Fernand Braudel), die lange Dauer
geschichtlicher Erfahrung eines Landes aus, das sich stolz an die Piastenzeit im Mittelalter und das polnisch-litauische Großreich in der frühen Neuzeit erinnert, Ende des 18. Jahrhunderts jedoch Objekt der Politik der aufstrebenden Teilungsmächte Russland, Preußen und Österreich wurde, für 123 Jahre von der Landkarte verschwand und kulturell unterdrückt wurde. Bereits 21 Jahre nach dem Wiederer-stehen 1918 wurde Polen erneut Opfer seiner großen Nach-barn Deutschland und Sowjetrussland. Es wurde jetzt aber nicht nur geteilt und besetzt, sondern in seiner physischen Existenz bedroht und ausgebeutet. Die deutschen Besatzer demütigten die Polen als „slawische Untermenschen‟. Obgleich sie im Zweiten Weltkrieg aufopferungsvoll auf
12 | Vgl. dazu aktuell die Länderberichte des Auslandbüros Polen der Konrad-Adenauer-Stiftung zu den jüngsten Präsidenten- wahlen, „Bronisław Komorowski vierter Präsident der III. Republik Polens‟ (05.07.2010); „Kopf an Kopf‟ (02.07.2010) und insbesondere „Polen: Nach der Wahl ist vor der Wahl‟ (22.06.2010).
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Die Geschichte prägt den ambivalen-ten Blick auf den deutschen Nachbarn, in dem sich nicht selten vorsichtige Skepsis mit Bewunderung, manchmal aber auch mit Neid und Missgunst paart.
Seiten der Alliierten und im Untergrund kämpften, erhielten die Polen nach dem Kriege aber nicht ihre Freiheit, sondern fielen unter sowjetrussische Herrschaft. Das Land und mit ihm die Bevölkerungen wurden nun auf der Landkarte um 150 Kilometer nach Westen verschoben. Erst 1989/90 ging diese zweifache Nachkriegszeit des Ersten und Zweiten Weltkrieges mit ihren Kämpfen für Polen zu Ende. Erst jetzt konnte sich das Land endlich an den keineswegs leichten Transformations- und Aufholprozess machen und die Lösung der grundle-genden Dilemmata der polnischen Politik angehen.13
Diese Geschichte, die man in Polen bis heute nicht so recht aufarbeiten konnte, prägt die nationale Psyche und ebenso den ambivalenten Blick auf den deutschen Nachbarn, in dem sich nicht selten vorsichtige Skepsis mit Bewunde-rung, manchmal aber auch mit Neid und Missgunst paart, nationaler Stolz mit Minderwertigkeitskomplexen. Es wäre jedoch falsch, die mit der „IV. Republik‟ verbundenen Krisenphänomene in den deutsch-polnischen Beziehungen allein auf die „Zorn-Aufladung‟ unter den Kaczyńskis und damit auf die national-konservative Wende in der polni-schen Politik im Jahre 2005 zurückzuführen. Diese Wende verschärfte nur die seit geraumer Zeit schon vorhandenen Spannungen und Turbulenzen.
DIE GENESE DER BEzIEHUNGEN NAcH 1989
Blicken wir noch einmal zurück: In den Zeiten des Kalten Krieges wurde die deutsch-polnische „Versöhnung‟ zu einem Schlüssel, um die weltanschaulich zementierte politische Teilung zu überwinden. Versöhnung bezieht sich auf gemeinsame Werte, die Menschen und Gesellschaften verbinden. Nicht zufällig waren die Kirchen eine wichtige Quelle dieser Versöhnungsarbeit. Von ihnen kamen die ersten Anstöße für den deutsch-polnischen Dialog.14 Mit der
13 | Vgl. Władysław Bartoszewski, Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Herr- schaft (Bonn: Deutscher Bundestag 28.04.1995) 14 | Vgl. Stephan Georg Raabe, „Die Kirchen als Katalysatoren der Versöhnung‟, in: Elżbieta Opiłowska, Krzysztof Ruchniewicz, Marek Zybura (Hrsg.), ‚Das Friedenszeichen von Kreisau‛ und ‚Der Händedruck von Verdun‛. Wege zur deutsch-polnischen und deutsch-französischen Versöhnung und ihre Symbole im kollektiven Gedächtnis der Gesellschaften (i.A. der Stiftung
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Nicht zufällig waren die Kirchen eine wichtige Quelle der Versöhnungsarbeit. Von ihnen kamen die ersten Anstöße für den deutsch-polnischen Dialog.
politischen Überwindung der europäischen Teilung und der Wiedervereinigung Deutschlands wurde der Versöhnungs-prozess fortgesetzt durch die Beseitigung der Gegensätze und Konflikte, die es auf der politisch-rechtlichen Ebene gab.15
Der Vertrag zwischen dem wiedervereinigten Deutschland und der Republik Polen vom 14. November 1990 bestä-
tigte die zwischen ihnen bestehende Grenze und räumte damit das Hauptproblem in den deutsch-polnischen Beziehungen aus. Der anschließende Vertrag „über gute Nachbar-schaft und freundschaftliche Zusammen-
arbeit‟ vom 17. Juni 1991, dessen 20. Jahrestag 2011 ansteht, legte die Grundlage für die strategische Partner- schaft der kommenden Jahre.16 Auf der Grundlage eines umfangreichen Maßnahmenkataloges, der in dem Vertrag beschrieben wurde, entwickelten sich die deutsch-polni-schen Beziehungen in den neunziger Jahren positiv im Sinne einer „Werte- und Interessengemeinschaft‟. Rechts- staatlichkeit, demokratische Freiheit, soziale Gerechtigkeit in der Marktwirtschaft, Solidarität für Frieden und Entwick-lung waren wichtige gemeinsame Grundwerte. Die Über-windung der Ordnung von Jalta, die Gestaltung einer neuen freiheitlichen Friedensordnung und die euro päische Vereinigung waren zentrale gemeinsame Inte ressen.
Allerdings waren Fragen der Staatsangehörigkeit und Vermögensfragen im Nachbarschaftsvertrag, worauf ein Briefwechsel zum Vertrag hinweist, ausdrücklich ausge-spart worden.17 Wie sich zeigen sollte, blieben die sich aus der Kriegs- und Nachkriegszeit ergebenden Themen
15 | Zum Zusammenhang von Versöhnung und Interessengemein- schaft vgl. Witold Góralski, „The Polish-German Community of Interests. Origins – Achievements – Threats‟ in: ders. (Hrsg.), Poland-Germany 1945-2007. From Confrontation to Cooperation and Partnership in Europe. Studies and Docu- ments. Polish Institute of International Affairs, Warsaw 2007, 309-354, hier 339, 352 f.16 | Auswärtiges Amt und Bundesministerium des Innern in Zusammenarbeit mit der Botschaft der Republik Polen (Hrsg.): Die deutsch-polnischen Verträge vom 14.11.1990 und 17.6.1991 (deutsch/polnisch), Bonn, o.J. (Deutsch- Polnische Verträge). 17 | Deutsch-Polnische Verträge, a.a.O. 70-74, hier 74.
Kreisau, des Willy-Brand-Zentrums der Universität Breslau und der Konrad-Adenauer-Stiftung in Polen), Wrocław 2009, 53-86 (liegt ebenso auf polnisch vor).
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Der Ausspruch des ehemaligen polni-schen Außenministers Krzysztof Sku-biszewski, „Polens Weg nach Europa führt über Deutschland‟, wurde erfolg-reich in praktische Politik umgesetzt.
politisch-gesellschaftlich heiße Eisen. Zwar wurden neural-gische Punkte wie die Vertreibung der Deutschen im Laufe der Zeit keineswegs umgangen, sondern offen und diffe-renziert angesprochen.18 Ein erster Höhepunkt war diesbe-züglich das zweijährige polnische Forschungsprojekt „Der Vertreibungskomplex‟, welches die einstigen Differenzen zwischen deutscher und polnischer Historiographie ad acta zu legen half und zu einer Enttabuisierung und Entideologisierung dieses Themas in Polen beitrug.19 Später legte eine Arbeits-gruppe von Historikern, die von der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit und der Robert Bosch Stiftung gefördert wurde, eine mehrbändige, sowohl in Deutsch wie in Polnisch publizierte Dokumentation aus polnischen Archiven über das Schicksal der Deutschen im polnischen Machtbereich 1945 bis 1950 vor.20 Inwieweit aber diese Aufarbeitung des Vertreibungskomplexes Eingang in das allgemeine öffent-liche und politische Bewusstsein gefunden hat, ist ange-sichts des Streits um dieses Thema in den letzten Jahren fraglich. Ohne Zweifel wurde jedoch der Ausspruch des ehemaligen polnischen Außenministers Krzysztof Skubis-zewski, „Polens Weg nach Europa führt über Deutschland‟, erfolgreich in praktische Politik umgesetzt.21 Deutschlands Unterstützung für Polens EU-Beitritt war ein effektiver Katalysator der deutsch-polnischen Interessengemein-schaft in Bezug auf die europäische Integration.22
Exemplarisch für diese Phase der deutsch-polnischen Beziehungen sind ihr symbolträchtiger Beginn mit der Versöhnungsmesse im niederschlesischen Kreisau am
18 | Vgl. Klaus Bachmann, Jerzy Kranz (Hrsg.), Verlorene Heimat. Die Vertreibungsdebatte in Polen (Bonn, 1998).19 | Vgl. Włodzimierz Borodziej, Artur Hajnicz (Hrsg.), Kompleks wypędzenia (Kraków, 1998).20 | Vgl. Wlodzimierz Borodziej, Hans Lemberg (Hrsg.), Unsere Heimat ist uns ein fremdes Land geworden… Die Deutschen östlich von Oder und Neiße. Dokumente aus polnischen Archiven, Herder Institut Marburg, Bd. 1/2000: Einführung, zentralstaatliche Verordnungen, Wojewodschaft Allenstein (südliches Ostpreußen); Bd. 2/2003: Zentralpolen, Woje- wodschaft Schlesien (Oberschlesien); Bd. 3/2004: Woje- wodschaft Posen, Wojewodschaft Stettin (Hinterpommern); Bd. 4/2004: Wojewodschaft Pomerellen und Danzig (West- preußen), Breslau (Niederschlesien).21 | Vgl. Alexander, Geschichte Polens, a.a.O. 391.22 | Vgl. Góralski, a.a.O. 330 ff., 343.
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Anlässlich des 50. Jahrestages des Warschauer Aufstandes bat Bundes-präsident Roman Herzog die polni-schen Opfer des Krieges um „Verge-bung für das, was ihnen von Deutschen angetan worden ist‟.
12. November 1989 unter Beteiligung der beiden Regie-rungschefs Tadeusz Mazowiecki und Helmut Kohl, die in einer Umarmung den Friedensgruß austauschten, sowie zwei Ansprachen zu historischen Gedenktagen. Anlässlich des 50. Jahrestages des Warschauer Aufstandes am 1. August 1994 sprach Bundespräsident Roman Herzog in Warschau und bat die polnischen Opfer des Krieges um „Vergebung für das, was ihnen von Deutschen angetan worden ist‟.23 Und er führte zustimmend die Sätze des polnischen Essayisten Jan Józef Lipski an: „Wir haben uns daran beteiligt, Millionen Menschen ihrer Heimat zu berauben‟. Nationale Gruppie- rungen und Opferverbände kritisierten Präsident Lech Wałęsa heftig für die Einladung von Herzog, manche Aufstandsvete-ranen blieben der Veranstaltung aus Protest sogar fern.
Etwas später, am 28. April 1995, hielt der polnische Außen-minister Władysław Bartoszewski im Deutschen Bundestag
zum 50. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges eine bedeutende Rede.24 Sie wurde als „die repräsentativste Interpre-tation der polnisch-deutschen Versöhnung, Partnerschaft und Interessengemeinschaft‟ bezeichnet25, vor allem wegen seiner bahn-
brechenden Worte: „Als Volk, das vom Krieg besonders heimgesucht wurde, haben wir die Tragödie der Zwangs-umsiedlungen kennengelernt sowie die damit verbundenen Gewalttaten und Verbrechen. Wir erinnern uns daran, dass davon auch unzählige Menschen der deutschen Bevölke-rung betroffen waren und dass zu den Tätern auch Polen gehörten. Ich möchte es offen aussprechen: Wir beklagen das individuelle Schicksal und die Leiden von unschuldigen Deutschen, die von den Kriegsfolgen betroffen wurden und ihre Heimat verloren haben.‟ Mit Blick auf den Welt-krieg beharrte Bartoszewski aber auf einer klaren Unter-scheidung von Opfern und Tätern und ihren Mitläufern. Das Gedenken und die historische Reflexion müssten
23 | Veröffentlichung des Bundespräsidialamtes, 01.08.1994: http://bundespraesident.de/Reden-und-Interviews/Reden- Roman-Herzog-,11072.12003/Ansprache-von-Bundespraesi dent.htm [05.08.2010]24 | Bartoszewski, Gedenken an das Ende des Zweiten Welt- krieges, a.a.O. 25 | „The most representative interpretation of Polish-German reconciliation, partnership, and community of interests was made on 28 April 1995 in Bonn by Poland’s foreign minister, Władysław Bartoszewski‟: Góralski, a.a.O. 342.
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„Unsere Nachbarschaft wird im hohen Maße darüber entscheiden, ob und wann das geteilte Europa zusammenwachsen wird.‟ (Władysław Bartoszewski)
die deutsch-polnischen Beziehungen stets begleiten. Sie sollten aber nicht das Hauptmotiv dieser Beziehungen sein, sondern den Weg bereiten für die gegenwärtigen und in die Zukunft gerichteten Motivationen. „Unsere Nachbarschaft wird im hohen Maße darüber entscheiden, ob und wann das geteilte Europa zusammenwachsen wird.‟ (Władysław Bartoszewski)
Bartoszewskis Rede war im Vorfeld in Polen allerdings ebenfalls alles andere als unumstritten. Zum einen hatte Staatspräsident Wałęsa eigentlich erwartet, zu den 50-Jahr- Feierlichkeiten des Kriegsendes nach Deutschland einge-laden zu werden. Das dies nicht geschah, rief in Polen das schmerzhafte Gefühl der Zweit-rangigkeit hervor. Während man sich selber ebenso wie Frankreich zu den Alliierten Siegern zählte, rechnete die Regierung Kohl Polen nicht dazu. Vor diesem Hintergrund diente die Einla-dung Bartoszewskis auch dazu, einen diplomatischen Eklat zu vermeiden. Zum anderen hatte man in Polen überwie-gend nicht den Eindruck, sich gegenüber den Deutschen entschuldigen zu müssen. Zwei Drittel der Befragten einer Untersuchung des Meinungsforschungsinstitutes CBOS gaben im Mai 1996 an, es gäbe nichts, wofür die Polen die Deutschen überhaupt um Vergebung bitten müssten. Fast die Hälfte der Befragten wusste überhaupt nicht, dass es eine Vertreibung der Deutschen gegeben hatte.26 Bartoszewski meisterte die schwierige Situation, indem er zwar nicht um Vergebung bat, aber Empathie auch für die Vertriebenen zeigte und eine Mitverantwortung von Polen an den Gewalttaten und Verbrechen im Zusammenhang der Zwangsumsiedlungen eingestand.
26 | Vgl. Markus Mildenberger, „Die deutsch-polnischen Beziehun- gen nach 1990: Eine Werte- und Interessengemeinschaft?‟, in: Wolf-Dieter Eberwein, Basil Kerski (Hrsg.), Deutsch- polnische Beziehungen zehn Jahre nach der Unterzeichnung des Nachbarschaftsvertrages: Eine Werte- und Interessen- gemeinschaft?, Berlin 2001, 28-34, hier 30 f., online unter http://bibliothek.wz-berlin.de/pdf/2001/p01-305.pdf [26.08.2010]. Zum ganzen Vorgang auch Adam Holesch, Verpasster Neuanfang? Deutschland, Polen und die EU, Bonn 2007, 41 f.
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Einige der „heißen Eisen‟ sind noch längst nicht abgekühlt. So lehnte in Polen eine breite Mehrheit eine deut-sche Gedenkstätte vehement ab.
EIN FRüHER WARNRUF: „VERSöHNUNGSKITScH GEHOBENER ART‟
Die Bitte um Vergebung von deutscher Seite für die Kriegs-verbrechen und das Eingeständnis einer Mitverantwortung von polnischer Seite für den „Raub der Heimat‟ vieler Deutscher bildeten zweifellos eine wichtige Grundlage für Verständigung und Versöhnung. Doch bereits wenige Tage nach Herzogs Rede in Warschau warnte der deut-sche Polenkorrespondent Klaus Bachmann nachdrücklich vor einem „Versöhnungskitsch‟ zwischen Deutschen und Polen.27 Nach wie vor vorhandene Vorurteile, Meinungs-verschiedenheiten und Probleme würden nicht dadurch gelöst, dass man sie mit bloßen Gesten, Symbolhand-lungen und Appellen zudecke, sondern dadurch, dass man sie offen ausdiskutiere. Stattdessen jedoch überzeugten sich „germanophile Polen und polenfreundliche Deutsche gegenseitig davon, dass sie einander mögen, meist unter peinlicher Ausklammerung kontroverser Themen. Versöh-nungskitsch gehobener Art.‟ Bachmann befürchtete, dass die Kontroversen, denen Politiker und Intellektuelle jetzt aus dem Weg gingen, später umso heftiger ausbrächen. Die deutsch-polnischen Beziehungen vertrügen auch einen gesunden Streit, vorausgesetzt, er werde ehrlich ausge-tragen.
Bachmann hatte mit seiner Warnung nicht ganz unrecht. Denn wie der lang andauernde und intensive Streit um
das geschichtliche Gedenken an die Vertrei-bungen wenige Jahre später zeigte, sind einige der „heißen Eisen‟ noch längst nicht abgekühlt. So lehnte in Polen keineswegs nur der polnische Staatspräsident Lech
Kaczyński, sondern eine breite Mehrheit in Politik und veröffentlichter Meinung eine deutsche Gedenkstätte an die Vertreibungen vehement ab, weil dies die histori-schen Rollen von Tätern und Opfern angeblich verkehren würde. Gleichzeitig distanzierte sich der Staatspräsident geradewegs von der Sichtweise Lipskis und Bartoszewski und wies darauf hin, dass deren Ansichten von vielen
27 | Klaus Bachmann, „Versöhnungskitsch zwischen Deutschen und Polen‟ in: Transodra 8/9, S. 41-43, gekürzte Fassung in: Die Tageszeitung vom 05.08.1994.
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Während man in Deutschland das Gedenken an die Vertreibungen museal historisieren und sich der zukunft zuwenden wollte, begriff man in Polen die Vorgänge als einen Versuch der Geschichtsrevision.
in Polen eben nicht geteilt würden.28 Damit entzog Lech Kaczyński den deutsch-polnischen Beziehungen in einem sensiblen Bereich die historisch-moralische Grundlage der Verständigung und Versöhnung, die so mühsam seit den sechziger Jahren gelegt worden war. Oder waren es vielleicht doch die Deutschen, die mit ihrem Gedenkpro-jekt den Burgfrieden zwischen den Historien störten? Deutsche und Polen wurden jeden-falls seit Anfang des Jahrzehnts auf eine ganz undiplomatische Weise darauf gestoßen, dass den Erfahrungen des Weltkriegs und der Nachkriegszeit für die gegenseitige kollektive Wahrnehmung in Politik und Medien „eine konstitutive Bedeutung zukommt‟.29 Eine merkwürdige Ungleichzeitigkeit der Entwicklungen griff Platz: Während man in Deutschland das Gedenken an die Vertreibungen museal historisieren, der geschichtlichen Betrachtung übergeben und sich vor allem der Zukunft zuwenden wollte, begriff man in Polen die Vorgänge in Deutschland als einen Versuch der Geschichtsrevision, als politisch gefährlich, da in subtiler Weise das Potsdamer Abkommen von 1945 in Frage gestellt werde, und erwartete von den Deutschen eine erneute Hinwendung zur Geschichte und deren kritische Aufarbeitung. Nach Jahrzehnten inten-siver Geschichtsbefassung in West-Deutschland und der Beschäftigung mit der kommunistischen Vergangenheit in Gesamt-Deutschland nach 1989 war dies für weite Teile der deutschen Politik und Gesellschaft eine anachronisti-sche Erwartung.
GOLDENE JAHRE UND ERSTE KRISENzEIcHEN
In den neunziger Jahren entwickelten sich die deutsch-polnischen Beziehungen auf politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ebene dennoch insgesamt erfolgver-sprechend. Manche bezeichnen sie deshalb sogar als „die ‚goldenen‛ neunziger Jahre‟.30 Aber bereits im Juni 2000 heißt es in einem Strategiepapier der Konrad-Adenauer-
28 | Vgl. dazu die beiden Interview-Auszüge mit Präsident Lech Kaczyński, in: Stefan Troebst (Hrsg.), Vertreibungsdiskurs und europäische Erinnerung (Osnabrück 2006), 245 ff.29 | Dieter Bingen, Krzysztof Ruchniewicz: „Deutschland und Polen‟, in: dies. (Hrsg.): Länderbericht Polen, (Bonn: Bundeszentrale Für politische Bildung, 2009), 649-673, hier 649.30 | Ebd. 654 ff.
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Stiftung, das für einen Neubeginn der deutsch-polnischen Partnerschaft warb, die bilateralen Beziehungen hätten sich seit 1998 deutlich verschlechtert und bräuchten neue Impulse.31 Probleme der Tagespolitik wie die Anpassungs-schwierigkeiten in Vorbereitung auf den EU-Beitritt und vergangenheitsbezogene Streitigkeiten verstellten den Blick auf die strategische Bedeutung der Partnerschaft. Von einer „Entfremdung‟ auf polnischer Seite und „fehlenden gemeinsamen Zukunftsvisionen‟ ist die Rede. Es bestehe dringender Handlungsbedarf, wenn die bilateralen Bezie-hungen sich nicht – zu beiderseitigem Schaden – weiter verschlechtern sollen. Was war geschehen? Als Anlässe für die Entfremdung und Enttäuschung werden in dem Strate-giepapier genannt:
▪ Die Irritationen im Kontext der Bundestagsresolution vom 28. Mai 1998 zur Brückenfunktion von deutschen Vertriebenen und Minderheiten.32 Darin bekräftigte der Deutsche Bundestag den Standpunkt von der Unrecht-mäßigkeit und Völkerrechtswidrigkeit der Vertreibungen und forderte die Bundesregierung auf, sich auch weiterhin „für die legitimen Interessen der Heimatver-triebenen‟ einzusetzen.33
▪ Eine auf polnischer Seite wahrgenommene Abwendung der neuen rot-grünen Bundesregierung von Polen, durch eine neue „Realpolitik‟ und die Betonung deutscher Inte-ressen. ▪ Der Streit um deutsche Kulturgüter in Polen und die zähen Verhandlungen über die Entschädigung von ehemaligen Zwangsarbeitern. 34
31 | Vgl. Roland Freudenstein und Henning Tewes, In die Zukunft investieren: Strategien für einen Neubeginn in der deutsch- polnischen Partnerschaft, Außenstelle Warschau der Konrad- Adenauer-Stiftung, 27.06.2000; dies.: „Stimmungstief zwischen Deutschland und Polen. Für eine Rückkehr zur Interessengemeinschaft‟, in: Internationale Politik 2, 2000, 49-56. 32 | Vgl. Deutscher Bundestag, 13. Wahlperiode, Drucksache 13/10845: Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: „Vertriebene, Aussiedler und deutsche Minderheiten sind eine Brücke zwischen den Deutschen und ihren östlichen Nachbarn‟.33 | Vgl. Góralski, a.a.O. 351; Markus Mildenberger, Funktioniert die ‚Interessengemeinschaft‛? Bilanz eines Jahrzehnts (Berlin: Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik, 09.08.2001), 12 f. http://www.dgap.org/publikationen/view/ 09f3595eceaf11da89fb8d4e2743af4daf4d.html [05.08.2010]34 | Vgl. Holesch, a.a.O. 64 f., 67-70.
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War es im Frühjahr 2003 zu einer weiteren erheblichen Entfremdung im zuge des Irakkrieges gekommen, so setzte sich nunmehr eine ganze Spirale der Irritationen in Gang.
▪ Ängste und Widerstände gegen die EU-Osterweiterung in Polen wie in Deutschland.
Der eigentliche Grund liege aber in einer „strukturellen Asymmetrie‟: „In Polen existiert nach wie vor ein auf historischen Erfahrungen beruhendes latentes Miss-trauen gegenüber Deutschland, in Deutschland ein oft auf Unwissen beruhender Mangel an Interesse gegenüber Polen‟, heißt es in dem Papier der Konrad-Adenauer-Stiftung. Beides verstärke sich gegenseitig. Das deutsche Interesse an der Partnerschaft mit Polen müsse klar artiku-liert und durch den politischen wie wirtschaftlichen Nutzen begründet werden. Empfohlen werden Gesprächskreise zur Europa-, Wirtschafts- und Sicherheitspolitik, bilaterale Sitzungen der Parlamentsausschüsse, eine Vernetzung der Eliten, die Gründung eines Institutes für Deutschland-studien in Polen sowie eine Intensivierung der Koopera-tion in den grenznahen Regionen. Vieles von dem wurde zwischenzeitlich realisiert. Die nachfolgenden politischen Verwerfungen in den Beziehungen konnten dennoch nicht verhindert werden.
EINE SPIRALE DER IRRITATIONEN
Das Titelbild war skandalös. Polens konservatives Nach-richtenmagazin Wprost zeigte Mitte September 2003 auf dem Titelblatt in einer Fotomontage die Vertriebenen-Vorsitzende Erika Steinbach in schwarzer Nazi-Uniform – auf Gerhard Schröder reitend. Darunter stand: „Das deutsche trojanische Pferd‟. Links daneben in großen Lettern: „Die Deutschen sind den Polen eine Billion Dollar für den Zweiten Weltkrieg schuldig.‟ Das Bild stellte den vorläufigen medialen Höhepunkt in einer emotional geführten Debatte dar, den Steinbach mit ihrem Vorschlag ausgelöst hatte, ein „Zentrum gegen Vertreibungen‟ in Berlin einzurichten. War es im Frühjahr 2003 zu einer weiteren erheblichen Entfremdung zwischen Polen und Deutschland wie auch Frankreich im Zuge des Irakkrieges gekommen, den Polen in Partnerschaft mit den USA im Gegensatz zu seinen westlichen Nachbarn unter-stützte, so setzte sich nunmehr eine ganze Spirale der Irritationen in Gang.
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Das „Zentrum gegen Vertreibungen‟ und die gleichzeitig von einer „Preußischen Treuhand‟ vorangetriebenen Resti-tutionsansprüche einzelner Vertriebener führten damals in Polen, wo sich die Konservativen auf die Übernahme der Regierungsverantwortung vorbereiteten, zu stürmischen politischen und medialen Reaktionen. Am 10. September 2004 verabschiedete der Sejm einstimmig eine Resolution zu den „Rechten Polens auf deutsche Kriegsreparationen sowie zu den in Deutschland vorgebrachten unrecht-mäßigen Forderungen gegenüber Polen und polnischen Bürgern‟. Der Beschluss mit seiner Forderung finanzieller Kompensation für die Zerstörungen und die materiellen wie immateriellen Verluste im Zweiten Weltkrieg war ein spektakulärer politischer Akt. Er ignorierte das Faktum, dass über die Kriegsreparationen für Polen schon viel früher entschieden worden war und dass Deutschland keinerlei Besitzansprüche gegenüber Polen stellte. Ein weiteres Paradoxon der Resolution war, dass kurze Zeit vorher Bundeskanzler Gerhard Schröder in einer Rede aus Anlass des 60. Jahrestages des Warschauer Aufstandes in Warschau ausdrücklich erklärt hatte, dass für Restitu-tionsansprüche von Deutschland kein Raum sei, Eigen-tumsfragen im Zusammenhang mit dem Krieg kein Thema mehr für die deutsche und polnische Regierung seien und weder die Bundesregierung noch irgendeine bedeutsame politische Kraft in Deutschland individuelle Eigentumsan-sprüche unterstützten. In Reaktion auf die Sejm-Resolution beauftragten beide Regierungen eine Expertengruppe, die Frage von individuellen Restitutionsansprüchen zu klären. Die beiden Völkerrechtsexperten Jan Barcz und Jochen Frowein kamen zu dem Ergebnis, dass solche Ansprüche rechtlich nicht existieren. Dennoch betrieb die „Preußi-sche Treuhand‟ ihre Sache weiter und Polens nationale Rechte nutzte die Gelegenheit, um in den Beziehungen zu Deutschland im Namen der polnischen Nationalinteressen auf Konfrontationskurs zu gehen. Auf diese Weise wurden die „nicht existenten‟ Rechtsansprüche aus zwei Quellen so lange genährt, bis der Europäische Menschenrechts-gerichtshof endlich am 7. Oktober 2008, gut fünf Jahre später, die Klagen der „Preußischen Treuhand‟ endgültig zurückwies und damit dieses Thema weitgehend ruhte. Ein später Sieg des Rechts über den Populismus.35
35 | Vgl. Góralski, a.a.O. 344-348; Raabe, Restitutionsansprüche, a.a.O.
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Da Westerwelle und die FDP mit Rück-sicht auf Polen eine Berufung Stein-bachs blockierten, verzichtete Stein-bach auf den Beiratssitz. Der Kampf um ihren Kopf war entschieden.
Unterdessen geht der Streit um das „Zentrum gegen Vertreibungen‟ weiter. Zwar hatte die neue liberal-konser-vative Regierung unter Premier Donald Tusk ab November 2007 eine vorsichtige Neubewertung vorgenommen, die zumindest eine skeptische Duldung signalisierte. Aber als es um den Einzug Erika Steinbachs, die dieses Projekt maßgeblich angestoßen hatte, in den Stif-tungsbeirat ging, eskalierte der Streit im Frühjahr 2009 derart, dass sich Bundestags-präsident Norbert Lammert veranlasst sah, in einem offenen Brief in der Süddeutschen Zeitung und der Gazeta Wyborcza für die Bundestagsabgeordnete einzutreten und um Mäßigung in der Auseinandersetzung zu bitten.36 Als der neue Bundesaußenminister Guido Westerwelle am 31. Oktober 2009 seinen ersten Antrittsbesuch in Polen unternahm und von einem Journalisten nach Steinbach gefragt wurde, signalisierte er, dass die FDP diese Frage im Sinne Polens behandeln werde, da es schließlich um einen „Beitrag zur Versöhnung‟ gehe.37 Da Westerwelle und die FDP mit Rücksicht auf Polen eine Berufung Steinbachs in den Beirat hartnäckig blockierten, verzichtete Steinbach schließlich am 12. Februar 2010 endgültig auf den Beiratssitz. Der Kampf um ihren Kopf war entschieden, die „Mission erfüllt‟, wie ein hoher polnischer Regierungsvertreter bemerkte. In Deutschland fühlten sich am Ende die Gegner Stein-bachs genauso erpresst wie ihre Unterstützer. Die polni-sche Regierung begrüßte dagegen die Lösung als gut für die polnisch-deutschen Beziehungen. Doch der über Jahre andauernde Kampf hat Spuren hinterlassen.
Auch in anderen, ungleich gewichtigeren Politikfeldern drehte sich die Spirale der Irritationen im deutsch-polni-schen Verhältnis weiter. War der Irak-Krieg eine Bewäh-rungsprobe für die deutsch-polnischen Beziehungen in
36 | Vgl. Raabe, Antlitz der Geschichte, a.a.O.; ders.: Das gefähr- liche Spiel mit Erika Steinbach, Länderbericht der Konrad- Adenauer-Stiftung, Auslandbüro Polen vom 06.03.2010, http://www.kas.de/proj/home/pub/48/1/year-2009/ dokument_id-15878/index.html [05.08.2010]; der Brief Lammerts ist zugänglich unter: http://www.kas.de/proj/ home/pub/48/1/year-2009/dokument_id-15909/index.html.37 | Vgl. Gerhard Gnauck: „Guido Westerwelle. Deutschlands neuer Außenminister verzückt Polen‟, in: Welt Online, 01.11.2009.
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Ein gutes Beispiel für eine misslun-gene politische wie unternehmerische Kommunikation betrifft die Ostsee-Gaspipeline, die seit April 2010 gebaut wird.
Bezug auf die Sicherheitspolitik und transatlantische Part-nerschaft, so gestaltete sich der Streit um den Europäi-schen Verfassungs- oder später Reformvertrag als Bewäh-rungsprobe für die bilateralen Beziehungen im Bereich der Europapolitik. Beide Proben misslangen. In beiden Fällen kam es zu teils scharfen Konflikten, die wohl nicht nur etwas
mit „einer fatalen Ungleichzeitigkeit außen-politischer Kulturen‟38 in Deutschland und Polen zu tun haben, sondern auch mit politi-schen Positionen und der Unfähigkeit, diese in geregelten Prozeduren zu einem Ausgleich
zu bringen. Ein weiterer, sich seit 2005 hinziehender Streit und gleichzeitig ein gutes Beispiel für eine misslungene politische wie unternehmerische Kommunikation betrifft die Ostsee-Gaspipeline, die seit April 2010 gebaut wird und Russland mit Deutschland und Westeuropa verbinden soll. Das Projekt, das der polnische Verteidigungsminister Radek Sikorski 2006 mit dem Hitler-Stalin-Pakt verglich39, bleibt in den Augen der polnischen Politik und Medien ein Beispiel für die Missachtung polnischer Interessen. In Nachhutgefechten wird jetzt noch über die Tiefe der Verle-gung vor dem Stettiner Haff gestritten.
PARADIGMENWEcHSEL VON DER INTERESSEN-GEMEINScHAFT zUR KONFLIKTNAcHBARScHAFT
Die genannten Konfliktfelder waren allesamt schon da, als die Brüder Kaczyński ab Herbst 2005 die Politik in Polen zu bestimmen begannen. Mit ihnen kam der Teil des Solidarność-Lagers, der sich seit 1989 mehr oder weniger als Verlierer sah, an die politische Macht. Beim innenpolitischen Kulturkampf, der dem politischen Wechsel vorausgegangen war, „ging es nicht zuletzt um den Stel-lenwert der Geschichte und der Geschichtspolitik sowohl für die Innenpolitik wie auch für die Außenpolitik‟40. Jetzt kam es über die bisherigen Divergenzen hinaus zu einer grundlegenden Änderung der polnischen Politik gegenüber Deutschland. Waren die Kaczyńskis schon früher als Poli-tiker aufgefallen, „die die deutsch-polnischen Gegensätze hochspielten, um aus ihnen politisch Kapital zu schlagen‟, so distanzierten sie sich jetzt ausdrücklich vom Prozess der
38 | Bingen, Ruchniewicz, a.a.O. 661.39 | Vgl. Polnischer Minister, „Pipeline-Vertrag wie Hitler-Stalin- Pakt‟, in: Fokus Online, 30.04.2006.40 | Bingen, Ruchniewicz, a.a.O. 666.
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Die führenden Politiker nutzten bald sämtliche Konfliktfelder, um auf Kon-frontationskurs zu gehen. Da konnte schon eine unsinnige Satire in der taz eine Krise hervorrufen.
Versöhnung und sahen in Deutschland mehr einen Rivalen als einen Partner. Dabei schreckten sie nicht davor zurück, diejenigen, die seit vielen Jahren die Verständigung mit Deutschland gesucht hatten, als „Vaterlandsverräter‟ zu brandmarken.41 Das gipfelte etwa in dem absurden Vorwurf an den hochangesehenen zweimaligen Außenminister Polens, Władysław Bartoszewski, eine „Politik auf den Knien gegenüber Deutschland und dem Westen‟ gemacht zu haben. Bartoszeweski konterte diesen Anwurf im Wahl-kampf 2007 mit den Worten, er verbitte sich „kategorisch die heftige Beleidigung Polens durch unkompetente Regie-rungsmitglieder und unkompetente Diplomatie-Trottel‟ (diplomatołki).42
Jarosław Kaczyński hatte bereits in der Parlamentsdebatte zur erwähnten Sejm-Resolution vom 10. September 2004 den neuen Ton vorgegeben, indem er fest-stellte, es gebe eine Phalanx von deutschen Interessen in Polen durch Leute, die als unabhängige Experten oder Kommentatoren aufträten, aber von deutschem Geld lebten. Versöhnung sei ein Ausdruck großer Naivi-tät.43 Eine rapide Verschlechterung der deutsch-polnischen Beziehungen ließ folglich nicht lange auf sich warten. Die führenden Politiker der „IV. Republik‟ und ihre publizisti-schen Unterstützer nutzten bald sämtliche Konfliktfelder, um auf Konfrontationskurs zu gehen. Da konnte schon eine unsinnige Satire in der linken Tageszeitung taz vom 26. Juni 2006, in der der polnische Staatspräsident als „Polens neue Kartoffel‟ lächerlich gemacht werden sollte, eine Krise hervorrufen.44 Die polnische Außenministerin verlangte eine Entschuldigung der deutschen Regierung und der Präsident sagte das kurz darauf geplante Weimarer Gipfeltreffen „wegen Bauchschmerzen‟ ab, was immerhin acht ehemalige Außen minister Polens in einem offenen
41 | Ebd. 665.42 | Vgl. Stephan Georg Raabe: Zur politischen Instrumentali- sierung der Stiftung ‚Polnisch-Deutsche Aussöhnung‛. Die polnische Regierung und ihr Deutschlandbeauftragter nutzen die Stiftung zur Verbreitung ihrer Verschwörungstheorien und deutschlandkritischer Ressentiments. Konrad-Adenauer- Stiftung, Auslandsbüro Polen, 12.10.2007: http://kas.de/ proj/home/pub/48/1/year-2007/dokument_id-12126/ index.html [05.08.2010].43 | Vgl. Góralski, a.a.O. 348 f.44 | Vgl. Stephan Georg Raabe: „Stereotyp na resentymencie (Stereotype Ressentiments)‟, in: Wprost, 30.07.2006, 36-37.
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Brief kritisierten.45 Das „Weimarer Dreieck‟ als Instrument des Dialogs und der Vertrauensbildung, das bereits seit 1995 an Dynamik verloren hatte, konnte in der Krise keine vermittelnde Rolle spielen.46
Aber nicht nur das: Eine Reihe von Beschwerden wurden nun zusätzlich nicht nur von den Medien, sondern auch von der Regierung gegenüber Deutschland vorgebracht. Dazu gehörten:
▪ der Mangel an gleichen Rechten für die in Deutschland lebenden Polen im Vergleich mit der deutschen Minder-heit in Polen; ▪ die Vernachlässigung der polnischen Sprache in Deutsch-land; ▪ eine vermeintliche sprachliche Diskriminierung von polnischen Staatsbürgern und deren Kindern bei Ehe- scheidungen und Umgangsrechten (laut der polnischen Botschaft in Berlin handelte es sich um etwa 30 schwie-rige und acht sehr schwierige Konfliktfälle, was ungefähr 0,08 Prozent der deutsch-polnischen Ehen betraf)47; ▪ die staatliche Unterstützung für Vertriebenen-Organisa-tionen in Deutschland; ▪ die Fälschung der Geschichte durch die Verwendung des Begriffes „polnische Lager‟ oder „Lager in Polen‟ für deutsche Konzentrationslager48.
Dies alles wurde in der innerpolnischen Diskussion begleitet durch den Vorwurf, die polnischen Verhandlungsführer der Verträge mit Deutschland nach 1989 hätten damals kapituliert und die polnischen Anliegen nicht genügend zur Geltung gebracht, woraus sich die Notwendigkeit einer
45 | Vgl. Gabriele Lesser, „Kaczynsksi Affäre – Die unendliche Kartoffel. Polens Staatsanwaltschaft ermittelt noch immer in Sachen taz-Satire – ohne Rechtshilfe aus Deutschland‟, in: taz.de, 28.06.2007: http://taz.de/?id=medien&art=1304& id=497&cHash=5a01a8f4a6 [05.08.2010].46 | Zur Rolle des Weimarer Dreiecks vgl. Holesch, a.a.O.47 | Vgl. Thomas Urban, „Diabeł tkwi w liczbach. Problemy między Polską a Niemcami mają charakter bardziej emocjonalny, niż polityczny. (Der Teufel steckt in den Zahlen. Die Probleme zwischen Polen und Deutschen haben mehr einen emotionalen Charakter als einen politischen.)‟, in: Polityka.pl, 16.07.2010: http://www.polityka.pl/swiat/tygodnikforum/1507334,1, polska-niemcy-nowi-prezydenci-czy-nowy-poczatek.read [05.08.2010].48 | Vgl. ebd.
27KAS AUSLANDSINFORMATIONEN9|2010
Letztlich scheiterte der Versuch der Kaczyńskis durch ein populistisch ins-trumentalisiertes Misstrauen gegen-über Deutschland innen- wie außen-politisch Kapital zu schlagen.
Neuverhandlung des Nachbarschaftsvertrages und einer Vereinbarung über eine Null-Option in Bezug auf jegliche Besitzansprüche ergebe.49 Aus der einstmaligen „Werte- und Interessengemeinschaft‟ war endgültig eine „Konflikt-Nachbarschaft‟ geworden.
Die Konflikt-Nachbarschaft ließ die öffentliche Meinung nicht unbeeinflusst, was sich in Umfragen niederschlug. Die Sympathie der Polen für die Deutschen sank von 44
Prozent im Jahr 2005 auf 29 Prozent im Jahr 2008 deut-lich. In Deutschland gingen die Sympathiewerte von 31 Prozent im Jahr 2000 auf 23 Prozent 2008 ebenfalls zurück. Erstaunlich ist die trotz allen Streits weiter positive Einschätzung des deutsch-polnischen Verhältnisses, die darauf verweist, dass Politik nicht alles bei der Bewertung ist.
Angesichts der historisch bedingten Streitfälle ist folgendes Ergebnis ebenfalls bemerkenswert: Immer noch eine Mehrheit von 51 Prozent (2005: 62 Prozent) äußerte 2008 in Polen, dass der Zweite Weltkrieg nur noch einen geringen oder gar keinen Einfluss mehr auf die bilateralen Beziehungen habe. Gegen-teiliger Auffassung waren 43 Prozent (2005: 34 Prozent). In Deutschland räumte eben-falls eine Mehrheit von 55 Prozent dem Krieg nur einen geringen oder keinen Einfluss auf die deutsch-polnischen Verhältnisse ein (2006: 51 Prozent). Anderer Auffassung waren 34 Prozent (2006: 36 Prozent).50 Dazu passt, dass der Versuch der Kaczyńskis, vor dem Hinter-grund der belastenden Geschichte durch ein populistisch instrumentalisiertes Misstrauen gegenüber Deutschland innen- wie außenpolitisch Kapital zu schlagen, letztendlich scheiterte.
49 | Vgl. Góralski, a.a.O. 350 f. Zu den Kaczyńskis und Deutschland insgesamt, Holesch, a.a.O. 114-120.50 | Vgl. Agnieszka Fronczyk, „Deutschland und die europäische Politik in den Augen der Polen‟ sowie Agnieszka Łada, „Polen und die europäische Politik in den Augen der Deutschen‟ in: Lena Kolarska-Bobińska und Agnieszka Łada (Hrsg.), Polen und Deutsche. Ihr gegenseitiges Bild und ihre Vision von Europa (realisiert in Kooperation mit der Konrad-Adenauer- Stiftung), Warschau 2009, 144-187 sowie 188-217. Agnieszka Łada, „Wächst mit der Vertrautheit die Abneigung‟, in: Dialog 88 (2009) 58-61.
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„Die zeit politischer Gesten wie zwi-schen Kohl und Mazowiecki ist zu Ende. Die zeit der Interessenpolitik ist gekommen.‟ (Donald Tusk)
POLITIScHER WEcHSEL 2007: BERUHIGUNG, ENTSPANNUNG, INTERESSENPOLITIK
Als bei den vorgezogenen Parlamentswahlen am 21. Oktober 2007 die „IV. Republik‟ der Kaczyńskis abge-wählt wurde und die PO als Sieger feststand51, war die Erleichterung über den politischen Wechsel in Polen, aber auch in Berlin groß. Die PO stellte jetzt mit Donald Tusk den Premierminister in einer Koalitionsregierung mit der
Polnischen Volkspartei (PSL) unter Führung von Waldemar Pawlak, der Vizepremier und Wirtschaftsminister wurde. Beide Parteien sind Mitglied in der Europäischen Volkspartei (Christdemokraten), was das Gespräch und
die Zusammenarbeit erleichterte. Die Einbindung in den Parteiendialog mit den Christdemokraten in Deutschland hatte zudem bereits früher für gute Kontakte gesorgt. Es war nicht zu erwarten, dass mit dem politischen Umschwung in Polen die Probleme zwischen Polen und Deutschland, die in den vergangenen Jahren deutlich zu Tage getreten waren, nun vom Tisch verschwinden würden. Doch konnte man nun auf einen konstruktiven Umgang mit den Schwie-rigkeiten und auf eine erneute Annäherung hoffen.
Tatsächlich gelang es der Regierung Tusk schon bald, die Politik im Inneren wie nach außen in ruhigere Bahnen zu lenken. In seiner ersten Regierungserklärung am 23. November 2007 versprach der neue Premier die Unter-zeichnung des EU-Reformvertrags, bessere Beziehungen zu den Nachbarn, die Wiederbelebung des „Weimarer Dreiecks‟, den schnellen Beitritt zur Euro-Zone und ein „polnisches Wirtschaftswunder‟ durch mehr Wettbewerb. Vor allem aber machte er Vertrauen und Normalität zum Motto seiner Regierung. In der Gazeta Wyborcza vom 5. November 2007 erklärte Tusk allerdings auf die Frage, ob er nun mit Angela Merkel eine neue Etappe der polnisch-deutschen Versöhnung beginnen werde: „Die Zeit politischer Gesten wie zwischen Kohl und Mazowiecki ist zu Ende. Die Zeit der Interessenpolitik ist gekommen, und wir müssen unsere Interessen verteidigen.‟ In einem
51 | Die PO schaffte in kurzer Zeit einen rasanten Aufstieg. Kurz nach ihrer Gründung bei den Wahlen 2001 begann sie mit 12,68 Prozent, 2005 wurde sie zweitstärkste Kraft mit 24,11 Prozent hinter der PiS, 2007 mit 41,51 Prozent stärkste Partei.
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Die Atmosphäre hat sich wesent-lich verbessert. Es bleibt die unter-schiedliche politische Bewertung der „Vertreibung‟ bzw. „Aussiedlung‟.
Essay für das deutsch-polnische Magazin Dialog, der an seine Rede vom 29. März 2007 in Berlin während einer Tagung der Konrad-Adenauer-Stiftung zum 85. Geburtstag von Władysław Bartoszewski anknüpfte, führte er unter der Überschrift „Die Notwendigkeit einer neuen Sprache zwischen Polen und Deutschland‟ aus: „Man kann den Stil oder die Effizienz der Außenpolitik ändern, aber die Probleme in den gegenseitigen Beziehungen verschwinden nicht nur deswegen, weil sich die Regierungsmannschaft in Warschau oder Berlin ändert. Deshalb werden wir auch Entscheidungen nicht akzeptieren, die eine fundierte histo-rische Bilanz in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg in Zweifel ziehen. […] Genauso wichtig ist es, dass die Pläne zur Realisierung des ‚Zentrums gegen Vertreibungen‛ endgültig aufgegeben werden. In all diesen Fragen werde ich Befür-worter unserer Haltung suchen.‟52 Kritisch sprach er auch die Erdgaspipeline durch die Ostsee an, die „das Monopol Russlands bei der Lieferung von Energierohstoffen‟ stärke.
Neu war diese Sprache keineswegs. Allerdings wurde eine Begriffsverschiebung weg vom „Interessenkampf‟ und hin zur „Interessenpolitik‟ deutlich. Von nun an tauschte man sich eher vertrauensvoll und freundschaftlich über die alten Kontroversen aus, man führte gute, offene Gespräche, beschwor die Bedeutung guter Beziehungen, die auf Wahrheit aufzu-bauen hätten, was an den unterschiedlichen Standpunkten und historischen Wahrheitsbe-griffen allerdings nichts änderte.53 Von einer tatsächlichen Neubegründung einer Partnerschaft und einer konkreten politischen Zusammenarbeit in Bereichen gemeinsamen Interesses erfuhr man nach außen hin wenig. Aber wenn es auch kaum zu gemeinsamen Lösungen in den Hauptstreit-punkten kam, so wurden diese doch nach und nach durch
52 | Donald Tusk: „Was für eine Union braucht Polen, was für eine Gemeinschaft braucht Europa?‟, in: Dialog 80/81 (2007/2008) 10-13, hier 13.53 | Vgl. exemplarisch den Bericht zum Antrittsbesuch von Tusk in Berlin von Nina Mareen Spranz: „Die neue Vertrautheit von Deutschland und Polen‟, in: Welt online, 11.12.2007: http://welt.de/politik/article1451139/Die_neue_Vertrautheit_ von_Deutschland_und_Polen.html [05.08.2010]; und den Beitrag zum Treffen von Merkel und Tusk in Hamburg: „Merkel und Tusk schweigen zu Steinbach‟, in: Welt online, 27.02.2009: http://welt.de/politik/article3289352/Merkel-und- Tusk-schweigen-zu-Streit-um-Steinbach.html [05.08.2010].
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Deutschland ist der wichtigste strate-gische Wirtschaftspartner Polens, und Polen ist für Deutschland der größte Handelspartner im östlichen Europa.
den Gang der Dinge obsolet oder an den Rand gedrängt, so dass sie nicht mehr direkt im Wege standen. Die Regie-rungen Merkel und Tusk haben in den letzten zweieinhalb Jahren einiges dafür getan, dass nach den Zerwürfnissen der vorangegangen Jahre wieder ein meist gutnachbar-schaftlicher Alltag eingekehrt ist. Die Atmosphäre hat sich wesentlich verbessert. Normalität herrscht – wie der Fall Steinbach zeigt – jedoch noch nicht.54 Es bleibt die unterschiedliche politische Bewertung der „Vertreibung‟ (deutsch) bzw. „Aussiedlung‟ (polnisch).
PLÄDOyER FüR EINE PARTNERScHAFTLIcHE zUSAMMENARBEIT
Angesichts der Differenzen klingt es vielleicht noch immer ein bisschen wie ein Rufen im Walde, wenn nun allent-
halben bei offiziellen Anlässen von beiden Seiten deklariert wird, die Probleme seien so gut wie alle ausgeräumt, die Beziehungen so gut wie nie in der langen wechselhaften Geschichte von Deutschen und Polen, „aus
der ‚Interessengemeinschaft‛ sei ‚Partnerschaft‛ geworden, aus dem Vertrauensvorschuss gegenseitiges Vertrauen‟.55 Dieses diplomatische Pathos weckt hohe Erwartungen, die dann auch im täglichen politischen Handeln erfüllt werden müssen. Es kann eine ernsthafte Diskussion in Deutsch-land nicht ersetzen, die die Brüche und Enttäuschungen, die unerfüllten Wünsche und vor allem die Ursachen der
54 | Vgl. Kazimierz Wóycicki, Waldemar Czachur: „Polen im Gespräch mit Deutschland. Zur Spezifik des Dialogs und seinen europäischen Herausforderungen. Mit Vorworten von Gesine Schwan, Heinrich Oberreuter‟, Wrocław, 2009, 16: „Man hatte normale Beziehungen gewollt, doch es stellte sich heraus, dass die Beziehungen normal letztlich nicht sind.‟ In Polnisch ist das Buch ohne deutsche Kommentare unter dem Titel „Jak rozmawiać z Niemcami. O trudnościach dialogu polsko-niemieckiego i jego europejskim wyzwaniu‟ (Wie ist mit den Deutschen zu sprechen. Über die Schwierig- keiten des polnisch-deutschen Dialoges.) erschienen.55 | Rede von Bundesaußenminister Guido Westerwelle beim 14. Deutsch-Polnischen Forum Deutsch-polnische Partner- schaft für Europa in Warschau, 24.06.2010: http://auswaertiges-amt.de/diplo/de/Infoservice/Presse/ Reden/2010/100624-BM-Dt-Pol-Forum.html [05.08.2010]; vgl. auch den Bericht von Gerhard Gnauck zum Antritts- besuch von Guido Westerwelle in Warschau: „Deutschlands neuer Außenminister verzückt Polen‟, in: Welt online, 01.11.2009.
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Das deutsch-polnische Verhältnis kann heute wieder als ein „Raum der Hoff-nung‟ definiert werden, den es in der politischen Praxis allerdings auszufül-len gilt.
Probleme ernst nimmt.56 Zu kurz gegriffen wäre, die Ursache für die Spirale der Irritationen der letzten Jahre vor allem oder ausschließlich bei den politischen Provokateuren und Populisten und den sie verstärkenden Medien festzumachen, wobei dann einerseits in Polen auf die Nationalkonservativen und in Deutschland auf die Vertriebenenorganisati-onen gezeigt wird57, oder aber einseitig das mangelnde Verständnis der Deutschen, ihre Missachtung und Ignoranz und ihren fehlenden Respekt gegenüber Polen und das zu zurückhaltende Auftreten Polens für die Misere Verantwortlich zu machen.58
Andererseits sollen und dürfen die Schwierigkeiten und Probleme nicht die Potenziale und Chancen verdecken. Die Ergebnisse der politischen und wirtschaftlichen Transfor-mation in Polen sind eindeutig positiv und angesichts der Probleme, die zu überwinden waren, ein bemerkenswerter Erfolg. Deutschland ist der wichtigste strategische Wirt-schaftspartner Polens, und Polen ist für Deutschland der größte Handelspartner im östlichen Europa vor Tschechien und auch vor Russland. Aus dem Blickwinkel der Wirt-schaft sehen die Beziehungen folglich viel positiver aus.59
56 | Wóycicki, Czachur, a.a.O. 60. Die Autoren meinen, solche Reden von deutschen Politikern seien „nur für den Export bestimmt‟, wogegen es in Deutschland selber an einer Diskussion über das Verhältnis zu Polen fehle. In wichtigen Reden spreche man zwar von Partnerschaft, unternehme aber nichts Konkretes (66).57 | Diese Tendenz ist im Beitrag von Góralski, a.a.O. zu bemerken.58 | Diese Tendenz findet man im Buch von Wóycicki, Czachur, a.a.O. 137 f.: Traurig sei, „dass die deutsche Seite oftmals erst dann bereit ist, sich mit dem auseinanderzusetzen, was die polnische Seite sagt wenn es zu ernsten Spannungen kommt. Wesentlich besser wäre es, wenn die deutsche Seite lernen würde, Polen schon dann zu verstehen, wenn diese selbstironisch von ihren Schwächen sprechen. Hierauf muss sich die polnische Seite jedoch früher vorbereiten und in potenziellen Konfliktsituationen deutlicher werden. […] Missachten und Ignorieren [eine deutsche Spezialität] bzw. Ängste [eine polnische Spezialität] und Komplexe [hier hat jede Seite ihre eigenen] führen nur zu Missverständnissen.‟ Zur „Asymmetrie des Respekts‟ ebd. 52-68, 75-84.59 | Vgl. Jóyef Olsyzński: „Aktueller Stand der deutsch-polnischen Wirtschaftsbeziehungen‟, in: Witold Małachowski (Red.), Deutschland – Polen im vereinigten Europa und ihre ökono- mische Verantwortung, Warschau, 2006, 39-43; Statistisches Bundesamt: Außenhandel. Rangfolge der Handelspartner im Außenhandel der Bundesrepublik Deutschland 2009, Wiesbaden 2010.
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Vielleicht kann aus einer pragmatischen Kooperation später eine strategische Partnerschaft entstehen. Ebenso kann eine Multilateralisierung der zusam-menarbeit nützlich sein.
So kann das deutsch-polnische Verhältnis heute wieder als ein „Raum der Hoffnung‟ definiert werden, den es in der politischen Praxis allerdings auszufüllen gilt etwa durch die Kooperation im Rahmen des Weimarer Dreiecks und der EU, der transatlantischen Sicherheitspolitik, der Russland- und Ostpolitik, aber auch in der wirtschaftlichen, kultu-rellen und zivilgesellschaftlichen Zusammenarbeit und auf allen Feldern, die schon der Nachbarschafts- und Freund-schaftsvertrag von 1991 angesprochen hat. „Die Europä-ische Union, die wirtschaftliche Zusammenarbeit und die Intensivierung der zwischenmenschlichen Kontakte – all dies bildet einen stabilen Rahmen für die deutsch-polni-schen Beziehungen.‟60
Das bilaterale Verhältnis von Deutschland und Polen hat in den letzten 20 Jahren verschiedene Wandlungen erlebt: von einer „Werte- und Interessengemeinschaft‟ über verschiedene Interessenkonflikte zu einer „Konflikt-
Nachbarschaft‟ und schließlich hin zu einer dualen „Interessenpolitik‟. Deutschland und Polen haben nichts desto trotz als unmit-telbare Nachbarn und wegen ihrer geogra-fischen Lage, Geschichte und Größe eine
wichtige Bedeutung für die Gestaltung europäischer Politik. Aber die beiden Länder sind nicht der Nabel der Welt, sie sind eingebettet in ein Netzwerk internationaler Bezüge und Partnerschaften wie der transatlantischen mit den USA, der Kooperations-Partnerschaft mit Frankreich, der Modernisierungspartnerschaft mit Russland, der östlichen Partnerschaft der EU sowie einer von Deutschland ange-strebten privilegierten Partnerschaft mit der Türkei oder einer strategischen Partnerschaft mit China. Angesichts dessen wird deutlich, dass eine konkrete Zusammenarbeit mit Blick auf gemeinsame Ziele und Schlüsselprobleme zwischen Deutschland und Polen einem Konzept ausein-anderstrebender Interessenpole, die in einem schwierigen Kompromissprozess zum Ausgleich zu bringen sind, allemal vorzuziehen ist.61 Die bewusste Betonung von Interessenun-terschieden und ständige Forderungen führen unweigerlich
60 | Wóycicki, Czachur, a.a.O. 132.61 | Bingen, Ruchniewicz, a.a.O. 668 ff. Die Autoren vertreten unter Bezug auf den polnischen Politikanalytiker Piotr Buras ein solches Polaritätskonzept, in dem die divergierenden deutschen und polnischen Pole in der „Interessengemein- schaft in Europa‟ jeweils zum Ausgleich zu bringen seien.
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zu einer Distanzierung und Entfremdung. Von daher kann das Politikkonzept der Polarität nur ein Notnagel sein, aber kein erstrebenswertes Ziel. Es geht vielmehr um die Über-windung der divergierenden Polaritäten durch Zusammen-arbeit, um die Schaffung von Feldern der Kooperation durch die konstruktive Beseitigung oder Neutralisierung von Konflikten. Vielleicht kann aus solch einer pragmatischen Kooperation später eine strategische Partnerschaft wieder entstehen.62 Dafür können neue Formen und Methoden des Krisenmanagements und möglichst breit gestreute direkte Kontakte unter Einschluss gerade auch der kriti-schen Akteure hilfreich sein. Es ist an der Zeit, „mutiger und offener miteinander zu reden‟.63 Ebenso kann eine Multilateralisierung des Dialoges und der Zusammenarbeit nützlich sein, um die bilaterale Fixierung zu überwinden. In diesem Sinne zitierte Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Rede in der Warschauer Universität am 16. März 2007 Johannes Paul II, der sagte: „Es war Gottes Wille, der Deutsche und Polen zu Nachbarn gemacht hat. Aus diesem Grunde ist es unsere gemeinsame Aufgabe und Verantwor-tung, in Einigkeit zu leben.‟64 Und der polnische Premier Donald Tusk gab dazu bei der Verleihung des Karlspreises in Aachen am 13. Mai 2010 die passende Losung: „Europa als Norm, Gemeinschaft als Regel, Freiheit und Solidarität als Grundsatz. Das sind unsere Wegweiser.‟65
62 | Vgl. Kai-Olaf Lang: „Pragmatische Kooperation statt strategi- sche Partnerschaft. Zu Stand und Perspektiven der deutsch- polnischen Beziehungen‟, in: SWP-Aktuell 48, Oktober 2004; Stephan Georg Raabe: „Eine neue Agenda ist nötig. Die deutsch-polnischen Beziehungen nach dem politischen Wechsel in Polen‟, in: Euro Journal. Pro Management 1/2008, 32-34 (polnisch erschienen im Europakalender der Polnischen Robert Schuman Stiftung 1/2008): http://kas.de/proj/home/ pub/48/1/year-2008/dokument_id-12938/index.html [05.08.2010]; „Jutta Frasch: Dynamisierung der deutsch- polnischen Beziehungen. Vorschläge für eine Vertiefung der bilateralen Zusammenarbeit‟, in: SWP-Aktuell 34, Juli 2009.63 | Wóycicki, Czachur, a.a.O. 16. Die Autoren entwerfen drei Szenarien für die deutsch-polnischen Beziehungen: einen „verdeckten Antagonismus‟, eine „Zusammenarbeit auf Distanz‟ und eine „pragmatische Zusammenarbeit‟.64 | Zitiert nach Góralski, a.a.O. 354.65 | Donald Tusk: Dankesrede nach der Verleihung des Karls- preises am 13.05.2010, in: Adalbertusforum. Zeitschrift für ostmitteleuropäische Begegnung 6 (2010) 14-17, hier 17.
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Die Beziehungen DeutschlanDs zu tschechien unD Der slowakei
Hubert Gehring / Tomislav Delinić / Andrea Zeller
Die Grenze zur Tschechischen Republik ist mit einer Länge von 811 Kilometern die zweitlängste Außengrenze Deutsch-lands. Sie trennte 40 Jahre lang die Bundesrepublik und das Land, das damals die Tschechoslowakei war, nicht nur räumlich, sondern vor allem politisch, kulturell, wirtschaft-lich und ideologisch. Seitdem sind Tschechien und die Slowakei eigene Wege gegangen. Die Beziehungen beider Länder zu Deutschland haben sich indessen positiv ent- wickelt und besitzen in einigen Bereichen noch Potential.
1. Die Beziehungen zur tschechischen repuBlik
40 Jahre der kommunistischen Herrschaft stellten ledig-lich einen kurzen Abschnitt in den Deutsch-Tschechischen Beziehungen dar, die bereits vor über 1000 Jahren ihren Ursprung fanden. Obwohl Deutschland mit der Tsche-chischen Republik traditionell eng verflochten ist, wurde die gemeinsame Geschichte oftmals getrennt erlebt und getrennt gelebt. Mit der „Samtenen Revolution‟ 1989 ist ein weiteres Kapitel der gemeinsamen Beziehungen aufge-schlagen worden. Nach Jahrzehnten der Trennung hatten Deutschland und Tschechien wieder eines gemeinsam: Demokratie, Freiheit, Marktwirtschaft und vor allem den Drang, Frieden und Wohlstand in Europa zu stabilisieren. Symbolisch dafür soll Prag stehen, im Spätherbst 1989 Hauptstadt der Tschechoslowakei.
Dr. Hubert Gehring ist Auslandsmitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung, zuständig für Tschechien und die Slowakei.
Tomislav Delinić ist für die Konrad-Adenauer-Stiftung in Prag tätig.
Andrea Zeller war von März bis Juli im Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung in der Slowakei tätig.
Bewährte partnerschaften Mit potential
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JuBelschreie aM 30. septeMBer 1989 künDigen neue zeitrechnung an
Prag spielt in der Geschichte der deutschen Einigung eine ganz besondere Rolle. Ab August 1989 flohen Tausende DDR-Bürger in die Botschaft der BRD in Prag. Am 30. September wurde den Flüchtlingen die mögliche Ausreise in die BRD angekündigt. Aber auch danach und selbst nach der Schließung der Grenze von der DDR zur Tschechoslowakei sammelten sich weitere DDR-Flüchtlinge an, denen abermals durch Sonderverhand-lungen die Ausreise ermöglicht wurde. Am 3. November 1989, also sechs Tage vor der innerdeutschen Grenzöffnung, wurde eine direkte Ausreise über die tschechoslowakisch-deutsche Grenze von nun an auch ohne Sondergenehmigung möglich. Die Grenze nach Westen war für die Flüchtlinge nun faktisch offen. Diese Öffnung des Eisernen Vorhangs ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur deutschen Einheit, da sie prak-tisch auch die Grenzöffnung der DDR erzwang. Somit hat die Tschechoslowakei einen nicht unbedeutenden Anteil am weiteren Verlauf der Geschichte und der Wiederverei-nigung Deutschlands. Symbolisch bleibt Prag dabei nicht zuletzt wegen des Ringens des damaligen Außenministers Hans-Dietrich Genscher und Rudolf Seiters, damals Chef des Bundeskanzleramts, in Erinnerung – und das nicht nur den Deutschen. Viele Prager erinnerten sich anlässlich des 20-jährigen Jubiläums der Ereignisse an die überall stehen und liegen gelassenen „Trabis‟, die das Stadtbild prägten. Und als der Jubel der DDR-Bürger von der Prager Kleinseite hinüber ins Stadtzentrum hallte, wurde vielen klar, dass ein neues Kapitel der deutsch-tschechischen Beziehungen aufgeschlagen wurde.
Verträge Bringen aB 1992 annäherung
Noch aber war Tschechien Teil der nun demokratischen tschechoslowakischen Föderation. Der Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik über gute Nach- barschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit am 27. Februar 1992 war dann ein erster Schritt der konkreten Verständigung der Nachbarländer nach dem
als der Jubel der DDr-Bürger von der prager kleinseite hinüber ins stadt-zentrum hallte, wurde vielen klar, dass ein neues kapitel der deutsch-tsche-chischen Beziehungen aufgeschlagen wurde.
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Die Deutsch-tschechische erklärung über die gegenseitigen Beziehungen und deren künftige entwicklung war danach der erste Versuch der aufar-beitung der Vergangenheit.
Zusammenbruch des Ostblocks. Das Dokument bildet eine Art Grundlagenvertrag, in dem eine breite Palette nach-barschaftlicher Fragen angesprochen wird, allerdings keine konkreten Aussagen zur Vergangenheit gemacht werden. Die territoriale Integrität und Feststellung der Grenzen werden erwähnt und 1994 durch einen Grenzvertrag ergänzt. Zwei Probleme der Vergangenheit, die weiterhin unangetastet bleiben, sind die Entschädigung der Opfer des Nationalsozialismus und die Frage der Vertreibungen. Der Vertrag von 1992 wird deshalb von Kommentatoren als ungenau und ohne greifbare Folgen bewertet, so dass 1997 schließlich noch eine ergänzende Erklärung unter-schrieben wird.
Die Deutsch-Tschechische Erklärung über die gegensei-tigen Beziehungen und deren künftige Entwicklung war danach der erste Versuch der Aufarbeitung der Vergangen-heit. Gerade weil dieses Mal auch Vergangenheitsthemen angesprochen wurden, ist das Dokument für Tschechien und Deutschland von wichtiger symbolischer Bedeutung. Nach langen beidseitigen Verhandlungen unterzeichneten Vertreter beider Länder am 21. Januar 1997 das wegwei-sende Dokument. Auf tschechischer Seite waren einige Akteure beteiligt, die heute führend in Politik und Gesell-schaft tätig sind, darunter der heutige Staatspräsident Vacláv Klaus, der ehemalige Europaminister Alexandr Vondrá und der heutige Botschafter Tschechiens in Berlin, Rudolf Jindrák.
Die Feststellung, dass beide Länder die „Beziehungen nicht mit aus der Vergangenheit herrührenden politischen und rechtlichen Fragen belasten werden‟, war ein wich-tiger Schritt für eine gegenseitige Annäherung und die Entkrampfung der Beziehungen.
Kritikern ging die Erklärung gerade in den Punkten Aufarbeitung der Vergangenheit nicht weit genug. Gerade einige Vertreter der Sudetendeutschen sehen in der Erklä-
rung nach wie vor eine verpasste Chance. Doch ange-sichts der großen Spannungen in der Vergangenheit und der Wichtigkeit symbolischen Aufeinanderzugehens ist die Deutsch-Tschechische Erklärung nach Auffassung vieler Experten aus heutiger Sicht ein wegweisendes Element der
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Durch die institutionalisierung der nachbarschaftlichen zusammenarbeit in form des Deutsch-tschechischen zukunftsfonds und des Deutsch-tsche-chischen gesprächsforums wurden plattformen für kooperation und Dialog geschaffen.
gegenseitigen Beziehungen. Durch die Institutionalisierung der nachbarschaftlichen Zusammenarbeit in Form des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds und des Deutsch-Tschechischen Gesprächsforums wurden in der Erklärung Plattformen für Kooperation und Dialog geschaffen, die eine konstruktive Debatte ermöglichen.
nachBarschaft in Der praxis
Der Deutsch-Tschechische Zukunftsfonds wurde Ende 1997 als zwischenstaatliche Institution gegründet und hat die Form eines Stiftungsfonds, der finanziell von der tschechi-schen und deutschen Regierung anteilig unterstützt wird. Er soll auf vielfältige Weise die Verständigung zwischen Deutschen und Tschechen fördern.
Jährlich erreichen den Zukunftsfonds etwa 600 Projektan-träge, die mit unterschiedlichen Beträgen entweder in Euro oder Kronen gefördert werden. Insgesamt steht ein jährliches Budget von 75 Millionen Kronen (etwa drei Millionen Euro) für die Unterstützung zur Verfügung. Die Projekte stammen aus ganz verschiedenen Bereichen. Beispielsweise ist für 2010 ein Musikfestival „Mitte Europa‟ länderübergreifend in Bayern, Böhmen und Sachsen geplant. Des Weiteren gibt es in Kooperation mit der Organisation Tandem ein Jugendbil-dungsprogramm mit Praktika in Deutschland und Tsche-chien für Jugendliche, die keinen Ausbildungsplatz erhalten haben. Auch Stipendien für Studierende mit Bezug zu deutsch-tschechischen Beziehungen sind vorgesehen. Daneben werden zahlreiche kleine Projekte gefördert.
Seit seiner Entstehung 1998 wurden mehr als 5000 deutsch-tschechische Projekte mit insgesamt über 36 Milli-onen Euro vom Zukunftsfonds gefördert. Tschechien und Deutschland beschlossen im Jahr 2007, den Zukunftsfonds noch weitere zehn Jahre fortzuführen.
Das Deutsch-Tschechische Gesprächsforum ist ebenfalls als Folge der Erklärung über die gegenseitigen Bezie-hungen und deren künftige Entwicklung Ende des Jahres 1997 entstanden. Finanziert wird das Gesprächsforum aus den Mitteln des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds,
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2009 übernahm tschechien erstmals die eu-ratspräsidentschaft. Der zeit-punkt war heikel: Die Verfassungs-krise drohte die eu in einen institutio-nellen konflikt zu stürzen.
die wiederum von den beiden Regierungen zur Verfügung gestellt werden. Es wurde zunächst mit einem 20-köpfigen Beirat, der zu gleichen Teilen von der deutschen und tsche-chischen Regierung ernannt wurde, ausgestattet und hat die Aufgabe, regelmäßige Treffen und eine jährlich statt-findende Konferenz zu organisieren. Seit 2004 hat sich die Form insofern gewandelt, als zudem je ein Vorsitzender von beiden Regierungen benannt wird. Relevante Themen der deutsch-tschechischen Beziehungen, aber auch solche mit Bezug zu den beiden Nachbarländern im Rahmen der Euro-päischen Union sollen hier diskutiert werden.
eu-MitglieDschaft 2004 – chance für enge kooperation
Europa ist eine weitere Dimension für die Intensivierung der nachbarschaftlichen Beziehungen. Tschechien trat 2004 der EU bei und schloss damit einen langen Weg der Asso-ziierung und Anpassung ab, bei dem das Land auch von Deutschland unterstützt wurde. Waren die neunziger Jahre geprägt von Anfangswirren im nun demokratischen und marktwirtschaftlich orientierten Tschechien, entwickelte sich das Land schnell zum Vorreiter von Reformpolitik und wirtschaftlichem Aufschwung innerhalb der Beitrittskandi-daten zur EU in Mittel- und Osteuropa. Wenige Jahre nach
dem Beitritt übernahm Tschechien am 1. Januar 2009 erstmals die EU-Ratspräsident-schaft. Die Bundesregierung, angeführt von Bundeskanzlerin Angela Merkel, sicherte dem Land ihre volle Unterstützung zu. Der Zeit-punkt der Ratspräsidentschaft war heikel:
Die Verfassungskrise drohte die EU in einen institutionellen Konflikt zu stürzen, denn sowohl Irland als auch Tsche-chien zeigten sich sehr skeptisch im Hinblick auf die Ratifi-zierung des Lissabonner Vertrags. Die russisch-ukrainische Gaskrise erzwang Diskussionen um die europäische Ener-giesicherheit. Der neu aufgeflammte Gaza-Konflikt machte eine geschlossene Außenpolitik notwendig. Nicht zuletzt war die globale Finanzkrise eine elementare Bedrohung für die europäischen Staaten. Darüber hinaus war Tschechien mit internen Problemen konfrontiert. Der tschechische Präsident Václav Klaus äußerte sich immer wieder kritisch zur EU und blockierte mit der Verweigerung seiner Unter-schrift die Ratifizierung des Lissabonner Vertrags. Zudem
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„für tschechien ist es besser, die deutsche kanzlerin zu küssen, als den russischen Bären zu umarmen.‟ (Mirek topolánek)
wurde die Regierung von Mirek Topolánek, der den Vorsitz des Rates der Europäischen Union während der tschechi-schen Ratspräsidentschaft innehatte, infolge eines Miss-trauensvotums im März 2009 gestürzt. Topolánek blieb bis Mai interimistisch im Amt, danach übernahm Jan Fischer mit einer Expertenregierung die Regierungsgeschäfte und somit auch die Ratspräsidentschaft.
Trotz der Probleme und turbulenten Ereignisse konnte die Ratspräsidentschaft auf Erfolge verweisen. Die Beratungen der G20 und der Europäischen Finanz- und Regierungschefs zur Finanzkrise wurden weitergeführt. Zudem wurde die Östliche Partnerschaft der EU, ein Assoziierungs-abkommen mit Armenien, Aserbaidschan, Georgien, der Republik Moldau, der Ukraine und Belarus bei einem Gipfeltreffen in Prag ins Leben gerufen. Gerade an diesem Projekt zur Stabilisierung der östlichen euro-päischen Nachbarn sowie der Kaukasus-Region hatte auch Deutschland ein starkes Interesse. Für Tschechien ist es eine erneute Möglichkeit, sich als zugehörig zum Westen und zur EU und unabhängig von Russland zu profilieren. Topolánek provozierte bereits zu Beginn der EU-Ratspräsidentschaft: „Für Tschechien ist es besser, die deutsche Kanzlerin zu küssen, als den russischen Bären zu umarmen‟, und machte somit die Orientierung an Deutsch-land noch einmal deutlich. Reihenweise zeigten sich vorma-lige Europa-skeptische und Deutschland-kritische Politiker in Tschechien zunehmend pragmatischer und lobten die Rückendeckung für ihr Land seitens Angela Merkel – und das gerade in Zeiten, als die eigene Regierung fiel und aus anderen EU-Ländern lautstark Kritik an Tschechien und der tschechischen Ratspräsidentschaft geübt wurde.
Durch solche symbolische Unterstützung, durch die fort-schreitende Integration der Tschechischen Republik in die EU und durch die nachbarschaftliche Kooperation mit Deutschland haben sich gute wechselseitige Beziehungen entwickelt. Die Zusammenarbeit findet inzwischen in diver- sen Themenbereichen, von Umwelt über Lebensmittelver-ordnungen bis zur Energiefrage, statt und knapp fünf Jahre nach Tschechiens EU-Beitritt gibt es auch erste gemeinsame Projekte im Rahmen der EU. Nachdem dafür nun alle for- malen Voraussetzungen geschaffen sind, gilt es, die Koopera- tion auf EU-Ebene weiter zu stärken.
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Die tschechische krone ist zwar gesund, doch mancher investor überlegt, sein geld eher im euroland slowakei anzulegen.
tschechien als wirtschaftspartner für DeutschlanD auf gleicher augenhöhe Mit Japan
Dass hier gemeinsame Interessen vorhanden sind, zeigt die enorme wirtschaftliche Verflechtung der Bundesrepu-blik und Tschechiens. Die Wirtschaftsbeziehungen beider Länder sind in der Tat als exzellent zu bezeichnen. Seit Jahren bewegt sich der Handelsaustausch zwischen Deutschland und der Tschechischen Republik im Rahmen zwischen 35 bis 50 Milliarden Euro, das ist zum Teil mehr als Deutschland im Handel mit Japan oder Lateinamerika umsetzt. Deutschland gilt als der größte und wichtigste Handelspartner Tschechiens. Die Deutsch-Tschechische Industrie- und Handelskammer (DTIHK) sieht durchaus noch weiteres Potential. Dennoch dürften neue Investoren aus Deutschland aufgrund eines enormen Fachkräfteman-gels in Tschechien schwer zu finden sein.
Die Tschechische Republik zeigt gerade in der aktuellen Wirtschaftskrise, dass sie nicht zu den Wackelkandidaten in Mittel- und Osteuropa gehört, eine stabile Finanzpolitik
führt und längst kein reines Niedriglohnland mehr ist. Nicht zuletzt aufgrund der langen Maschinenbautradition, der Rohstoffe sowie der geografischen Lage im Herzen Europas entwickelte sich das Land zu einem hoch-
technologischen Entwicklungsstandort. Umso wichtiger ist es deshalb für Tschechien, auch weiterhin für ausländische Investoren attraktiv zu bleiben.
Will die Tschechische Republik auch weiterhin mit hervor-ragenden Wirtschaftszahlen glänzen, muss die Regie-rung dringend benötigte Reformen einleiten und auch die Einführung des in der Wirtschaft massiv geforderten Euro ernsthaft diskutieren. Zum jetzigen Zeitpunkt ist die Einheitswährung zunächst auf die lange Bank verschoben.
Obwohl die ehemalige Teilrepublik Slowakei bereits zum 1. Januar 2009 die europäische Einheitswährung eingeführt hat, nannte der scheidende Zentralbankchef Zdeněk Tůma das Jahr 2019 als realistisches Szenario für Tschechien.
Das verärgert vor allem die Wirtschaft. Die tschechische Krone ist im Vergleich zu anderen Währungen in der Region
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unzählige deutsch-tschechische initi-ativen wurden auf den weg gebracht, um die gemeinsame zukunft zu gestal-ten. obwohl derartige Basis-arbeit von enormer Bedeutung ist, findet sie nur selten erwähnung in politik und Medien.
zwar gesund, doch die starken Wechselkursschwankungen machen Tschechien auch für deutsche Investoren immer unattraktiver. In Zeiten, in denen Transportwege effi-zient überwunden werden können, überlegt so mancher Investor, sein Geld lieber im Euroland Slowakei anzulegen anstatt Tschechien als Standort zu wählen. Das bekommt die tschechische Wirtschaft immer deutlicher zu spüren und sollte die neue tschechische Regierung zu einer ernsthaften Diskussion über den Euro motivieren. Für die deutsch-tschechische Wirtschaftskooperation wäre das ein wegweisender Schritt, die bereits sehr intensiven Handels-beziehungen in Zukunft zu festigen und weiter auszubauen.
DeutschlanD unD tschechien – zwei gesellschaften koMMen sich näher
Doch die beeindruckenden Wirtschaftszahlen sind nicht alles, was die Nachbarschaft Deutschlands und der Tsche-chischen Republik ausmacht. Neben den bereits erwähnten Projekten Zukunftsfonds und Gesprächsforum wurden während der letzten 18 Jahre unzählige deutsch-tschechische Initiativen auf den Weg gebracht, um die gemeinsame Zukunft zu gestalten und die Schatten der Vergan-genheit aufzuarbeiten. Neben der Deutsch-Tschechischen Historikerkommission wurden unzählige Städtepartnerschaften ins Leben gerufen. Zudem entstanden binationale Kooperationen auf Vereinsebene, bei Verbänden und Nicht-Regierungsorgani-sationen (NGO) sowie ein reger Schüler- und Studentenaus-tausch. Sogar an Kindergärten in der Grenzregion werden inzwischen Austauschprogramme durchgeführt, um bereits den Kleinsten die Angst vor dem „fremden‟ Nachbarn zu nehmen. Besonders in den Grenzregionen gibt es dafür Musterprojekte der Zusammenarbeit. Ein Beispiel für eine Schule in Deutschland ist das Friedrich-Schiller-Gymna-sium in Pirna, wo ein binationaler-bilingualer Bildungs-gang angeboten wird. Kooperation von Kindergärten in Tschechien und Deutschland gibt es unter anderem über das Projekt „Von klein auf – Odmalička‟. Auf studenti-scher Ebene bietet die Gemeinschaft für studentischen Austausch in Mittel- und Osteuropa (GFPS) e.V. Stipendia-tenprogramme für Sprachkurse und Studienaufenthalte in beiden Ländern an. Weitere herausragende Beispiele für
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die lebendige zivilgesellschaftliche Kooperation zwischen deutschen und tschechischen Akteuren sind die Brücke/Most-Stiftung, Antikomplex, das Prager Literaturhaus, das deutsch-tschechische Jugendforum, die Ackermann-Gemeinde, das Collegium Bohemicum und Vereinigungen der Sudetendeutschen. All diese Organisationen bemühen sich auf ihre Weise, in den Feldern Kultur, Geschichte und Begegnung gegenseitige Achtung und Völkerverständi-gung zu fördern. Obwohl eine derartige Basis-Arbeit von enormer Bedeutung für die gemeinsame Zukunft ist, findet sie leider nur selten Erwähnung in Politik und Medien. Doch gerade diese Arbeit ist es, welche die Deutsch-Tschechi-schen Beziehungen zu etwas Besonderem macht.
In den letzten Jahren hat sich der Kontakt zwischen tsche-chischen und deutschen Initiativen verstärkt, insbesondere der direkte Kontakt ohne den Umweg über Parlamente oder Regierungen. Die Zusammenarbeit ist dezentrali-siert, entpolitisiert und von den staatlichen Hierarchien unabhängiger geworden. Besonders in den „Euregionen‟, die grenzübergreifend in Tschechien, Sachsen und Bayern liegen, gibt es eine gute Zusammenarbeit. Ein ganz prak-tisches Beispiel für die bayrisch-tschechische Kooperation sind die gemeinsamen Grenzkontrollen tschechischer und bayrischer Beamter, die auch vor der Aufnahme in den Schengenraum schon stattfanden, beispielsweise am Grenzpunkt Furth im Wald / Domažlice.
ist Die Mauer noch in Den köpfen?
Trotz der Vielzahl an beidseitigen Projekten wird das gegenseitige Bild des Nachbarn in den breiten Gesell-schaften aber nach wie vor auch noch von Desinteresse oder Vorurteilen geprägt. In Deutschland mangelt es oft an Neugier, sich mit den östlichen Nachbarn eingehend zu beschäftigen. Für Deutschland erscheint Tschechien als kleines Land ohne ernsthafte Probleme – und ohne ernst-hafte politische Schnittpunkte. Die Tschechen werden so in ihrem Selbstbild, aus einem kleinen Land ohne große europapolitische Bedeutung zu stammen, teilweise bestä-tigt. Dabei ist wenigen bewusst, dass die tschechische Bevölkerung größer ist als z. B. die österreichische und die Landesfläche doppelt so groß wie die niederländische. Aus tschechischer Sicht wiederum wird das Deutschlandbild
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eine politische annäherung hat statt-gefunden, ist aber hinter den Möglich-keiten geblieben, und heute gibt es nur wenige deutsche und tschechische politiker, die sich intensiv mit dem jeweiligen nachbarn beschäftigen.
bisher eng mit der Vergangenheit verknüpft. Die bekannten Stereotype über Deutsche sind natürlich vorhanden, aber seit dem EU-Beitritt wird die Wahrnehmung mehr und mehr von den realen nachbarschaftlichen Kontakten geprägt.
Doch gerade in der Normalisierung liegt auch eine Gefahr. Je weniger aufsehenerregende Nachrichten es aus dem Nachbarland gibt, desto geringer fällt in Prag das Interesse an Deutschland aus. Eine politische Annä-herung hat stattgefunden, ist aber leider hinter den Möglichkeiten geblieben, und heute gibt es nur wenige deutsche und tschechische Politiker, die sich intensiv mit dem jeweiligen Nachbarn beschäftigen. Die heutige Annäherung ist nicht mehr in den Parlamenten zu suchen, sondern im NGO-Sektor und im Kulturbereich, wo Austauschforen, Jugend- und Kulturprojekte den Prozess weiter vorantreiben. Eine normale Nachbarschaftspolitik, die auch in wenig aufregenden Zeiten aufrechterhalten wird, wie beispielsweise die deutsch-polnische oder deutsch-französische, muss erst noch erlernt und erlebt werden.
In der deutschen Bevölkerung gibt es zwei verschiedene Varianten der Wahrnehmung Tschechiens – eine differen-zierte Sicht, wie sie vor allem in den unmittelbar angren-zenden Bundesländern Bayern und Sachsen zu finden ist, und ein undifferenzierteres Klischee der Tschechischen Republik als ehemaliger Ostblockstaat. Während beson-ders bei der älteren Bevölkerung noch eine Mauer in den Köpfen zu sein scheint, die Deutschland und Tschechien trennt, sind es vor allem junge Leute, die die europäischen Grenzen problemlos überwinden. Die Jugendlichen heute sind in die Situation offener Grenzen und Reisefreiheit hineingewachsen. Viele Studierende nutzen Austauschpro-gramme wie Erasmus, um in einem anderen Land zu leben und zu lernen. Im Studienjahr 2008/2009 kamen so 349 deutsche Studenten nach Tschechien und 873 tschechische nach Deutschland. Nur 1,4 Prozent der deutschen, aber ganze 16 Prozent der tschechischen Erasmus-Studenten wählen also das jeweilige Nachbarland.
Die Mobilität wird vermutlich in Zukunft weiter steigen, wenn schnelle, günstige Verbindungen das Reisen über die
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Grenze vereinfachen und eine Generation heranwächst, für die offene Grenzen und internationale Vernetzung eine Selbstverständlichkeit sind. Durch Aufarbeitung der Geschichte und bilaterale Projekte kann Vertrauen wachsen und Vorurteile können abgebaut werden. So kann die Grundlage für ein gesellschaftliches Annähern gelegt werden. Die Mauer in manchen Köpfen wird dann langsam, aber stetig schwinden.
Die europäische union als zukunftschance für Die Deutsch-tschechische kooperation
Europa ist das Stichwort, wenn es um die Zukunft einer engeren, intensiveren Zusammenarbeit Deutschlands und Tschechiens auf politischer Ebene geht. Mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009 wurden für die institutionelle Zusammenarbeit im Europäischen Parlament und im Rat neue, effizientere Abstimmungsverfahren verabschiedet. Das Europäische Parlament soll nun in vielen Entscheidungsprozessen stärker beteiligt werden und daher nach dem so genannten Mitentscheidungsverfahren dem Rat gleichberechtigt abstimmen können. Im Rat werden künftig weitere Poli-
tikbereiche nicht mehr die Einstimmigkeit aller 27 Mitgliedstaaten erfordern, sondern bereits durch eine qualifizierte Mehrheit (ab 2014 nach dem Prinzip der doppelten Mehrheit von Mitgliedstaaten und Bevölke-rung) zur Beschlussfassung führen. Für die
tschechische Europapolitik bedeutet dies eine zunehmende Bedeutung der parlamentarischen Fraktionsbildung und die wachsende Notwendigkeit von Verbündeten unter den Mitgliedstaaten. Ein einfaches Veto wird in Zukunft nicht ausreichen, um nationale Anliegen auf europäischer Ebene zur Geltung zu bringen. Eine inhaltliche Schärfung des europapolitischen Profils könnte daher neue Formen der Kooperation eröffnen und zudem tatsächliche europäische Interessen der Tschechischen Republik aufzeigen.
Schnittpunkte für eine mögliche Kooperation mit Deutsch-land sind z. B. im Bereich der Energie, Forschung und Inno-vation, Binnenmarkt sowie bei Fragen der Menschenrechte durchaus vorhanden. Eine Verbesserung der Kooperation auf dem Energiesektor ist dringend erforderlich, da diese
eine Verbesserung der kooperation auf dem energiesektor ist dringend erforderlich. Die tschechische repu-blik fühlte sich durch die ostseepipe-line von Deutschland und russland hintergangen.
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Die tschechische regierung betont stets die Bedeutung technologischer neuerungen für das land. gemein-samen forschungsprojekten dürfte nichts im wege stehen.
Thematik bislang, vor allem aufgrund des von Gerhard Schröder und Vladimir Putin geschlossenen Abkommens zum Bau der Ostseepipeline, wohl eher eine Belastung der Deutsch-Tschechischen Beziehungen darstellt. Die Tsche-chische Republik fühlte sich durch die Vereinbarung, Gas über den Meeresgrund in die Bundesrepublik zu beför-dern, von Deutschland und Russland hintergangen. Eine Meinung, die im Übrigen in nahezu allen mittelosteuropä-ischen Ländern vertreten wurde. Deshalb scheint es umso wichtiger, dass die EU unter deutscher Beteiligung mit der Tschechischen Republik einen gemeinsamen Weg zur Ener-giesicherung erarbeitet.
Tschechien gilt gemeinhin als innovativer Standort für tech-nologische Entwicklungen, was nicht zuletzt die Automo-bilindustrie in Tschechien beweist, die welt-weit große Erfolge feiert. Aus diesem Grund könnten beispielsweise deutsch-tschechische Forschungs- und Entwicklungskooperationen auf dem Energiesektor ein möglicher Weg zu neuen Kooperationen sein. Die tschechische Regierung betont stets die große Bedeutung technologi-scher Neuerungen für das Land. Demnach dürfte gemein-samen Forschungsprojekten auf Hightech-Sektoren, z. B. dem Wachstumsmarkt der regenerativen Energien, kaum etwas im Wege stehen. Zwar ist der tschechische Staatsprä-sident Klaus ein vehementer Kritiker der Thesen rund um die Globale Erwärmung, doch dürfte er Maßnahmen nicht abgeneigt sein, welche die energiepolitische Unabhängig-keit des Landes fördern und zugleich steigende Einnahmen im Staatshaushalt versprechen, zumal dies den Ruf des Landes als hochtechnologischer Innovationsstandort weiter stärken dürfte.
Sowohl Tschechien als auch Deutschland verfügen tradi-tionell über hervorragende Wissenschaftler und Forscher-teams, von deren Zusammenarbeit beide Länder nach-haltig profitieren können, nicht nur auf dem Energiesektor. Engere Schulterschlüsse zwischen beiden Ländern könnten auch in anderen Bereichen des öffentlichen Lebens erfolgen, um noch effizienter arbeiten zu können. Auf dem Automobilsektor wird diese Symbiose bereits seit einigen Jahren eindrucksvoll umgesetzt und vorgelebt.
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themenbezogen auf partnersuche zu gehen, sollte für die tschechische regierung nach der langwierigen, theo- retischen lissabon-grundsatzdebatte nun die Devise sein.
Die Zusammenarbeit der Nachbarländer Deutschland und Tschechien auf der politischen Bühne Europas könnte in den nächsten Jahren im Bereich der Menschenrechte intensiviert werden. Der Kampf um deren Achtung hat in Tschechien, das lange von totalitären Regimes regiert wurde, eine lange Tradition. Hinzu kommt, dass die EU gerade Themen wie die Einhaltung der Menschenrechte und humanitäre Hilfe oftmals zu wenig behandelt.
Um solche Erfolgsgeschichten auch in anderen Bereichen, und gerade innerhalb der Europäischen Union, realistisch zu machen, sollte die neue tschechische Regierung die eigene Positionierung in Europa strategisch reiflich über-legen. Bisher war Tschechien in europapolitischer Hinsicht nicht sonderlich aktiv und konstruktiv. Inzwischen sind mehr als fünf Jahre seit dem EU-Beitritt vergangen und
eine entsprechende Expertise für eigene europapolitische Initiativen sollte aufgebaut sein. Eigene Vorschläge, klare Stellung-nahmen und das Präsentieren von möglichen Schnittmengen für die europäischen Partner,
insbesondere die Bundesrepublik, sind entscheidende Eckpunkte, damit das „Pakete schnüren‟ auch mit dem bisher zurückhaltenden Partner Tschechien vonstatten gehen kann. Themenbezogen auf Partnersuche zu gehen, sollte für die tschechische Regierung nach der langwie-rigen, theoretischen Lissabon-Grundsatzdebatte nun die Devise sein. Gerade die Kooperation mit den Nachbarn, mit den Partnern in der eigenen Region sollte für Tschechien und Deutschland in der nahen Zukunft Priorität haben. Hier herrschen ähnliche Interessen, hier sind kulturell bedingte Schnittpunkte in Lebens- und Denkweise. In wirtschaftli-cher Hinsicht haben Deutschland und Tschechien bereits Großes erreicht. In den genannten Themenbereichen Umwelt, Forschung und Bildung wären ebenso Möglich-keiten für gemeinsame Positionen in der EU vorhanden.
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Die „normalisierung des Verhältnisses‟, also die gegenseitige wahrnehmung als partner auf gleicher augenhöhe hat auch eine gewisse „De-emotiona-lisierung‟ der Beziehungen mit sich gebracht.
fazit unD ausBlick nach Den parlaMentswahlen VoM Mai 2010
„Noch nie waren die Beziehungen zwischen Deutschland und Tschechien so gut wie heute.‟ Dies ist ein Satz, der sehr häufig im Zusammenhang mit der gegenseitigen Nachbarschaft genannt wird. Und in der Tat ist diese Aussage in jeder Hinsicht korrekt. Die Beziehungen beider Länder waren trotz vieler Schatten aus der Vergangenheit noch nie so gut wie heute: Gemeinsame Verträge haben den Status und die Beziehungen beider Länder auf eine rechtliche Ebene gebracht. Viele Organisationen, Projekte und Akteure tragen tagtäglich einen weiteren Teil zum Zusammenwachsen beider Länder bei, weit weg von Fragen der Vergangenheit oder der Politik. Die Jugend drückt in wegweisenden Gemeinschaftsprojekten in den Grenzregionen gemeinsam die Schulbank und lernt die jeweilige Sprache des Nachbarn – und das kostet ange-sichts der bekannten Schwierigkeit der tschechischen und auch der deutschen Sprache viel Kraft und Konzen-tration. Die wirtschaftliche Verflechtung hat innerhalb von zwanzig Jahren Dimensionen erreicht, die mancher westliche Partner der Bundesrepublik in fünf Jahrzehnten nicht aufbauen konnte. Und dabei geht es nicht nur um bekannte Großprojekte in der Automobilindustrie. Es sind die kleinen und mittelständischen Unternehmer, die beiderseits der Grenze dafür sorgen, dass auch in einer globalen Wirtschafts- und Finanzkrise der gegenseitige Handel auf stabilen Füßen steht. Erfolgsgeschichten gibt es also genug!
Doch könnten die Beziehungen noch besser sein. Denn die „Normalisierung des Verhältnisses‟, also die gegenseitige Wahrnehmung als Partner auf gleicher Augenhöhe anstelle von Stereotypen und Vorurteilen, hat auch eine gewisse „De-Emotionalisierung‟ der Beziehungen mit sich gebracht. Das ist zwar gerade in Fragen der Vergangenheitsbewälti-gung zu begrüßen, doch scheint es in der Politik hier und da an Herz und Entschlossenheit zu mangeln, die Partner-schaft auf eine neue, positiv-emotionale Ebene zu heben. Vielleicht könnte der angekündigte Besuch des bayeri-schen Ministerpräsidenten Horst Seehofer im Herbst 2010 unter Teilnahme sudetendeutscher Vertreter ein weiterer
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auswirkungen, zumal negative, auf die bilaterale Deutsch-tschechische nach-barschaftspolitik dürfte das wahler-gebnis vom Mai 2010 nicht haben.
Schritt sein, die Beziehungen auf eine neue Ebene zu heben. Das wäre immerhin der erste offizielle Besuch eines bayerischen Ministerpräsidenten im Nachbarland. Wichtig in diesem Zusammenhang ist auf tschechischer Seite eine stabile Regierung, die sich nicht wie in den letzten Jahren auf eine Mehrheit von nur ein oder zwei Abgeordneten stützt und damit immer der Gefahr von Instabilität und Beeinflussbarkeit unterliegt.
Die Ergebnisse der Wahlen zum Abgeordnetenhaus vom Mai 2010 haben zumindest diesbezüglich für Klarheit gesorgt. Nach großer Instabilität der Vorgängerregierung von Premierminister Mirek Topolánek ist nun mit größerer
Stabilität der neu gewählten Mitte-Rechts-Koalition zu rechnen. Auswirkungen, zumal negative, auf die bilaterale Deutsch-Tsche-chische Nachbarschaftspolitik dürfte das Wahlergebnis vom Mai 2010 nicht haben.
So wurde während der tschechischen Ratspräsidentschaft 2009 gerade von den teilweise eher deutschskeptischen konservativen Kreisen sehr positiv die deutsche Rolle und die Unterstützung Tschechiens durch Bundeskanzlerin Merkel registriert. Sollte jedoch die neue tschechische Regierung eines Tages zuhause auch unter Druck geraten, wie zuletzt die ODS-geführte Regierung Topolánek im Frühjahr 2009, könnte die politische Agendasetzung leiden. Und gerade klarer, politischer Signale bedarf es, um die gemeinsamen deutsch-tschechischen Beziehungen auf dem Weg der Entkrampfung und positiven Gestaltung weiterzuführen.
Die bis heute geschaffenen, funktionierenden Mecha-nismen für eine aktive Gestaltung der Zusammenarbeit beiderseits der Grenzen und die vielfältigen Beispiele für eine fruchtbare Kooperation sollten auch in Zukunft Vorbild genug für die Politik sein, mehr Herzlichkeit, Offenheit und Vertrauen einzubringen, um innerhalb Europas neue, gemeinsame Wege zu beschreiten und dabei alte Vorur-teile beiseite zu lassen. Das gelang Deutschland bereits mit anderen Nachbarn, deren Deutschlandbild zu jener Zeit deutlich belasteter war als es heute in Tschechien der Fall ist. Warum also nicht auch etwas mehr Herz für die deutsch-tschechische Freundschaft zeigen?
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Für geführte Gespräche, Informationen und Anregungen zur Erstellung des Textes über die Beziehungen zur Tschechischen Republik danken die Verfasser:
▪ Msgr. Dominik Duka OP, Erzbischof von Prag ▪ Dr. Lucie Černohousová, Institutsleiterin Prager Literaturhaus, Prag
▪ Dr. Vladimír Handl, Institut für Internationale Beziehungen IIR, Prag
▪ Sebastian Holtgrewe, Leiter Unternehmenskommunikation, Deutsch-Tschechische Industrie- und Handelskammer Prag
▪ Ondřej Matějka, Direktor, Antikomplex Prag ▪ Msgr. Anton Otte, Ackermann Gemeinde Prag ▪ Gerald Schubert, Chefredakteur, Radio Prag, Auslandssender des tschechischen Rundfunks
▪ Erik Tabery, Chefredakteur, Wochenmagazin Respekt, Prag ▪ Dr. Volker Weichsel, Redakteur, Zeitschrift Osteuropa, Berlin
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1993 war Deutschland unter den ers-ten staaten, die die unabhängigkeit der slowakei anerkannten. Bereits am ersten tag der selbständigkeit war die Deutsche Botschaft in Bratislava ver-treten.
2. Die Beziehungen zur slowakei
Auch die deutsch-slowakischen Beziehungen sind freund-lich1, auch sie verlaufen jedoch überwiegend unauffällig und geräuschlos. Dies ist sicherlich auch der Tatsache geschuldet, dass das bilaterale Verhältnis nicht von histori-schen Konflikten überschattet wird. Inwieweit man jedoch, wie der slowakische Historiker und Politologe Pavol Lukáč, vom „Fehlen einer Gemeinschaft‟2 sprechen kann, bleibt zu klären. Seit der Teilung der ehemaligen Tschechischen und
Slowakischen Föderativen Republik (ČSFR) 1993 waren sowohl die Bundesrepublik Deutschland als auch die Slowakische Repu-blik von Anfang an am Aufbau guter Bezie-hungen interessiert. So hob etwa Bundes-präsident Johannes Rau beim Besuch seines
Amtskollegen Rudolf Schuster im Jahre 1999 hervor, dass er die Slowakei noch immer als Nachbarland Deutschlands sieht. Auch Außenminister Guido Westerwelle und der slowakische Außenminister Miroslav Lajčák betonten im Februar 2010, dass Deutschland und die Slowakei zwar über keine geografische Grenze verfügen, sich jedoch als Nachbarn im Geiste sehen.
politische Beziehungen
Im Februar 1992 schlossen die Bundesrepublik Deutsch-land und die ČSFR einen Vertrag „über gute Nachbarschaft und Freundschaftliche Zusammenarbeit‟. Darin wurden unter anderem gegenseitige Gebietsansprüche ausge-schlossen, der bestehende Grenzverlauf bestätigt, die Rechte der jeweiligen Minderheiten definiert sowie die Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung in der ČSFR durch die Bundesrepublik Deutschland zugesagt. 3 Dieser Vertrag, der von der Slowakischen Republik als ein Nach-folgestaat der ČSFR anerkannt wurde, bildet bis heute die Grundlage der deutsch-slowakischen Beziehungen.
1 | Vgl. http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Laender informationen/Slowakei/Bilateral.html [15.06.2010].2 | Pavol Lukáč, Dejiny a zahraničná politika v strednej Európe (Bratislava: 2004), 106.3 | Vgl. Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik über gute Nachbarschaft und Freundschaftliche Zusammen- arbeit, http://www.glasnost.de/db/DokAus/92csfr.html [16.06.2010].
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während der angriff der usa auf den irak im frühjahr 2003 von der deut-schen seite sehr kritisch gesehen wurde, unterstützte die slowakei die amerikanische haltung.
1993 war Deutschland unter den ersten Staaten, die die Unabhängigkeit der Slowakei anerkannten. Bereits am ersten Tag der Selbständigkeit war die Deutsche Botschaft in Bratislava vertreten. Generell kam die deutsche Unter-stützung der politischen, wirtschaftlichen und gesell-schaftlichen Transformation in Mittelosteuropa4 auch der Slowakei zugute. Während der Regierungszeit von Minis-terpräsident Vladimir Mečiar sind die deutsch-slowakischen Beziehungen jedoch bis zu seiner Abwahl 1998 vorübergehend abgekühlt. Bundes-kanzler Helmut Kohl gefiel Vladimir Mečiar und sein mitunter fast autoritärer Regie-rungsstil nicht. Verschiedene Versuche des slowakischen Außenministeriums, ein Treffen zwischen Helmut Kohl und Vladimir Mečiar zu arrangieren, wurden mit Verweis auf den ausgefüllten Terminkalender des Bundeskanzlers abgewiesen. Umgekehrt verzögerte die Slowakische Regierung bis 1995 die Anerkennung der offiziellen Bezeichnung Deutschlands als Bundesrepublik Deutschland (Spolkova republika Nemecko) und griff auf die während des Kalten Krieges verwendete Bezeichnung Deutsche Bundesrepublik (Nemecka spolkova republika) zurück.5 Helmut Kohl stattete der Slowakischen Republik dann erst im Juni 2007 anlässlich der Verleihung des Inter-nationalen Adalbert-Preises an den früheren polnischen Außenminister Władysław Bartoszewski einen Besuch ab.
Mit dem Amtsantritt von Mikuláš Dzurinda 1998 verbes-serten sich die deutsch-slowakischen Beziehungen merk-lich. Gerhard Schröder folgte im Oktober 2000 der Einla-dung des slowakischen Ministerpräsidenten und besuchte als erster deutscher Bundeskanzler die Slowakische Repu-blik. Nach dem Gespräch der beiden Regierungschefs hob Ministerpräsident Dzurinda die guten deutsch-slowakischen Wirtschaftsbeziehungen hervor und bekräftigte seinen Wunsch nach einem baldigen EU-Beitritt der Slowakei. Gerhard Schröder wiederum würdigte die wirtschaftli-chen Reformen der Regierung Dzurinda und betonte, dass Deutschland die Slowakei in ihrem Bestreben nach einem
4 | Vgl. Josefine Wallat, „Alte Lasten, neue Chancen. Deutsch- lands Blick auf Visegrád‟, in: Osteuropa, 10 (2006), 78.5 | Vgl. Stephen D. Collins, German policy-making and eastern enlargement of the EU during the Kohl era. Managing the agenda? (Manchester: Manchester University Press, 2002), 130 f.
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Den freundschaftlichen Beziehungen haben alle politischen Differenzen keinen abbruch getan, betonten beide regierungschefs. Die mutigen slowa-kischen reformen hob Merkel hervor.
raschen Beitritt zur EU unterstützen werde. Insgesamt reiste Bundeskanzler Schröder zwei Mal in die Slowakische Republik, Mikuláš Dzurinda stattete der Bundesrepublik Deutschland in seinen beiden Amtszeiten zehn Besuche ab. 6 Meinungsverschiedenheiten bestanden während dieser Phase hauptsächlich im Hinblick auf den Irak-Konflikt sowie aufgrund der Steuerreform der zweiten Regierung Dzurinda. Bezüglich des Irak-Konfliktes vertraten Deutsch-land und die Slowakei entgegengesetzte Positionen: Während der Angriff der USA auf den Irak im Frühjahr 2003 von der deutschen Seite sehr kritisch gesehen wurde, unterstützte die Slowakei die amerikanische Haltung.7 Der 2004 eingeführte slowakische Einheitssteuersatz von 19 Prozent wurde von Gerhard Schröder als „Steuerdumping‟ betitelt. Dies hätte die Steuerflucht von Unternehmen
sowie den Abbau von Arbeitsplätzen in den westeuropäischen Staaten zur Folge.8 Den guten wirtschaftlichen Kontakten und den sehr freundschaftlichen deutsch-slowaki-schen Beziehungen haben diese Differenzen keinen Abbruch getan, wie Bundeskanzlerin
Angela Merkel und Ministerpräsident Mikuláš Dzurinda im Mai 2006 in Bratislava betonten. Dabei hob die Bundes-kanzlerin ausdrücklich die mutigen Reformen der Regie-rung Dzurinda hervor.9
Robert Fico, slowakischer Ministerpräsident von 2006 bis Juli 2010, traf sich ebenfalls einige Male mit Bundeskanz-lerin Angela Merkel in Deutschland. Hierbei wurden stets die guten Beziehungen betont. Auch nach den slowaki-schen Parlamentswahlen vom 12. Juni, aus denen Iveta Radičová als Siegerin hervorging, ist davon auszugehen, dass das Interesse an der Aufrechterhaltung freundschaft-licher Beziehungen Bestand haben wird.
6 | Gespräch mit Agáta Pešková, Konrad-Adenauer-Stiftung Bratislava, 02.06.2010.7 | Vgl. Josefine Wallat, „Alte Lasten, neue Chancen. Deutsch- lands Blick auf Visegrád‟, in: Osteuropa, 10 (2006), 81.8 | Vgl. Stefan Gehrold und Daniel Wolf, „Wirtschaftswunder Slowakei. Musterknabe oder neuer Bösewicht in der Europä- ischen Union?‟, in: KAS-Auslandsinformationen 11/2005, 63.9 | Vgl. Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Pressburg, „Pressebegegnung von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel und dem Ministerpräsidenten der Slowakischen Republik Ing. Mikuláš Dzurinda‟ (2006), http://pressburg.diplo.de/ Vertretung/pressburg/de/03/Bilaterale__Beziehungen/seite__ pressekonferenz__bk_27in__dzurinda.html [17.06.2010].
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auch die einzelnen Ministerien und die Bundesländer gestalten die Bezie-hungen mit. im Bundestag ist eine Deutsch-slowakische parlamentarier-gruppe aktiv.
Betrachtet man die gegenseitigen Besuche der Staats-oberhäupter, Regierungschefs und Außenminister seit 1993, fällt auf, dass die Besuche von slowakischer Seite in Deutschland bei Weitem überwiegen. Seit dem EU-Beitritt der Slowakei sind diese Besuche in Deutschland jedoch rückläufig10, was daran liegen könnte, dass es nun im Rahmen der EU zu regelmäßigen Treffen der Regierungs-chefs und Außenminister kommt.
Die politischen Kontakte spielen sich jedoch nicht nur auf der höchsten staatlichen Ebene ab, auch die einzelnen Ministerien, der deutsche Bundestag und die deutschen Bundesländer gestalten die Beziehungen mit: Zahlreiche Mitglieder des Deutschen Bundestages, Regierungsmitglieder wie Franz-Josef Jung, Manfred Stolpe oder Renate Künast sowie einige Ministerpräsidenten, darunter Christian Wulff, Georg Milbradt, Matthias Platzeck und Roland Koch, besuchten die Slowakischen Republik in den vergangenen Jahren während ihrer Amtszeit. Im Bundestag ist zudem eine Deutsch-Slowakische Parlamen-tariergruppe aktiv, die sich um einen intensiven Austausch zwischen den Parlamenten bemüht. Von slowakischer Seite reisten ebenfalls verschiedene Minister zu offiziellen Besuchen nach Deutschland, wie etwa Ivan Mikloš in seiner damaligen Funktion als Finanzminister oder Robert Kaliňak, Innenminister der Slowakischen Republik.11
Die Zusammenarbeit slowakischer und deutscher Behörden wird nachfolgend exemplarisch am Beispiel des slowaki-schen Instituts des Nationalen Gedenkens (Ústav pamäti národa – UPN) nachgezeichnet: Die Behörde der Bundes-beauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheits-dienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Repu-blik (BStU) und das UPN unterzeichneten eine Erklärung zur gegenseitigen Unterstützung. Danach fördert die BStU Konferenzen des UPN teilweise durch finanzielle Zuwen-dungen oder Referenten. So erhielt das UPN etwa für
10 | Vgl. Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Pressburg, „Gegenseitige Besuche der Staatsoberhäupter, Regierungs- chefs und Außenminister seit 1999‟, http://pressburg.diplo.de/ Vertretung/pressburg/de/03/Bilaterale__Beziehungen/seite__ gegenseitige__besuche__seit__1999.html [18.06.2010].11 | Gespräch mit Agáta Pešková, Konrad-Adenauer-Stiftung Bratislava, 02.06.2010.
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eine Konferenz zum sowjetischen Geheimdienst KGB im Jahre 2008 eine finanzielle Unterstützung seitens der BStU. Zudem wurde einem leitenden Mitarbeiter des UPN ein mehrmonatiges Praktikum in der deutschen Behörde ermöglicht.12
Ein weiteres Bindeglied zwischen Deutschland und der Slowakei stellen die heute noch etwa 5.000 Karpatendeut-
schen dar, die sich bei der Volkszählung in der Slowakischen Republik im Jahre 2001 zur deutschen Nationalität bekannten. Im Karpa-tendeutschen Verein (KDV), der die deutsche Minderheit auf slowakischem Gebiet reprä-sentiert, geht man jedoch davon aus, dass
etwa doppelt so viele Deutsche in der Slowakei leben. Die Karpatendeutschen wurden von der Slowakischen Republik als eine von insgesamt 13 Minderheiten offiziell anerkannt. Außer mit Ján Slota, dem für seine nationalis-tischen Ansichten bekannten Leiter der Slowakischen Nati-onalpartei (Slovenská národná strana – SNS), hatten die Karpatendeutschen seit der Gründung der Slowakischen Republik bislang keine Probleme mit politischen Vertretern.
Insbesondere mit den slowakischen Staatspräsidenten Rudolf Schuster (1999–2004) und Ivan Gašparovič (2004 bis heute) war und ist die Zusammenarbeit hervorragend. Auch die Beziehungen zu den anderen Minderheiten in der Slowakischen Republik werden als gut bezeichnet. Das Museum der Kultur der Karpatendeutschen in Bratislava ist Bestandteil des Slowakischen Nationalmuseums und wird zu etwa 99 Prozent vom slowakischen Kulturministe-rium finanziert. Von dort werden auch weitere finanzielle Mittel für ausgewählte Projekte des Vereins bereitgestellt. Auch die deutsche Seite beteiligt sich an der Finanzierung der Karpatendeutschen Minderheit: Das Innenministe-rium gewährt Zuschüsse, verschiedene Vereine und Stif-tungen wie etwa die Karpatendeutsche Landsmannschaft Slowakei e.V. mit Sitz in Stuttgart oder die Hermann Niermann-Stiftung aus Düsseldorf fördern die Karpaten-deutschen finanziell und organisatorisch.13
12 | Gespräch mit Marta Košíková, Ústav pamäti národa (UPN), 26.05.2010.13 | Gespräch mit Ondrej Pöss, Karpatendeutscher Verein, 08.06.2010.
ein Bindeglied zwischen Deutschland und der slowakei stellen die 5.000 kar-patendeutschen dar. Die karpatendeut-schen wurden von der slowakischen republik als eine von 13 Minderheiten offiziell anerkannt.
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DeutschlanD unD Die slowakei in Der europäischen union
Im Juni 1995 bewarb sich die Slowakische Republik um eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Der Beschluss seitens der EU zum Beginn direkter Beitritts-gespräche erfolgte jedoch erst auf dem Gipfel des Euro-päischen Rats im Dezember 1999 in Helsinki.14 Während der Regierungszeit Vladimir Mečiars wären direkte Beitrittsverhandlungen kaum vorstellbar gewesen. So hatte sich die EU unter anderem im Oktober 1995 tief besorgt über die politischen und institutionellen Spannungen innerhalb der Slowakischen Republik gezeigt.15 Die 1998 gewählte Regie-rung Dzurinda trat mit verschiedenen Reformen den nega-tiven Entwicklungen entgegen und bemühte sich um die Verankerung des Landes in der westlichen Staatengemein-schaft. Dabei wurde sie auch von Deutschland unterstützt, das sich für den EU- und NATO-Beitritt der Slowakischen Republik einsetzte.16 Im Zuge der Beitrittsverhandlungen drängte die Regierung Schröder jedoch erfolgreich darauf, die Stilllegung des slowakischen Kernkraftwerks V1 in Jaslovské Bohunice als Beitrittsbedingung in die Verträge aufzunehmen.17 Ein weiterer deutsch-slowakischer Konflikt-punkt betraf die Übergangsfristen für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer: Noch bis zum 30. April 2011 ist für slowakische Staatsangehörige der Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt eingeschränkt und bedarf einer „Arbeitsge-nehmigung-EU‟ der Bundesagentur für Arbeit.18 Mit dem slowakischen Beitritt zur NATO und zur EU im Jahre 2004 erreichte das Verhältnis zwischen Deutschland und der Slowakei eine neue Qualität: Das Land war vom „Bittsteller‟
14 | Gespräch mit Agáta Pešková, Konrad-Adenauer-Stiftung Bratislava, 02.06.2010.15 | Europäische Kommission, „Agenda 2000 – Commission. Opinion on Slovakia‛s Application for Membership of the European Union‟ (1997), 16 ff.16 | Kai-Olaf Lang, „Anatomie einer Zurückhaltung. Deutschland und die Visegrád-Gruppe.‟, in: Osteuropa, 10 (2006), 5.17 | Vgl. Verordnung (Euratom) Nr. 549/2007 des Rates vom 14.05.2007.18 | Vgl. EURES, „Freizügigkeit: Deutschland‟, http://ec.europa.eu/ eures/main.jsp?acro=free&lang=de&countryId=DE&from CountryId=SK&accessing=0&content=1&restrictions=1& step=2 [24.06.2010].
noch bis zum 30. april 2011 ist für slowakische staatsangehörige der zu- gang zum deutschen arbeitsmarkt ein-geschränkt und bedarf einer „arbeits- genehmigung-eu‟ der Bundesagentur für arbeit.
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zum „Partner‟ Deutschlands aufgestiegen.19 Doch auch innerhalb der EU bleibt Deutschland als eines der bevöl-kerungsreichsten und wirtschaftlich stärksten Länder wichtig für die Slowakei.20 Umgekehrt setzte sich die Bundesrepublik weiterhin für slowakische Belange ein, wie der slowakische Ministerpräsident Mikuláš Dzurinda
beim Besuch Angela Merkels 2006 in Bratis-lava hervorhob. Er dankte Frau Merkel bei dieser Gelegenheit für ihren großen Beitrag zur Verabschiedung der Finanziellen Voraus-schau 2007-2013, die vor allem für die neuen EU-Mitgliedsländer von hoher Bedeutung
gewesen sei.21 Deutsch-slowakische Meinungsverschieden-heiten innerhalb der EU herrschten vor allem hinsichtlich einer möglichen EU-weiten Abstimmung der Steuersätze, der fortdauernden Beschränkung der Freizügigkeit slowa-kischer Arbeitskräfte auf dem deutschen Arbeitsmarkt sowie bezüglich der genauen Einhaltung der Maastricht-Kriterien.22 Mit Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages am 1. Dezember 2009 muss auch Deutschland nun im Rat in etlichen Politikbereichen Mehrheiten für die eigene Position organisieren und könnte künftig auch auf die slowakische Unterstützung angewiesen sein.
wirtschaftliche Vernetzung
Mit der Selbstständigkeit 1993 übernahm die Slowaki-sche Republik auch die Verantwortung für den Umbau des ehemals zentral gesteuerten Wirtschaftssystems hin zu marktwirtschaftlichen Strukturen. Der Fokus lag hierbei vor allem auf der Privatisierung von Staatsunternehmen, der Liberalisierung der Preise und des Außenhandels sowie der Ermöglichung ausländischer Direktinvestitionen.23 Nach der Überwindung anfänglicher Schwierigkeiten begann die slowakische Wirtschaft rapide zu wachsen. Im Zuge dessen gewann auch der Handel mit Deutschland an Fahrt: Die slowakischen Exporte in die Bundesrepublik stiegen konti-nuierlich von 762 Millionen Euro 1993 auf 8.962 Millionen
19 | Vgl. Josefine Wallat, (2006), 78.20 | Vgl. Vladimir Bilčík und Juraj Buzalka, „Die nicht-existente Gemeinschaft. Die Slowakei und Deutschland in der EU‟, in: Osteuropa, 10 (2006), 65.21 | Vgl. Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Pressburg (2006). 22 | Vgl. Vladimir Bilčík und Juraj Buzalka (2006), 68.23 | Vgl. Stefan Gehrold und Daniel Wolf (2005), 64.
Mit inkrafttreten des lissabon-Vertra-ges muss auch Deutschland Mehrhei-ten für die eigene position organisieren und könnte künftig auf die slowakische unterstützung angewiesen sein.
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Euro 2007. Lediglich in den Jahren 2008 und 2009 war infolge der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise ein Rückgang zu verzeichnen. Der Handel boomte auch in umgekehrter Richtung: 1993 importierte die Slowakei deutsche Güter im Wert von 717 Millionen Euro, bis 2008 hatten sich die Importe auf insgesamt 8.739 Millionen Euro mehr als verzehnfacht.24 Obwohl hier 2009 ebenfalls ein Rückgang zu vermerken ist, war Deutschland auch in diesem Jahr wieder der größte Handelspartner der Slowa-kischen Republik: Der Anteil deutscher Güter an den slowa-kischen Importen betrug 25 Prozent, umgekehrt bezog die Bundesrepublik insgesamt 23,4 Prozent der slowaki-schen Exporte. Die wichtigsten slowakischen Exportgüter für den deutschen Markt sind Verkehrsmittel, chemische Erzeugnisse, Maschinen und Anlagen.25 Die Bedeutung der Slowakei für den deutschen Außenhandel ist hingegen wesentlich geringer: Im Jahr 2009 wurden 0,83 Prozent der deutschen Exporte in die Slowakei geliefert, damit belegt das Land beim Außenhandel den 23. Platz.26
Abb. 1handel zwischen Deutschland und der slowakei von 1993 bis 2009
▪ Einfuhr nach Deutschland ▪ Ausfuhr aus DeutschlandQuelle: Statistisches Bundesamt, „Aus- und Einfuhr (Außen- handel): Deutschland, Jahre, Länder‟, Fn. 24, eigene Darstellung
24 | Vgl. Statistisches Bundesamt, „Aus- und Einfuhr (Außen- handel): Deutschland, Jahre, Länder‟, https://www-genesis. destatis.de/genesis/online [09.06.2010].25 | Vgl. Auswärtiges Amt, „Slowakei. Wirtschaft‟, http://auswaertiges-amt.de/diplo/de/Laenderinformationen/ Slowakei/Wirtschaft.html [09.06.2010].26 | Vgl. Statistisches Bundesamt, a.a.O.
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Vor allem im Bereich der automobil- zulieferindustrie haben sich viele deut- sche Betriebe auf slowakischem gebiet angesiedelt. zunehmend wurde die slo-wakei auch als absatzmarkt erkannt.
Seit Bestehen der Slowakischen Republik wird die wirt-schaftliche Zusammenarbeit der beiden Länder gefördert: Noch im Jahre 1993 wurde eine Repräsentanz der deut-schen Wirtschaft in Bratislava eröffnet, diese wurde jedoch bis zur Gründung einer eigenständigen Deutsch-Slowaki-schen Industrie- und Handelskammer (DSIHK) im Jahre 2005 von Prag aus geleitet. Die DSIHK sieht sich als Forum für deutsche und slowakische Unternehmen und konzent-riert sich auf den Aufbau von Wirtschafts- und Handelsbe-ziehungen zwischen Deutschland und der Slowakei. Etwa 20 Prozent ihrer Dienstleistungen werden von slowakischen Firmen in Anspruch genommen, die sich den deutschen Markt erschließen möchten. Ungefähr 80 Prozent der Leis-tungen werden von deutschen Unternehmen nachgefragt. Auch die Deutsch-Tschechische und Deutsch-Slowakische Wirtschaftsvereinigung hat sich die „umfassende Förde-rung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen deutschen, tschechischen und slowakischen Unternehmen, Instituti-onen und Kommunen‟ zum Ziel gesetzt.27 Zudem werden ausländische Investoren in Deutschland von der Germany Trade & Invest Gesellschaft für Außenwirtschaft und Stand-ortmarketing mbH und in der Slowakei von der Agentur für Investition und Handelsentwicklung (SARIO) unterstützt.
Deutsche Investitionen auf slowakischem Gebiet erfolgten im Wesentlichen in zwei Wellen: Zu Beginn der neunziger
Jahre nutzten viele deutsche Unternehmen die Gelegenheit zur Beteiligung an verschie-denen Privatisierungen und betrachteten die Slowakei als verlängerte Werkbank. Maschi-nelle Vorleistungen wurden in Deutschland belassen und nur arbeitsintensive Tätigkeiten
in die Slowakei verlagert. Nach deren Abschluss wurde das Produkt wieder nach Deutschland reexportiert.
Ab der Jahrtausendwende erfolgten unter anderem Priva-tisierungen in den Bereichen Energiewirtschaft und Tele-kommunikation, bei denen deutsche Energieversorger sowie die Deutsche Telekom massiv investierten. Mittler-weile war die Slowakei zwar als verlängerte Werkbank zu teuer geworden, jedoch hatte sich die industrielle Struktur
27 | Deutsch-Tschechische und Deutsch-Slowakische Wirtschafts- vereinigung, http://www.dtsw.de/deutsch/dtsw_ziele.html [16.06.2010].
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Momentan belegt Deutsch in der rang-folge der erlernten fremdsprachen in der slowakei nach englisch den zwei-ten platz.
durch die Investitionen der neunziger Jahre gefestigt und das Land wurde als vollwertiger Unternehmensstandort wahrgenommen. Vor allem im Bereich der Automobil-zulieferindustrie haben sich viele deutsche Betriebe auf slowakischem Gebiet angesiedelt. Zunehmend wurde die Slowakei auch als Absatzmarkt erkannt, was sich in der Präsenz großer deutscher Handelsketten wie Kaufland, dm oder Hornbach widerspiegelt.
Heute sind über 400 deutsche Unternehmen in der Slowakei tätig, darunter auch große Firmen wie Volkswagen, Bosch, E.ON oder Siemens. Mehrheitlich handelt es sich jedoch um kleine- und mittelständische Betriebe. Insgesamt inves-tierten deutsche Unternehmen bislang etwa 3,5 Milliarden Euro, die Schwerpunkte lagen dabei vor allem in den Berei-chen Automobilbau, Maschinenbau und Elektrotechnik. Die Unternehmen der deutschen Investoren beschäftigen etwa 80.000 Mitarbeiter.28
gesellschaftliche zusaMMenarBeit
Am 28. Mai 1998 trat das im Mai 1997 unterzeichnete deutsch-slowakische Abkommen über kulturelle Zusam-menarbeit in Kraft. Dieses Abkommen zielt darauf, die gegenseitigen Kenntnisse über die deutsche und die slowakische Kultur zu verbessern, und stellt die kulturelle Zusammenarbeit der beiden Länder auf ein rechtliches Fundament. In Bratislava koordiniert das Goethe-Institut als Partner des Auswärtigen Amtes verschiedene Tätigkeiten im Rahmen der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik der Bundesrepublik Deutschland. Zu den wichtigsten Arbeitsgebieten des Institutes zählt dabei die Förderung der deutschen Sprache im Bildungssystem des Gastlandes. Dazu werden unter anderem Unterrichtsma-terialien erstellt sowie Programme für Schüler und Lehrer durchgeführt. Seit dem Jahr 2008 wird im slowakischen Schulsystem das frühe Erlernen von Fremdsprachen besonders gefördert. Um hierfür genügend Deutsch-lehrer bereitzustellen, bietet das Goethe-Institut verstärkt Fortbildungen für Lehrer an. Dabei arbeitet man eng mit der Zentralstelle für das Auslandsschulwesen (ZfA)
28 | Vgl. Gespräch mit Markus Halt, Deutsch-Slowakische Indus- trie- und Handelskammer, 19.05.2010.
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zusammen.29 Die ZfA betreut in der Slowakei unter anderem die Deutsch-Slowakische Begegnungsschule in Bratislava, ein Gymnasium in Poprad, das sowohl das deutsche als auch das slowakische Abitur anbietet, sowie 26 Sprach-diplomschulen.30 Momentan belegt Deutsch in der Rang-folge der erlernten Fremdsprachen in der Slowakei nach Englisch den zweiten Platz. Insgesamt lernten im Schul-jahr 2009/2010 knapp 268.000 Schüler und Studenten die deutsche Sprache.31
Das deutsche Interesse an der Slowakei und ihrer Sprache und Kultur ist hingegen weniger stark ausgeprägt. So sind Ost- und Mitteleuropa-Studien im literaturwissen-schaftlichen, ethnologischen und geisteswissenschaftli-chen Bereich beispielsweise wesentlich besser besucht als rein deutsch-slowakische Studiengänge. Dies wird auf die geringe Landesgröße der Slowakei zurückgeführt, aber auch auf das Fehlen von Institutionen, die sich für die deutsch-slowakischen Beziehungen einsetzen. Zudem fällt der Bereich der Slowakistik an deutschen Univer-sitäten mehr und mehr dem Sparzwang zum Opfer. Die Beziehungen zwischen den einzelnen deutschen und slowakischen Instituten für Slowakistik sind jedoch gut. So arbeiten etwa die Comenius-Universität in Bratislava und die Humboldt-Universität zu Berlin gemeinsam an einem Projekt zur Zwischenkriegsliteratur. Am Collegium Carolinum in München befassen sich wissenschaftliche Experten aus aller Welt mit der Geschichte und Gegen-wart der Tschechischen und der Slowakischen Republik. Der wissenschaftliche Austausch zwischen der Slowakei und Deutschland wird zudem durch die Alexander-von-Humboldt-Stiftung und den Deutschen Akademischen Austauschdienst gefördert.32
Sehr gut funktionieren die deutsch-slowakischen Bezie-hungen im Bereich der Städtepartnerschaften. Außer Nitra,
29 | Vgl. Gespräch mit Wolfgang Franz, Goethe-Institut Bratislava, 10.06.2010.30 | Vgl. Zentralstelle für das Auslandsschulwesen, „Das DSD II- Programm in der Slowakei‟, http://auslandsschulwesen.de/ nn_1674788/Auslandsschulwesen/DASAN/Fachberater/ Europa/Bratislava/DSD/node.html?__nnn=true [22.06.2010].31 | Gespräch mit Wolfgang Franz, Goethe-Institut Bratislava, 10.06.2010.32 | Gespräch mit Prof. Dr. Peter Zajac, Institut für Slawistik der Humboldt-Universität zu Berlin, 15.06.2010.
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sehr gut funktionieren die deutsch-slowakischen Beziehungen im Bereich der städtepartnerschaften.
Žilina und Trenčín verfügen alle großen slowakischen Städte über eine Partnerschaft mit einer deutschen Stadt. So unterhält die Stadt Bratislava Städtepartnerschaften mit Bremen, Karlsruhe, Ulm und Regensburg. Košice, die zweitgrößte Stadt, hat enge Beziehungen zu Wuppertal und Cottbus, Banská Bystrica ist mit Halberstadt verbunden, Prešov mit Remscheid.
Auch die religiösen Beziehungen sind sehr gut. Seit seinem Bestehen unterstützt das 1993 von der römisch-katholischen Kirche gegründete Hilfswerk Renovabis die Menschen in der Slowakei. Die Unterstützung erfolgt sowohl projektbezogen als auch mittels der Förderung des Austauschs zwischen Ost und West. Der Fokus der Projekte liegt oft im sozialen Bereich. Renovabis förderte etwa den Bau eines Hospizes in Nitra und verschiedene Projekte für betreutes Wohnen. Weitere Tätigkeitsschwerpunkte sind die soziale und pastorale Integration der Minderheit der Roma sowie die Förderung des Laienapostolats.33 Auch das Forum christlicher Institutionen (Fórum kresťanských inštitútcií – FKI), das verschiedene christliche Organisati-onen unter seinem Dach vereint, erhält finanzielle Zuwen-dungen von Renovabis. Das FKI dient als Informations- und Kooperationsplattform für seine Mitglieder, es ist unter anderem zuständig für die Kontakte zur Regierung und zur öffentlichen Verwaltung sowie für die Vertiefung internatio-naler Beziehungen. So war das FKI beispielsweise auch an der Organisation des zweiten ökumenischen Kirchentages im Mai 2010 in München beteiligt. Einen weiteren Bezug zu Deutschland bildet das slowakische Kolpingwerk, das wiederum eng mit dem internationalen Kolpingwerk mit Sitz in Köln verbunden ist und sich ebenfalls zu den Mitglie-dern des FKI zählt. Neben den Beziehungen verschiedener deutscher und slowakischer Verbände gibt es zudem einige deutsch-slowakische Partnerschaften wie etwa zwischen dem Bistum Banská Bystrica und dem Dekanat Ander-nach oder zwischen der Katholischen Jungen Gemeinde des Diözesanverbands Limburg und der slowakischen Bewegung christlicher junger Gemeinden eRko.34
33 | Vgl. Renovabis, „Länderinformationen Slowakei‟, http://renovabis.de/laender-projekte/laenderinformationen/ slowakei [23.06.2010].34 | Gespräch mit Katarína Hulmanová, Fórum kresťanských inštitútcií, 07.06.2010.
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um der gesteigerten Bedeutung der slowakischen republik tribut zu zol-len, sollte sich Deutschland besser um seinen „kleinen‟ partner in der Mitte europas kümmern, beispielsweise durch vermehrte Besuche der obers-ten politischen ebene.
fazit unD ausBlick – üBerraschung Bei Den parlaMentswahlen iM Juni 2010
Die nähere Betrachtung der deutsch-slowakischen Bezie- hungen brachte äußerst vielfältige politische, wirtschaft-liche und gesellschaftliche Verbindungen zu Tage. Die Auffassung von Pavol Lukáč aus dem Jahre 2004 vom Fehlen einer Gemeinschaft kann daher nicht geteilt werden. Auch dass viele Beziehungen abseits der öffentli-chen Wahrnehmung bestehen, sollte nicht als Maßstab für ihre Bewertung herangezogen werden.
Vor allem im politischen und wirtschaftlichen Bereich fällt jedoch auf, dass die Beziehungen eher asymmetrischer Art sind: Während Deutschland für die Slowakei eine hohe Bedeutung hat, misst es der Slowakei eine geringere Bedeutung bei.35 Seit einigen Jahren kann jedoch eine Verringerung dieser Asymmetrie beobachtet werden: Auf der politischen Ebene wurde die Slowakische Republik in der EU, der NATO, im Schengenraum sowie in der Euro-
zone zu einem Partner der Bundesrepu-blik Deutschland. Auch im wirtschaftlichen Bereich wird die Slowakei mehr und mehr als vollwertiger Partner denn als verlängerte Werkbank gesehen. Um der gesteigerten Bedeutung der Slowakischen Republik Tribut zu zollen, sollte sich Deutschland auch
angesichts der künftigen Notwendigkeit zur Sicherung von Mehrheiten innerhalb des EU-Ministerrates besser um seinen „kleinen‟ Partner in der Mitte Europas kümmern. Dies könnte beispielsweise durch vermehrte Besuche der obersten politischen Ebene oder durch die Unterzeichnung eines eigenen deutsch-slowakischen Freundschaftsver-trages erfolgen. Umgekehrt sollte die Slowakische Republik ihre Präsenz in Deutschland erhöhen, um künftig seitens der Deutschen besser wahrgenommen zu werden.
Vielleicht passiert das ja nun nach den Parlamentswahlen vom 12. Juni 2010. Bereits am 8. Juli wurde die 53-jährige Soziologieprofessorin Iveta Radičová als erste Frau in der Geschichte der Slowakei Regierungschefin, nachdem sie und die vier Parteichefs der künftigen Mitte-Rechts-
35 | Vgl. Vladimir Bilčík und Juraj Buzalka (2006), 65.
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Die premierministerin radičová und ihre partei hatten mit dem argument, die arme slowakei dürfe nicht für das reichere griechenland zur kasse gebe-ten werden, für merkliche Verstim-mung in der eu gesorgt.
Koalition in öffentlicher Zeremonie ihren Koalitionsvertrag unterzeichnet hatten. „Die Slowakei soll wieder ein Ort für ein würdiges Leben werden‟, verkündete die künftige Premierministerin nach der Unterzeichnung des Koaliti-onsvertrages als gemeinsames Ziel der von ihr geführten Regierung. Sie versprach „ein verantwortungsvolles und transparentes Regieren‟, bei dem die Bekämpfung der Korruption neben der Eindämmung des Haushaltsdefizits oberste Priorität haben werde. In Anspielung auf zahlreiche Korruptionsskandale aller bisherigen Regierungen drohte Radičová auch ihren Regierungspartnern mit „Nulltoleranz‟ schon beim ersten begründeten Verdacht von Korruption.
Und wie werden sich nun die Beziehungen der Slowakei zur EU und zu Deutschland weiterentwickeln? Der ehema-lige Premier und neuernannte Außenminister Mikulas Dzurinda wird sich zunächst einmal darum kümmern müssen, irritierte EU-Partner zu besänftigen. „Die Slowakei wird den Euro-Schutzschirm nicht blockieren‟, widersprach Premiermi-nisterin Radičová schon eigenen Wahlkampf-tönen. Etwas Nachverhandeln werde aber doch noch nötig sein. Gerade Radičová und ihre Partei hatten mit dem Argument, die arme Slowakei dürfe nicht für das reichere Griechenland zur Kasse gebeten werden, für merkliche Verstimmung gesorgt, nachdem Fico eine solidarische Beteiligung der Slowakei bereits zugesichert hatte: „Wir dürfen nicht nur die Vorteile der Europäischen Union genießen, aber abseits stehen, wenn unsere Solidarität gefragt ist‟, hatte Fico wiederholt gemahnt. Man wird sehen, ob bei diesen von Radicova gewünschten Nachverhandlungen etwas heraus-kommt oder nicht. Ein Ausscheren der Slowakei aus dem Solidaritätsprinzip würde von den anderen EU-Partnern wohl kaum ohne Folgen akzeptiert werden.
Die Beziehungen zu Deutschland werden nunmehr wahr-scheinlich wieder etwas lebendiger werden. Mikulas Dzurinda und Angela Merkel kennen und schätzen sich bereits seit Jahren, und auch die neue slowakische Regie-rungschefin Iveta Radicova dürfte in Berlin wohl offene Türen vorfinden, wenn es um den weiteren Ausbau der
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deutsch-slowakischen Beziehungen geht. Und wer weiß, vielleicht intensiviert die Slowakei auch etwas ihre Präsenz in Deutschland und wartet nicht nur darauf, dass deutsche Investoren von allein den Weg in die Slowakei finden.
Das Manuskript wurde am 10. Juli 2010 abgeschlossen.
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Andreas M. Klein / Gesine Herrmann
Die Beziehungen Deutschlands zu Estland, Lettland und Litauen können zweifelsfrei als gut und intensiv bezeichnet werden. An der besonderen Qualität der Beziehungen lässt auch der neue Bundesminister für Auswärtige Bezie-hungen, Guido Westerwelle, keine Zweifel aufkommen. Bereits kurz nach seinem Amtsantritt im Herbst 2009 traf er seine Amtskollegen aus den Baltischen Ländern in Brüssel zu Konsultationen, die im Juli 2010 im traditi-onellen 3+1-Format in Tallinn fortgesetzt wurden. Dieses jüngste Treffen der vier Außenminister ist Beleg für die engen Beziehungen, die Deutschland zu den Baltischen Staaten insgesamt und zu jedem einzelnen der drei Staaten unterhält, ebenso wie der Besuch der Staatsministerin Cornelia Pieper im Baltikum zu Beginn des Jahres, bei dem es darum ging, insbesondere den Ausbau der kulturellen Zusammenarbeit mit den Partnern in Estland, Lettland und Litauen zu beraten. Im September steht die aufgrund der Bundespräsidentenwahl verschobene Visite von Bundes-kanzlerin Angela Merkel nach Litauen und Lettland an. Bei dieser Gelegenheit wird sie sich bei der litau ischen Staatspräsidentin Dalia Grybauskaite und dem lettischen Ministerpräsidenten Valdis Dombrovskis auch über die Spar- und Reformanstrengungen der beiden von der Wirt-schafts- und Finanzkrise gebeutelten Länder informieren.
Der Dialog mit den Baltischen Nachbarn findet darüber hinaus zum einen in den Europäischen Institutionen in Brüssel und zum anderen in Berlin statt, wohin es sowohl den Staatspräsidenten Lettlands, Valdis Zatlers, im Januar 2008 als auch den lettischen Ministerpräsi-denten Valdis Dombrovskis Ende April 2009 auf eine ihrer
Andreas M. Klein ist Auslandsmitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Riga. Er betreut von dort aus die Aktivitäten der Stiftung in den Balti-schen Ländern sowie das Regionalprojekt „Ostseekooperation‟.
Gesine Herrmann studierte bis Sommer 2009 Politikwissen-schaften in Chemnitz, Berlin und Tartu/Estland mit dem Schwerpunkt Trans-formationsstudien. Derzeit arbeitet sie an der HWR Berlin.
DIE BEzIEHUNGEN DEUTScHLANDS zU DEN BALTIScHEN LÄNDERN SEIT DER WIEDERVEREINIGUNG
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zuletzt weilte der Auswärtige Aus-schuss des estnischen Parlaments in Berlin. Darüber hinaus tragen die Bun-desländer sowie Partnerstädte und -kreise zur Vertiefung der Beziehungen bei.
ersten Auslandsdienstreisen zu politischen Gesprächen führte. Zuletzt weilte der Auswärtige Ausschuss des estni-schen Parlaments im März 2010 zu Gesprächen mit dem Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestages und Vertretern der Bundesregierung in Berlin. Darüber hinaus tragen die Bundesländer sowie Partnerstädte und -kreise in Deutschland und den Baltischen Ländern zur Vertiefung der bilateralen Beziehungen bei.
Das besondere gegenseitige Interesse liegt begründet in der über 800-jährigen gemein-samen Geschichte als Missions- und Sied-lungsgebiet des Deutschen Ordens, in den Wirtschaftsbeziehungen zur Zeit der Hanse
sowie in der zentralen Lage Deutschlands zwischen den einstigen Blöcken, die die Welt bis 1990 in sowjetische und amerikanische Einflusssphären teilte. Einen herausgeho-benen Stellenwert als „Schicksalstag‟ in den deutsch-balti-schen Beziehungen nimmt dabei der 23. August 1939 ein, als der deutsche Außenminister der nationalsozialistischen Regierung, Joachim von Ribbentrop, und sein sowjetischer Amtskollege, Wjatscheslaw Molotow, mit der Unterzeich-nung des geheimen Zusatzprotokolls zum Nichtangriffspakt zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion, dem so genannten Hitler-Stalin-Pakt, das vorläufige Ende der Unabhängigkeit der drei Baltischen Staaten besiegelten. Daraus leitet sich bis zum heutigen Tage die Verbundenheit Deutschlands mit und die Verantwortung gegenüber den drei Baltenrepubliken ab. Dennoch schwankte die deutsche Außenpolitik gegenüber den baltischen Nachbarn in den vergangenen zwanzig Jahren zwischen dem „Anwalt der Balten‟ einerseits und einer Position des advocatus diaboli andererseits, wenn die baltischen Belange die Erreichung deutscher Ziele und insbesondere das Verhältnis der Bundesrepublik zu Russland zu beeinträchtigen drohten.
DIE BUNDESREGIERUNG UND DIE UNABHÄNGIGKEITS-BESTREBUNGEN DER BALTIScHEN LÄNDER
Die Baltikumpolitik Bonns war von 1988 bis zur offiziellen Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen am 28. August 1991 maßgeblich davon geprägt, dass die baltische Frage der Unabhängigkeit eng mit der deutschen Frage der Wiedervereinigung zusammenhing.
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Als Litauen am 11. März 1990 als erste baltische Republik seine Trennung von der Sowjetunion erklärte, hielt sich die Bundesregierung mit einer Stellung-nahme zunächst zurück.
Mit den vom damaligen Generalsekretär der Kommunis-tischen Partei der Sowjetunion (KPdSU), Michail Gorbat-schow, angestrengten Reformen Glasnost und Perestroika kam es auch in den drei baltischen Sowjetrepubliken zum nationalen Wiedererwachen. Die Aktivitäten der Bürger-bewegungen Estlands (Rahvarinne), Lettlands (Tautas Fronte) und Litauens (Sajūdis) nach größtmöglicher Autonomie fanden ihren vorläufigen Höhepunkt am fünf-zigsten Jahrestag der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes in einer über 600 Kilo-meter langen Menschenkette, die rund eine Millionen Menschen von Vilnius über Riga nach Tallinn miteinander verband. Wenn-gleich dieser als Baltischer Weg bezeichnete Bürgerprotest zunächst wirkungslos blieb, beförderte er dennoch gemeinsam mit den historischen Vorgängen in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei gleichermaßen Entwicklungen, die den Fall der Berliner Mauer und die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten erst möglich machten.
Als Litauen am 11. März 1990 als erste der drei baltischen Republiken seine umgehende und vollständige Trennung von der Sowjetunion erklärte, hielt sich die Bundesregie-rung mit einer Stellungnahme zunächst zurück – sehr zum Unmut des ersten kommissarischen Staatsoberhauptes der unabhängigen Republik Litauen, Vytautas Landsbergis: „Bisher sahen wir nicht, dass wir große Erwartungen in die Politik Deutschlands setzen konnten.‟1
Um der deutschen Einheit willen war Bonn bestrebt, „dass der Litauen-Konflikt nicht zum Stolperstein für Michail Gorbatschow und seine Reformpolitik werden dürfe‟2 und eine weitere Destabilisierung der UdSSR vermieden werden müsse. Bundeskanzler Helmut Kohl plädierte daher für eine Politik der kleinen Schritte. Er war der Meinung, man müsse den Litauern sagen, dass sie mit ihrer Politik des „Alles oder Nichts‟ ihre Chance, unabhängig zu werden, aufs Spiel setzten. Zudem war er überzeugt, dass sie innerhalb der nächsten fünf Jahre mit Klugheit, Geduld
1 | Interview mit Vytautas Landsbergis, in: Der Spiegel (04.02.1991), 175.2 | Kai Diekmann und Ralf Georg Reuth, Helmut Kohl, Ich wollte Deutschlands Einheit, (Berlin: Propyläen Verlag, 1996), 363.
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Bundeskanzler Kohl befürchtete, dass die Entwicklung im Baltikum negative Auswirkungen auf die zwei-plus-Vier-Gespräche haben könnte. Daher lag ihm daran, die deutsche Frage von der baltischen Frage zu entkoppeln.
und psychologischem Geschick ihr Ziel erreichen könnten.3 Es galt, sowohl eine Machtübernahme durch Militärs oder Hardliner in Moskau als auch die Anwendung von Gewalt in den Warschauer-Pakt-Staaten abzuwenden. Ein öffentlicher
Einsatz des Westens für die Souveränität der sowjetischen Republiken lag daher zunächst nicht im Interesse der Bundesregierung. Somit behandelte die Kohl-Administration die baltischen Unabhängigkeitsbestrebungen vorerst als innersowjetische Angelegenheit.
Bundeskanzler Kohl befürchtete, dass die Entwicklung im Baltikum negative Auswirkungen auf die für Mai termi-nierten Zwei-plus-Vier-Gespräche haben könnte. Daher lag ihm daran, die deutsche Frage von der baltischen Frage zu entkoppeln. Als sich die Lage in Litauen nach dem 1. Juli aufgrund der vorübergehenden Aussetzung der Unabhän-gigkeitserklärung entspannte, machten auch die Verhand-lungen zur Lösung der deutschen Frage bis zur Wiederver-einigung Deutschlands am 3. Oktober zügige Fortschritte.
Die baltischen Länder mussten sich mit der vollständigen Wiederherstellung und Anerkennung ihrer Unabhängigkeit bis ins Jahr 1991 gedulden. Nach den blutigen Zusam-menstößen der Unabhängigkeitsbewegung Litauens und Lettlands mit der sowjetischen Spezialpolizeieinheit OMON in Vilnius und Riga im Januar 1991 wandte sich der deut-sche Bundeskanzler an den sowjetischen Regierungschef Gorbatschow mit der Forderung, „jeder weiteren Gewalt-anwendung Einhalt zu gebieten und zum Weg des Dialogs und der Verständigung zurückzukehren‟4. Als Zeichen der Solidarität empfing Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher die kommissarischen Außenminister Estlands und Lettlands, Lennart Meri und Janis Jurkāns, wenige Wochen später in Bonn. Damit signalisierte die deutsche Regierung den Balten den lange erhofften Beistand, wenn-gleich sie deren Eigenstaatlichkeit weiterhin nicht formell anerkannte.
Das deutsche Engagement und die Zusammenarbeit mit dem Baltikum nahmen nach den Vorfällen in Riga und Vilnius
3 | Vgl. ebd., 363-366.4 | Nach Staatsminister Schäfer am 28.01.1991, in: Bundes- drucksache 12/66, 1.
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zur Wende in der deutschen Baltikum-politik kam es nach dem Moskauer Putschversuch im Sommer 1991. Wenige Tage später formalisierte die Bundesregierung die Beziehungen zu den baltischen Republiken.
merklich zu: Im Februar beantragte die SPD-Bundestags-fraktion die Errichtung eines baltischen Informationsbüros in Deutschland, im April öffnete das deutsche Kulturinstitut in Tallinn, und im Juni gründete der Abgeordnete Wolfgang von Stetten (CDU) die Deutsch-Baltische Parlamentarier-gruppe. Zur Wende in der deutschen Baltikumpolitik kam es nach dem Moskauer Putschversuch im Sommer 1991. Die OMON-Übergriffe und der Putsch in Moskau hatten deutlich die Schwäche der kommunistischen Machthaber im Kreml einerseits und die Entschlossenheit der Unab-hängigkeitsbewegungen in den drei baltischen Ländern andererseits gezeigt. Spätestens seit diesem Zeitpunkt war davon auszugehen, dass der Verbleib Estlands, Lettlands und Litauens in der Union nicht länger mit friedlichen Mitteln, sondern allenfalls noch mit militärischen Maßnahmen zu sichern war. Die Anwendung von Gewalt jedoch lag weder im sowjetischen noch im westlichen Interesse, denn in der damaligen Situation hätte dies den Verlust des politischen Einflusses des Kremls bestätigt und die regionale Instabilität verschärft. Unter Berücksichtigung der vorangegangenen Ereignisse war zudem davon auszugehen, dass der Kollaps der UdSSR kaum noch zu verhindern war.
Wenige Tage nach dem Augustputsch in Moskau forma-lisierte Deutschland am 28. August 1991 als einer der ersten westlichen Staaten seine Beziehungen zu den baltischen Republiken. Dabei war nicht von einem Neube-ginn, sondern von einer Fortsetzung der diplomatischen Beziehungen die Rede. Schon in der Erklärung, die sich der Unterzeichnung der Urkunden über die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den baltischen Staaten anschloss, unter-strich die Bundesregierung die Möglichkeit von Assoziie-rungsverhandlungen zwischen der Europäischen Gemein-schaft (EG) und den neuen Demokratien im Baltikum zu einem späteren Zeitpunkt.5
5 | Vgl. Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundes- regierung Nr. 90 (30.08.1991).
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Einem ersten Belastungstest waren die Beziehungen Deutschlands zu den drei Baltenrepubliken einerseits und Russland andererseits während der Verhandlungen über den Truppenab-zug der russischen Armee unterworfen.
Als erster hochrangiger westlicher Politiker besuchte der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher am 11. und 12. September Tallinn, Riga und Vilnius und signali-sierte damit, dass Bonn die drei Republiken unterstützte. Um die zukünftigen Inhalte der deutschen Baltikumpolitik zu identifizieren und zu konkretisieren, setzte er eine parla-mentarische Evaluierungskommission ein. Der damalige Staatssekretär Berndt von Staden, ein Baltendeutscher aus Estland, übernahm die Leitung und schlug vor, dass sich Deutschland bei den westlichen und internationalen Institutionen zum „Anwalt der Balten‟ machen sollte.
DEUTScHE BALTIKUMPOLITIK zWIScHEN UNTERSTüTzUNG UND zURücKHALTUNG
Das Bundeskanzleramt verhielt sich gegenüber den jungen Ostseerepubliken weiterhin zurückhaltend, trotz der Aufnahme diplomatischer Beziehungen und der unmittelbar einsetzenden umfangreichen und mannig-
faltigen bilateralen Zusammenarbeit in kultureller, wirtschaftlicher und sicherheits-politischer Hinsicht. Die deutsch-baltischen Beziehungen standen und stehen bis zum heutigen Tage im Schatten der deutsch-russischen Beziehungen. Zunächst war die deutsche Außenpolitik darauf bedacht, die
deutsche Wiedervereinigung in keiner Weise zu gefährden; dies galt insbesondere für eine dem Kreml möglicherweise missliebige Politik gegenüber den baltischen Staaten. Aber auch nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten achtete die Bundesregierung darauf, dass die Kontakte zu den baltischen Ländern die Beziehungen zu Moskau nicht belasteten.
Einem ersten Belastungstest waren die Beziehungen Deutschlands zu den drei Baltenrepubliken einerseits und Russland andererseits während der Verhandlungen über den Truppenabzug der russischen Armee unterworfen, die sich auch noch unmittelbar nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit Estlands, Lettlands und Litauens auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion befand. Aus Sicht der baltischen Staaten war die Anwesenheit der fremden Streitkräfte eine potenzielle Gefahr für die Integrität und die Sicherheit der drei Republiken. Während Estland, Lettland
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Aus Bonner Sicht war der Abzug der russischen Streitkräfte aus Estland, Lettland und Litauen neben der regi-onalen Kooperation ein wichtiger Schritt zur Entspannung in der Region.
und Litauen die schnelle Integration in die westlichen Bündnisse suchten, trat Russland das Erbe der sowjeti-schen Großmacht an und rechnete das Baltikum als „Nahes Ausland‟ zum Moskauer Einflussbereich. Die gegensätz-lichen außenpolitischen Ziele sowie die divergierenden Geschichtsauffassungen der Verhandlungspartner führten dazu, dass der Kreml den geforderten Abzug hinauszö-gerte und immer wieder an neue Bedingungen knüpfte.
Die baltischen Staaten verfügten weder über die finanzi-ellen Mittel noch über die politische Macht, um ihre nati-onalen Sicherheitsinteressen durchzusetzen. Sie konnten Russland nicht zwingen, die Truppen schnellstmöglich abzuziehen, und bemühten sich daher um die Unterstützung der westlichen Regierungen. Auch Bonn unterstützte die drei Länder und engagierte sich international für den baldigen Abzug der Truppen, riet den baltischen Staaten allerdings, nicht gegen, sondern mit Russland nach Sicherheit zu streben.6 Damit Moskau einem baldigen Rückmarsch zustimmen konnte, bewegten Deutschland und die westlichen Staaten die drei Repub-liken zu Zugeständnissen, beispielsweise bei der zeitlich begrenzten Nutzung von Militäranlagen in Lettland und Estland. Außerdem forderte Bonn die beiden Länder auf, zu überprüfen, ob die von Russland kritisierten Einbürge-rungsbestimmungen für die russischsprachige Minderheit den Vorgaben der KSZE entsprachen, und diese gegebe-nenfalls zu korrigieren. Infolge des internationalen Drucks auf beide Seiten verließen die russischen Truppen das estnische und lettische Staatsgebiet schließlich fristgerecht zum 31. August 1994, genau ein Jahr nach dem Rückzug der Einheiten der ehemaligen Okkupationsmacht aus Litauen. In der Frage des Truppenrückzugs unterstützte die deutsche Regierung die baltische Forderung, da diese mit den eigenen Sicherheitsinteressen übereinstimmte. Aus Bonner Sicht war der Abzug der russischen Streitkräfte aus Estland, Lettland und Litauen neben der regionalen Kooperation, etwa im Ostseerat, ein wichtiger Schritt, der zur Entspannung in der Region beitrug.
6 | Vgl. Udo Bergdoll, „Bonn will Anwalt der Balten sein‟, in: Süddeutsche Zeitung, 10.07.1993.
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Genscher sicherte seinen baltischen Kollegen zu, dass sich Deutschland für die Assoziierung mit der EG einsetzen werde. Deutlich distanzierter positio-nierte sich die Bundesregierung hin-gegen gegenüber einer Erweiterung der NATO.
Seit der Anerkennung ihrer Unabhängigkeit strebten die baltischen Staaten die Einbindung in das politische, wirt-schaftliche und sicherheitspolitische Gefüge der (west-)europäischen Gemeinschaft an. Dabei nahm die Einbindung in die transatlantische Sicherheitsallianz für die Balten einen ungleich höheren Stellenwert ein als die Integra-
tion in die aus ihrer Sicht eher ökonomisch ausgerichtete EG. Nach den Erfahrungen der rund fünfzigjährigen Okkupation durch die UdSSR war für die baltischen Länder nach der Wiedererlangung ihrer Unabhängigkeit ein neutraler Status ebenso wenig eine Option wie die sicherheitspolitische Kooperation mit
Russland. Die gegenseitigen Sicherheits- und Beistands-verpflichtungen der NATO-Partner stellten in den Augen der Balten die einzige Garantie dar, die ihnen dauerhaft Freiheit und Eigenstaatlichkeit versprach.7
Bereits bei der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen im August 1991 sicherte Genscher seinen baltischen Kollegen zu, dass sich Deutschland für die Assoziierung der Republiken mit der EG einsetzen werde. Entsprechend befürwortete die deutsche Regierung etwa die Aufnahme der drei Länder in das PHARE-Programm zum 1. Januar 1992 und den Abschluss von Kooperations-abkommen mit der Gemeinschaft wenige Monate später. Deutlich distanzierter positionierte sich die Bundesregie-rung hingegen gegenüber einer Erweiterung der NATO bis an die Grenze Russlands, obwohl sich sowohl Bundesver-teidigungsminister Volker Rühe als auch später Bundesau-ßenminister Klaus Kinkel aktiv an der Erweiterungsdiskus-sion beteiligten, diese teilweise gar initiierten.
Insbesondere das bundesdeutsche Außenamt hoffte, dass engere politische Konsultationen und wirtschaftliche Kooperation im Ostseeraum die Sicherheitsbedürfnisse der Baltenrepubliken befriedigen würden. Außenminister Genscher war davon überzeugt, dass Sicherheit im Ostsee-raum nur durch eine institutionalisierte Form der Koope-ration möglich sei, die Balten und Russen gleichermaßen einbezog. Im Herbst 1991 regte Genscher daher zusammen
7 | Vgl. Gerd Föhrenbach, „Die Sicherheitskonzepte der baltischen Staaten‟, in: Sicherheitspolitische Analysen, Nr. 1 (Waldbröl: Amt für Studien und Übungen der Bundeswehr, 1999).
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Der Außenminister interessierte sich stets weit mehr für die baltischen Staaten als der Bundeskanzler. Diese Rollenverteilung galt 1991/92 für Kohl und Genscher ebenso wie 1992 bis 1998 für Kohl und Kinkel.
mit seinem dänischen Amtskollegen Uffe Ellemann-Jensen eine Konferenz aller Anrainerstaaten der Ostsee an. Das Ergebnis der deutsch-dänischen Initiative war die Grün-dung des Ostseerates am 6. März 1992, an dem sich neben Dänemark und Deutschland ebenso Estland, Finnland, Lett-land, Litauen, Russland und Schweden sowie Island und Norwegen beteiligten. In der Ostseeregion, in der Russ-land aufgrund seines geopolitischen Gewichts und seiner historischen Rolle die sicherheitsrelevante Agenda stark beeinflusste, sollte der Rat über den politischen Dialog auf Außenministerebene Vertrauen aufbauen.
Der Ostseerat8 war und ist trotz seines unverbindlichen Mandats ein wichtiges regionales Gremium. In den neun-ziger Jahren bot er eine neue und angesichts der ange-spannten baltisch-russischen Beziehungen geforderte Möglichkeit zum Austausch und zur Zusammenarbeit der Ostseeanrainer auf Augenhöhe. Bonn unterstützte die Zusammenarbeit der nord- und osteuropäischen Länder, um seinen ureigenen Sicherheitsinteressen in der Ostsee-region nachzugehen. Der multilaterale Rahmen des Ostseerates sollte den Dialog insbesondere zwischen den Ostseeanrainerstaaten Estland, Lettland und Litauen einerseits und Russland andererseits fördern und strittige Punkte im Transfor-mationsprozess im Rahmen dieses Forums ausräumen. Darüber hinaus beinhaltet der Ostseerat eine ganze Reihe von Initiativen im Bereich der Demokratieförderung, Wirt-schaftsentwicklung, Technologie- und Wissenstransfer, Umweltschutz, Energiesicherheit, Transport und Kommuni-kation, um die Grundlage für nachhaltiges Wachstum und Stabilität in der Region zu schaffen.
Der Ostseerat, aber auch die Annäherung der drei balti-schen Staaten an Europarat, EG und NATO förderten den zeitweiligen Dualismus zwischen deutschem Außenamt und Bundeskanzleramt zutage. Der Außenminister inter-essierte sich stets weit mehr für die baltischen Staaten als der Bundeskanzler. Sie verfolgten unterschiedliche Prio-ritäten: Der Minister widmete sich den drei Ländern, der Kanzler konzentrierte sich auf die Beziehungen zu Moskau. Diese Rollenverteilung galt 1991/92 für Kohl und Genscher
8 | Vgl. www.cbss.com
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Die Verhandlungen über die Erwei-terung von EG und NATO nach Osten schritten auch nach dem Führungs-wechsel im Auswärtigen Amt zu Klaus Kinkel nur langsam voran.
ebenso wie 1992 bis 1998 für Kohl und Kinkel. Die Politiker verfolgten damit keine strategische Arbeitsteilung, sondern vertraten unterschiedliche Ansichten zur europäischen Integration der baltischen Staaten. So war das Auswär-tige Amt überzeugt, dass die baltischen Republiken gleich den anderen MOE-Ländern zu einem erweiterten Europa gehörten, und unterstützte daher deren Bemühungen um eine baldige, umfassende Mitgliedschaft in den europäi-schen Institutionen und Organisationen. Das Kanzleramt hingegen stand der EG/EU-Mitgliedschaft der baltischen Länder teilweise gleichgültig bis skeptisch gegenüber und bremste entsprechende Bestrebungen. Ebenso lehnte das Bundeskanzleramt zunächst die Erweiterung der NATO bis
an die westliche Außengrenze Russlands ab, in erster Linie erneut, um nicht die für den Wiedervereinigungsprozess wichtigen Partner im Kreml zu brüskieren. Angesichts der Kritik des Kremls an den Erweiterungsplänen der NATO plädierte Bonn für einen „Mittelweg
zwischen der Vollmitgliedschaft und der lockeren Zusam-menarbeit im Kooperationsrat‟9. Für die Balten hingegen hatte die Aufnahme in die militärische Sicherheitsallianz oberste Priorität, da sie sich dadurch letzten Endes die für sie wichtigen Sicherheitsgarantien gegenüber einer mögli-chen Aggression aus Russland erhofften.
Die Verhandlungen über die Erweiterung von EG und NATO nach Osten schritten auch nach dem Führungswechsel im Auswärtigen Amt zu Klaus Kinkel nur langsam voran. Angesichts der Schwierigkeiten im Transformationsprozess in den postsowjetischen Ländern reagierte Deutschland im Frühjahr 1993 zurückhaltend auf den Vorschlag der dänischen EG-Ratspräsidentschaft, mit den baltischen Ländern zeitnah Freihandelsabkommen zu verabschieden. Den Wunsch der Balten, in naher Zukunft mit Verhand-lungen über die Assoziierung zu beginnen, hielt Bonn zu diesem Zeitpunkt für unrealistisch. Damit signalisierte die deutsche Regierung, dass sie die drei Länder noch nicht für beitrittsfähig hielt, da derartige Gespräche in der Regel den Abschluss von Europa-Abkommen und die damit verbundene Perspektive der EG-Vollmitgliedschaft nach sich zogen.
9 | Karl Feldmeyer, „Auf der Suche nach einem Mittelweg‟, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.10.1993.
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Als ziel der EU-Ratspräsidentschaft 1994 formulierte Deutschland, inner-halb von sechs Monaten EU-Assoziie-rungsabkommen mit allen drei balti-schen Ländern zu unterzeichnen.
Die Zurückhaltung der Bundesregierung wich erst, als Deutschland im Juli 1994 turnusgemäß selbst den EU-Rats- vorsitz übernahm. Es wurde als erklärtes Ziel der Rats-präsidentschaft formuliert, die MOE-Staaten weiter an die Union heranzuführen sowie innerhalb von sechs Monaten EU-Assoziierungsabkommen mit allen drei baltischen Län- dern zu unterzeichnen. Entsprechend beschrieb Bundes-außenminister Kinkel in einem Namensartikel die Haltung der Bundesregierung im März 1994:
„Deutschland befürwortet mit Nachdruck, die balti-schen Staaten konsequent über eine Assoziation zu einer vollen Mitgliedschaft in der Europäischen Union zu führen. Wir wollen diesen Staaten rasch und groß-zügig dabei helfen, den ihnen gebührenden Platz in Europa zu finden. Als Fürsprecher und Anwalt der baltischen Staaten setzen wir uns dafür ein, noch in diesem Jahr Europa-Abkommen mit den baltischen Staaten abzuschließen. Die Europäische Union bliebe unvollkommen, wenn nicht eines Tages auch alle drei baltischen Staaten Mitglieder würden.‟10
Während der deutschen Ratspräsidentschaft appellierte Bonn wiederholt an die europäischen Staats- und Regie-rungschefs, der baldigen Aufnahme von Assoziierungs-gesprachen mit den baltischen Ländern zuzustimmen. Schlussendlich entschied der Europäische Rat auf dem Essener EU-Gipfel am 9. und 10. Dezember 1994 einstimmig, die Verhandlungen mit Litauen, Lettland und Estland über Europa-Abkommen aufzunehmen. Damit hatte die Bundesregierung die europäische Integration der baltischen Staaten maßgeblich voran-gebracht. Die rasche Unterzeichnung der Abkommen mit allen drei baltischen Staaten war ein Erfolg für die deutsche Außenpolitik und förderte das Selbstverständnis der drei jungen Demokratien als Teil des westlichen Wertekanons. Die Beschlüsse unterstrichen, deutlich an die Adresse Moskaus gerichtet, die Souveränität und die europäische Perspektive der drei Staaten.
10 | Klaus Kinkel, „Die Zukunft des Baltikums liegt in Europa‟, in: Die Welt, 05.03.1994.
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Die Balten waren enttäuscht, dass sich Bonn ausweichend verhielt und ihr Anliegen, bereits in der ersten Erweite- rungsrunde aufgenommen zu werden, nicht unterstützte.
Aller Unterstützung vor und während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft zum Trotz hielt sich die deut-sche Bundesregierung jedoch auch weiterhin mit einem
eindeutigen Fahrplan für die Aufnahme der baltischen Länder in die EU zurück. Unter Berücksichtigung der russischen Interessen plädierte der deutsche Kanzler zunächst nur für die uneingeschränkte Aufnahme
Polens, der Tschechischen Republik und Ungarns als neue Mitglieder in der EU und NATO. Der Beitritt der übrigen MOE-Staaten zu auch nur einer der beiden Organisationen wurde zunächst auf die undatierte Zukunft geschoben.
Die Position der Bundesregierung bezüglich der Erweite-rungsperspektive der Länder Mittel- und Osteuropas legte Bundesverteidigungsminister Rühe im November 1996 bei einer Vortragsreise nach London dar: „Die wichtigste Botschaft an die Länder, die noch nicht Mitglied werden, ist das politische Signal: Wir sind in einem offenen politischen Prozess; wir sagen nicht ‚nein‛, sondern ‚noch nicht‛.‟11 Dass die baltischen Staaten zu den „Noch-nicht‟-Beitritts-kandidaten gehören würden, galt zu diesem Zeitpunkt bereits als wahrscheinlich. Die Balten waren enttäuscht, dass sich Bonn so ausweichend verhielt und ihr Anliegen, bereits in der ersten Erweiterungsrunde aufgenommen zu werden, nicht wie gehofft unterstützte.12
Kurz nach dem Entschluss der kleinen NATO-Erweiterung im Juli 1997 legte die EU-Kommission ihre Stellungnahmen zur Beitrittsfähigkeit der zehn Kandidaten vor. Sie empfahl, die Gespräche zunächst mit Estland, Polen, Slowenien, der Tschechischen Republik, Ungarn und Zypern zu beginnen. Um zu verhindern, dass die Zurückstellung und Enttäu-schung Lettlands und Litauens die bereits geleisteten und noch notwendigen Reformprozesse beeinträchtigten, traf der deutsche Außenminister im Oktober 1997 seine drei baltischen Amtskollegen in Riga. Dabei ermutigte er die beiden südlichen Baltenrepubliken, das estnische Beispiel anführend, ihre Reformbemühungen weiter fortzusetzen und an den Kopenhagener Kriterien auszurichten.
11 | Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregie- rung, Nr. 94 (22.11.1996).12 | Jasper von Altenbockum, „Die baltischen Staaten sind von Bonn enttäuscht‟, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.07.1996.
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Lettland und Litauen setzten in der zweiten Runde den Acquis commu-nitaire erfolgreich um und konnten gemeinsam mit Estland am 1. Mai 2004 der EU beitreten.
Die von 1998 bis 2005 amtierende Koalition aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen unter Bundeskanzler Gerhard Schröder führte im Wesentlichen die verbindlich-unver-bindliche Baltikumpolitik der Vorgängerregierung fort. Dabei fürchteten die MOE-Staaten vor allem zu Beginn der rot-grünen Regierung, dass Bonn sich in Zukunft noch weniger für die Erweiterung der Union interessieren würde als bisher. Im Vorfeld des Wiener EU-Gipfels im Dezember 1998 betonte Bundeskanzler Schröder, dass der Zeitpunkt der Erweiterung noch nicht feststünde und es aufgrund weiterhin offener Fragen leichtfertig sei, terminliche Zusagen zu machen. Auch das Lippenbekenntnis seines Außenministers Joschka Fischer, Deutschland verstünde sich weiterhin als „Anwalt der Mittel- und Osteuropäer in der EU‟13, konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass keines der Kabinettsmitglieder der rot-grünen Koalition sich besonders für das Baltikum engagierte. Berlin förderte in diesen Jahren weder den Fortgang der Verhandlungen mit Estland noch die Aufholprozesse Lettlands und Litauens nachdrücklich. Dennoch setzten auch Lettland und Litauen in der zweiten Runde den Acquis communitaire erfolgreich um und konnten gemeinsam mit Estland und fünf weiteren Ländern Mittel- und Osteuropas sowie Malta und Zypern am 1. Mai 2004 der EU beitreten, nachdem bereits zuvor die Aufnahme in die NATO erfolgt war.
Für Verstimmung in den baltisch-deutschen Beziehungen sorgte das von einem russisch-deutschen Firmenkonsor-tium geführte milliardenschwere Erdgaspro-jekt Nord Stream, das Wyborg in Russland mit seinem Endpunkt Lubmin nahe Greifs-wald in Deutschland verbinden und ab 2012 bis zu 55 Milliarden Kubikmeter Gas jährlich in die EU transportieren soll. Im Prozess der Vorbereitung des Projektes, das Teil des Europäi-schen Energienetzwerkes werden soll, fühlten sich die drei Baltischen Länder von den für das Projekt werbenden Regierungen Russlands und Deutschlands wenn nicht gleich übergangen, so zumindest nicht hinreichend über die Pläne informiert. Angesichts des wenig diplomatischen Vorgehens von Bundeskanzleramt und Kreml in dieser Angelegenheit sowie der offen zur Schau getragenen
13 | Interview mit Joseph Fischer, in: Süddeutsche Zeitung, 27.11.1998.
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Der Georgien-Konflikt im Sommer 2008 hat in den Baltischen Ländern aufgrund vergleichbarer Erfahrungen mit der sow- jetischen Expansionspolitik zu großen emotionalen Reaktionen geführt.
„Männerfreundschaft‟14 zwischen Gerhard Schröder und Russlands Präsident Wladimir Putin zogen eine ganze Reihe von baltischen Politikern in der öffentlichen Diskus-sion Parallelen zum Hitler-Stalin-Pakt, als zwischen Berlin und Moskau über die Zukunft der baltischen Republiken als Teil der sowjetischen Einflusszone entschieden worden war. Obwohl der Vergleich an sich jeder Grundlage entbehrt, ist er dennoch ein Beleg für die tiefe Verunsicherung und das mangelnde Selbstbewusstsein der Balten nach der fünfzigjährigen Besatzungszeit. Dass eine gewisse Skepsis gegenüber einem ehemaligen Besatzungsregime vorherrscht, das die Auflösung der Sowjetunion als „größte
geopolitische Katastrophe des (zwanzigsten) Jahrhunderts‟15 bezeichnet, sowie gegen-über dessen politischem Partner, der den Urheber dieses Statements als „lupenreinen Demokraten‟ charakterisiert16, ist nachvoll-ziehbar. Nicht zuletzt der Georgien-Konflikt
im Sommer 2008 hat in den Baltischen Ländern aufgrund vergleichbarer Erfahrungen mit der sowjetischen Expansi-onspolitik im zwanzigsten Jahrhundert zu großen emotio-nalen Reaktionen geführt.17
FAzIT
Das Verhältnis Deutschlands zu den baltischen Nachbarn wurde in den zurückliegenden zwanzig Jahren im Wesent-lichen sowohl vom Bemühen der jeweiligen Bundesregie-rung um gute Beziehungen zu Russland als auch von der historisch-politischen Verbundenheit Deutschlands zum Baltikum geleitet.
14 | Vgl. Michael Thumann, „Anatomie einer Männerfreund- schaft‟, in: Die Zeit, 09.09.2004, abrufbar unter: http://zeit.de/2004/38/Putin_2fSchr_9ader [05.08.2010].15 | Rede des russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin zur Lage der Nation vor der Duma am 25.04.2005, zitiert nach: Russland Analysen, Nr. 63 vom 29.04.2005, 13.16 | So der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder auf die Frage von Reinhold Beckmann, ob er den russischen Staats- präsidenten Wladimir Putin als lupenreinen Demokraten betrachte. Beckmann, ARD, 22.11.2004.17 | Vgl. zur Einschätzung des außenpolitischen Anspruchs Russlands unter Putin u.a. Erich G. Fritz, „Gute Worte – Falsche Taten‟, in: Die Politische Meinung Nr. 440, Juli 2006, 53-56.
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Bis zum Jahr 1990 war es das Primat der deutschen Außenpolitik, die Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit unter Beibehaltung der europäischen und transatlantischen Partnerschaften zu erreichen. Nach der Wahl Michail Gorbatschows zum Generalsekretär der KPdSU und seiner anschließenden Reformpolitik bot sich der Bundesregierung unter der Führung Helmut Kohls dieses möglicherweise einmalige „window of opportunity‟ zur Vereinigung beider deutscher Staaten. Die Einheit Deutschlands war allerdings auch zu diesem Zeitpunkt nur mit dem Wohlwollen und der Zustimmung Moskaus auf friedlichem Wege zu erreichen und konnte nur mit entspre-chenden Sicherheitsgarantien an den Kreml einhergehen. Wenn die deutsche Politik eine zurückhaltende Position zu den baltischen Wünschen einnahm, wie bei den baltischen Forderungen nach Unabhängigkeit und Aufnahme in die NATO, geschah dies um der deutschen Interessen willen.
Deutschland setzte sich immer dann aktiv auch für die baltischen Belange ein, wenn derartiges Verhalten die Erreichung der eigenen nationalen Ziele nicht gefährdete. Keine deutsche Regierung konnte die Position des Kremls zum Baltikum ignorieren, wenn sie das Wohlwollen der Moskauer Führung und damit die von ihr angestrebten Ziele nicht aufs Spiel setzen wollte. Die konfliktreichen Beziehungen zwischen Moskau und den baltischen Staaten, beispielsweise in Hinblick auf den Truppenabzug und die russischsprachige Minderheit, verkomplizierten die Lage zusätzlich. Unter diesen Bedingungen entschieden sich die deutschen Regierungen für eine Baltikumpolitik, die Deutschland wiederholt den Vorwurf zu großer Rücksicht-nahme auf Moskau eintrug.
Der zweite bedeutende Faktor, der auf die Politik der Bundesregierungen einwirkte, war die wechselvolle deutsch-baltische Geschichte. Das heutzutage in der Summe positiv bewertete Wirken des Deutschen Ordens und der Deutschbalten seit dem 13. Jahrhundert einerseits und die negativen Auswirkungen des Hitler-Stalin-Pakts vom August 1939 andererseits begründeten Deutschlands Verbundenheit mit und Verantwortung gegenüber den drei Republiken. Vor allem in den ersten Transformationsjahren verwies die Bundesregierung häufig auf diese historischen
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Während sich die Balten eine eindeu-tigere Positionierung zu ihren Gunsten wünschen würden, erwartet Deutsch-land im Umkehrschluss eine größere Gelassenheit im Umgang mit dem rus-sischen Nachbarn.
Determinanten. Die daraus resultierende Verpflichtung war und ist eine wichtige Antriebskraft der deutschen Baltikum-politik.
Ob Deutschland der selbst zugeführten Rolle als „Anwalt der Balten‟ immer gerecht wurde, ist vielerorts diskutiert worden.18 Insgesamt lässt sich konstatieren, dass sich alle deutschen Regierungen von Helmut Kohl über Gerhard Schröder bis zu Angela Merkel sowohl in den internatio-nalen Organisationen als auch über bilaterale Vereinba-rungen für die baltischen Staaten engagierten, wenn auch mit wechselnder Intensität. Sowohl die Aufnahme Estlands, Lettlands und Litauens in die Europäische Union als auch in die NATO wäre ohne das Zutun der deutschen Außen-politik so rasch nicht möglich gewesen. Bis zum heutigen
Tage bieten sowohl Kanzleramt als auch Außenamt ihre unterstützende und vermit-telnde Rolle auf europäischer Ebene an, um für die Balten zentrale Fragen der inneren und äußeren Sicherheit zu befördern. Dass der Ton die Musik auch auf dem außenpoliti-
schen Parkett bestimmt, ist spätestens seit der Diskussion um die Verlegung der Ostseepipeline Nord Stream im Jahr 2005 offenbar geworden.
Immer wenn es darauf ankam, wie beispielsweise während der Zwischenfälle in Vilnius und Riga zu Beginn des Jahres 1991 oder während der heißen Phase des Georgien-Konfliktes im August 2008, die auf einen Besuch der Bundeskanzlerin Angela Merkel in Tallinn fiel, stand die deutsche Bundesregierung solidarisch hinter den balti-schen Freunden und Partnern. Während sich die Balten von den deutschen Partnern jedoch auch in konfliktfreien Phasen eine eindeutigere Positionierung zu ihren Gunsten wünschen würden, erwartet Deutschland im Umkehr-schluss eine größere Gelassenheit im Umgang mit dem russischen Nachbarn insbesondere vor dem Hintergrund der unumkehrbaren Verankerung der baltischen Länder in der Europäischen Union und der Transatlantischen Sicher-heitsallianz.
18 | Vgl. Helge Danchert, ‚Anwalt der Balten‛ oder Anwalt in eigener Sache?: Die deutsche Baltikumpolitik 1991-2004, (Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag, 2008).
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Jörg Wolff / Laura-Theresa Jaspers
Deutschland und Frankreich sind in vielfältiger Weise und mit engmaschigen Netzwerken verbunden. Dies gilt für den politischen, wirtschaftlichen und institutionellen Bereich wie für die kulturellen und zivilgesellschaftlichen Ebenen. Dabei kommt der politischen Zusammenarbeit mit ihren umfassenden Abstimmungs- und Kooperationsmecha-nismen im internationalen Vergleich eine einzigartige Stel-lung zu. Die gegenseitige Verflechtung zwischen beiden Nachbarländern ist tiefer als mit irgendeinem anderen Staat. Sie ist langfristig-strategisch angelegt und prägte in der Vergangenheit entscheidend den europäischen Integrationsprozess. Insoweit ist es nachvollziehbar, wenn die bilateralen Beziehungen als „deutsch-französisches Tandem‟, als „europäischer Motor‟ oder als „Schwungrad für Europa‟ bezeichnet werden. Die deutsch-französische Aussöhnung war am Ende des Zweiten Weltkrieges alles andere als selbstverständlich. Sie stellt in ihrem Ergebnis eine herausragende politische Leistung von geschicht-lichem Format dar. An ihre Grundlagen ist besonders in Zeiten gelegentlicher Irritationen und Missverständnisse zwischen beiden Ländern immer wieder zu erinnern.
EntwicklungsphasEn dEr dEutsch-französischEn BEziEhungEn
Die deutsch-französischen Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg werden in der Regel in drei Phasen eingeteilt. Die erste Periode war von der Versöhnung beider Länder und ihrem Ausgleich geprägt und mit dem europäi-schen Neubeginn verbunden. Dafür steht die historische
Jörg Wolff ist Aus-landsmitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Paris.
ÜBEr diE BEfindlichkEitEn dEs dEutsch-französischEn paarEs zwEi JahrzEhntE nach dEr wiEdErvErEinigung
Laura-Theresa Jaspers studiert Romanistik in Dresden und war von April bis Juli 2010 im Auslandsbüro der Konrad-Adenauer- Stiftung in Paris tätig.
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die sicht der krisenreichen vierten republik (1948 bis 1956) auf den deut- schen nachbarn war von vorsichtigem Misstrauen, sicherheitserwägungen und kontrollabsichten geprägt.
Unterzeichnung des Élysée-Vertrages 1962. Es folgten Jahrzehnte der Institutionalisierung und Dynamisierung der bilateralen Zusammenarbeit und des weiteren Aufbaus der Europäischen Gemeinschaft. Diese zweite Phase dauerte bis zur deutschen Wiedervereinigung 1990. Die darauf
aufbauende europäische Osterweiterung, die Jahre von Maastricht bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon, die Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion mit ihrem Stabilitäts- und Wachstumspakt und die Europäische Sicherheits- und Verteidi-
gungspolitik charakterisieren bis heute die dritte Phase der deutsch-französischen Zusammenarbeit. Eine vierte Phase, an deren Beginn wir gegenwärtig stehen, wird sich vermehrt mit der Weiterentwicklung einer gemeinsamen Politikgestaltung auf bilateraler Ebene befassen müssen. Daneben gilt es, eine tragfähige Übereinstimmung für die Umsetzung des Vertragswerkes von Lissabon zu erzielen, europäische Handlungsoptionen für die Gestaltung einer internationalen Ordnung zu finden und insgesamt die Frage der Rolle Europas in einer neuen multipolaren Welt überzeugend zu beantworten.
dEr BEginn: Europa als gEBurtshElfEr
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war nach den beiden Weltkriegen ein starker Antagonismus fest im kollektiven Bewusstsein der beiden Völker verankert, der sich auch in dem Begriff „Erbfeindschaft‟ äußerte.1 So war die Sicht der krisenreichen Vierten Republik (1948 bis 1956) auf den deutschen Nachbarn von vorsichtigem Misstrauen, Sicherheitserwägungen und Kontrollabsichten geprägt. Man fürchtete ein Erstarken des Nachbarn und damit eines neuen Nationalismus. Daher war Paris zunächst bestrebt, Deutschland durch eine verstärkte Föderalisie-rung zu kontrollieren. Die westlichen Siegermächte, insbe-sondere die USA, forderten wegen des Koreakrieges und des Beginns des Kalten Krieges jedoch eine rasche Inte-gration Deutschlands in die westliche Gemeinschaft. Auf dieser Grundlage strebte Frankreich in seiner Europapolitik
1 | Vgl. Wolfram Vogel, „Die deutsch-französischen Beziehungen‟, in: Adolf Kimmel und Henrik Uterwedde (Hrsg.), Länder- bericht Frankreich. Geschichte, Politik, Wirtschaft, Gesell- schaft (Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2005), 419.
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trotz des scheiterns einer Europäischen verteidigungsgemeinschaft wurde das ziel eines vereinten Europas und der deutsch-französischen annäherung in deutschland vor allem durch konrad adenauer weiterverfolgt.
Sicherheit gegenüber Deutschland durch Einbindung und Kontrolle an und versuchte gleichzeitig, seine eigene Führungsrolle in Westeuropa auszubauen. Jedoch konnte nur die Lösung der für Frankreich essenziellen Themen wie die Kontrolle des Ruhrgebietes, die Saarfrage und die Sorge vor einer deutschen Wieder-bewaffnung den Weg für eine deutsch-fran-zösische Versöhnung ebnen.2 Dem kam auch die Bildung einer Förderation europäischer Staaten entgegen, die 1949 in Form des Europarats gelang.
Ein weiterer Impuls erfolgte durch den Vorschlag Robert Schumans vom 9. Mai 1950, durch eine Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) die gesamte deutsche und französische Montanindustrie zusammenzu-fassen und einer gemeinsamen Aufsichtsbehörde zu unter-stellen. Er wurde 1951 als Montanunion unter Einbezug der Benelux-Staaten und Italiens verwirklicht. Dadurch konnten Frankreich und Deutschland „ihre Länderbeziehung auf den gemeinsamen Bezugspunkt einer neu zu schaffenden Europäischen Gemeinschaft ausrichten‟3. Frankreich suchte durch dieses Projekt maßgeblich sicherheitspoliti-sche Interessen umzusetzen, während Deutschland darin eine Möglichkeit sah, auf europäischer Ebene schrittweise seine Souveränität zurückzuerlangen und einen wich-tigen Schritt der Westbindung zu vollziehen. Trotz des Scheiterns einer Europäischen Verteidi gungsgemeinschaft wurde das Ziel eines vereinten Europas und der deutsch-französischen Annäherung in Deutschland vor allem durch Konrad Adenauer weiterverfolgt.
Mit der Wiederangliederung des Saarlandes an die Bundes-republik nach einer Volksabstimmung 1955 war der Weg für eine volle Aussöhnung beider Staaten frei. Trotz der krisenreichen letzten Jahre der Vierten Republik konnten nach der Bildung der Euratombehörde die Römischen Verträge unterzeichnet werden, welche die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) als Kern der heutigen Europäischen Union (EU) errichteten. Die deutsch-fran-zösischen Beziehungen wurden in diesem Zeitraum auf beiden Seiten des Rheins primär als nötiges Werkzeug für
2 | Vgl. Vogel (2005), 420.3 | Ebd., 420.
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die enge annährung beider länder fand ihren abschluss im „Élysée-vertrag‟. Er symbolisierte die versöh-nung beider völker als geschichtliches Ereignis.
die Ausgestaltung der europäischen Einigung verstanden.Die Fünfte Republik (seit 1958) wurde in den ersten elf Jahren von der Persönlichkeit Charles de Gaulles domi-niert. Seine Außenpolitik war durch die Aufrechterhaltung einer weitgehenden Unabhängigkeit Frankreichs gekenn-
zeichnet. Er sprach sich gegen die Abgabe von Souveränitätsrechten an die EWG aus und verfolgte das Ziel eines „Europas der Vaterländer‟. Folgerichtig zog er Frankreich aus den Strukturen der NATO zurück und
baute eine eigene Atomstreitmacht auf. Bereits 1958 lud er Konrad Adenauer nach Colombey-les-Deux-Églises ein, wo beide die Grundlagen für eine stärkere bilaterale Zusam-menarbeit und Aussöhnung legten.4 Es war der Ausgangs-punkt einer engen Annäherung beider Länder.
Sie fand ihren Abschluss im „Vertrag zwischen der Bundes-republik Deutschland und der Französischen Republik über die deutsch-französische Zusammenarbeit‟, der seither nach dem Dienstsitz des französischen Präsidenten „Élysée-Vertrag‟ genannt wird. Er markierte „sowohl das Ende als auch den Anfang einer Entwicklung‟5 und symbo-lisierte die Versöhnung beider Völker als geschichtliches Ereignis. Er setzte die Erkenntnis beider Staatsmänner um, dass beide Völker solidarisch miteinander verbunden sein müssen und eine enge Zusammenarbeit ein unerlässlicher Teil des Weges zu einem vereinten Europa sei. Wie Konrad Adenauer selbst in seinen Erinnerungen ausführt, werde dieser Vertrag von der Geschichtsschreibung als eines der wichtigsten und wertvollsten Vertragswerke der Nach-kriegszeit bezeichnet.
dEr ElysÉE-vErtrag: fundaMEnt fÜr vErsöhnung und zukunft
Ob der Élysée-Vertrag im Sinne Charles de Gaulles als Gegengewicht gegen die beiden Supermächte gedacht war oder nicht bzw. ob er mit ihm ein vereinigtes Europa unter französischer Führung anstrebte, ist unerheblich. Denn
4 | Vgl. Ernst Weisenfeld, „Deutsch-Französische Beziehungen 1945-2007‟, in: Ingo Kolboom, Thomas Kotschi und Edward Reichel (Hrsg.), Handbuch Französisch. Sprache, Literatur, Kultur, Gesellschaft. Für Studium, Lehre, Praxis (Berlin: Erich Schmidt Verlag, 2008), 680.5 | Vogel (2005), 422.
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von zentraler Bedeutung haben sich die bilateralen treffen zwischen staats- und regierungschefs erwiesen, die mindestens zweimal jährlich stattfin-den und einen strukturbildenden cha-rakter für das deutsch-französische verhältnis angenommen haben.
der Vertrag gestaltet bis heute grundlegend das Verhältnis beider Länder zueinander und er legte das organisatori-sche und programmatische Fundament für eine enge bila-terale Zusammenarbeit und Abstimmung. Seine Forderung nach regelmäßigen Konsultationen und Koordinationen zur Behandlung von Fragen „von gemeinsamem Inter-esse‟ soll „soweit wie möglich zu einer gleichgerichteten Haltung‟ führen. Rückblickend liegt die Bedeutung des Vertrags heute vor allem in der Erkenntnis, dass unter-schiedliche Positionen und Interessen beider Länder ein gemeinsames Handeln nicht verhindern, sondern tragbare Konsense und damit sinnvolle Politikoptionen ermöglichen. In diesem Sinne drückte und drückt er den gemeinsamen Willen beider Länder aus, das gegenseitige Verständnis zu vertiefen, die Kooperation zu institutionalisieren und auszubauen. Dies hat sich in der Folge als Stabilisie-rungs- und Vertrauensfaktor für die deutsch-französische Partnerschaft erwiesen und wurde von allen Regierungen, unabhängig von parteipolitischen Richtungen, auch als Verpflichtung betrachtet.
Der Vertrag legte die Zusammenarbeit in Bereichen der auswärtigen Angelegenheiten, der Verteidigung sowie in Erziehungs- und Jugendfragen fest. Von zentraler Bedeu-tung haben sich die bilateralen Treffen zwischen Staats- und Regierungschefs erwiesen, die mindes-tens zweimal jährlich stattfinden und einen strukturbildenden Charakter für das deutsch-französische Verhältnis angenommen haben. Sie haben ferner zu vielen Gemeinschaftspro-jekten geführt. Darüber hinaus hat sich auf der Grundlage des Vertrags, wie zu Recht in einer im Mai erschienen KAS/Ifri-Studie zu den deutsch-französischen Beziehungen festgestellt wurde, „von Gipfel zu Gipfel und Jahrestag zu Jahrestag eine Viel-falt an Kooperationsstrukturen zwischen den Regierungen, den Behörden, den Ministerien und den Zivilgesellschaften entwickelt, die in der Welt einzigartig ist‟.6
6 | Hans Stark, „Rück- und Ausblick: Frankreich – Deutschland, eine komplexe Beziehung‟ in: Konrad-Adenauer-Stiftung Frankreich (Hrsg.), Deutschland – Frankreich: Fünf Visionen für Europa / France – Allemagne: Cinq visions pour l’Europe (Paris: Konrad-Adenauer-Stiftung, 2010), 25.
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als günstiger faktor kamen mit valéry giscard d’Estaing und helmut schmidt nahezu gleichzeitig zwei politiker an die Macht, die sich kannten – und schätzten.
diE zusaMMEnarBEit iM wandEl dEr zEitEn
Der Ausbau des Vertrags stand in der Folge zunächst im Mittelpunkt der Beziehungen, wenngleich von Frankreich in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre „gemeinsame Aktionen‟ angemahnt wurden. Unter der Präsidentschaft von Georges Pompidou verzeichnete der deutsch-franzö-sische Bilateralismus kaum Aufwind. Die Ostpolitik von
Willy Brandt weckte Befürchtungen, dass die Bundesrepublik sich nach Osten orientieren könnte und Frankreich nicht in diese neue Phase der europäischen Politik einbezogen sei. In der Zwischenzeit hatte sich auch
die wirtschaftliche Bedeutung zugunsten Deutschlands verschoben und damit das in französischen Augen wich-tige „relative Gleichgewicht‟7 verändert. Die Währungs-politik sowie die Zukunft des Gemeinsamen Agrarmarktes ergaben weitere Unstimmigkeiten. Dennoch konnten bemerkenswerte Vereinbarungen abgeschlossen werden, so die gemeinsame Produktion des Airbus (1969), die Errichtung deutsch-französischer Gymnasien und 1972 die Einführung des deutsch-französischen Abiturs.
Die zweite bedeutende Phase der deutsch-französischen Zusammenarbeit begann in den siebziger Jahren vor dem Hintergrund der ersten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit und der Neuordnung des internationalen Währungssys-tems. Als günstiger Faktor für das deutsch-französische Verhältnis kamen mit Valéry Giscard d’Estaing und Helmut Schmidt nahezu gleichzeitig zwei Politiker an die Macht, die sich bereits aus ihren vorigen Funktionen als Finanzminister kannten – und schätzten. Die Zugkraft dieses „Tandems‟ konzentrierte sich auf bemerkenswerte wirtschaftliche, europäische und internationale Initiativen mit bleibender Substanz: Abstimmung der ökonomischen Entwicklung beider Länder mit Blick auf eine künftige europäische Wirt-schafts- und Währungsunion (WWU), Schaffung des euro-päischen Rates der Staats- und Regierungschefs, Errich-tung eines Weltwirtschaftsgipfels (G7) und Einführung des Europäischen Währungssystems (EWS).8
7 | Vgl. Vogel (2005), 424 ff.8 | Ebd., 425.
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frankreichs reaktionen auf die wie-dervereinigung blieben verhalten. die französische regierung übte sich in einer „verzögerungstaktik‟.
Das deutsch-französische Verhältnis war zu Beginn der achtziger Jahre von der internationalen sicherheitspoliti-schen Lage bestimmt, die von dem Doppelbeschluss der NATO (1979) dominiert war und zu einer Verschlechte-rung der Ost-West-Beziehungen führte. Der Nachrüs-tungsbeschluss komplizierte zunächst die Beziehungen, da beide Länder unterschiedliche sicherheitspolitische Konzeptionen vertraten. 1982 fanden die 40. deutsch-französischen Konsultationen erstmals zwischen François Mitterrand und Helmut Kohl statt. Sie beschlossen eine aktive bilaterale Zusammenarbeit im Bereich der Sicher-heits- und Verteidigungspolitik. Beide Seiten betonten das Festhalten an beiden Teilen des NATO-Doppelbeschlusses, keine Einbeziehung der französischen Nuklearstreitkräfte in die Rüstungskontroll-Verhandlungen und die Fortset-zung des KSZE-Prozesses. Anlässlich der Feier des 20. Jahrestages des Élysee-Vertrags sicherte der französi-sche Präsident in einer Aufsehen erregenden Rede im Bundestag der Bundesregierung seine Unterstützung bei der Durchsetzung des Doppelbeschlusses zu. Dies entspannte das deutsch-französische Verhältnis. In einer bewegenden Zeremonie bei einem Besuch der Schlachtfelder von Verdun 1984 erklärten François Mitterrand und Helmut Kohl, dass „beide Völker unwiderruflich den Weg des Friedens, der Vernunft und der freundschaftlichen Zusammenarbeit eingeschlagen haben‟. 1986 verein-barten beide Regierungen den Ausbau der außen-, sicher-heits- und verteidigungspolitischen Zusammenarbeit, der 1987 durch eine Deutsch-Französische Brigade und 1988 durch die Einrichtung des „Deutsch-Französischen Vertei-digungs- und Sicherheitsrats‟ ergänzt wurde.
diE auswirkungEn dEr wiEdErvErEinigung
Die Umwälzungen in Europa kündigten auch für das deutsch-französische Verhältnis eine weitere Verschie-bung der Machtbalance an. Frankreichs Reaktionen auf die Wiedervereinigung blieben zunächst auf offizieller Seite verhalten. Die französische Regierung übte sich in einer „Verzögerungstaktik‟9. Von deutscher Seite hätte man eine klare, spontane Unterstützung sicherlich begrüßt,
9 | Weisenfeld (2008), 684.
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nach deutsch-französischen unstim-migkeiten im zuge der nominierung des ersten präsidenten der EzB ging das projekt einer Europäischen sicherheits- und verteidigungspolitik auf eine britisch-französische und keine deutsch-französische initiative zurück.
aber das Zögern Mitterrands hinterließ in Deutschland, im Gegensatz zu auch heute noch in Frankreich anzutref-fenden Befürchtungen, keine tieferen Spuren – zumal Paris letztendlich die deutsche Einheit voll unterstützte.10
Negativer wirkten sich indes Mitterrands Europapolitik und die damit verbundene Absicht aus, Deutschland zu kont-rollieren. Während die Nachbarländer zuvor noch als der Motor Europas anerkannt wurden, schienen sie sich nun
von der europäischen Baustelle zu entfernen. Im September 1992 scheiterte in Frank-reich nahezu das Referendum zum Vertrag von Maastricht und auch in Deutschland mehrten sich kritische Stimmen gegenüber der Gemeinschaftswährung.11 Letztendlich wurde die Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion dann vor allem durch andere
EU-Staaten vorangetrieben. Der bittere Streit um die deut-sche Forderung eines Stabilitätspaktes 1996/1997 zeugte zudem von mangelnder deutsch-französischer Partner-schaft.
Nach der Gründung des Weimarer Dreiecks 1991 und der Ratifizierung des Vertrages von Maastricht 1993 wurzelten die deutsch-französischen Unstimmigkeiten in den unter-schiedlichen Haltungen gegenüber der Osterweiterung. Während auf deutscher Seite der Zehn-Punkte-Plan die Offenheit der Europäischen Gemeinschaft vor allem für ehemalige Ostblockstaaten, aber auch für Südeuropa forderte, zeigte sich Paris in punkto Osterweiterung eher reserviert. Divergierende Auffassungen zwischen beiden Regierungen machten eine Klärung der Frage nach EU-Institutionen bei den Beratungen, die dem Vertrag von Amsterdam 1997 vorausgingen, nicht möglich. Nach erneuten deutsch-französischen Unstimmigkeiten im Zuge der Nominierung des ersten Präsidenten der Europäischen Zentralbank (EZB) 1998 ging schließlich das Projekt einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) auf eine britisch-französische und keine deutsch-französi-sche Initiative zurück.
10 | Vgl. Stark (2010), 18.11 | Ebd., 18.
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das gescheiterte Eu-referendum in frankreich im Mai 2005, die statische Endzeit chiracs, die vorgezogenen Bundestagswahlen im september 2005 sowie die darauf folgende große koa- lition kultivierten vorerst keinen güns-tigen nährboden für den deutsch-fran-zösischen dialog.
Vor dem Hintergrund der Verbesserung des bilateralen Verhältnisses zwischen Jacques Chirac und Gerhard Schröder wurde ein gemeinsamer Konsultationsmechanismus etabliert, der informelle Abstimmungen als „Blaesheim-Treffen‟ in regelmäßigen zeitli-chen Intervallen von sechs bis acht Wochen vorsieht. Diese Neubelebung der bilateralen Beziehungen brachte gemeinsame Initiativen innerhalb des Europäischen Konvents zu Fragen der Sicherheits- und Verteidigungs-politik, zur Wirtschafts- und Ordnungspolitik, den Bereichen Inneres und Justiz sowie zur institutionellen Ordnung der EU hervor. 2003 wurde das Verfassungspro-jekt verabschiedet. Somit gaben Deutschland und Frank-reich wiederum gemeinsam wichtige Impulse im Rahmen der Debatte um die EU-Verfassung.
Die von Frankreich sorgenvoll erwartete EU-Osterwei-terung lief 2004 reibungslos. Die Zugkraft des deutsch-französischen Tandems konstituierte sich aber vor allem in dem gemeinsamen Widerstand gegen die amerikanische Intervention im Irak. In Europa standen Deutschland und Frankreich isoliert da – Alfred Grosser bezeichnete beide Länder damals als „Lokomotive ohne Anhänger‟.
Vor diesem Hintergrund bemühte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel um einen Balanceausgleich, um die „traditi-onelle Äquidistanz zwischen Berlin, Paris und Washington‟12 wiederherzustellen. Das gescheiterte EU-Referendum in Frankreich im Mai 2005, die statische Endzeit Chiracs, die vorgezogenen Bundestagswahlen im September 2005 sowie die darauf folgende Große Koalition kultivierten vorerst keinen günstigen Nährboden für den deutsch-französischen Dialog. Bis 2007 wurde zwischen den beiden Staaten kaum eine nennenswerte EU-Vereinbarung voran-getrieben.
12 | Stark (2010), 21.
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unter dem Eindruck der finanz- und wirtschaftskrise ist im Jahr 2009 die stärkung der deutsch-französischen zusammenarbeit ein vordringliches anliegen geworden.
diE gEgEnwart: notwEndigkEit EinEr nEuEn vision?
Die Wahl Nicolas Sarkozys als Staatspräsident im Mai 2007 brachte eine Stabilisierung der innenpolitischen Lage Frankreichs und den französischen Vorschlag eines verein-fachten, aber die Substanz wahrenden EU-Vertrages, welcher der beginnenden EU-Krise eine Lösung bot,13 und rettete somit den Vertrag von Lissabon.
Eine neue Dynamik entstand hieraus für das deutsch-französische Tandem allerdings nicht – zu viele Steine lagen noch auf seinem Weg. Verschiedene Regierungs-
stile im Élysée-Palast und im Kanzleramt erschwerten oft den Dialog, das französische Projekt einer von der EU-27 finanzierten Mittelmeerunion, die aber nur Mittelmee-ranrainern offen stehen sollte, wurde von
Deutschland im Frühjahr 2008 abgelehnt. Während Frank-reich sich von deutsch-russischen Annäherungsprozessen wie der Siemens-Rosatom-Kooperation oder dem Einstieg Gerhard Schröders bei Gazprom beunruhigt zeigte, schien auch Frankreich über einen eventuellen Partnerwechsel nachzudenken, indem mit Großbritannien ein gemein-samer Fahrplan gegen die Krise angestrebt wurde.
Der 20. Jahrestag des Mauerfalls wurde jedoch auf der Pariser Place de la Concorde mit aufrichtiger Freude und beeindruckender Atmosphäre gefeiert, was in Deutschland aufmerksam registriert wurde. Genau so aufmerksam registriert wurde in Frankreich demgegenüber auch die Anwesenheit der Bundeskanzlerin bei den Feierlichkeiten zum 11. November 2009, dem Tag des armistice, in Paris.
Unter dem Eindruck der Finanz- und Wirtschaftskrise ist im Jahr 2009 die Stärkung der deutsch-französischen Zusam-menarbeit ein vordringliches Anliegen geworden. Sie hat in beiden Ländern wohl die Überzeugung gefestigt, dass nati-onale Alleingänge ein Irrtum wären. Sie hat jedoch einmal mehr deutsch-französische Unterschiede in Diagnose und Therapie verdeutlicht, die zu einer sehr kritischen Bericht-erstattung in Frankreich führten. Trotz unterschiedlicher wirtschaftlicher Strukturen hängen beide Länder in ihrem
13 | Ebd., 21.
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franzosen neigen zur vorsicht. die wurzeln ihres sicherheitsbedürfnis- ses gehen zurück in die frühe ge- schichte frankreichs, als das land um die festigung seiner Mittellage be- müht war.
Wachstum von einer freien, aber geregelten Marktwirt-schaft ab, die sozialen Zusammenhalt ermöglicht und auf einem geordneten internationalen System beruht.
Innerhalb der letzten Monate haben beide Regierungen bedeutende Sparpakete vorgestellt und ihren Willen bekräftigt, bis 2013 die Konvergenzkriterien des euro-päischen Stabilitäts- und Wachstumspakts wieder einzu-halten. Auch zu dem von Deutschland zunächst skeptisch betrachteten französischen Projekt einer europäischen Wirtschaftsregierung fanden Merkel und Sarkozy Mitte Juni 2010 einen Kompromiss. Nur wenig verstanden wird indes, dass Deutschland eine eher marktwirtschaftlich-ordnungs-politische und Frankreich eine mehr interventionistisch orientierte Wirtschaftspolitik verfolgen.
Die deutsch-französische Agenda 2020, die im Rahmen des 12. Deutsch-Französischen Ministerrats am 4. Februar 2010 in Paris vorgestellt wurde, signalisiert, dass dies ein neuer Anfang einer sich über ein Jahrzehnt erstreckenden Kooperation ist. Mit 80 konkreten Vorhaben in sechs wich-tigen Bereichen der bilateralen Zusammenarbeit sollen deutsch-französische, vor allem aber auch europäische Projekte vorangebracht werden.
rÜckkEhr zur norMalität: Exkurs zuM französischEn dEutschlandBild
Bei dem Rückblick auf die deutsch-französi-schen Beziehungen wird deutlich, dass das bilaterale Verhältnis teilweise starken Turbu-lenzen ausgesetzt war. Dies beeinflusste verständlicherweise auch die gegenseitige Wahrnehmung.
Um das aktuelle französische Deutschlandbild nachvoll-ziehen zu können, ist ein Blick in die Geschichte unerläss-lich. So spielte historisch der Sicherheitsgedanke im fran-zösischen Volksbewusstsein eine wichtige Rolle. Franzosen neigen zur Vorsicht. Die Wurzeln ihres Sicherheitsbedürf-nisses gehen zurück in die frühe Geschichte Frankreichs, als das Land, umklammert von den beiden Habsburgischen Mächten, um die Festigung seiner Mittellage bemüht war. Von Richelieu über Turenne, Danton bis zu Clemenceau
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nach dem zweiten weltkrieg entstand in beiden ländern eine eher integrierende als ablehnende wahrnehmung. dazu trug besonders der ost-west-konflikt bei, der deutschland und frankreich in das westliche lager führte.
und Poincaré wurde versucht, durch vorgeschobene terri-toriale Sicherheitsgrenzen das Kernland vor Angriffen zu schützen. Diesem Ziel dienten auch die politischen Bünd-nisse des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Beides war das Ergebnis der historischen individuellen und politischen Sicherheitshaltung, die vor allem auch aus einer Angst vor Deutschland entstanden war.
Nach dem Ersten Weltkrieg basierte das französische Deutschlandbild auf diesem Sicherheitsmotiv. Dabei trafen zwei innerfranzösische Konzepte aufeinander: Die politische Rechte strebte einen Ausbau der aus Zeiten des Versailler Vertrages stammenden französischen Vormachtstellung an und wollte den ehemaligen deut-schen Kriegsgegner in seiner Entwicklung begrenzen. Sie gründeten ihr Konzept auf ein angeblich pan-germanistisch ausgerichtetes Deutschland, das unwandelbar von einem aggressiven Eroberungswillen und vor allem durch einen „Militär- und Herdengeist‟14 geprägt sei. Auf der anderen Seite vertrat die politische Linke ein Konzept der deux Alle-magne. Danach stand das militärisch-autoritär geprägte
Deutschland des Krieges dem Vorkriegs-deutschland mit seinen historischen Wurzeln in der europäischen Aufklärung und der deutschen Klassik gegenüber. Insofern strebte diese Gruppe einen politischen und wirtschaftlichen Interessenausgleich an, um
Deutschland eine Rückkehr zu den Werten der deutschen Vorkriegszeit zu ermöglichen. Bis 1945 diente die jewei-lige Nachbarnation aufgrund der häufigen Kriege als eine Art „Kontrastfolie‟15 für die Eigenschaften, die man für die jeweils eigene Nation beanspruchen wollte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg entstand in beiden Ländern eine eher integrierende als ablehnende Wahrnehmung. Dazu trug besonders der Ost-West-Konflikt bei, der Deutschland und Frankreich in das westliche Lager führte. Das französische Deutschlandbild war jedoch in den fünf-ziger Jahren von Ambivalenz geprägt. Sie äußerte sich sowohl in dem Willen, den danger allemand, also den unberechenbaren deutschen Nachbarn, zu kontrollieren, ihn aber auch in die europäische Integration einzubinden.
14 | Bock (2008), 726.15 | Ebd., 725.
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vor allem die geografische dimension der wiedervereinigung sorgte für mancherlei verzerrungen und schien historische Erinnerungen an das Bis-marck-reich zu wecken.
Letzteres entsprach dem damaligen deutschlandpolitischen Leitsatz Frankreichs, „Kontrolle durch Integration‟.16 Die Sorge vor der Unberechenbarkeit des Nachbarn gründete auf dem so genannten Rapallo-Komplex und sicherlich überbewerteten neonazistischen Tendenzen. Die skep-tische Haltung der Bevölkerung konnte jedoch durch die zunehmenden zivilgesellschaftlichen Begegnungen und den Dialog in den siebziger Jahren abgebaut werden.
In den achtziger Jahren wandelte sich die Befürchtung der Medien vor einem zu starken Deutschland zur Sorge um einen zu schwachen deutschen Nachbarn. Ein in französischen Augen latenter Pazifismus und der Geburtenschwund wurden auf französischer Seite mit Befremden zur Kenntnis genommen: „Das ‚romantische‛ Deutschlandbild war also wieder angesagt, diesmal aber weniger als Objekt der Sehnsucht oder puren Faszination, sondern als Stein des Anstoßes oder als Quell der Sorge.‟17
Als am 9. November 1989 die Berliner Mauer fiel, reagierte die französische Bevölkerung mit aufrichtiger Anteilnahme, was nicht der eher ambivalenten Reaktion der französi-schen Medien entsprach. Nach einer anfänglichen Phase der Sympathie verwiesen besorgte Kommentare auf eine Verschiebung des europäischen Gleichgewichts und das mögliche Entstehen eines „Groß-Deutschlands‟, eines „Wirtschaftsimperiums‟ und eines „politischen Riesen‟.18 Vor allem die geografische Dimension der Wiedervereini-gung sorgte für mancherlei Verzerrungen und schien histo-rische Erinnerungen an das Bismarck-Reich zu wecken. Frankreich wünschte einen „kontrollierten, langfristigen Übergang‟19, um bei der damals noch nicht einschätzbaren europäischen Neuordnung nicht an den Rand gedrängt zu werden.
16 | Vgl. Bock (2008), 727.17 | Ingo Kolboom, Vom geteilten zum vereinten Deutschland. Deutschland-Bilder in Frankreich (Bonn: Europa Union Verlag, 1991), 39.18 | Vgl. Kolboom (1991), 44.19 | Ebd., 45.
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Erfreulicherweise nimmt die franzö- sische Bevölkerung deutschland nicht mehr als Bedrohung oder als undemo-kratischen staat wahr.
Andererseits sah Paris realistisch die enormen finanzi-ellen Schwierigkeiten und Herausforderungen, die für Deutschland mit der Wiedervereinigung verbunden waren. Die beachtliche Verbesserung der französischen Außen-handelsbilanz nach der Wiedervereinigung dank hoher Exporte in die ehemalige DDR gab dem Wunsch nach einer wirtschaftlich stabilen Bundesrepublik erneut Aufwind.20 Gleichzeitig bestand kein Zweifel mehr an der deutschen Westbindung. All dies trug zu einem weitgehend normali-sierten Deutschlandbild bei, das von freundlicher Zustim-mung, verstärkter Neugier und dem Bewusstsein geprägt war, Gemeinsamkeiten zu haben.21
Es wird von deutscher Seite allerdings in Frage gestellt, ob dieses positive Bild tatsächlich zu einem tieferen Verständnis des deutschen Nachbarn und seiner Kultur geführt habe.22 Dennoch bleibt die Einschätzung positiv: „Dass sich die meisten Befürchtungen, die gerade auch die französische Presse während der Wiedervereinigung und in deren Folgejahren artikulierte, nicht bestätigt haben, veränderte das Bild und wird langfristige Wirkungen hervorbringen.‟23
Wie sehr sich jedoch bereits vor der Wiedervereinigung das Deutschlandbild der französischen Bevölkerung geändert
hatte, zeigte eine Umfrage des Institut fran-çais d’opinion publique (Ifop) vom Februar 1989. Danach gaben nur 25 Prozent der Franzosen an, mindestens einmal vier aufein-ander folgende Tage in Deutschland verbracht
zu haben. Von den Befragten, die zuvor noch nicht in der Bundesrepublik waren, bewerteten nur 37 Prozent einen Besuch als interessant, 56 Prozent als überhaupt nicht. Bei Fragen zu gebräuchlichen Assoziationen zu Deutschland standen Feindbilder von einst bereits weit unten in der Rangliste und ein Vergleich der französischen und deutschen Kultur förderte ein relativ ausgewogenes Meinungsbild zutage, was nach Kolboom sowohl einer fortschreitenden
20 | Vgl. Cary von Buttlar, Das vereinigte Deutschland in der überregionalen Presse Frankreichs 1989 bis 1994. Kontinuität und Wandel französischer Deutschlandbilder (Berlin: Duncker & Humblot, 2006), 211 f.21 | Vgl. Kolboom (1991), 62.22 | Ebd., 63.23 | von Buttlar (2006), 344.
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Banalisierung der Deutschlandwahrnehmung als auch einer Europäisierung französischer Mentalitäten Rechnung trägt.24
Erfreulicherweise nimmt die französische Bevölkerung Deutschland nicht mehr als Bedrohung oder als undemo-kratischen Staat wahr: „Heute scheint das eher negative Alt-Bild vom Nachbarn in der breiten Öffentlichkeit so sehr ein Relikt der Vergangenheit zu sein, dass neue Generati-onen Mühe haben zu begreifen, warum da eigentlich in der Vergangenheit eine Gegnerschaft bestanden hatte.‟25
auswEitungsMöglichkEitEn dEr zusaMMEnarBEit
„In einer Welt, in der neue globale Akteure zunehmend selbstbewusst agieren, sind wir überzeugt, dass eine möglichst enge deutsch-französische Partnerschaft für unsere beiden Länder und für Europa von höchster Bedeutung ist.‟26 Dies ist der Leitgedanke der deutsch-französischen Agenda 2020, die im Februar 2010 vom 12. Deutsch-Französischen Ministerrat in Paris vorgestellt wurde. Beide Länder haben dabei ein besonderes Augen-merk auf die Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise und die Wiederherstellung eines nachhaltigen Wirtschafts-wachstums gelegt. Die Agenda beschreibt zum Teil detail-liert künftige Maßnahmen in den Bereichen
▪ Wirtschaft, Finanzen, Beschäftigung; ▪ Energie, Klima, biologische Vielfalt; ▪ Wachstum, Innovation, Forschung, Bildung; ▪ Außen-, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik; ▪ engere Kontakte zwischen den Bürgern und ▪ institutioneller Rahmen.
24 | Genauer zu den Umfrageergebnissen vgl. Ingo Kolboom, „,Ist der Teufel deutsch?‛ – Sorgen und skeptischer Konsens in Frankreich. Deutschlandbilder der Franzosen: Der Tod des ,Dauerdeutschen‛‟, in: Günter Trautmann (Hrsg.), Die häss- lichen Deutschen? Deutschland im Spiegel der westlichen und östlichen Nachbarn (Darmstadt: Wissenschaftliche Buch- gesellschaft, 1991), 223 ff.25 | Kolboom (Darmstadt, 1991), 219.26 | O.A., Deutsch-Französische Agenda 2020, http://bundesregierung.de/nn_774/Content/DE/Artikel/2010/ 02/2010-02-04-deutsch-franzoesische-agenda-2020.html [17.06.2010]
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Hervorzuheben ist der Wille einer Intensivierung der deutsch-französische Zusammenarbeit auf EU-Ebene. Auf den ersten Blick mögen die benannten sechs Aktionsfelder recht breit gefächert scheinen, aber sie benennen doch alle Bereiche, in denen Deutschland und Frankreich Kommuni-kations- bzw. Kooperationsdefizite aufweisen.
Als weitere wichtige Zukunftsbereiche deutsch-franzö-sischer Initiativen sehen die Autoren der KAS/Ifri-Studie Deutschland – Frankreich: Fünf Visionen für Europa die Wirtschafts- und Finanzpolitik, die Industrielle Zusam-menarbeit, die Energiepolitik, eine Interparlamentarische Zusammenarbeit im Rahmen des Vertrags von Lissabon sowie die Außen- und Sicherheitspolitik an27. Bei der Wirt-
schafts- und Finanzpolitik, so die Autoren Jacques Mistral und Henrik Uterwede, drängt sich vor dem Hintergrund der Wirt-schafts- und Finanzkrise eine verstärkte deutsch-französische Zusammenarbeit als Krisenlösung auf. So sei eine haushaltspoli-
tische Abstimmung zwischen Frankreich und Deutschland unerlässlich. Sie heben hervor, dass eine Synchronisierung der Zeitpläne der Haushaltsverfahren in beiden Ländern durch gemeinsame Treffen der Ministerien und der Parla-mente sowie eine pragmatische Rückkehr zur Anwendung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes nötig seien. Es gelte ebenfalls, geeignete Verfahren und Instrumente zu entwickeln, die es erlauben, die für die Sanierung eines Mitgliedslandes notwendigen Anpassungsmaßnahmen zu erarbeiten und umzusetzen. Im Rahmen der G20 sollten sich Deutschland und Frankreich für eine bessere Behand-lung globaler Ungleichgewichte und eine intensivere Steu-erung der Wechselkursentwicklung einsetzen. Schließlich ist es wünschenswert, dass sich Paris und Berlin mit der Frage einer finanziellen Infrastruktur, die für Europa erfor-derlich ist, auseinandersetzen.
Eine bessere Zusammenarbeit im Bereich der Indus-trie- und Technologiepolitik könnte die europäische Wirtschaftsposition optimieren. Dafür ist jedoch auch eine Harmonisierung von nationalen Rechtsvorschriften, auch für außereuropäische Investitionen, notwendig. Der
27 | Die folgende Darstellung lehnt sich an Stark (2010), 10-16 an.
im rahmen der g20 sollten sich deutschland und frankreich für eine bessere Behandlung globaler ungleich-gewichte und eine intensivere steu-erung der wechselkursentwicklung einsetzen.
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Autor, Louis-Marie Clouet, schlägt im Zusammenhang mit einem notwendigen deutsch-französischen Industrie- und Technologiedialog die Einrichtung eines entsprechenden Beraterstabes in Kanzleramt und Élysée vor. Parallel dazu wäre zu empfehlen, dass Deutschland und Frankreich in enger Zusam-menarbeit neue Rüstungsprogramme entwi-ckelt, die einen strukturierenden Nebenef-fekt für die europäische Industrie und die nationalen Streitkräfte haben könnten. Dabei sei es wichtig, das Prinzip des juste retour hinter sich zu lassen und eine Spezialisierung jenseits von nationalen Proporzüberlegungen voranzutreiben. Nicht zuletzt brauchen Deutschland und Frankreich eine gemein-same Technologiepolitik.
Im Bereich der Energiepolitik schlägt die Autorin Susanne Nies ein bilaterales Pionierprojekt ‚Erneuerbare Energien‛ vor. Ebenso bedarf es einer Harmonisierung der Energie-steuern, um die Transparenz der Preise zu verbessern und die Konkurrenz zwischen den europäischen Anbietern zu stärken. Hinsichtlich der vitalen Frage der Versorgungssi-cherheit sollten beide Länder die Verbesserung der ukra-inischen Transit-Strecke als Priorität ansehen. Außerdem müssten beide Länder auf eine Revision der Energiecharta hinwirken, die sowohl die Positionen der Produzenten als auch die der Konsumenten berücksichtige. Bei der Energie-Effizienz sollten grenzüberschreitende Initiativen erfolgen.
Die europäische Gesetzgebung bedarf einer engeren Zusammenarbeit der Parlamente Frankreichs und Deutschlands. Die Autorinnen Anne-Lise Barrière und Céline Caro schlagen die Schaffung eines Mechanismus zur gegenseitigen Information und Koordination zwischen den Ausschüssen vor. Dies entspreche auch den Kontrollanfor-derungen des Subsidiaritätsprinzips durch die nationalen Parlamente, wie sie im Vertrag von Lissabon vorgesehen sind. Diese Maßnahme würde es ermöglichen, gemeinsame parlamentarische Berichte zu verfassen. Darüber hinaus sollten bilaterale Gesetzesinitiativen ausgearbeitet werden, die mit der Anwendung der EU-Richtlinien verbunden sind. Ein abgestimmtes Handeln auf der Gesetzgebungsebene zwischen beiden Parlamenten im Bereich der Haushalts- und Finanzpolitik wäre ebenfalls ein positives Signal im
hinsichtlich der frage der versor-gungssicherheit sollten beide länder die verbesserung der ukrainischen transit-strecke als priorität anse-hen. außerdem müssten beide länder auf eine revision der Energiecharta hinwirken.
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Hinblick auf die Notwendigkeit einer größeren Abstim-mung innerhalb der EU. Ebenfalls wünschenswert wäre ein Austausch zwischen deutschen und französischen Abge-ordneten über die Fragen der Information der Bürger zur EU, um die Transparenz und demokratische Legitimität der europäischen Institutionen zu stärken.
Nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon müssen Deutschland und Frankreich Pfeiler einer verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik sowie der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik werden. Daher sollte auch die Deutsch-Französische Brigade als Teil der ESVP wahrge-nommen werden. Es empfehle sich, so der Autor Stephan Martens, eine ständige deutsch-französische parlamen-tarische Arbeitsgruppe zur Außen- und Sicherheitspolitik einzurichten. Deutschland und Frankreich müssten eine gemeinsame Sprache gegenüber Drittländern entwickeln. Foren wie das Weimarer Dreieck oder der Dialog mit Russ-land müssten neu belebt und weiterentwickelt werden. Die außenpolitischen Interessen beider Länder seien, sofern sie die Außenpolitik der EU betreffen, identisch. Umso mehr müssten die Prioritäten für die deutsch-französische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Außenpolitik definiert werden.
ausBlick: diE dEutsch-französischE zusaMMEn-arBEit und Europa
Seit dem Beginn des europäischen Projektes konnten Deutschland und Frankreich trotz allem immer eine
Motorfunktion für Europa einnehmen. Dies war möglich, weil die trotz manchmal unterschiedlicher Konzeptionen gefundenen Kompromisse für die übrigen EU-Mitglieder meist akzeptabel waren. So wurden beide Länder ein zentraler Ideen- und Impuls-
geber der europäischen Integration. Ihre Fähigkeit, selbst bei Konflikten gemeinsame Lösungen zu finden, war für Europas Entwicklung wegweisend: „Nicht die Diver-genzen als solche sind wichtig, sondern der produktive
ganz im sinne der Begründer der ver-söhnung charles de gaulle und konrad adenauer ist die deutsch-französische partnerschaft von gemeinsamen wer-ten und einer gemeinsamen verant-wortung getragen.
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Bilaterale projekte und initiativen tru-gen zur dynamik der zusammenarbeit bei, während gemeinsame impulse entscheidend die europäische integra-tion bestimmten. am 22. Januar 2013, begeht der deutsch-französische „Ehe-vertrag‟ seinen fünfzigsten Jahrestag.
Umgang mit ihnen, d.h. die Fähigkeit, gegensätzliche Posi-tionen durch geduldige, zähe Arbeit zusammenzuführen.‟28
So zeigt die Bilanz der bilateralen Beziehungen, dass die deutsch-französische Partnerschaft zwar Turbulenzen und Irritationen, aber auch zahlreiche bemerkenswerte Erfolge erlebte. Was nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zunächst zaghaft seinen Anfang nahm und durch den Elysée-Vertrag weit-sichtig formalisiert wurde, ist heute zu einer außerordentlich engen und vertrauensvollen Partnerschaft geworden. Ganz im Sinne der großen Staatsmänner und Begründer der Versöhnung Charles de Gaulle und Konrad Adenauer ist sie von gemeinsamen Werten und einer gemeinsamen Verant-wortung getragen. Die deutsch-französischen Beziehungen sind daher weder vom europapolitischen Parkett, noch aus der zivilgesellschaftlichen Verflechtung wegzudenken. Bilaterale Projekte und Initiativen trugen zur Dynamik der Zusammenarbeit bei, während gemeinsame Impulse und Interessen entscheidend die europäische Integration bestimmten. In zwei Jahren, am 22. Januar 2013, begeht der deutsch-französische „Ehevertrag‟ seinen fünfzigsten Jahrestag. Er gibt Anlass, Bilanz zu ziehen, die Ausgestal-tung der weiteren Zusammenarbeit der beiden größten Länder Europas zu überprüfen und die ursprüngliche Vision des Vertrags in die Bedingungen einer veränderten europa- und geopolitischen Welt einzuordnen, vielleicht auch neu zu formulieren.
Wie in diesem Beitrag dargestellt wurde, sind viele bilaterale deutsch-französische und vor allem europäische Politikbe-reiche in ihrer Substanz voranzubringen. Vor allen Dingen muss Europa jedoch mit einer Stimme sprechen, wenn es vor dem Hintergrund des dramatischen weltpolitischen und weltwirtschaftlichen Paradigmenwandels bestehen, seine Interessen wahren und seine Werte aufrechterhalten will. Dies ist in Form der europäischen Nationalstaaten nicht mehr möglich. Das Entstehen der neuen multipolaren
28 | Henrik Uterwedde, „Deutsch-französische Wirtschaftsbezie- hungen seit 1945‟, in: Ingo Kolboom, Thomas Kotschi und Edward Reichel (Hrsg.), Handbuch Französisch. Sprache, Literatur, Kultur, Gesellschaft. Für Studium, Lehre, Praxis (Berlin: Erich Schmidt Verlag, 2008), 695.
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Ordnung stellt immer mehr die Frage nach der Rolle Europas in der Welt. Darauf hat EU-Kommissar Günther Oettinger im Juni 2010 bei einer gemeinsamen Veran-staltung der Konrad-Adenauer-Stiftung und der Robert Schuman Stiftung in Paris in beeindruckender Weise hinge-wiesen. Gerade in Zeiten des Umbruchs ist dazu innere Geschlossenheit, das Hinauswachsen über nationale Inte-ressen und die Akzeptanz eines Gemeinschaftsinteresses notwendig.
Dem deutsch-französischen Tandem kommt dabei eine Führungsrolle zu. Diese wird von Europa akzeptiert und auch erwartet. Beide Länder haben in der Vergangenheit bewiesen, dass sie diese Verantwortung als historische Aufgabe wahrnehmen. In diesem Sinne haben, wie der Vorsitzende der Konrad-Adenauer-Stiftung, Hans-Gert Pöttering, kürzlich bei einem hochrangigen Forum im französischen Parlament ausführte, die verantwortlichen Politiker beider Länder in voller Überzeugung ihr Handeln danach ausgerichtet, dass „nur ein gemeinsamer Weg in die Zukunft führt‟.
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Claudia Crawford
Die Ergebnisse der Vorrunde bei den Fußballweltmeis-terschaften 2010 ergaben für die Achtelfinalspiele eine Klassiker-Begegnung: Deutschland gegen England. Ohne auf die Details einzugehen: am Ende gewannen die Deut-schen mit 4:1. Nach allem, was man aus früheren Zeiten kannte, konnte eine hitzige Debatte mit reichlich deutsch-feindlichen Tönen in England, vor allem in den einschlä-gigen Zeitungen, erwartet werden. Doch diese blieben bis auf wenige Ausnahmen in der Boulevardpresse aus. Nicht nur die Schlagzeilen, auch die Leserkommentare waren an die eigene Mannschaft gerichtet. Sie machten die Enttäu-schung deutlich – aber keinerlei Ressentiments gegenüber Deutschen, keine wütenden Autofahrer oder Ausbrüche auf den Straßen Londons und selbst in den Pubs konnte man sich ungestraft als Deutscher zu erkennen geben. Es hat den Anschein, dass sich die Beziehungen zwischen den beiden Nationen atmosphärisch entspannt haben. Vielleicht hat der Fußball durchaus mit dazu beigetragen, genauer die Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland, die von vielen jungen Briten besucht wurde. Vor Ort konnten sie sich ein eigenes Bild vom heutigen Deutschland machen. So manch einer mag überrascht gewesen sein, dass die alten Stereo-type, die viele Jahre in den britischen Medien wach gehalten wurden, nichts mit der Realität zu tun haben, dass dieses Land modern und offen ist. Mit Sicherheit tragen aber auch die vielen deutschen Studenten an britischen Universitäten zu einem veränderten Deutschlandbild bei.
Claudia Crawford, Bundesministerin a.D., ist Auslandsmitarbei-terin der Konrad-Adenauer-Stiftung in London.
DIE BEzIEHUNGEN zWIScHEN GROSSBRITANNIEN UND DEM WIEDERVEREINIGTEN DEUTScHLAND
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Die Deutsche Einheit wurde in Groß-britannien mit Skepsis begleitet, vor allem von den Medien. Die alten Bil-der der kriegshetzerischen Deutschen tauchten wieder auf.
Lange Zeit war das Bild in den britischen Printmedien reichlich mit Rückgriffen auf das Dritte Reich bestückt. Die Deutschen, so die Botschaft, sind unverbesserliche Militaristen, denen der Sinn nach Dominanz steht. Die Entwicklungen in Deutschland, die aktive und kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, wurden kaum transportiert.
Natürlich war der Einfluss dieser Art der Berichterstattung nicht so groß, dass dadurch die politische, wirtschaftliche oder auch kulturelle Zusammenarbeit zwischen beiden Staaten gefährdet war. Diese entwickelte sich bei allem Auf und Ab gut, wobei hier die Beziehung zwischen Groß-britannien und Westdeutschland gemeint ist. Deutschland wurde ein wichtiger Handelspartner für Großbritannien und umgekehrt, viele Unternehmen investierten und auch auf politischer Ebene wurde im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft vieles in gemeinsamen Anstrengungen vorangebracht. Dabei reichte die Partnerschaft nicht an etwas Vergleichbares wie die deutsch-französische heran, die innerhalb Europas nicht zuletzt wegen des bedeutenden Aussöhnungsprozesses eine Sonderstellung einnimmt. Aber es waren tragfähige Beziehungen.
1990 wurde für Deutschland und Europa ein neues Kapitel aufgeschlagen. Die Deutsche Einheit, für die Deutschen eins der glücklichsten Ereignisse, wurde in Großbritannien
mit Skepsis begleitet, zumindest von der Politik, aber vor allem von den Medien. Die alten Bilder der kriegshetzerischen Deut-schen und ihrer Großmannssucht tauchten wieder verstärkt auf. Filme über das Dritte
Reich im klaren Schwarz-Weiß-Schema wurden populär. Und so nimmt es nicht Wunder, dass britische Jugend-liche selbst im beginnenden neuen Jahrtausend solch ein Deutschlandbild mangels Alternativen adaptierten. Noch 2004 sagte der damalige deutsche Außenminister Fischer in einem Spiegel-Interview: „Wenn man den traditionellen preußischen Stechschritt lernen will, dann muss man sich das britische Fernsehen ansehen, denn in Deutschland weiß in der jüngeren Generation – sogar in meiner Gene-ration – niemand mehr, wie das geht.‟1
1 | http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,324047,00.html [13.07.2010].
103KAS AUSLANDSINFORMATIONEN9|2010
Premierministerin Thatcher bemühte sich um Verbündete, um den Wieder-vereinigungsprozess wenigstens zu verlangsamen. Grund für Ihre Skepsis war auch ihr Deutschlandbild.
Man mag dem entgegenhalten, dass die britischen Medien generell etwas rauer sind. Aber es hätte auch andere Stereotype über die Deutschen gegeben, derer sie sich hätten bedienen können. Der in Cambridge lehrende Zeit-historiker Richard J. Evans ist der Frage nachgegangen, weswegen das Bild der Naziherrschaft zur Zeit der Wieder-vereinigung in den britischen Medien dominierte. Unter anderem führt er aus: „Eben deshalb, weil namhafte britische Politiker nun ganz offen Parallelen zwischen der Bundesrepublik und der Europäischen Union auf der einen Seite und dem Dritten Reich auf der anderen Seite ziehen, ist es für die Massenmedien akzeptabel geworden, auch in ihrer eigenen Art und Weise ähnliche Parallelen zu ziehen.‟2
DIE POLITIScHEN BEzIEHUNGEN
Seit 1990 unterlag das Verhältnis zwischen Großbritannien und Deutschland immer wieder Schwankungen. Sie waren begründet in den unterschiedlichen Regierungen mit ihren jeweiligen sehr charakteristischen Persönlichkeiten an der Spitze, beeinflusst von der Selbst- und Fremdwahrnehmung der beiden Länder, aber vor allem in der Sicht auf das europäische Projekt einer politischen Union.
THATcHER UND DER DEUTScHE EINIGUNGSPROzESS
Es ist kein Geheimnis, dass die damalige Premierministerin Thatcher große Ressentiments gegenüber der Aussicht auf ein wiedervereinigtes Deutschland hatte. Das war durchaus nicht einfach dem Umstand geschuldet, dass ihr Verhältnis zum damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl nicht gerade das herzlichste war. Sie war ernsthaft darum besorgt, wie sich ein Deutschland, dann mit über 80 Milli-onen Einwohnern das größte und wirtschaftlich schon lange das stärkste Land Europas, in die Gemeinschaft einfügen würde. Ihr war klar, dass das Land umso mäch-tiger sein würde, wenn einmal die Belastungen, die mit der Wiedervereinigung zweifellos auf Deutschland zukommen würden, ausgestanden sind. Sie äußerte ihren Zweifel
2 | Richard. J. Evans, Mythen in den deutsch-britischen Beziehungen seit 1945 (Stuttgart, 1999). Vortragsreihe der Robert Bosch Stiftung „Umbrüche und Aufbrüche. Europa vor neuen Aufgaben‟, Stuttgart, März 2000, 28-34.
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Bundeskanzler Kohl betonte den Wil-len Deutschlands zur weiteren Inte-gration der europäischen Staaten. Für ihn waren die Deutsche Einheit und die Europäische Einigung die zwei Seiten einer Medaille.
deutlich und bemühte sich um Verbündete, um den Wieder-vereinigungsprozess, wenn schon nicht aufzuhalten, dann doch wenigstens zu verlangsamen. Grund für Ihre Skepsis war neben anderem sicherlich auch ihr Deutschlandbild. Lord Douglas Hurd, der damalige britische Außenminister, beschrieb dies so: „Aus ihren Memoiren wird deutlich, dass Margaret Thatcher eine genaue Vorstellung von Deutschland hatte, die allerdings nicht auf einer beson-ders fundierten Kenntnis des Wesens des neuen deutschen politischen Systems beruhte.‟3 Berühmt geworden ist das Seminar in ihrem Landhaus in Chequers im März 1990, wo sie mit Historikern mögliche Folgen einer deutschen Wiedervereinigung diskutierte. Das Protokoll, das an die Presse lanciert wurde, warf ein bezeichnendes Licht auf ihr Deutschlandbild. Es ist nicht unvermessen zu sagen, sie kannte das Westdeutschland aus dem Jahr 1990 nicht sehr gut und konnte sich den Wandel, den die Deutschen seit 1949 vollzogen hatten, nicht wirklich vorstellen.
Für die Deutschen waren Thatchers Ängste schwer nach-vollziehbar. Der Wille zur Westintegration und zur Vertie-fung der europäischen Einigung war schon tief in der Bevöl-kerung verankert. Die Vorstellung, dass Deutschland sich jemals wieder militärisch engagieren würde, lag außerhalb
jeglicher Betrachtung. In dieser Zeit waren die Fragen um die wirtschaftlichen Herausfor-derungen der Deutschen Einheit dominant. Angesichts der vermuteten Friedensdivi-dende durch den Fall des Eisernen Vorhangs wurde die Zusammenführung der Natio nalen
Volksarmee der ehemaligen DDR mit der Bundeswehr vor allem auch für die Verkleinerung und Abrüstung der Armee genutzt.
Bundeskanzler Helmut Kohl war die Skepsis der Briten – und auch der Franzosen – sehr bewusst. Umso mehr betonte er den Willen Deutschlands zur weiteren Integ-ration der europäischen Staaten. Für ihn waren die Deut-sche Einheit und die Europäische Einigung die zwei Seiten einer Medaille. Es war eine Hilfe, dass nicht alle innerhalb der Regierung Thatchers ihre negative Sicht teilten. Das
3 | Hartmut Meyer und Thomas Bernd Stehling (Hrsg.) Deutsch- Britische Beziehungen und ‚der Mythos Cadenabbia‛, Konrad- Adenauer-Stiftung 2005, 159.
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Im zuge der Wiedervereinigung betrie-ben vor allem Frankreich und Deutsch-land eine Beschleunigung des EU-Inte-grationsprozesses, die schließlich in die Vertragsverhandlungen von Maastricht mündete.
Foreign Office in London sah den Wiedervereinigungspro-zess weitaus positiver. Lord Hurd beschrieb seine eigene Haltung in folgender Weise: „Ich selbst teilte Margaret Thatchers Bedenken nicht. Anders als sie hatte ich viele Jahre Gelegenheit gehabt, positive Erfahrungen mit der Offenheit und Großzügigkeit der deutschen Demokratie zu sammeln, vor allem bei den Königswinter-Konferenzen und bei zahlreichen von der CDU/CSU organi-sierten Anlässen. Zwar überraschten die sich überstürzenden Ereignisse auch mich, aber ich brachte es nicht über mich, Kanzler Kohl dafür zu kritisieren, dass er eine Gelegen-heit beim Schopf ergriff, die sonst vielleicht verloren gewesen wäre. Ich empfand seine Überzeugung und die seiner Kollegen als echt, dass die allmähliche Integration eines vereinigten Deutschlands in einem sich vereinigenden Europa am besten geeignet wäre, die Geister der deutschen Vergangenheit zu bannen.‟4 So war es ihm möglich, gemeinsam mit seinem Arbeitskol-legen auf der deutschen Seite, Hans-Dietrich Genscher, die Verhandlungen konstruktiv zu führen.
Im Zuge der Wiedervereinigung betrieben vor allem Frankreich und Deutschland eine Beschleunigung des EU-Integrationsprozesses, die schließlich in die Vertrags-verhandlungen von Maastricht und in die Verabschiedung am 7. Februar 1992 mündete. Mit ihm wurde die Europäi-sche Union als Dach für die Europäischen Gemeinschaften, die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die Zusammenarbeit im Bereich Inneres und Justiz begründet. Ein großer Teil der Konservativen Partei Großbritanniens geriet demgegenüber in eine immer stärkere europaskep-tische Position. Dies korrespondierte mit einem stärker werdenden englischen Patriotismus, der sich parallel zu den stärkeren schottischen und walisischen Unabhängig-keitsbemühungen entwickelte und bereits unter Margaret Thatcher begann. Dies machte dem pro-europäischen John Major das Premierministeramt schwer.
4 | Ebd. 162.
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Der Jugoslawienkonflikt brachte eine zusätzliche Spannung in die deutsch-britischen Beziehungen. Die schwerste Belastung allerdings entstand durch die schlechte wirtschaftliche Situation Großbritanniens.
JOHN MAJOR UND HELMUT KOHL
Als im November 1990 John Major die Nachfolge von Margaret Thatcher antrat, wurde dies in der deutschen Politik mit der Hoffnung begleitet, dass dadurch der europäische Integrationsprozess seitens der britischen Regierung eine größere Unterstützung erfahren würde. Bereits bei seinem Besuch als Premierminister in Bonn im März 1991 sprach er davon, dass er Großbritannien „ins Herz Europas‟ führen möchte, „wohin es gehöre‟. Die neue Regierung werde eine aktive und konstruktive Rolle spielen, nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem Vertrag von Maastricht.5 Deutschland war aus der Sicht Majors der entscheidende Partner für dieses Vorhaben. Von Vorteil war zudem, dass sich Helmut Kohl anders als mit Thatcher persönlich sehr gut mit Major verstand und ein europa-freundliches Großbritannien wünschte.
Dem Aufbruch folgte allerdings schon bald die Enttäu-schung. Die Unterhauswahlen 1992 erbrachten für die Konservativen nur eine knappe Mehrheit. Damit stiegen die Blockademöglichkeiten einzelner Abgeordneten bzw. Abgeordnetengruppen, die vor allem die europaskep-tischen Vertreter nutzten. Der Handlungsspielraum für Major beim Maastrichter Ratifizierungsprozess wurde dadurch sehr klein. Es gelang ihm, einige Zugeständnisse für Großbritannien zu erwirken. Ihm wurde die Möglich-keit eines opt-out bei der Sozialcharta und der europäi-schen Währungsgemeinschaft geschaffen. Hilfe für diese
Verhandlungsergebnisse bekam Major vor allem von Deutschland. Allerdings machten diese Schwierigkeiten deutlich, dass Groß-britannien nicht zu den Partnern in der EU gehören würde, die Motor im Integrations-prozess sind.
Der Jugoslawienkonflikt brachte eine zusätzliche Spannung in die deutsch-britischen Beziehungen. Die Sichtweise Deutschlands einer notwendigen schnellen Anerkennung der Unabhängigkeit von Slowenien und Kroatien wurde nicht geteilt. Die schwerste Belastung allerdings entstand durch die schlechte wirtschaftliche Situation Großbritanniens.
5 | Vgl. Sabine Lee, Victory in Europe. Britain and Germany since 1945, London 2001, 216.
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Blair und Schröder standen für einen Generationswechsel – nicht nur was deren Alter anbelangte, sondern ihren Stil und ihre Resolutheit, ihre Parteien zu verändern.
Das Pfund verlor 1992 erheblich an Wert, so dass es am 16. September, dem „schwarzen Mittwoch‟ für die Briten, den Wechselkursmechanismus verlassen musste. Die britischen Medien machten dafür vor allem die deutsche Bundesbank verantwortlich, die, so die Kommentare, durch ihre Hochzinspolitik die Nachbarn Deutschlands für die Wiedervereinigung bezahlen ließen6.
Noch manch andere Querelen Großbritanniens mit der EU, bei denen Deutschland involviert war, führten schließlich zu einer Art „Nicht-Kooperationspolitik‟ der Regierung Major. Erinnert sei an die strittige Besetzung des Präsidentenamts der EU-Kommission 1994 und an den Ausbruch der BSE-Krise mit der Folge eines Ausfuhrverbots für britisches Rindfleisch durch die EU.
REGIERUNGSWEcHSEL IN LONDON UND BONN
Das Ende der neunziger Jahre brachte für beide Länder tiefe Einschnitte. Während sich 1997 der Wechsel von der konservativen zur Labour-geführten Regierung vollzog, übernahm im Herbst 1998 erstmals eine rot-grüne Regie-rung in Deutschland Verantwortung. Die beiden Regie-rungschefs, Blair und Schröder, standen für einen Generationswechsel – nicht nur was deren Alter anbelangte, sondern ihren Stil und ihre Resolutheit, ihre Parteien zu verän-dern. Tony Blair steht wie kein anderer für New Labour. Er entwarf ein neues, modernes Programm einer Mitte-links-Partei mit dem Anspruch, einen Sozialstaat zu schaffen, der sich aus den Früchten der neoliberalen Marktwirtschaft finanziert. Damit schuf er aber auch eine Blaupause für die Sozialdemokratie weit über Großbritannien hinaus. Nicht zuletzt Gerhard Schröder fühlte sich stark inspiriert und führte seinen Wahlkampf mit dem Begriff der „Neuen Mitte‟, der ein bisschen Blair-feeling vermittelte.
Von daher war auch mit diesem Regierungswechsel wieder die Hoffnung verbunden, die deutsch-britischen Beziehungen könnten einen Neuanfang erleben. Zusätzliche Nahrung
6 | Vgl. Anthony Glees, „The diplomacy of Anglo-German relations: A study of the ERM crisis of September 1992‟, in: German Politics, Nr. 3, April 1994 , 75-90
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Die Vorlage des Schröder-Blair-Papiers kurz vor den Europawahlen 1999 unter-strich die engen Beziehungen. Aber letztendlich ergab es nichts Greifbares.
bekamen die positiven Erwartungen dadurch, dass sich die Labourpartei in den harten Jahren der Opposition eine neue Europapolitik zu eigen machte. Nicht nur um als Alternative zur Regierung wahrgenommen zu werden, sondern auch aus der Sorge, an den Rand Europas gedrängt zu werden, hatte sich Labour pro-europäisch gegeben. Sein Ziel sei es, „dass Großbritannien in den nächsten Jahren ein für allemal seine Ambivalenz gegenüber Europa ablegt‟, sagte Premierminister Blair 1999 bei der Verleihung des Inter-nationalen Karlspreises in Aachen. „Ich will ein Ende der Unsicherheit, des Mangels an Vertrauen, der Europhobie.‟7
Somit schien viel Potenzial für gemeinsame Projekte im bilateralen und europa-politischen Kontext vorhanden zu sein. Nicht nur das persönliche Verhältnis von Blair und Schröder war freundschaftlich, sondern auch das von Peter Mandelson und Bodo Hombach, den Männern hinter
den Regierungschefs. Da Bundeskanzler Schröder, sicherlich nicht zuletzt im Bemühen um eine deutliche Abgrenzung zu seinem Vorgänger, mit einer relativen Unterküh-lung die Beziehungen zu Frankreich begann,
schien sogar eine Verschiebung der Gewichte möglich – statt der Achse Bonn-Paris eine Achse Bonn-London. Die Vorlage des Schröder-Blair-Papiers kurz vor den Europa-wahlen 1999 unterstrich die engen Beziehungen. Aber letztendlich ergab es nichts Greifbares. Vielmehr machte das Papier deutlich, dass Labour und die deutsche Sozi-aldemokratie jeweils etwas Anderes unter dem „dritten Weg‟ verstanden. Innerhalb der SPD gab es viel Kritik, die damals schon deutlich werden ließ, dass Schröder nicht im Herzen seiner Partei stand. Am 10. Mai 2000 schrieb der Tagesspiegel zu dem Schröder-Blair-Papier: „Heute spricht keiner mehr über dieses Papier, auch im Kanzleramt nicht. Das stille Abrücken gilt dabei weniger den Inhalten als der Methode. Das Schröder-Blair-Papier, im Kanzleramt ausge-arbeitet vom damaligen Kanzleramtschef Bodo Hombach, ist der Versuch, Schröders Schlagworte von der „Neuen Mitte‟ theoretisch zu fundieren. Vor allem aber ist es Schröders letzter Versuch, die SPD von außen zu umgehen und zu bewegen.‟8
7 | Philip Stephens, Tony Blair. The Price of Leadership, London 2004, 163 f.8 | Tissy Bruns, „Schröder-Blair-Papier‟, in: Der Tagesspiegel, 10.05.2000.
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Vollkommen zum Erliegen kamen die deutsch-britischen Beziehungen im zuge des Irak-Konflikts. Die Spal-tung in ein „altes‟ und in ein „neues‟ Europa bleibt ein bitteres Ergebnis einer erfolglosen gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik.
Auf der europäischen Bühne war die Reaktion gemischt. Großbritannien wirkte aktiv am Amsterdamer Vertrag (unterzeichnet im Oktober 1997) und dem Vertrag von Nizza (unterzeichnet im Februar 2001) mit. Beide Verträge dienten der Anpassung der EU an die erwartete Erweite-rung der Union, die 2004 erfolgen sollte. Das Parlament erhielt mehr Mitbestimmungsrechte, die Mehrheitsent-scheide wurden auf weitere Bereiche ausgeweitet und die Stimmgewichte der Mitgliedstaaten verändert. Blair stimmte vielen Vertragsänderungen zu und unterzeichnete sogar die Europäische Sozialcharta. Damit schien er den pro-europäischen Kurs seiner Partei einzulösen. Proble-matisch war, dass die britische Wählerschaft längst nicht folgte und eher euroskeptisch blieb. Mit ihrem offensiven Kurs geriet die Regierung ziemlich schnell in einen unlös-baren Konflikt mit der Bevölkerung. So vermied die Blair-Regierung Bemühungen, Großbritanniens Beteiligung an einer gemeinsamen Währung vorzubereiten. Auch wenn Blair dem Euro positiv zugewandt war, so war er doch nicht in der Lage, seinen Finanzminister Brown, seine Partei, geschweige denn die Bevölke-rung für dieses Projekt zu gewinnen.
Die britische Regierung war stark auf das eigene Land konzentriert, wobei sie den wirtschaftspolitischen Kurs der konservativen Vorgängerregierung keineswegs änderte. Vielmehr sah sie die Freizügigkeit für Dienstleistungen, vor allem im Finanzsektor, als Quelle für neue Arbeitsplätze und Wirtschaftswachstum. London entwickelte sich zum größten Finanzplatz Europas. Die Politik in London, allen voran der damalige Finanzminister und spätere Premier-minister Gordon Brown, sah Deutschland als veraltetes Wirtschaftsmodell, dass den neuen Herausforderungen nicht gewachsen sei.
Vollkommen zum Erliegen kamen schließlich die deutsch-britischen Beziehungen im Zuge des Irakkonflikts. Bundes-kanzler Schröder stellte sich strikt gegen einen Angriff auf Irak, er suchte und fand dabei engsten Schulterschluss mit Frankreich. Wie viel der Rhetorik in dieser Zeit dem Wahlkampf und wie viel den wirklichen Überzeugungen geschuldet war, ist hier nicht Gegenstand der Betrachtung. Dass allerdings im September 2002 Bundestagswahlen
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waren, könnte durchaus dazu beigetragen haben, dass nicht alle Möglichkeiten europäischer Diplomatie genutzt wurden, um zumindest den Versuch zu unternehmen, eine gemeinsame europäische Haltung zu erzielen. Die Spal-tung in ein „altes‟ und in ein „neues‟ Europa, wie sie durch den damaligen US-amerikanischen Verteidigungsminister Donald Rumsfeld vorgenommen wurde, bleibt ein bitteres Ergebnis einer erfolglosen gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, wie man sie sich zehn Jahre vorher bei der Verabschiedung des Maastrichter Vertrages sicher-lich nicht gedacht hat. Nicht nur die Tatsache, dass der Ausdruck „das alte Europa‟ in 2003 zum Wort des Jahres in Deutschland wurde, macht die Tiefe des Risses in Europa deutlich. Noch lange Zeit wirkten das Zerwürfnis und der Vertrauensverlust innerhalb der EU nach.
Mit ihrer Erweiterung um zehn neue Mitgliedstaaten erhielt die EU 2004 ein neues Gesicht. Die Verträge der Vorjahre konnten nicht alle Erwartungen an die Effizienz der EU-Strukturen erfüllen, besonders die Stimmengewichtung blieb umstritten. Da schon während der Verhandlungen zum Vertrag von Nizza die Defizite gesehen wurden, beauf-tragten im Dezember 2001 die Regierungschefs einen großen Konvent mit der Ausarbeitung eines Verfassungs-vertrages. Damit begann ein Vorhaben, das in Deutschland vor allem auf politischer Ebene große Unterstützung fand, in Großbritannien dagegen mehrheitlich abgelehnt wurde. Der Umstand, dass der im Oktober 2004 unterzeichnete Vertrag in den Referenden in Frankreich (im Mai 2005) und den Niederlanden (im Juni 2005) abgelehnt wurde, bewahrte die Regierung Blair vor einem eigenen, schon angekündigten Referendum und somit vor einer schwie-rigen innenpolitischen Debatte. Während damit auf der EU-Ebene eine Phase des Nachdenkens eintrat, blieben die Beziehungen zwischen Deutschland und Großbritannien auf dem Null-Punkt.
DIE NEUE REGIERUNG IN BERLIN UNTER ANGELA MERKEL IM JAHR 2005
Die Beziehungen konnten erst wieder neu aufgebaut werden durch den Führungswechsel in Berlin. Angela Merkel übernahm als Bundeskanzlerin die Regierung einer großen Koalition aus CDU und SPD. Sie hatte als
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Die Beziehung zwischen Tony Blair und Angela Merkel war nicht durch den Irakkonflikt belastet. Trotz der zugehö-rigkeit zu unterschiedlichen Parteifami-lien stimmte die Atmosphäre zwischen beiden.
eine ihrer ersten Aufgaben die schwierigen Haushalts-verhandlungen über den EU-Haushalt gemeistert und mit viel Geschick eine Konfrontation verhindert, die nicht zuletzt mit Großbritannien über den Agrarhaushalt und den Britenrabatt zu befürchten war. Das half sicherlich schon zu Beginn ihrer Amtszeit, die Spannungen aus der Zeit der Vorgängerregierung abzubauen. Zudem war die Beziehung Blair-Merkel nicht durch den Irakkonflikt belastet. Trotz der Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Parteifamilien stimmte die Atmos- phäre zwischen beiden.
Beide arbeiteten vor diesem Hintergrund konstruktiv zusammen, vor allem auf europäischer Ebene. Ein Beispiel ist die Schaffung der neuen Regelungen für das Asylrecht. Ebenso wurde in dieser Zeit ein Ausweg für die verfahrene Situation um den Verfassungsvertrag gefunden. Während des EU-Rates in Brüssel unter deutscher Ratspräsident-schaft im Juni 2007 wurden die Grundzüge des Vertrags von Lissabon beschlossen. Es war der letzte Gipfel, auf dem Tony Blair als britischer Regierungschef vertreten war.
DER WEcHSEL VON TONy BLAIR zU GORDON BROWN
Sein Nachfolger, Gordon Brown, war Merkel aufgrund früherer Begegnungen nicht unbekannt. Beide waren als Kinder protestantischer Pfarrer aufgewachsen. Dass sie sich gut verstanden, hing wohl aber mehr mit dem Umstand zusammen, dass sie eine Reihe von politischen Ansichten teilten. Beide unterstützten die stärkere Libe-ralisierung des Handels und beiden war die Umweltpolitik wichtig. Nicht zuletzt spielten sicherlich auch persönliche Eigenschaften, wie zum Beispiel ihr beiderseitiges großes Interesse am Detail, eine Rolle.9
Deutlich stärker als Blair richtete Gordon Brown seine EU-Politik an britischen Interessen aus. Das mag seinen eigenen Überzeugungen entsprochen haben, war aber sicherlich auch an die britische Wählerschaft gerichtet. Er stellte sicher, dass Großbritannien im Lissaboner Vertrag
9 | Vgl. Simon Green und William Paterson, After Tony – British-German Relations Under Gordon Brown, AICGS Advisor, 25.05.2007.
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In der Finanzkrise 2008 offenbarte sich die Anfälligkeit der britischen Wirt-schaft, die stark auf den Finanzsektor konzentriert war. Währenddessen hatte die Wirtschaft in Deutschland an Wett-bewerbsfähigkeit gewonnen.
die opt-out-Klausel bezüglich der Grundrechtecharta einge-räumt bekam, was aber auch für Polen und Tschechien gilt. Um die Ratifizierung des Vertrages sicherzustellen, hatte Brown die Überlegungen für ein Referendum, wie es für
den Verfassungsvertrag angedacht war, nicht aufgegriffen. Stattdessen stimmte das House of Commons nach einer hitzigen Debatte über den Vertrag ab. Zur Popularitätssteigerung seiner Amtsführung hat dieses Verfahren sicherlich nicht beigetragen.
Vor größere Herausforderungen gestellt sah sich Brown allerdings bei der im Herbst 2008 hereinbrechenden Finanz-krise. Nun offenbarte sich die Anfälligkeit der britischen Wirtschaft, die so stark auf den Finanzsektor konzentriert war. Fast alle Regierungen Europas waren gezwungen, den Banken massive Unterstützungen zu gewähren. Groß-britannien war allerdings im Vergleich zu Deutschland stärker betroffen, da sich die Krise direkt auf die dortige Realwirtschaft niederschlug und zu einer spürbaren Erhö-hung der Arbeitslosigkeit führte. Währenddessen hatte die Wirtschaft in Deutschland aufgrund strikter Haus-haltspolitik und moderater Tarifvereinbarungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern in den Jahren zuvor stark an Wettbewerbsfähigkeit gewonnen. Brown musste sein Urteil über die deutsche Wirtschaft revidieren, denn es zeigte sich, dass die auf einen breiten Mittelstand gestützte produzierende Wirtschaft Deutschlands der Krise robuster stand hielt. Die notwendigen Maßnahmen fanden auf europäischer Ebene unter enger Abstimmung statt. Das gute Verhältnis zwischen Großbritannien und Deutschland zahlte sich gerade in den kritischen Monaten in 2008 und 2009 aus.
Sowohl die Bundestagswahlen im Herbst 2009 in Deutsch-land als auch die Unterhauswahlen im Mai 2010 im Verei-nigten Königreich ergaben Regierungswechsel: Bundes-kanzlerin Merkel konnte ihr Amt verteidigen, regierte nun aber mit der FDP zusammen. Das Wahlergebnis in Großbritannien war deutlich spannender. Es brachte die erste Koalitionsregierung seit dem zweiten Weltkrieg. Labour musste eine herbe Niederlage hinnehmen, die Konservative Partei konnte aber die Wahl nicht mit einer eigenen absoluten Mehrheit für sich entscheiden. So
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Im Bereich der Europapolitik könnten die Koalitionsparteien unterschiedlicher nicht sein. Die Liberaldemokraten sind die pro-europäischen Politiker in Groß-britannien schlechthin. Die Konservati-ven haben sich in eine immer euroskep-tischere Richtung bewegt.
brauchte sie einen Koalitionspartner zum Regieren und fand ihn in den Liberaldemokraten. Eine programmatische Schnittmenge beider Parteien ist zwar vorhanden, die Differenzen sind aber doch sehr beträchtlich. Vor allem im Bereich der Europapolitik könnten die Parteien unter-schiedlicher nicht sein. Die Liberaldemokraten, vor allem ihr Vorsitzender Nick Clegg, sind die pro-europäischen Politiker in Großbritannien schlechthin. Die Konservativen haben sich demgegenüber in den langen Jahren der Oppo-sition in eine immer euroskeptischere Rich-tung bewegt. Im Wahlkampf in Großbritan-nien stand die Europapolitik allerdings nicht im Mittelpunkt, sondern vielmehr die bange Frage nach der Bewältigung der anhaltenden Wirtschafts- und Finanzkrise – wie schon in den Monaten vorher im Wahlkampf in Deutschland. Trotzdem mag so manch einer außerhalb Großbritanniens gehofft haben, dass es für die Konserva-tiven vielleicht doch nicht reicht, auch wenn die Umfragen schon seit Monaten etwas anderes sagten.
DIE KONSERVATIV-LIBERALE REGIERUNG cAMERON – ERWARTUNGEN AN DEN REGIERUNGSWEcHSEL
David Cameron, der neue Premierminister, ist mit Amts-antritt noch jünger als es Tony Blair damals bei seinem Amtsantritt war. Und auch er hat seiner Partei eine neue Ausrichtung gegeben, seit er 2005 deren Führung über-nahm. Als Lehre aus den Thatcher-Jahren machte er soziale Fragen, die Unterstützung der Familien und der Zivilgesellschaft zu programmatischen Schwerpunkt-themen. Um als Parteivorsitzender gewählt zu werden, suchte er nach Möglichkeiten, den rechten Parteiflügel einzubinden, und gab das Versprechen, aus der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament auszutreten, falls es für eine eigene Gruppierung nach der Europawahl 2009 reicht. Den Europaskeptikern der Tories war die EVP schon immer zu europa freundlich und zu sehr an einer Vertiefung der Integration interessiert. Des Weiteren sagte Cameron zu, bei einem Wahlsieg für ein Referendum zum Lissabon-Vertrag im Vereinigten Königreich zu sorgen. Nachdem Tschechien als letzter Mitgliedstaat den Vertrag ratifiziert und ihn damit in Kraft gesetzt hatte, musste Cameron sein Versprechen zurückziehen, da ein Referendum nun sinnlos
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cameron hat für seine ersten Aus-landsreisen Paris, Berlin und Brüssel ausgewählt. Seine Vorgänger traten üblicherweise den ersten Weg nach Washington an.
geworden war. Allerdings hatte er zu diesem Zeitpunkt bereits das andere Versprechen eingelöst und die Konser-vative Partei nach der Europawahl aus der EVP-Fraktion zurückgezogen. Vor allem die CDU innerhalb der EVP und nicht zuletzt Frau Merkel persönlich unternahmen große Anstrengungen, diesen Schritt zu verhindern. Umso größer war die Enttäuschung – nicht gerade die beste Ausgangs-lage für ein gemeinsames Zusammenspiel, nachdem Cameron nun Premier wurde.
Die neue britische Regierung machte allerdings von Beginn an deutlich, dass sie einen aktiven Part in Europa spielen werde. Und es gibt Gründe, dies zu glauben. Zum einen hat sich sehr häufig gezeigt, dass die Briten im Regelfall
pragmatisch und nicht ideologisch handeln – unabhängig, welche Partei regierte. Zum anderen ist die Ernennung des als pragma-tisch bekannten David Lidington zum Euro-paminister anstelle des für diese Position
vorgesehenen, ausgesprochen euroskeptischen Schatten-ministers Mark Francois ein deutliches Zeichen. Vor allem aber dürften die Liberalen ein ausgleichender Faktor in der Regierung sein, der Cameron hilft, die Rechten in seiner Partei in Schranken zu halten. In den Koalitionsvereinba-rungen ist zu finden, dass es zu keinem Beitritt zur Euro-zone in der laufenden Legislaturperiode kommen wird und für jeglichen Machttransfer von den Mitgliedstaaten auf Brüssel zwingend ein Referendum stattzufinden hat. Ange-sichts der derzeitigen Verfasstheit der EU sind dies beides keine Punkte, die in nächster Zeit anstehen würden – auch ohne diese Festlegungen. Cameron hat für seine ersten Auslandsreisen Paris, Berlin und Brüssel ausgewählt. Seine Vorgänger traten üblicherweise den ersten Weg nach Washington an. Die Auftritte des Premierministers bei den bisherigen europäischen Zusammenkünften waren von einem sicheren Auftreten geprägt. Sehr wohl wusste er die britischen Anliegen zu vertreten, aber ohne deswegen andere vor den Kopf zu stoßen – was selbst in den briti-schen Medien mit einigem Staunen verfolgt wird. Und auch die Begegnung mit Bundeskanzlerin Merkel in Berlin verlief in freundlicher und konstruktiver Atmosphäre, was ange-sichts der Vorgeschichte positiv zu bewerten ist.
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Mit großer Aufmerksamkeit wurde wahrgenommen, dass Deutschland nicht mehr in jedem Fall bedingungslos bereit ist, notfalls zu bezahlen. Manchmal wird schon behauptet, die Deutschen werden britischer.
Am 1. Juli 2010 zeigte der neue Außenminister William Hague in einer Grundsatzrede die Linien für seine zukünftige Politik auf. Diesen ist vor allem zu entnehmen, dass Groß-britannien britisch bleibt, was bedeutet, dass Hague die britischen Interessen für seine Außenpolitik vorne anstellt: „Diese Regierung ist der Auffassung, dass Außenpolitik und das Foreign and Commonwealth Office vorrangig dafür existieren, den Interessen und Bedürfnissen der britischen Bürger im weitesten Sinn zu dienen und sie zu schützen […].‟10 Er betonte dabei, die Welt habe sich verändert und wenn sich das Land nicht mit verändere, bedeute das einen Bedeutungsverlust Großbritanniens mit den Folgen für seinen Einfluss in der Welt, seine Sicherheit und seine Wirtschaft. Hague will vor allem auf bilaterale Bezie-hungen setzen und hat dabei nicht zuletzt die Länder im Blick, die zunehmend auf der Weltbühne eine Rolle spielen werden: China, Indien und Brasilien. Natürlich bleibt auch für ihn das Verhältnis zu den USA ein besonderes, wobei nicht diese Unbedingtheit mitschwingt, wie sie unter Blair zu spüren war. Hague misst der EU, aber auch anderen regionalen Bündnissen, Gewicht bei. Er macht aber auch hier deutlich, dass es sich lohnt, gezielt bilaterale Bezie-hungen, zum Beispiel zu Polen, zu pflegen. Zwei Aspekte in der Europapolitik sind ihm dabei besonders wichtig: die Fortführung des Erweiterungsprozesses mit Blick auf die Balkanländer und die Türkei und die Erhöhung des Anteils britischer Vertreter in den EU-Institutionen.
Mit dieser Ausgangsposition ist zu erwarten, dass in vielen Bereichen Deutschland und Großbritannien in den nächsten Jahren konstruktiv zusammenarbeiten werden. Nach der Verabschiedung des Lissa-bonner Vertrages treten Grundsatzfragen erst einmal in den Hintergrund. Viel mehr stehen für die Europabürger sehr entscheidende praktische Fragen auf der Tagesordnung: die Bewältigung der Wirtschaftskrise und des Klimawandels sowie Sicherheitspolitik, vor allem der Einsatz in Afghanistan. Mit großer Aufmerksamkeit wurde in Großbritannien wahrgenommen, dass Deutschland nicht
10 | William Hague Britain‛s Foreign Policy in a Networked World, Rede im Foreign and Commonwealth Office, 01.07.2010, zu finden unter: http://fco.gov.uk/en/news/ latest-news/?view=Speech&id=22462590 [14.07.2010].
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Setzt Deutschland seine traditionelle Europapolitik fort, so sind Konfronta-tionen und Enttäuschungen nicht aus-zuschließen. Solange die Europapolitik beider Länder nicht stärker kongruent zu bringen ist, wird es immer wieder Konflikte geben.
mehr in jedem Fall bedingungslos bereit ist, einzuspringen und notfalls zu bezahlen. Manchmal wird schon behauptet, die Deutschen werden britischer. Die Griechenlandkrise machte sehr deutlich, dass die Deutschen ihrerseits Erwartungen an die anderen Mitgliedsstaaten haben. Die Forderung nach größerer Haushaltsdisziplin wird dabei von der britischen Regierung geteilt, obwohl sie sich sonst wohlweislich aus der Suche nach einer Problemlösung für die Eurozone heraushält. Anbetracht eines eigenen Defi-zits von guten elf Prozent im laufenden Haushaltsjahr und einem in den letzten Jahren deutlich geschwächten Pfund ist die Regierung in London ihrerseits sehr um Haushalts-disziplin bemüht.
Würden die Deutschen wirklich britischer, was in diesem Kontext bedeutet, dass sie Europapolitik vor allem aus ihrem nationalen Interesse heraus wahrnähmen und Inte-grationsbemühungen, die Souveränitätsverzicht mit sich bringen, zurücknähmen, könnte das durchaus engeren Beziehungen zu Großbritannien zugutekommen. Das
würde allerdings einen klaren Bruch mit der bisherigen Europapolitik Deutschlands bedeuten. Setzt Deutschland demgegenüber auch künftig seine traditionelle Europapolitik fort, dann sind Konfrontationen und Enttäu-schungen wohl nicht auszuschließen. Denn solange die Europapolitik beider Länder nicht
stärker kongruent zu bringen ist, wird es immer wieder Konflikte geben. Umso mehr sollten die nächsten Jahre, in denen weniger grundsätzliche Entscheidungen in der EU anstehen, genutzt werden, durch eine enge Zusam-menarbeit auf konkreten Feldern die Beziehungen beider Länder so stark wie möglich werden zu lassen. Durch konkrete Politiken wie Reformen des Binnenmarktes etwa im Bereich der Finanzmarktaufsicht, aber auch der Marktli-beralisierung und durch Fortschritte im Klimaschutz und in der Umsetzung des Lissabonner Vertrages im Bereich der Strukturreformen können letztlich Entwicklungen ermög-licht werden, die im Ergebnis die EU stark machen – ohne dass im Vorfeld viel darüber gestritten werden muss, ob man das eigentlich will oder nicht.
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Gerrit F. Schlomach
Durch die Gründung der Union für das Mittelmeer (UfM) vor zwei Jahren, im Juli 2008, haben sich neue Chancen für eine konstruktive Gestaltung der multilateralen Euro-Mittelmeerbeziehungen ergeben. Die UfM wurde auf einem Gipfeltreffen von 44 Staats- und Regierungschefs in Paris als eine „Union der Projekte‟ aus der Taufe gehoben und umfasst aktuell 43 Staaten mit 756 Millionen Einwohnern. Entwickelte sich diese Union aus der seit 1995 beste-henden Euro-Mittelmeer-Partnerschaft (EMP), so traten der Partnerschaft sechs neue Staaten bei, Albanien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Kroatien, Monaco und Mauretanien. Der Arabischen Liga und Libyen wurde jeweils ein Beobachterstatus eingeräumt. Obgleich die UfM inzwischen über einen Hauptsitz mit einem Generalse-kretär und Sekretariat in Barcelona verfügt, ist sie weder eine internationale Organisation noch verfügt sie über eine eigenständige Rechtspersönlichkeit. Vielmehr ist die UfM ein internationaler Zusammenschluss auf Basis der beiden politischen und rechtsunverbindlichen Erklärungen von Barcelona aus dem Jahr 1995 und von Paris aus dem Jahr 2008.
Am zweiten Jahrestag der UfM stellen sich die folgenden Fragen: Welche Effekte konnte die Union entfalten? Welchen zukünftigen Weg gilt es einzuschlagen? Zur Beantwortung der Fragen werden in einem ersten Schritt die regionalen Rahmenbedingungen und bisherigen Beziehungsmuster dargelegt, bevor in einem zweiten Schritt Maßnahmen und Aktionen, die sich aus der Gründung der Union ergaben, betrachtet werden. Vor dem Hintergrund dieser Ausfüh-rungen wird in einem dritten Schritt eine Bewertung der
Gerrit F. Schlomach ist Parlamentarischer Assistent von MdEP Michael Gahler und Doktorand an der Universität der Bun-deswehr München.
UNION FüR DAS MITTELMEER – REALITÄTEN ANERKENNEN UND cHANcEN NUTzEN!
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Nach wie vor schreiten die meisten südlichen Mittelmeeranrainerstaaten im regionalen Vergleich in demokrati-schen Transformationsprozessen nur langsam voran.
UfM im Rahmen einer Analyse des politischen Prozesses und einer Kritik der institutionellen Struktur vorgenommen,
die in Handlungsempfehlungen und einen Ausblick auf die weiteren Beziehungen münden. Diese Vorschläge lassen sich mit den folgenden Stichworten umreißen: politi-schen und finanziellen Realitäten Rechnung
tragen, Alternativlosigkeit regionaler und trans-regionaler Zusammenarbeit anerkennen.
RAHMENBEDINGUNGEN IM MITTELMEERRAUM
Wird die aktuelle Lage im Mittelmeerraum entlang demokratischer, sozioökonomischer und sicherheitspoli-tischer Rahmenbedingungen betrachtet, so zeichnet sich folgendes Bild ab: Nach wie vor schreiten die südlichen Mittelmeeranrainerstaaten im regionalen Vergleich in demokratischen Transformationsprozessen langsam voran, mit Ausnahme Israels, des Libanon und der Türkei. Mit Blick auf den Bertelsmann Transformations Index belegen arabische Mittelmeerländer gemessen am Demokratisie-rungsgrad hintere Platzierungen.1 Ursachen der „Stabi-lität‟ autoritärer Herrschaftsweisen und des Ausbleibens von Demokratie werden in folgenden Umständen erkannt:2 rentierstaatliche Wirtschaftsstrukturen; neopatrimoniale politische Systeme, die in patriarchalen Gesellschafts-strukturen eingebettet sind; und schließlich ein internatio-nales System, das aus sicherheitspolitischen Erwägungen ein Interesse an Regimestabilität hat.
Ein Vergleich der Platzierungen der südlichen Mittelmee-ranrainer unter Zuhilfenahme des Indexes menschlicher Entwicklung, der von den Vereinten Nationen erhoben wird, offenbart das mittelmäßige Abschneiden der arabi-schen Staaten, wobei wiederum Israel und die Türkei
1 | Bertelsmann Stiftung, Bertelsmann Transformation Index BTI 2010. (Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, 2009), abrufbar unter http://www.bertelsmann-transformation-index.de/ [06.08.2010]2 | Nadine Kreitmeyr, Oliver Schlumberger. „Autoritäre Herrschaft in der arabischen Welt‟, in: Aus Politik und Zeit- geschichte 24 (2010): 16-22, 19. Vgl. grundlegend: Martin Beck et al. (Hrsg.) Der Nahe Osten im Umbruch – Zwischen Transformation und Autoritarismus. (Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2009).
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Den Staaten gelingt es nicht, sich voll in die globalen Wirtschaftsstrukturen zu integrieren. Vielmehr wirken sich die Effekte der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise verstärkt auf die bereits angespannten Märkte aus.
Ausnahmen darstellen.3 Im wirtschaftlichen Bereich gelingt es den Staaten nicht in vollem Umfang, bis auf die genannten Ausnahmen, sich in die globalen Wirtschafts-strukturen zu integrieren. Vielmehr wirken sich die Effekte der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise verstärkt auf die bereits angespannten Arbeits- und Finanzmärkte aus. Im Ergebnis kommen die Reformprozesse, um die Abhän-gigkeit von ausländischen Finanzhilfen zurückzuführen und der stark heranwachsenden jüngeren Generation Jobper-spektiven und Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen, langsam voran. Verstärkend kommt hinzu, dass die meisten arabischen Länder hinsichtlich der sozialen, gesellschaftlichen und politischen Möglichkeiten im Vergleich zu anderen Ländern auf demselben Entwicklungsniveau hinterherhinken.4
Mit Blick auf die sicherheitspolitische Lage ist in der Region des südlichen Mittelmeerraums ein gewaltsamer Konfliktso-ckel erkennbar, der sich um zwei hoch explosive Ausei-nandersetzungen bildet:5 zum einen der Nahostkonflikt und zum anderen die gewaltsamen Spannungen zwischen der türkischen Regierung und kurdischen Separatisten. Darüber hinaus sind der Westsahara-Konflikt sowie der Umgang mit algerischen und ägyptischen Terroristen von gewaltsamen Konfrontationen geprägt.
UNTERScHIEDLIcHE ERFOLGE IN DEN EURO-MITTELMEER-BEzIEHUNGEN
Die Beziehungen zwischen der EU und den südlichen Mittelmeeranrainerstaaten erfolgen sowohl über bilaterale als auch über multilaterale Kontakte.6 Auf bilateraler Ebene
3 | United Nations Development Programme, Summary Human Development Report 2009 (New York, 2009), abrufbar unter http://hdr.undp.org/en/media/HDR_2009_EN_Summary.pdf [10.07.2010].4 | Markus Loewe, „Die Diskrepanz zwischen wirtschaftlicher und menschlicher Entwicklung in der arabischen Welt‟, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 24 (2010): 10-22, 10.5 | Heidelberg Institute for International Conflict Research, Conflict Barometer 2009 (2009), 71-73.6 | Vgl. Gerrit F. Schlomach, „Der Fisch stinkt vom Kopf: Europäische Kopflosigkeit gegenüber der arabischen Welt.‟ in: Ingo Wetter (Hrsg.). Die Europäische Union und die Türkei. Band II: Expansion in den islamischen Raum? (Hamburg: Kovac, 2006), 133-158.
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Die Erwartungen ruhten auf der Euro-Mittelmeer-Partnerschaft, die auch als Barcelona-Prozess bezeichnet wird. Das Gründungsdokument zielte dar-auf ab, den Mittelmeerraum in eine gemeinsame Friedens-, Wohlstands- und Stabilitätszone zu überführen.
wurden mit den Partnerländern Assoziierungsabkommen geschlossen, um die südlichen Staaten in ihren Reform-anstrengungen bei der Umsetzung von demokratischen,
rechtsstaatlichen und marktwirtschaftlichen Prinzipien zu unterstützen. Bis heute wurden alle angestrebten Assoziierungsabkommen in Kraft gesetzt, wobei dieser Schritt mit Syrien noch nicht vollzogen wurde und Libyen sich der Aushandlung eines solchen Abkommens widersetzt. Tripolis strebt in den
Beziehungen zur EU an, ein Rahmenabkommen zu unter-zeichnen, das jedoch inhaltlich die gleichen Schwerpunkte wie die Assoziierungsabkommen abdecken soll.
Im multilateralen Kontext ruhten die Erwartungen auf eine Verbesserung der regionalen Lage und eine Stärkung der trans-regionalen Verbindungen auf der 1995 gestar-teten Euro-Mittelmeer-Partnerschaft (EMP), die auch als Barcelona-Prozess bezeichnet wird. Das grundlegende, rechtsunverbindliche Gründungsdokument zielte darauf ab, den Mittelmeerraum in eine gemeinsame Friedens-, Wohlstands- und Stabilitätszone zu überführen. Dies sollte durch eine verstärkte Zusammenarbeit in drei Bereichen erfolgen: politischer und sicherheitspolitischer Dialog, partnerschaftliche Zusammenarbeit im Wirtschafts- und Finanzbereich sowie auf sozialer, kultureller und mensch-licher Ebene. Seit Beginn der EMP hat die Europäische Kommission bis heute eine Gesamtsumme von 1,66 Milli-arden Euro für regionale Projekte zur Verfügung gestellt.7
Gegenüber den ambitionierten Zielen der Barcelona-Erklärung stellte sich schnell Realismus ein, da sich die Erkenntnis durchsetzte, den ursprünglichen Erwartungen nicht im vollen Umfang gerecht zu werden. Der begrenzte sicherheitspolitische, demokratische und wirtschaftliche Erfolg lässt sich auf vielerlei Faktoren zurückführen.8
Zwar ist es richtig, dass in manchen Phasen des Nahost-Konflikts der einzige funktionierende Rahmen innerhalb der
7 | Stefan Füle, „Adress to the ‚For’UM‛ meeting‟, Speech/10/269. European Comission, (2010), 3.8 | Vgl. Andreas Jacobs und Hanspeter Mattes (Hrsg.), Un-politische Partnerschaft. Eine Bilanz politischer Reformen in Nordafrika/Nahost nach zehn Jahren Barcelonaprozess, (Sankt Augustin: Konrad-Adenauer-Stiftung, 2005).
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2004 etablierte die EU einen neuen politischen Ansatz im Rahmen der Euro-päischen Nachbarschaftspolitik (ENP). Nach Ausweitung auf die südlichen Mittelmeeranrainerstaaten wurden die bilateralen Beziehungen zur EU durch Aktionspläne neu ausgerichtet.
EMP bestand, wo sich Araber und Israelis gemeinsam an einen Tisch setzten. Doch folgte meist auf eine Verschlech-terung der israelisch-arabischen Beziehungen eine Störung im Euro-Mittelmeergefüge, obgleich der Austausch über das Mittelmeer hinweg nie vollständig zum Erliegen kam. Mittelfristig konnte die europäische Politik das Dilemma zwischen dem Interesse an innerstaatlichen Reformen und Wandel auf der einen Seite sowie dem Interesse an Europas Sicherheit auf der anderen Seite nicht konstruktiv auflösen. Aus europäischer Sicht ist es legitim, eigene Sicherheits-interessen und den Wunsch nach Wandel und politischer Reform zu formulieren. Doch ist auch die Zurückhaltung der südlichen Verantwortungsträger zu verstehen, die in diesem Fall das auszuwechselnde Objekt sind. Schließlich war es verschiedenen Reform- oder Revita-lisierungsinitiativen von europäischer Seite im Kontext der EMP nicht vergönnt, einen signifikanten innerstaatlichen Reformwandel bei den südlichen Partnerländern und eine Verbesserung der regionalen Beziehungen herbeizuführen. Hinzu kam, dass der perma-nente Streit um den strategischen Einsatz finanzieller Ressourcen innerhalb der EU zwischen südli-chen sowie zentral- und mitteleuropäischen Mitglied-staaten nicht langfristig eingehegt wurde.
Im Schlepptau der Erweiterungsrunde 2004 etablierte die EU einen neuen politischen Ansatz im Rahmen der Euro-päischen Nachbarschaftspolitik (ENP).9 Nach Ausweitung dieses politischen Instruments auf die südlichen Mittelmee-ranrainerstaaten wurden die bilateralen Beziehungen zur EU durch Aktionspläne neu ausgerichtet. Besonderes Augen-merk wurde darauf gerichtet, unterstützende Maßnahmen in die jeweiligen Reformagenden der Partnerländer zu inte-grieren. Neben strukturellen Mängeln in der Ausgestaltung der ENP bestehen spezifische Reformwiderstände bei den südlichen politischen Verantwortungsträgern. Die jüngsten Fortschrittsberichte der Europäischen Kommission zur Umsetzung der Aktionspläne weisen jedoch insgesamt eine positive Entwicklungsrichtung auf. In ausgewählten Fällen wurde von der EU ins Auge gefasst, die bestehenden guten
9 | Vgl. Steffen Erdle, „Die europäische Nachbarschaftspolitik. Ein Motor für Reformen im Mittelmeerraum?‟, in: KAS Auslandsinformationen 4/2007, (2007): 4-40.
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Nicolas Sarkozy forderte im Wahlkampf die Gründung einer Mittelmeer-Union. Handelte es sich zunächst um sehr ungenaue Vorstellungen, so wurden im Vorfeld und während der französischen EU-Ratspräsidentschaft 2008 Fakten geschaffen.
Beziehungen im Rahmen eines fortgeschrittenen Status weiter zu vertiefen. Marokko erhielt als erster südlicher Partnerstaat diesen privilegierten Status im Oktober 2008.
Vor dem Hintergrund dieser wechselhaften Entwicklungen verstärkten sich ab 2005, zum zehnjährigen Geburtstag der EMP, die Stimmen, die EMP und die ENP im südlichen Kontext zu reformieren.10 Diese kritische Stimmung wurde 2007 vom damaligen französischen Präsidentschaftskan-didaten Nicolas Sarkozy aufgegriffen, der im Wahlkampf die Gründung einer Mittelmeer-Union forderte. Handelte es sich zunächst um sehr ungenaue und zum Teil wider-sprüchliche Vorstellungen, so wurden im Vorfeld und während der französischen EU-Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte 2008 Fakten geschaffen, um im Rahmen einer Union für das Mittelmeer einen Neustart in den gemeinsamen Beziehungen zu wagen.11
AMBITIONIERTER START DER UNION FüR DAS MITTELMEER
Auf dem Frühjahrsgipfel am 14. März 2008 in Brüssel einigten sich die europäischen Staats- und Regierungs-chefs darauf, der Europäischen Kommission den Auftrag zu erteilen, die Modalitäten des neuen europäischen Ansatzes
für den Mittelmeerraum „Barcelona-Prozess: Union für das Mittelmeer‟ zu definieren und festzulegen.12 Mit diesem Schritt gelang es, die ursprünglichen Ideen von Sarkozy auf die Ebene der Europäischen Union zu überführen und in den bestehenden Barcelona-Prozess zu integrieren. Die Eckpfeiler der deutsch-
französischen Überlegungen, die die Grundlage der euro-päischen Einigung bildeten, beruhten zunächst darauf, die EU-27 und zehn südliche Mittelmeeranrainerstaaten sowie
10 | Vgl. EuroMeSCo Secretariat, Barcelona Plus / Towards a Euro-Mediterranean Community of Democratic States, (Lissabon, 2005).11 | Gerrit F. Schlomach, „Deutsche Erfahrungen in der Nahost- Mittelmeer-Region verstärkt für die europäische Außen- und Sicherheitspolitik nutzen‟, in: KAS Auslandsinformationen 3/2008, (2008): 55-59.12 | Vgl. Council of the European Union. Presidency Conclusions. Brussels European Council 13/14 March 2008, Annex 1, 7652/08, (Brüssel, 2008), 19.
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Auf Ebene der Staats- und Regierungs-chefs werden in zukunft alle zwei Jahre Gipfeltreffen abgehalten. Man einigte sich ferner auf einen Ko-Vorsitz für zwei Jahre und die Einrichtung eines gemeinsamen Sekretariats unter Lei-tung eines Generalsekretärs.
Jordanien und Mauretanien einzubinden.13 Institutionell einigte man sich darauf, ein Sekretariat und einen zwei-jährigen ständigen Ko-Vorsitz einzurichten, den sich ein EU-Mitgliedsstaat und ein südlicher Partner teilen.
Am 13. Juli 2008 traten unter französisch-ägyptischem Ko-Vorsitz 44 Staats- und Regierungschefs der EU und der südlichen Mittelmeeranrainerstaaten in Paris zusammen und unterzeichneten eine gemeinsame Erklärung.14 Der damaligen französischen EU-Ratspräsidentschaft gelang es, die Schmach der zehnjährigen Geburtstagsfeier der EMP und eine mögliche erneute Abwesenheit der meisten südlichen politischen Führer abzuwenden. Der Kreis der anwesenden südlichen Repräsentanten umfasste unter anderem sowohl den israelischen Premi-erminister Ehud Olmert, den palästinensi-schen Präsidenten Mahmoud Abbas als auch den syrischen Staatspräsidenten Bashar al-Assad. Fern geblieben waren lediglich der jordanische König Abdallah II., der marokkanische König Mohammed VI. und der libysche Staatschef Mouammar Gadhafi.
Thematisch wurden die Schwerpunkte der UfM auf folgende sechs Projekte gelegt: Säuberung des Mittel-meers, Meeresautobahnen und Autobahnen an Land, Zivilschutzinitiativen, mediterranes Solarenergiepro-gramm, Euro-Mittelmeer-Universität in Slowenien und eine Mittelmeer-Wirtschaftsentwicklungsinitiative mit dem Ziel der Stärkung von kleinsten, kleinen und mittleren Unter-nehmen.
Auf Ebene der Staats- und Regierungschefs werden in Zukunft alle zwei Jahre Gipfeltreffen abgehalten. Entspre-chend der Funktion des Europäischen Rates obliegt es den hochrangigen Staatsvertretern, politische Richtungs-entscheidungen zu treffen und die Arbeitsprogramme der
13 | Gerrit F. Schlomach, „‚Overview‛ Regional Dialogue and Cooperation in 2008 – Any Opportunities?‟, in: Konrad- Adenauer-Stiftung, Regional Centre on Conflict Prevention (Hrsg.), EAG Policy Paper number 3, July 2008, (Amman: Konrad-Adenauer-Stiftung, 2008): 1-2.14 | President of the French Republic and the President of the Arab Republic of Egypt. 2008. Joint Declaration of the Paris Summit for the Mediterranean, 13.07.2008, Paris.
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UfM zu verabschieden. Man einigte sich ferner auf einen Ko-Vorsitz für zwei Jahre und die Einrichtung eines gemein-samen Sekretariats unter Leitung eines Generalsekretärs. Ein gemeinsamer ständiger Ausschuss bereitet die Treffen der Hohen Beamten vor und wird dem Ko-Vorsitz assis-tieren, um die regelmäßigen Treffen der Außenminister auszurichten.
In der Erklärung von Paris wurde die bisherige Liste der Teilnehmerstaaten im Vergleich zur EMP erweitert. So traten der Partnerschaft sechs neue Staaten bei Albanien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Kroatien, Monaco und Mauretanien. Der Arabischen Liga wurde ein Beobachter-status eingeräumt. Libyen entschloss sich, als Beobachter den regelmäßigen Sitzungen beizuwohnen.
UMSETzUNG DER BEScHLüSSE NAcH DEM GIPFEL
Die bereits auf dem Pariser Gipfel zur Gründung der Union für das Mittelmeer angelegte Folgekonferenz auf Ebene der Außenminister erfolgte vom 3. bis 4. November 2008. Der ursprüngliche Termin im Oktober 2008 konnte nicht gehalten werden, da die arabischen Staaten ihre Teilnahme an dem geplanten Außenministertreffen mit dem Hinweis in Frage stellten, nicht mit dem israelischen Außenminister Avigdo Lieberman an einem Tisch sitzen zu wollen.
Ziel dieses erstens Treffens unter der Leitung des fran-zösischen Außenministers Bernard Kouchner und seines ägyptischen Kollegen Ahmed Aboul Gheit war, die neue Union zu festigen und offene Fragen zu bearbeiten. In der Abschlusserklärung15 festigten die Außenminister die insti-tutionelle Struktur, legten das Arbeitsprogramm und die Kooperationsfelder für das Jahr 2009 fest und vollzogen eine Überprüfung der letzten Aktivitäten. Die Außenmi-nister beschlossen als neuen offiziellen Namen „Union für das Mittelmeer‟. Dabei wurde der bisherige Bezug zum Barcelona-Prozess, den erst die deutsche Kanzlerin Merkel in der Projektfindungsphase einfügen ließ, fallengelassen.
15 | Council of the European Union, Union for the Mediterranean ministerial conference, Marseille, 03./04.11.2008, 15187/08 (Presse 314), (Barcelona Press 2008), 6-10.
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Das gemeinsame Sekretariat verfügt über keinerlei politischen Auftrag. Es beschränkt sich darauf, dem Prozess neue Impulse zu geben und Projekte vorzubereiten, durchzuführen sowie nachzubereiten.
Die Frage, wer von Seiten der Europäischen Union bzw. der europäischen Mitgliederstaaten dem Gremium vorsitzen wird, wurde ebenfalls auf der Außenministerkonferenz diksutiert, um eine kohärente Politikgestaltung zu garan-tieren. Die gemeinsame Erklärung präzisierte, dass von europäischer Seite die Besetzung der Ko-Präsidentschaft im Rahmen der in Kraft gesetzten Verträge stehen müsse. Dies wurde mit der Interpretation verbunden, wonach die Präsidentschaft und die Europäische Kommission die EU in den auswärtigen Beziehungen repräsentiert. Unklar blieb jedoch, welcher europäische Staat nach der zweijährigen französischen Ko-Präsidentschaft den Sitz für die EU-Präsi-dentschaft übernehmen würde und wie die Abstimmung zwischen EU-Präsidentschaft und Kommission zu erfolgen hat.
Darüber hinaus wurde die Position eines Generalsekretärs geschaffen, die zunächst jedoch nicht besetzt werden konnte, da sie im Zusammenhang mit der Standortfrage des Sekretariats gesehen wurde. Aufgrund der politischen Einfluss-nahme Syriens wurde Tunesien als Standort des Sekretariats verworfen.16 Die tunesische Regierung widersetzte sich daraufhin dem Kompromissangebot, statt des Standorts den ersten Generalsekretär stellen zu dürfen, und verwei-gerte sich, einen Vorschlag zur Besetzung dieses herausra-genden Postens zu unterbreiten. Lediglich Jordanien hielt an einem eigenen Kandidaten fest, der jedoch aufgrund der überwölbenden Spannungen im Nahost-Konflikt nicht zügig gewählt werden konnte.
Das gemeinsame Sekretariat hat eine rein technische Aufgabe zugesprochen bekommen und verfügt somit über keinerlei politischen Auftrag. Es beschränkt sich darauf, dem Prozess neue Impulse zu geben und Projekte vorzu-bereiten, durchzuführen sowie nachzubereiten. Finan-ziert wird das Sekretariat (Unterstützungspersonal und Ausstattung) aus einem gemischten Haushalt. Dabei trägt die EU einen Anteil und die weiteren Anteile werden von den südlichen Partnerstaaten übernommen, die jedoch freiwillig ihre Beiträge zur Verfügung stellen können.
16 | Vgl. Florence Beaugé, „La France arrache un accord global sur l’Union pour la Méditerranée‟, in: Le Monde, 05.11.2008.
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Nach den kriegerischen Auseinander- setzungen im Gaza-Streifen zum Jah-reswechsel 2008/2009 und den Wahlen in Israel setzte ein Stillstand in den Mit-telmeer-Beziehungen ein. Das führte zur totalen Einstellung der diploma- tischen Treffen im Rahmen der UfM.
Obgleich sich die Konferenzteilnehmer in Paris darauf einigten, die Arabische Liga in die Union für das Mittelmeer als Beobachter einzubinden, widersetzte sich fortgesetzt die israelische Regierung, diese Vereinbarung umzu-setzen. Diese Ablehnung führte zur Verschiebung eines Treffens der Umweltminister, die für Ende Oktober 2008 in Jordanien vorgesehen war. Ein Scheitern des Außenminis-tertreffens im November 2008 stand wegen des Nahost-Konflikts und der Frage nach der Beteiligung Israels und der Arabischen Liga an der UfM im Raum, konnte jedoch verhindert werden.17 Die fortgesetzte Anwesenheit der
Arabischen Liga wirft die Frage auf, welche Begründung geliefert wird, indirekt allen arabischen Staaten, auch denen, die nicht mittelbar- oder unmittelbar an das Mittel-meer grenzen, einen Zugang zu einer euro-mediterranen Organisation zu gewähren. Die kritische Haltung Israel wurde zum Preis
einer Ausweitung der stellvertretenden Generalsekretäre überwunden. Jeweils ein Posten wurden einem Vertreter aus den südlichen Hauptstädten Tel Aviv, Ramallah, Athen, Rom und Valletta zugesprochen.
ERSTE WIEDERBELEBUNGSVERSUcHE ERWEISEN SIcH ALS BEGRENzT
Während und kurz nach den kriegerischen Auseinanderset-zungen im Gaza-Streifen zum Jahreswechsel 2008/2009 und nach den Wahlen in Israel setzte ein Stillstand in den Mittelmeer-Beziehungen ein. Dies führte zur totalen Einstellung der technischen und diplomatischen Treffen im Rahmen der UfM. Im Ergebnis musste selbst die Europäi-sche Kommission die Aufschiebung der geplanten Treffen öffentlich zugeben.18
Im Juni 2009 startete der französische Energieminister Jean-Louis Borloo eine Initiative, um nach einer weiteren Verschiebung eines Treffens aufgrund des Nahost-Konflikts, welches für Anfang Juni in Monaco vorgesehen war, mit
17 | Ebd.18 | „The crisis in Gaza at the end of 2008 resulted in a suspension of the UpM meetings during some months.‟ in: European Commission, Union for the Mediterranean, Brüssel, 10.07.2009, MEMO/09/333 (2009).
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Der Prozess der Entscheidungsfin-dung wird sich vor der Grundsatzent-scheidung abspielen, außenpolitische Fragen cathrin Ashton und dem neuen Europäischen Auswärtigen Dienst zu überlassen.
seinen Kollegen am 25. Juni 2009 in Paris zusammenzu-treffen. Ziel dieses Treffens war es, weitere Schritte nach-haltiger Entwicklung in der Region zu diskutieren.
Die Frage des wechselnden Ko-Vorsitzes auf Seiten der EU wurde im Juli 2009 erneut aufgeworfen, da der damalige belgische Außenminister Karel de Gucht es nicht akzep-tierte, dass europäische Mittelmeeranrainer automatisch an der Ko-Präsidentschaft nach Beendigung der EU-Rats-präsidentschaft festhalten. Dieses informelle Verfahren entstand unter dem französischen Ko-Vorsitz, der von Juli 2008 bis Ende Dezember 2009 für die EU der UfM vorsaß. Der französischen Regierung war es gelungen, mit den folgenden EU-Ratspräsidentschaften Tschechiens und Schwedens erfolgreich zu verhandeln, um den Ko-Vorsitz zu behalten. Doch führte dies zu Unklarheiten, als zu Jahresbeginn 2009 zwei Delegationen – eine unter tsche-chischer Führung als damalige EU-Ratspräsidentschaft und eine unter französischer Führung im Rahmen des Ko-Vorsitzes – versuchten, im Gaza-Israel-Konflikt vor Ort zu vermitteln. Belgien fürchtete damals, dass Madrid auch nach dem Ende der spanischen EU-Ratspräsidentschaft Ende Juni 2010 einen Anspruch auf den Ko-Vorsitz erheben könnte. Diese Befürchtung führte zu einem Briefverkehr zwischen den belgischen und spanischen Außenministern.
Zweierlei Aspekte kommen in Bezug auf die Frage nach der europäischen Besetzung des Ko-Vorsitzes zum Tragen: Erstens wurde bis zum Beginn der belgischen Ratspräsi-dentschaft im Juli 2010 keine Entscheidung über dieses Thema getroffen. Vielmehr ist es absehbar, dass in Brüssel erst noch ein Verfahren gefunden werden muss, wie eine französische Nachfolge erfolgen soll. Zwei-tens wird sich der Prozess der Entschei-dungsfindung vor der belgischen Grundsatz-entscheidung abspielen, außenpolitische Fragen der Hohen Beauftragten Cathrin Ashton und dem neuen Europäischen Auswärtigen Dienst zu überlassen. Mit Blick auf diese beiden Faktoren ist davon auszugehen, dass die europä-ische Besetzung des Ko-Vorsitzes den Rat noch im Herbst 2010 beschäftigen wird.
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Das vierte ministerielle Treffen zum Thema Wasser blieb im April 2010 ohne Ergebnis. Hintergrund war die israeli-sche Ablehnung des Begriffs „besetzte Gebiete‟ im Schlussdokument.
Darüber hinaus bewirkten die politischen Effekte des Nahost-Konflikts Verzögerungen bei der Benennung des ersten Generalsekretärs. Als Ergebnis eines intergouver-nementalen Verfahrens wurde im März 2010 der jordani-sche Diplomat und ehemalige EU- und NATO-Botschafter
Ahmad Masadeh zum ersten Generalsekretär der UfM erklärt. Mit Blick auf die gestärkte Rolle des Europäischen Parlaments in außen-politischen Fragen und Entscheidungen muss bemängelt werden, dass die Einbindung der parlamentarischen Euro-Med-Ebene bei
der Besetzung dieses Postens nicht erfolgt ist. Hätten die Staats- und Regierungschefs an ihren eigenen Absichtser-klärungen festgehalten, die Euro-Mittelmeer-Parlamenta-rier-Versammlung (EMPA) voll in die UfM zu integrieren, so wäre eine parlamentarische Anhörung des Kandidaten für den Posten des Generalsekretärs wünschenswert gewesen.
Ungeachtet der Wiederbelegungsversuche verlief das vierte ministerielle Treffen zum Thema Wasser vom 13. bis 14. April 2010 ohne Ergebnis. Hintergrund war die israelische Ablehnung des Begriffs „besetzte Gebiete‟ im Schlussdokument. Israel widersetzte sich der international anerkannten Bezeichnung der besetzten palästinensischen Gebiete und verhinderte so die Verabschiedung einer gemeinsamen Wasserstrategie.19
Vor dem Hintergrund der Drohung Syriens und Ägyptens, dem für den 7. bis 8. Juni 2010 vorgesehenen Gipfel der Staats- und Regierungschefs fernzubleiben, wurde er Ende Mai auf November 2010 verschoben.20 Vorausgegangen war die Erklärung des israelischen Außenministers Avigdo Liebermann, selbst am Gipfeltreffen teilnehmen zu wollen, was arabische Boykottdrohungen nach sich zog, da Lieber-mann von syrisch-ägyptischen Vertretern als anti-arabi-scher Vertreter wahrgenommen wird. Zwar versuchte der spanische Ministerpräsident José Luis Rodríguez Zapatero, damaliger Vertreter der rotierenden EU-Ratspräsident-schaft, Liebermann zum Fernbleiben zu bewegen, jedoch
19 | Eberhard Rhein, „Union for the Mediterranean has to get serious‟, in: Blogactiv (23.04.2010), http://www.euractiv.com/ en/east-mediterranean/union-med-has-get-serious-analysis- 473553 [10.07.2010].20 | Vgl. „Mittelmeer-Gipfel wegen Nahost-Streit verschoben‟, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (22.05.2010).
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lehnte dies Israel ab. Es ist geplant, das verschobene Treffen in der dritten Novemberwoche zum 15. Jahrestag der EMP nachzuholen.
ANALySE DES POLITIScHEN PROzESSES UND KRITIK DER INSTITUTIONELLEN STRUKTUR
Startete das französische Projekt einer Mittelmeerunion mit dem Ziel, die Defizite und Mängel des Barcelona-Prozesses und der ENP anzugehen und zu beseitigen, so fällt ein erstes Urteil der Implementierung der Ideen eher pessimistisch aus. Demnach wäre es schwierig, bei der UfM Erfolge zu sehen, wo bereits der Barcelona-Prozess versagt hätte.21 Wird auf die politischen Ereignisse und Verzögerungen im Umgang der UfM zurückgeblickt, so bieten sich erstens eine Analyse des politischen Prozesses und zweitens eine Kritik der institutionellen Struktur an.22
Zwar kann es aus prozessualer Sicht als Erfolg gewertet werden, dass sich die Staatschefs in Paris trafen und sich gegenseitig versicherten, wie wichtig die Mittelmeerdimen-sion auf beiden Seiten des Meeres sei,23 doch als hinreichend kann dies nicht betrachtet werden. Auch die Folgetreffen sind nicht von Kritik frei geblieben: Die Meinungen zur Beurteilung der Fortschritte der Außenminister-Konferenz in Marseille gingen auseinander: Es wurde einerseits als ein Erfolg betrachtet, dass sich die Konferenzteilnehmer auf ein Arbeitsprogramm für 2009 einigen konnten. Darüber hinaus wurde einiger Fortschritt24 auf den Gebieten der
21 | Roberto Alliboni, und Fouad M. Ammor, „Under the Shadow of Barcelona: From the EMP to the Union for the Mediterra- nean‟, in: EuroMeCSo Paper 77 (2009).22 | Im Rahmen einer sicherheitspolitischen Analyse multilateraler Ansätze im Mittelmeerraum wurde jüngst eine gewisse Müdig- keit festgestellt: „[W]e observe a kind of Mediterranean fatigue when it comes to multilateral initiatives.‟, Carlo Masala und Sarah Anne Rennick, „‚Overview‛ Mediterranean Fatigue? The State of Multilateral Frameworks in the Middle East.‟, EAG Policy Paper 9, (Kairo: Konrad-Adenauer-Stiftung, 2010), 1-2, 1.23 | Vgl. Hardy Ostry, Hochglanzbilder und Gipfelstimmung. Die Union für das Mittelmeer und der Nahost-Konflikt, (Berlin: Konrad-Adenauer-Stiftung, 2008).24 | Michael Reiterer, „From the (French) Mediterranean Union to the (European) Barcelona Process: The ‚Union for the Mediterranean‛ as Part of the European Neighbourhood Policy.‟ in: European Foreign Affairs Review 14 (2009): 313-336, hier: 327.
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Allgemein stellt sich die Frage, wie es gelingen kann, den Geist der EMP in neue Initiativen zu übersetzen und dar-über hinaus institutionelle und projekt-bezogene Fortschritte zu erlangen.
Säuberung des Mittelmeeres, neuer See- und Landwege, Zivilschutzprojekte, alternative Energie, Mittelmeersolar-
plan und höhere Bildung sowie eines Mittel-meerentwicklungsplans für Geschäftsleute erkannt. Andererseits wurde die Meinung vertreten, dass in den sechs grundlegenden Projekten der Union keine weiteren Fort-schritte erzielt worden seien, da sich die
Außenminister weder auf Durchführungsmodalitäten noch auf weitergehende konkrete Schritte einigten.25
Allgemein stellt sich die Frage, inwieweit es mit dem nun gewählten Weg der UfM gelingen kann, den Geist der EMP in neue Initiativen zu übersetzen und darüber hinaus institutionelle und projektbezogene Fortschritte zu erlangen.26 Mit Blick auf die Projekte wurde die Kritik laut, dass substanziell keine neuen Projekte angeschoben wurden, mit denen auch nur „partiell auf die strukturellen Probleme und Entwicklungen im Mittelmeerraum‟27 einge-gangen worden wäre und die den südlichen Interessen entsprochen hätten. Die als neue Projekte angekündigten Maßnahmen wurden zum Teil bereits in der Vergangenheit von den bestehenden Euro-Mittelmeerbeziehungen und -institutionen bearbeitet. Unter Leitung der Europäischen Kommission wurde bereits seit 2005 mit der Initiative „Horizon 2020‟ grenzüberschreitend daran gearbeitet, die Wasserqualität des Mittelmeeres zu erhöhen. Ähnliches kann auch im Bildungsbereich beobachtet werden, wo sich die Bildungsminister bereits im Juni 2007 in Kairo darauf geeinigt hatten, einen gemeinsamen Forschungsraum zu gründen und den Austausch von Wissenschaftlern stärker zu fördern.
Im Vergleich zum Barcelona-Prozess wurde der UfM ein schlechtes Zeugnis im Umgang mit dem Nahost-Konflikt ausgestellt. Einer Ansicht nach konnte der Barcelona-
25 | Didier Billion, „L’Union pour la Méditerrannée, nouvel acteur des relations internationales? L’Union pour la Méditerrannée un an après.‟ http://affaires-strategiques.info [10.06.2010].26 | Vgl. Ahmed Driss, „North-African Perspectives‟, in: Roberto Aliboni (Hrsg.), Putting the Mediterranean Union in Perspec- tive (EuroMeSCo Paper 68), 19-24, hier: 23.27 | Vgl. Daniela Schwarzer, und Isabelle Werenfels, „Formel- kompromiss ums Mittelmeer‟ in: SWP-Aktuell (Berlin, 2008/ A24), 4-5.
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Konnte sich die EU bislang über die wechselseitigen Proteste und Verwei-gerungen von Arabern und Israelis hinwegsetzen, so geht dies nun nicht mehr.
Prozess trotz aller Rückschläge im Friedensprozess in Bewegung bleiben. Die neue institutionelle Situation würde es den arabischen Staaten erlauben, die gesamte UfM für eigene Interessen zu „kidnappen‟.28 Ein Grund wurde darin erkannt, dass innerhalb der EMP die arabischen Staaten und Israel lediglich Gäste eines von der EU angetriebenen Prozesses waren.29 Mit Beginn der UfM, dem Ko-Vorsitz und dem Generalsekretariat hätten die südlichen Mittelmeeran-rainerstaaten Miteigentümerschaft übernommen, was eben auch bedeuten kann, sich zu verweigern. Konnte sich die EU bislang über die wechselseitigen Proteste und Verwei-gerungen von Arabern und Israelis hinwegsetzen, so geht dies nun nicht mehr. Vor dem Hintergrund dieser gewollten Entwicklung muss die europäische Grundposition, wonach EMP und UfM keine direkten Instrumente zur Behandlung des Nahost-Konflikts seien, in Frage gestellt werden.
Ungeachtet dieser pessimistischen Bewertungen gelang es im institutionellen Bereich, die EMP im Rahmen der UfM weiterzuentwickeln und konkrete Projekt ideen zu schaffen. Ein Sekretariat wurde in Barcelona eingerichtet und die Ko-Präsidentschaft nahm ihre Arbeit auf. Vor dem Hintergrund der bestehenden europäischen finanziellen Vorausschau bis 2013 führte der europäische Erweiterungs- und Nachbarschaftskommissar Füle aus, dass die Kommission die bereitstehenden Mittel entlang der Prioritätenliste von Paris und Marseille umorientierte:30 2009 wurden 92 Millionen Euro für regio-nale Projekte ausgegeben. Gemäß den Schwerpunkten von Paris entfielen auf den Wassersektor 22 Millionen Euro, den Transportsektor zehn Millionen Euro und den Zivilschutz 4,4 Millionen Euro. Die EU finanzierte mit fünf Millionen Euro die vorbereitenden Maßnahmen des Mittelmeer-Solarprogramms und unterstützte Wirtschaftsmaßnahmen im Umfang von neun Millionen Euro.
28 | Tobias Schumacher, „A fading Mediterranen dream‟ in: European Voice, 16.07.2010.29 | Roberto Aliboni, „The Union for the Mediterranean. Evolution and Prospects‟, Documentati IAI 09, 39e-December 2009, 3.30 | Stefan Füle, „Adress to the ‚For’UM‛ meeting‟, Speech/10/269. European Comission, (2010), 3.
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„Gute‟ Institutionen, im Sinne der strukturellen Fähigkeit zur Generie-rung von gewünschten Ergebnissen, können keinen gemeinsamen politi-schen Handlungswillen ersetzen.
Gerade die Kooperation im Bereich der regenerativen Energie erweist sich als zukunftsgerichtete Maßnahme. Der Mittelmeer-Solarplan zielt darauf ab, Strom im Umfang von 20 Gigawatt aus erneuerbaren Energien zu generieren und bis im Jahr 2020 energiesparende Programme im
Mittelmeerraum umzusetzen. Im Januar 2010 legte die Europäische Kommission eine Machbarkeitsstudie vor, die im Februar 2010 um ein Strategiepapier einer Expertenarbeits-gruppe erweitert wurde. Im Rahmen einer privatwirtschaftlichen Initiative gründeten
zwölf Unternehmen am 30. Oktober 2009 die Desertec-Stiftung, um eine klimafreundliche Energieversorgung aus dem Nahen Osten und Nordafrika sicherzustellen. Ziel des Konzepts ist es, aus Solar- und Windenergie mittelfristig den lokalen Strommarkt Nordafrikas und langfristig Europa zu versorgen.
ScHLUSSBETRAcHTUNG
Das auf die dritte Novemberwoche verschobene Treffen der Staats- und Regierungschefs zum 15. Jahrestag der EMP wird die Chance bieten, sich den gemeinsamen Heraus-forderungen im Mittelmeerraum zu stellen. Mittelfristig wird es gelingen, erstens innerhalb der EU und bei den südlichen Partnerstaaten im Rahmen der neuen institutio-nellen Architektur ausreichenden gemeinsamen Willen zu entwickeln, um die neuen Möglichkeiten auch tatsächlich zu nutzen. Eins ist klar, „gute‟ Institutionen, im Sinne der strukturellen Fähigkeit zur Generierung von gewünschten Ergebnissen, können keinen gemeinsamen politischen Handlungswillen ersetzen. Zweitens sollte die Schwer-punktsetzung der UfM mit ihrer starken Projektorientie-rung als Mehrwert verstanden werden, um in quasi unpo-litischen bzw. technischen Bereichen die Vertrauensbasis der südlichen Staaten untereinander und im Verhältnis zur EU auszuweiten.
Damit dieser Zielhorizont erreicht werden kann, müssen die EU, ihre Mitgliedstaaten und die südlichen Partner-staaten die Realitäten anerkennen. Im Zusammenhang zwischen der Projektbetonung und der Auslagerung von politischen, sicherheitspolitischen und menschenrechtli-chen Fragen gibt es zwei Denkrichtungen, die beide an den
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Die EU und ihre Mitgliedstaaten müs-sen lernen, unangenehme Themen aktiv anzugehen und den politischen Dialog auszuweiten anstatt die Augen vor den regionalen Realitäten zu ver-schließen.
begrenzten Erfolgen der EMP ansetzen: Die eine empfiehlt, an unpolitischen Projekten mittelfristig festzuhalten, bis sich die regionale Lage so weit entspannt hat und gegen-seitiges Vertrauen existiert, um dann die kritischen Fragen im gemeinsamen Rahmen zu behandeln. Argumentativ beziehen sich Vertreter dieser Sichtweise auf den erfolg-reichen Verlauf der europäischen Integrati-onsgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg und der supranationalen Aufsicht über die kriegswichtigen Industrien für Kohle und Stahl, die die EGKS begründete. Kritisch gilt es hier anzumerken, dass die weltpolitischen Gesamtzusammenhänge nach 1945 in Europa und in den neunziger Jahren im Mittelmeerraum kaum historische Parallelen aufweisen.
Die andere Denkrichtung erachtet es als einen Nach-teil, dass die EMP und die darauf aufbauende UfM nicht direkt als Instrument zum Einwirken auf die Parteien im Nahost-Konflikt eingesetzt werden. Israel und die arabi-schen Parteien hingegen nutzen die gemeinsamen Treffen als Foren, ihre jeweiligen Sichtweisen im Konflikt zu vertreten. Sie scheuten sich nicht, dem jeweiligen Inter-esse folgend an bestimmten Sitzungen teilzunehmen oder die Teilnahme abzusagen. Insofern müssen die EU und ihre Mitgliedstaaten endlich lernen, unangenehme Themen aktiv anzugehen und den politischen Dialog auszuweiten anstatt, einer Vogelstraußpolitik folgend, die Augen vor den regionalen Realitäten zu verschließen.
Mit Blick auf die UfM bedeutet dies, aktiv die externen Herausforderungen anzugehen, die an die Union herange-tragen werden. Aus arabischer Sicht ist dies an erster Stelle der Nahost-Konflikt, wobei ein stärkeres Engagement der EU gefordert wird. Es ist Aufgabe der EU, vor allem der Hohen Beauftragten Ashton, mit der Stärkung der part-nerschaftlichen Komponente im Rahmen des Ko-Vorsitzes und dem gemeinsamen Sekretariat konstruktiv zu wirken. Genauso wenig wie die israelische Regierung regionale Gegebenheiten missachten kann, kann die arabische Seite langfristig eine Politik der Isolierung Israels betreiben. An alle drei Seiten richtet sich der Auftrag, politische Reali-täten und regionale Gegebenheiten anzuerkennen.
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Darüber hinaus gilt es, gemeinsame Schlussfolgerungen und Handlungsempfehlungen aus den Auswirkungen der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise, des Klimawandels und der wechselseitigen Energiebeziehungen zu ziehen. Alle drei Themen verweisen auf den hohen Grad der poli-tisch gewollten wechselseitigen Verflechtung und gegen-seitigen Abhängigkeit. Vor diesem Hintergrund muss die Alternativlosigkeit regionaler und transregionaler Zusam-menarbeit festgestellt werden. In diesem Zusammenhang weisen die ausgewählten Kooperationsprojekte der UfM in die richtige Richtung, um das gegenseitige Vertrauen weiter zu stärken.
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Peter Köppinger
Am 10. Mai 2010 fanden in den Philippinen Wahlen statt. Gewählt wurden der Präsident, der Vizepräsident, die erste Parlamentskammer (Kongress), die Hälfte der 24 Sena-toren (zweite Parlamentskammer), die Gouverneure der 80 Provinzen sowie Bürgermeister und Ratsmitglieder in den Städten und Gemeinden (Municipalities) des Landes. In dem weitgehend der ehemaligen amerikanischen Kolo-nialmacht nachgebildeten politischen System des Landes stellen die alle sechs Jahre stattfindenden Präsidentschafts-wahlen einen bedeutenden Einschnitt im politischen Leben dar, da der mit außerordentlicher Machtfülle ausgestattete Präsident – anders als in den Vereinigten Staaten – nicht erneut kandidieren darf, und da in dem vollständig perso-nalisierten Wahlsystem des Landes politische Parteien keine wesentliche Rolle spielen.
AUSGANGSLAGE VOR DEN WAHLEN
Durch einen von den mittelständischen Schichten des Groß-raums Manila und der Kirche getragenen Volksaufstand gegen den korrupten Präsidenten Josep Estrada, ein in der armen Bevölkerung populärer Schauspieler, war im Jahr 2001 die Vizepräsidentin Gloria Macapagal Arroyo (GMA) in das Präsidentenamt gelangt. Die Ökonomin aus einer der reichsten Familien des Landes genoss hohes Ansehen. Ihr wurde allgemein zugetraut, an die erfolgreiche Präsi-dentschaft von Fidel V. Ramos anknüpfen zu können, der die erst 1986 nach dem Ende der Marcos-Diktatur wiedererrichtete Demokratie in den sechs Jahren seiner Amtsperiode von 1992 bis 1998 stabilisiert und dem Land mit mutigen Reformen einen wirtschaftlichen Aufschwung ermöglicht hatte. Im Parlament stützte GMA sich auf eine
Dr. Peter Köppinger ist Auslandsmitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung auf den Philippinen.
DIE PHILIPPINEN NAcH DEN WAHLEN VOM 10. MAI 2010
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Die derzeitige philippinische Präsidial-Verfassung lässt eine Wiederwahl des Präsidenten nach Ende der sechsjähri-gen Amtszeit nicht zu.
Koalition ihrer eigenen, relativ kleinen, ursprünglich libe-ralen Partei Kampi mit dem christdemokratischen Partei-enverbund Lakas-CMD.
Schon nach kurzer Zeit im Amt begannen ihre Popularitäts-werte dramatisch zu sinken. Bei der nächsten regulären Präsidentenwahl 2004 konnte sie sich nur mit knappem
Vorsprung gegen ihren wichtigsten Konkur-renten, einen Schauspieler und Verbündeten von Estrada, durchsetzen. Ein Jahr später wurden Telefongespräche veröffentlicht, aus denen hervorging, dass sie offenbar mit
Hilfe der staatlichen Wahlkommission das Wahlergebnis gefälscht hatte. Dies sowie ein selbst für die Philippinen außergewöhnliches Maß an Korruption, Bereicherung und Paktieren mit machtbesessenen und menschenverach-tenden Clans in zahlreichen Provinzen des Landes machten sie im Laufe der folgenden Jahre zur unbeliebtesten Poli-tikerin in der jüngeren Geschichte des Landes. Sie über-stand neun Putschversuche aus den Reihen reformorien-tierter jüngerer Militärs und kandidierte in den Wahlen im Mai 2010 für ihren Heimatwahlkreis im Kongress (erste Kammer des philippinischen Parlaments) – nach allge-meiner Einschätzung mit dem Ziel, anschließend über eine Verfassungsreform ein parlamentarisches System herbeizuführen, in dem sie als Ministerpräsidentin weiter an der Macht bleiben könnte. Die derzeitige philippinische Präsidial-Verfassung lässt eine Wiederwahl des Präsidenten nach Ende der sechsjährigen Amtszeit nicht zu.
ABLAUF UND ERGEBNISSE DER WAHLEN1
Zur Präsidentenwahl, die am 10. Mai 2010 gleichzeitig mit den Wahlen zum Kongress und Senat und den Kommunal-wahlen stattfand, wurden von der staatlichen Wahlkom-mission insgesamt acht Bewerber zugelassen, darunter auch der ehemalige Präsident Estrada, der nach seiner
1 | Die in diesem Artikel genannten Zahlen im Zusammenhang mit den Wahlen vom 10. Mai 2010 sind den vorläufigen Wahlergebnissen aus der offiziellen Website der Nationalen Philippinischen Wahlkommission entnommen. Endgültige Ergebnisse liegen in vielen Fällen noch nicht vor. Die Bewer- tungen und Einschätzungen in diesem Artikel gründen sich vor allem auf persönliche Gespräche, die der Autor im Verlauf der letzten neun Monate mit vielen einflussreichen Akteuren im politischen Leben der Philippinen auf nationaler Ebene
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Erstmals wurden in den rund 80.000 Wahllokalen Maschinen eingesetzt, wel-che die Ergebnisse per Funk weiterleiten sollten. Rund 75 Prozent der 51 Millio-nen Wahlberechtigten beteiligten sich an der Wahl.
Amtsenthebung 2001 wegen Diebstahls von Staatsgeldern in großem Umfang und Korruption zu lebenslanger Haft verurteilt, dann aber von GMA begnadigt worden war. In regelmäßigen Meinungsum-fragen lag vom Herbst 2009 an „Noynoy‟ Aquino vorn, ein bis dato wenig bekannter, politisch vergleichsweise passiver Senator, der nach dem Tod seiner von der Bevölke-rung verehrten Mutter Cory Aquino (Präsi-dentin in den Jahren der Wiedererrichtung der Demokratie nach dem Sturz des Diktators Marcos) im August 2009 von der liberalen Partei als Kandidat aufgestellt worden war.
Im Vorfeld der Wahlen und auch am Wahltag kam es an manchen Orten zu politisch motivierten Gewalttaten und Morden, die meist auf das Konto von herrschenden Clans in einzelnen Provinzen und Städten gingen. Sieht man von dem Massaker in Maguindanao im November 2009 ab, bei dem Vertreter des dort herrschenden Clans 57 Menschen – Angehörige einer rivalisierenden Familie sowie fast 30 begleitende Journalisten – ermordet hatten, lag die Zahl der Toten mit rund 60 deutlich unter den Opferzahlen bei früheren Wahlen. Nachdem es in früheren Wahlen regelmäßig zu massiven Unregelmä-ßigkeiten gekommen war – Stimmenkauf, Einschüch- terungen von Wählern, Betrug und Fälschungen bei der Auszählung und Übermittlung der ausgezählten Ergeb-nisse – wurden bei dieser Wahl erstmals in den rund 80.000 Wahllokalen Maschinen eingesetzt, welche die manuell ausgefüllten Stimmzettel elektronisch einlesen und die Ergebnisse per Funk weiterleiten sollten. Rund 75 Prozent der 51 Millionen Wahlberechtigten beteiligten sich an der Wahl. Aufgrund unzureichender Vorbereitung der Wahlhelfer und unzulänglicher Verfahrensvorgaben kam es an vielen Orten zu stundenlangen Wartezeiten. Viele Wahl-lokale wurden wegen der langen Schlangen von Wartenden erst eine Stunde nach der vorgegebenen Zeit geschlossen.
führen konnte (darunter Präsident a.D. F. V. Ramos, General Jose Almonte, Vizepräsident Binay, Gilberto Teodoro, Francis Manglapus sowie Berater und enge Mitarbeiter von Präsident Benigno Aquino und Senator Manny Villar). Daneben wurden Berichterstattung und Kommentare in den wichtigsten großen Tageszeitungen des Landes sowie Analysen in verschiedenen angesehenen Internetmedien (unter anderem Newsbreak, Malaya) ausgewertet.
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Es gibt Informationen, dass der ehe-malige Präsident Fidel Ramos und sein früherer Sicherheitsberater Militär und Polizei davon abgebracht haben, die Wahlen zu verhindern.
Eine nicht näher quantifizierbare Zahl von Wählern konnte von ihrem Wahlrecht keinen Gebrauch machen, weil sie bei Schließung des jeweiligen Wahllokals noch in der Warte-schlange standen.
Vor der Wahl waren von Medien und politischen Beob-achtern massive Zweifel geäußert worden, ob die Wahl
überhaupt stattfinden oder zu einem Ergebnis führen würde. Es gab zahlreiche Anzeichen dafür, dass GMA nach Wegen suchte, um trotz des Verfassungsverbots einer erneuten Kandidatur an der Macht zu bleiben oder zumindest sicherzustellen,
anschließend nicht wegen Korruption vor Gericht gestellt zu werden. Spekuliert wurde über ein Versagen der Hard- oder Software bei der elektronischen Stimmenauszählung, über landesweite Unterbrechungen der Stromversorgung und über gewalttätige Auseinandersetzungen, die zu einer Ausrufung des Ausnahmezustandes oder Kriegsrechts mit der Folge der teilweisen oder vollständigen Absage der Wahlen hätten führen können. Nichts von alledem ist eingetreten. Allerdings gibt es glaubwürdige Informationen darüber, dass wenige Tage vor der Wahl der ehemalige Präsident Fidel Ramos und sein früherer Sicherheitsberater General Almonte gemeinsam die Führung von Militär und Polizei davon abgebracht haben, zu intervenieren und die Wahlen zu verhindern, da sie offenbar massive Probleme und einen neuen Volksaufstand (People’s Power) seitens der Aquino-Anhänger bei einer manipulierten Wahlnieder-lage fürchteten. Und noch in der Nacht vor der Wahl hätte die staatliche Wahlkommission die Wahl möglicherweise abgesagt, wenn nicht ein ehemaliger General, der eine wichtige Funktion in der Kommission übernommen hatte, die Dinge in die Hand genommen und für die endgültige Durchführung der Wahl in den zahlreichen Wahllokalen grünes Licht gegeben hätte. Hintergrund waren Speku-lationen über Vorbereitungen eines Putschs seitens des kurz zuvor von GMA eingesetzten Armeechefs Bangit und dadurch ausgelöste hektische Aktivitäten verfassungs-treuer Generäle für einen präventiven Gegenputsch.
Schon wenige Stunden nach der Schließung der Wahllokale lagen Ergebnisse aus rund zwei Dritteln der Wahllokale vor – bei früheren Wahlen mit Handauszählung hatte das
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Aquino erzielte mit 42,08 Prozent das beste Ergebnis, das ein Präsident unter der Verfassung von 1987 jemals er- reichte. Die Wahl zum Vizepräsidenten gewann überraschend Jejomar Binay.
regelmäßig mehrere Wochen gedauert. Danach lag Aquino bereits fast uneinholbar vorn. Am Ende erzielte er mit 42,08 Prozent das beste Ergebnis, das ein Präsident unter der Verfassung von 1987 jemals erreichte.
Bei der unabhängig von der Stimmabgabe für den Präsidenten erfolgten Wahl des Vize-präsidenten gewann überraschend Jejomar Binay, langjähriger Bürgermeister der reichsten Stadt des Landes, „Makati‟, in Metro Manila. Er hatte – nachdem eine von ihm erhoffte Präsident-schaftskandidatur durch seine Partei Lakas-Kampi nicht zustande gekommen war – im Tandem mit Estrada den Wahlkampf bestritten. Der Vizepräsidentschaftskandidat und Parteivorsitzende der Liberalen, Mar Roxas, der bis zuletzt in den Umfragen geführt hatte, kam mit rund zwei Prozent Rückstand nur als zweiter ins Ziel.
Bei den Wahlen zum Kongress waren mehr als 110 Abge-ordnete erfolgreich, die ihren Wahlkampf als Mitglieder der bisherigen Regierungspartei Lakas-Kampi-CMD geführt hatten (die Gesamtzahl der in Wahlkreisen gewählten Abgeordneten beträgt 229). Inzwischen zeigt es sich aber, dass – ebenso wie nach früheren Wahlen – viele von ihnen der Partei des neuen Präsidenten beitreten oder sich als Unabhängige erklären und mit den Liberalen koalieren, um in den Genuss lukrativer Positionen in den Parlamentsaus-schüssen sowie der massiven Geldzahlungen zu kommen, die vom Präsidenten an die Abgeordneten für von ihnen vorgeschlagene Projekte in ihren Wahlbezirken jährlich aus dem nationalen Haushalt angewiesen werden. Neben den Wahlkreisabgeordneten wurden mehr als 40 weitere Abge-ordnete von Parteienlisten so genannter marginalisierter Bevölkerungsgruppen nach Proportionalverfahren gewählt. Insgesamt waren seitens der staatlichen Wahlkommission mehr als 160 solcher Parteilisten „marginalisierter‟ Bevöl-kerungsgruppen zur Wahl zugelassen worden, jede konnte maximal zwei Vertreter im Kontingent der Parteilisten in den Kongress entsenden. Diese Parteilisten wurden vielfach von Politikern der Oligarchie als Sprungbrett ins Parlament genutzt, die aus irgendwelchen Gründen in ihren eigenen Parteiorganisationen nicht aufgestellt werden konnten, darunter der Sohn von Präsidentin GMA als Vertreter der „Wachmänner-Partei‟.
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Aquino konnte sich dauerhaft bei 40 Prozent halten, weil er die Rückkehr zu einer ehrlichen und sauberen Regie-rungspolitik zum Kernpunkt seiner Kampagne machte.
ANALySE DER WAHLERGEBNISSE
Der alles dominierende Faktor in den Wahlen war der Wunsch in der Bevölkerungsmehrheit, die Ära GMA definitiv zu beenden. Aquino, der zunächst nach dem Tod seiner Mutter auf einer Welle der Nostalgie und der
Sehnsucht nach einer sauberen politischen Führung mehr als 60 Prozent Zustimmungs-werte in den Umfragen erhielt, konnte sich auch nach dem Abflauen dieser Stimmung dauerhaft bei 40 Prozent halten, weil er die
Rückkehr zu einer ehrlichen und sauberen Regierungs-politik zum Kernpunkt seiner Kampagne machte und sich am deutlichsten von allen aussichtsreichen Kandidaten für eine Untersuchung der Korruptionsfälle in der Amtszeit von GMA aussprach. Sein lange Zeit stärkster Mitbewerber um das Präsidentenamt, Senator Villar, ein aus einfachen Verhältnissen stammender Self-Made-Multi-Millionär, verlor drastisch an Boden und fiel am Ende sogar auf den dritten Platz zurück, nachdem gut zwei Monate vor der Wahl das – offensichtlich begründete – Gerücht die Runde machte, die Präsidentin finanziere seinen Wahlkampf mit und habe mit ihm einen Deal verabredet, wonach sie nach der Wahl Sprecherin im Kongress und später nach einer entsprechenden Verfassungsreform Ministerpräsidentin werden könne. Der Kandidat der Regierungspartei Lakas-Kampi-CMD, der ehemalige Verteidigungsminister und angesehene Anwalt Gilberto Teodoro, hatte von vornherein als Kandidat der GMA-Partei keine Chance: Seine Unter-stützung durch GMA wurde in den Medien allgemein als „kiss of death‟ bezeichnet. Und auch seine persönliche Integrität, hohe Kompetenz und Beliebtheit unter gebil-deten jüngeren Wählern konnte das zu keinem Zeitpunkt kompensieren.
Dass der in der armen Bevölkerung weiterhin populäre ehemalige Präsident Estrada trotz seiner früheren Verur-teilung mit mehr als 25 Prozent der Stimmen eine Art politisches Comeback feiern konnte, zeigt darüber hinaus, dass sich große Teile der armen Bevölkerungsschichten durch die von den reichen Familien dominierte politische Kaste ausgebeutet fühlen und einen Wechsel wollen – ein Faktor, der zunächst auch Villar zugute kam. Wie stark die Unzufriedenheit mit der derzeitigen politischen und
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Sowohl der Präsident und der Vizeprä-sident wie auch eine sehr große zahl von Senatoren, Provinzgouverneuren, Kongressabgeordneten und Bürger-meistern stammen aus den reichsten Familien des Landes oder aus Familien, die seit Jahrzehnten das politische und gesellschaftliche Leben dominieren.
wirtschaftlichen Situation ist, zeigt sich auch daran, dass der Sohn des Diktators Marcos, der seinen Vater öffent-lich glorifiziert, in der landesweiten Wahl von zwölf Senatoren ganz vorne lag, und dass Imelda Marcos, die 80-jährige Witwe des Diktators, die zum ersten Mal seit dem Ende der Diktatur 1986 wieder für ein politisches Amt kandidierte, mühelos in ihrem Heimatort den Kongresswahlkreis gewann.
Ein weiteres herausragendes Merkmal der Wahlen war die gegenüber den vorhergehenden Wahlen sogar wieder verstärkte Dominanz der so genannten politischen Dynas-tien. Sowohl der Präsident und der Vizepräsident wie auch die Mehrzahl der gewählten Senatoren und Provinzgou-verneure und eine sehr große Zahl von Kongressabgeord-neten und Bürgermeistern stammen entweder aus den reichsten Familien des Landes oder aus Familien, die in ihren Heimatprovinzen seit Jahrzehnten das politische und gesellschaftliche Leben dominieren und in der Regel auch wirtschaftliche Machtpositionen einnehmen.
Bei den national gewählten Positionen (Präsident, Vizeprä-sident und Senatoren) ist ohnehin klar, dass aufgrund des landesweit erforderlichen Wahlkampfes in dem 95-Milli-onen-Volk mit mehr als 7000 Inseln und der Nichtexistenz von staatlicher Wahlkampfkostenerstattung wie auch organisatorisch und finanziell schlagkräftiger politischer Parteien nur Bewerber eine Chance haben, die selbst prominent und reich genug sind, um zweistellige Dollar-Millionen-Beträge aufzubringen, oder die von reichen Familien entsprechend gefördert werden.
Bei den bedeutsamen regional oder örtlich gewählten Positionen stellen die in den jeweiligen Provinzen wirt-schaftlich und politisch herrschenden Dynastien in der Mehrzahl der Fälle sowohl den Gouverneursposten wie auch die Wahlkreisabgeordneten für den Kongress und die wichtigsten Bürgermeisterpositionen in der jewei-ligen Provinz. Die Sicherung dieser Positionen erfolgt meist durch die Fortführung des alten, aus der spani-schen Kolonialzeit übernommenen Patronagesystems, in dem finanzielle Begünstigungen, die Vergabe wich-tiger Positionen und auch soziale Fürsorge zur Sicherung
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von Mehrheiten eingesetzt werden, daneben aber auch Einschüchterung und in manchen Fällen auch brutale Gewalt, wenn die Besetzung dieser Positionen durch die eigene Dynastie von konkurrierenden Familien oder auch charismatischen Außenseitern oder Aktivisten in Medien und Nichtregierungsorganisationen in Frage gestellt wird.
DIE POLITIScHE LAGE NAcH DEN WAHLEN
Der neue Präsident Benigno „Noynoy‟ Aquino, der am 30. Juni sein Amt angetreten hat, steht vor großen Herausfor-derungen:
▪ In seinem politischen Lager bekämpfen sich öffentlich vier verschiedene Flügel: 1. die führenden Vertreter der liberalen Partei, die nach der Niederlage ihres Parteivorsitzenden Mar Roxas bei der Vizepräsidentenwahl besonders sensibel reagieren und den Verdacht haben, dass sie von anderen Teilen des Aquino-Lagers bewusst betrogen worden sind;
2. die Mitglieder und Einflusspersonen der reichen Aquino-Familie;
3. die zahlreichen ehemaligen Kabinettsmitglieder und einflussreichen Mitarbeiter GMAs, die im Laufe der Jahre und insbesondere angesichts der absehbaren Lakas-Kampi-CMD-Niederlage in den letzten Monaten ins Aquino-Camp übergelaufen sind;
4. die große Gruppe der meist jungen und enthusias-tischen Noynoy-Anhänger aus Zivilgesellschaft und Nichtregierungsorganisationen, die die anderen drei Gruppen mit großem Misstrauen als Trapos (traditio-nelle Politiker) ansehen.
Ihre Vorstellungen zur zukünftigen Regierungspolitik gehen weit auseinander und sind vielfach sogar gegen-sätzlich.
▪ Es wird für Aquino trotz der nach den Wahlen übli-chen großen Zahl von Parteiwechslern und Überläufern aus allen anderen Lagern sehr schwer sein, sich eine Mehrheit im Kongress für seine zukünftigen Gesetzes-vorhaben zu sichern, nachdem seine liberale Partei bei den Wahlen weniger als 50 der 229 Wahlkreismandate gewinnen konnte. Will er nicht als handlungsunfähiger und passiver Präsident in die Geschichte eingehen, muss
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Sollte Aquino versuchen, die dringend notwendigen Reformen zur öffnung der Märkte anzugehen, wird er auf den massiven Widerstand seiner eigenen Familie und der philippinischen Oligar-chie stoßen.
er wahrscheinlich Koalitionen mit anderen Gruppen im Kongress eingehen, die die ohnehin zu überbrückenden Meinungsverschiedenheiten in seinem Regierungslager weiter verschärfen werden.
▪ Sein wichtigstes Wahlversprechen, eine saubere Regie-rung, der Abbau von Korruption, Vetternwirtschaft und Begünstigungen, wird nur schwer erfolgreich einzulösen sein, weil er die erforderlichen Mehrheiten für gesetz-liche Regelungen in Kongress und Senat sowie die Unterstützung in der staatli-chen Bürokratie und in einflussreichen gesellschaftlichen Kreisen wahrscheinlich nur sichern kann, wenn er hierzu die in den vergangenen Jahren üblichen Instru-mente einsetzt, nämlich: Begünstigungen, Zuwendungen aus dem Staatshaushalt, Korruption. Die Gefahr ist groß, dass er im Dilemma zwischen Wirkungs-losigkeit und Verlust seiner Glaubwürdigkeit zerrieben wird.
▪ Sollte er versuchen, die größeren, dringend notwendigen Reformen zur Öffnung der Märkte nach außen und inner-halb des Landes, zur Verbesserung des repräsentativen und partizipativen Charakters und der Effektivität des politischen Systems anzugehen – was im Wesentlichen nur über Verfassungsänderungen möglich ist –, wird er nicht nur mit der aus seinem eigenen Lager vor den Wahlen geschürten Dämonisierung von Verfassungs-änderungen zu kämpfen haben, sondern auch auf den massiven Widerstand seiner eigenen Familie und mit ihr verbundener Familien aus der philippinischen Olig-archie stoßen, die in der Nach-Marcos-Ära die Verfas-sung erfolgreich so beeinflusst haben, dass Staat und Wirtschaft fest in ihrem Griff bleiben. Selbst die schlichte Umsetzung von wichtigen, längst beschlossenen Reform-vorhaben kann ihn in große Schwierigkeiten bringen. So bleibt zum Beispiel abzuwarten, ob er die Blockade der Landreformvorschriften auf dem Stammsitz seiner Familie, die mit juristischen Mitteln in den vergangenen Jahrzehnten durch seine Familie betrieben worden ist, in absehbarer Zeit aufgeben wird.
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Die ersten Reden der Präsidentin Gloria Macapagal Arroyo waren 2001 stark von christdemokratischem Gedanken-gut geprägt. Die Partei selbst aber kümmerte vor sich hin.
Im Übrigen bleibt nur zu hoffen, dass es ihm gelingt, neben reformbereiten Kräften in seinem eigenen Lager auch reformorientierte Gruppen aus anderen politischen Lagern in seine Politik einzubinden, und dass er sich als entschei-dungsstarker und geschickter Führer des Landes profi-lieren kann – wofür es bislang nicht allzu viele Hinweise gab. Positiv ist zu vermerken, dass bei den im Juni publik gewordenen Kandidaten für die wichtigsten Ämter in der neuen Administration (Justizminister, Finanzminister und andere) Persönlichkeiten überwiegen, die als sauber und kompetent gelten.
DIE LAGE DER cHRISTDEMOKRATEN
Die Parteien im traditionellen System nach der Unabhängig-keit – Nationalistische Partei und Liberale Partei – haben sich in der Vergangenheit zu keinem Zeitpunkt als Mitglieder- und Programmparteien wirklich landesweit etabliert. Die Christdemokraten, die sich seit Ende der sechziger Jahre aus verschiedenen christlich-sozialen Bewegungen als Programmpartei gebildet hatten – geführt vor allem von Raul Manglapus – konnten sich nicht zu einer wirklichen Mitgliederpartei entwickeln, nachdem Marcos Anfang der siebziger Jahre die demokratische Verfassung außer Kraft setzte und Manglapus sowie viele seiner Mitstreiter ins Exil oder in den zunehmend von den Kommunisten domi-nierten Untergrund gingen. Nach dem Fall der Marcos-Diktatur schlossen sich die seit Anfang der achtziger Jahre wieder aktiven christdemokratischen Gruppen der breiten demokratischen Koalition unter Präsidentin Cory Aquino
an. Ihre Führungspersönlichkeiten wurden in die Regierung eingebunden, ohne dass eine systematische Parteiarbeit zur Schaf-fung einer Mitgliederbasis stattfand. Nach dem Ende der Regierungszeit von Cory
Aquino wurde unter ihrem von dem christdemokratischen Parteienbündnis „Lakas-CMD‟ getragenen Nachfolger Fidel V. Ramos zwar die Programmarbeit verstärkt, insbeson-dere durch seinen Sicherheitsberater, den als „denkender General‟ titulierten christdemokratischen Vordenker Jose T. Almonte. Sie kam aber fast ausschließlich der Regierung zugute, die Partei fand kaum mehr statt, zumal auch die verschiedenen in die Koalition einbezogenen christdemo-kratischen Mini-Parteien nie wirklich fusioniert hatten.
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Nach der massiven Niederlage des wenig charismatischen Parteiführers Jose de Venecia im Präsidentenwahlkampf 1998 gegen den Schauspieler Josep Estrada ruhten die Hoffnungen der Christdemokraten auf politischen Einfluss verstärkt auf der gewählten Vizepräsidentin Gloria Maca-pagal Arroyo, die mit ihrer kleinen ehemals liberalen Partei Kampi eine Koalition mit den Lakas-Christdemokraten unter Jose de Venecia eingegangen war. Mit dem Volks-aufstand gegen Estrada und der Übernahme des Präsiden-tenamtes durch GMA 2001 wurde Lakas-Parteiführer de Venecia erneut Sprecher des Kongresses und sicherte für GMA die Mehrheit im Parlament. Auch die ersten Reden und die Regierungserklärung von GMA waren stark geprägt von christdemokratischem Gedankengut. Die Partei selbst aber kümmerte vor sich hin, ohne dass der Versuch unter-nommen wurde, sie systematisch als Programm- und Mitgliederpartei aufzubauen und zu etablieren.
Mit dem vor allem durch Wahlfälschungen und Korruption bedingten Ansehensverlust von GMA in den Jahren ab 2003 kamen auch die Christdemokraten in der Regierungs-koalition in eine schwierige Lage. Als zentrale Verbündete der Präsidentin waren sie von dem Popularitätsschwund mit betroffen. Fidel Ramos, der 2005/2006 mit massivem persönlichem Einsatz die angeschlagene Präsidentin noch einmal vor dem Sturz bewahrt hatte, sah sich anschließend von ihr getäuscht und begann, sich zu distanzieren. Im Jahr 2008 wurde Jose de Venecia von GMA aus dem Amt des Sprechers des Kongresses verdrängt, nachdem er sich mit seinem Sohn solidarisiert hatte, der einen der zahlrei-chen Korruptionsskandale der Präsidentenfamilie öffentlich gemacht hatte. Gleichzeitig ließ GMA Beschlüsse über eine formelle Fusion von Lakas-Kampi-CMD von satzungsmäßig hierzu nicht legitimierten Führungsgremien fassen und schloss de Venecia aus der Partei aus. Da Lakas-CMD als Mitglieder- und Programmpartei unter de Venecia nie entwickelt worden war, konnte er sich dagegen auch innerparteilich nicht wehren. Sein Versuch, die Fusion vor staatlicher Wahlkommission und oberstem Gerichtshof für ungültig erklären zu lassen, war nicht erfolgreich.
Ende Oktober 2009 beschloss der Nationalrat von Lakas-Kampi-CMD, die Spitzenkandidatur für die Präsident-schaftswahlen 2010 Verteidigungsminister Gilberto Teodoro
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Ende Oktober 2009 beschloss der Nationalrat von Lakas-Kampi-cMD, die Spitzenkandidatur für die Präsident-schaftswahlen 2010 Verteidigungsmi-nister Gilberto Teodoro anzutragen.
(„Gibo‟) anzutragen, der sich als Harvard-Absolvent und angesehener Anwalt sowie als hochkompetenter, sauberer und entscheidungsstarker Politiker einen sehr guten Ruf
erworben hatte. Die Lage der Christdemo-kraten insgesamt blieb konfus. Die christde-mokratischen Lakas-CMD-Persönlichkeiten waren teilweise mit de Venecia aus der Partei ausgestiegen und unterstützten im Wahl-kampf Noynoy Aquino, Villar, Senator Gordon
oder sogar Estrada. Ein Teil verblieb weiterhin in der Lakas und unterstützte Gibo. Es war aber bereits abzusehen,
▪ dass Lakas-Kampi-CMD nach der kaum zu gewinnenden Wahl auseinanderfallen würde, ▪ dass Jose de Venecia, der im Land nicht populär ist, keine Chance mehr haben würde, eine relevante Partei der „Lakas-Originals‟ wieder aufzubauen, ▪ und dass andererseits christdemokratische Persön-lichkeiten, die sich im Wahlkampf ins liberale Lager von Noynoy oder ins Lager von Senator Villar begeben hatten, nach der Wahl daran interessiert sein würden, wieder einer eigenständigen, zentristisch (christlich/muslimischen) demokratischen Bewegung anzugehören.
Bereits im März 2010 trat Gibo vom Amt des „Party-Chairman‟ der Lakas-Kampi-CMD zurück, das er mit seiner Nominierung als Präsidentschaftskandidat der Partei über-nommen hatte. Grund war vor allem, dass GMA damit begonnen hatte, Mittel, die für die Unterstützung des Wahlkampfs kommunaler Kandidaten der Lakas vorge-sehen waren, statt dessen direkt oder über ihren Ehemann in den Wahlkampf von Senator Villar umzuleiten, dem zu diesem Zeitpunkt noch gute Chancen eingeräumt wurden, die Präsidentenwahl zu gewinnen. Francis Manglapus, Sohn des ehemaligen christdemokratischen Führers und Außenministers Raul Manglapus und enger Vertrauter von Gibo, verblieb weiterhin als hauptamtlicher Parteipräsident in der Lakas-Führung, trat von seinem Amt aber unmit-telbar nach den Wahlen zurück, nachdem GMA das Amt des ehrenamtlichen „Party-Chairman‟ wieder übernahm. Ob die Christdemokraten – im Verbund mit wertorien-tierten Muslim-Gruppen – in absehbarer Zeit wieder wesentlichen Einfluss in der philippinischen politischen Landschaft gewinnen können, wird maßgeblich davon
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Ob die christdemokraten wieder we- sentlichen Einfluss gewinnen können, wird maßgeblich davon abhängen, ob es gelingt, jüngere, wertorientierte Multi-plikatoren aus akademischen Kreisen, Privatwirtschaft und zivilgesellschaft für einen unbelasteten politischen Neu-beginn zu mobilisieren.
abhängen, ob es gelingt, unter jüngeren, wertorientierten Multiplikatoren aus akademischen Kreisen, Privatwirtschaft und Zivilgesellschaft Anhänger für einen unbelasteten poli-tischen Neubeginn zu mobilisieren und eine solche neue „zentristische‟ demokratische Bewegung auch mit klarer Programmatik und straffer Organisation aufzubauen.
PERSPEKTIVEN
In den vergangenen 20 Jahren ist deutlich geworden, dass das politische System der Philippinen, wesentlich geprägt durch die Verfassung von 1987, echte demokra-tische Repräsentation und Partizipation massiv behindert und die Geiselnahme des philippinischen Staates sowie die Beherrschung der philippinischen Wirtschaft durch die herrschenden Familien des Landes festschreibt. Zu den wesentlichen institutionellen Schwächen des philippini-schen Systems gehören vor allem folgende Faktoren:
1. Zum einen sind da die lange Amtsperiode und enor- men finanziellen und personellen Entscheidungs-spielräume des Präsidenten, die kaum vorhandene parlamentarische und juristische Kontrolle seines Handelns und das Verbot einer erneuten Kandidatur für eine zweite Amtszeit. Einerseits sind politische und auch personelle Korrekturnotwendigkeiten in einem solchen System stark erschwert, des Weiteren fehlt ein wesentlicher Anreiz für eine am Volk orientierte Politik (das Bemühen um Wiederwahl), und schließlich sind auch durch die insgesamt kurze Einfluss-periode des jeweiligen Präsidenten die Möglichkeiten einer mittelfristigen und somit nachhaltigen Reformpolitik massiv eingeschränkt.
2. Nachteilig ist auch das Wahlrecht, das die Abge-ordneten der ersten Kammer des Parlaments (mit Ausnahme der Parteilistenkandidaten) ausschließlich über Persönlichkeitswahl in den Wahlkreisen bestimmt. Hiermit haben – vor dem Hintergrund der vielfach noch intakten alten Patronagestrukturen – politische Parteien keine Einflussmöglichkeiten auf die Auswahl der Volks-vertreter, keine Anreize für programmatische Ansätze
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Durch das Wahlrecht haben politische Parteien keine Einflussmöglichkeiten auf die Auswahl der Volksvertreter, keine Anreize für programmatische Ansätze und wenig Existenzberech-tigung neben der Durchführung des Wahlkampfs.
auf nationaler Ebene und im Grunde wenig Existenzbe-rechtigung neben der Durchführung des Wahlkampfs im Auftrag und mit dem Geld ihrer jeweils selbster-nannten Führer und Sponsoren.
3. Nach Proportionalwahlrecht werden 20 Prozent der Kongressabgeordneten aus so genannten Parteilisten „marginalisierter Bevölkerungsgruppen‟ gewählt. Da es an rechtlich belastbaren Kriterien für die Definition „marginalisierter Bevölkerungsgruppen‟ fehlt, hat die nationale Wahlkommission inzwischen mehr als 180 solcher Parteilisten zugelassen, von denen sich mehr als 160 an den Wahlen am 10. Mai beteiligt haben. Jede von ihnen darf maximal zwei Abgeordnete in den Kongress entsenden, auch wenn ihr prozentualer Anteil nach dem Proportionalsystem eine größere Zahl begründen würde. Folge sind die weitere Fragmen-tierung des Parlaments, die Nichtberücksichtigung der Interessen echter marginalisierter Bevölkerungs-gruppen in den so genannten regulären Parteien und die Instrumentalisierung dieser Parteilisten durch
Mitglieder der Familien-Dynastien, die sich als Preis für die Finanzierung des aufwendigen landesweiten Wahlkampfs einzelner Partei-listen für die Spitzenposition nominieren lassen. Insgesamt hat dieses Proportional-Element im philippinischen Wahlrecht somit gegenteilige Auswirkungen als ein echtes
Proportional-Element, das neben der Direktwahl in Wahlkreisen auch die Wahl einer relevanten Zahl von Vertretern aller zur Wahl zugelassenen Parteien über regionale oder nationale Parteilisten vorsehen und somit zur Integration von Minderheiteninteressen in die Programme der großen Parteien und zur Stärkung der politischen Stellung der Parteien auch in der Parla-mentsarbeit beitragen kann.
4. Der aufwendige landesweite Wahlkampf für die 24 Senatorenposten in der zweiten Parlamentskammer kann angesichts des Fehlens von Parteien- und öffent- licher Wahlkampfkostenfinanzierung fast nur von Vertre-tern der Dynastien oder von durch sie unterstützten öffentlich bekannten Personen (Schauspieler, Medien-persönlichkeiten usw.) erfolgreich bestritten werden.
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Der aufwendige landesweite Wahl-kampf für die 24 Senatorenposten kann fast nur von Vertretern der Dynastien oder von durch sie unterstützten öffent-lich bekannten Personen erfolgreich bestritten werden.
Die weitreichenden Blockaderechte des Senats bei allen nationalen Gesetzgebungsvorhaben geben damit den dominierenden Familien des Landes ein wirkungs-volles Instrument an die Hand, mit dem sie alle unlieb-samen Reformen abblocken können, auch wenn sie durch einen reformorientierten Präsidenten und eine Mehrheit im Kongress getragen werden.
5. Die Direktwahl des Vizepräsidenten durch das Volk unabhängig von der Wahl des Präsidenten kann im günstigsten Fall dazu beitragen, dass sich eine Regierung auf eine breitere Mehrheit in den ebenfalls unabhängig vom Präsidenten gewählten beiden Kammern des Parlaments stützen kann. In der Regel führt sie aber dazu, dass der Präsident von Beginn seiner Amtszeit an einen Konkurrenten neben sich hat, dessen Hauptinteresse die Verbesserung seiner politischen Aus- gangsposition für die kommenden Präsidentschafts-wahlen oder gar das Hinarbeiten auf das Scheitern der Politik des Präsidenten und seine vorzeitige Ablösung durch ein Absetzungsverfahren ist.
6. Problematisch sind die so genannten Pork barrels, jährliche Mittelzuweisungen aus dem nationalen Haus-halt direkt an die Mitglieder des Abgeordnetenhauses (Kongress) für von ihnen persönlich ausgesuchte und vorgeschlagene „Projekte‟ in ihrem jeweiligen Wahl-kreis. Diese Projekte sind weder notwendigerweise mit den staatlichen Entwicklungsplänen noch mit den im Local Government Code vorgesehenen partizipativen Entwicklungsmechanismen auf örtlicher Ebene abge-stimmt. Angesichts der beträchtlichen Gesamtsumme von umgerechnet zwischen 200 und 300 Millionen Euro, der Möglichkeit, die einzelnen Kongressmit-glieder mit unterschiedlichen Summen zu berücksich-tigen und des direkten Einflusses des Präsidenten auf diese Zuteilung sind sie ein ideales Instrument zur Kontrolle der ersten Parlamentskammer durch den Präsidenten und zur Schwächung von deren Kont-rollfunktion gegenüber der Exekutive. Die Frage der Akquisition nationaler Haushaltsmittel für Projekte im jeweiligen Wahlkreis ist ja ein wichtiges Kriterium für
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Das Fehlen einer staatlich regulierten Parteienfinanzierung und Wahlkampffi-nanzierung zementiert den Einfluss der Dynastien und fördert die Korruption der einmal gewählten Mandatsträger.
die Wiederwahlchancen des jeweiligen Abgeordneten – neben seiner Zugehörigkeit oder Unterstützung durch die örtlich dominierenden Familien oder Dynastien.
7. Das Fehlen eines Parteiengesetzes und insbesondere einer staatlich regulierten und unterstützten Partei-enfinanzierung und Wahlkampffinanzierung führt zu einer totalen Abhängigkeit aller Kandidaten von der Finanzierung durch reiche Sponsoren. Es zementiert den Einfluss der Dynastien und reichen Familien
auf regionaler wie nationaler Ebene und fördert die Korruption der einmal gewählten Mandatsträger, die ja nach der Wahl versu-chen, mindestens das in den Wahlkampf investierte Geld wieder zurückzuerhalten.
8. Ein Schwachpunkt ist das Fehlen ordnungspolitischer Rahmengesetzgebung im Hinblick auf die Offenhaltung des Zugangs zu nationalen und regionalen/lokalen Märkten, den Schutz gegen unlauteren Wettbewerb, die Vermeidung oder Kontrolle von Kartellen und Mono-polen. Hintergrund ist die Beherrschung lukrativer nationaler und lokaler Märkte und Teilmärkte durch die reichen Familien, die kein Interesse an offenem Wettbewerb haben – der aber zu mehr Wachstum und Arbeitsplätzen und zu besseren Voraussetzungen für wirksame Armutsbekämpfung führen würde.
9. Weiterhin völlig unzureichend verläuft die Dezentra-lisierung der politischen Entscheidungskompetenzen auf die Regionen, Provinzen, Städte und Gemeinde-verbände, inklusive der entsprechenden fiskalischen Dezentralisierung. Nach dem ersten großen Schritt mit der Erarbeitung und Inkraftsetzung des Local Govern-ment Codes im Jahr 1991 sind keine weiteren Schritte mehr erfolgt. Die Umsetzung der Vorschriften des Codes erfolgt nur punktuell an Orten mit besonders engagierten politischen Führungspersönlichkeiten. Auch die dringend notwendige Regionalisierung von Entscheidungskompetenzen, Verwaltungsstrukturen und Finanzmitteln kommt trotz intensiver Diskussion seit vielen Jahren nicht vom Fleck. Schließlich können auch die Minderheitenprobleme des Landes im Grunde
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Erfahrene philippinische christdemo- kraten bezeichnen es inzwischen als ihren größten Fehler, den Aufbau einer programmorientierten, Mitglie-der-basierten Partei nicht ernsthaft betrieben zu haben. Es führt kein Weg daran vorbei, damit jetzt syste-matisch und ernsthaft zu beginnen.
nur über die Schaffung verfassungsrechtlicher Voraus-setzungen für echte Autonomie-Regelungen oder den Aufbau föderalistischer Strukturen gelöst werden.
Es hat sich gezeigt, dass viele sehr konkrete und in der philippinischen Öffentlichkeit durchaus wahrgenommene Initiativen inlän-discher wie auch ausländischer Akteure zur Reform dieser Systemschwächen leer laufen, weil es keine organisierte philippinische politische Kraft gibt, die diese Reformen mit Nachdruck im politischen Tagesgeschäft verfolgt. Dies wäre naturgemäß Aufgabe zentristischer politischer Parteien, die angesichts des weiterhin sehr lebendigen christlichen Wertefundaments in der philippinischen Gesellschaft sehr gute Existenzbedingungen hätten.
Erfahrene philippinische Christdemokraten, die bereits in den sechziger Jahren mit Bruno Heck und Raul Manglapus zusammen den Aufbau einer solchen Partei begonnen haben, bezeichnen es inzwischen als ihren größten Fehler, dass sie dies, den Aufbau einer programmorientierten, Mitglieder-basierten Partei, nicht ernsthaft betrieben haben. Zwar wird ein solches Vorhaben wegen der im philippinischen Wahlrecht fehlenden Anreize für aktive politische Parteien nicht einfach sein, andererseits führt aber kein Weg daran vorbei, damit jetzt systematisch und ernsthaft zu beginnen, wenn man die politischen und ökonomischen Probleme der Philippinen wirklich mittel- und langfristig lösen will.
Eine solche neue zentristisch-demokratische Bewegung könnte auch die immer noch zahlreichen christdemokra-tischen und muslim-demokratischen Kongressabgeord-neten, Provinzgouverneure, Bürgermeister und örtlichen Ratsmitglieder ansprechen und einbinden, die sich weder unter die Fittiche der liberalen Präsidentenpartei begeben noch in der erneut von der politisch völlig diskreditierten ehemaligen Präsidentin GMA geführten Lakas-Kampi-CMD verbleiben wollen. Hierbei könnte durchaus auch Gilberto Teodoro wieder ins Spiel kommen, der als Persönlichkeit trotz seines enttäuschenden Wahlergebnisses aufgrund seiner hohen Kompetenz und seines sauberen Wahlkampfes
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Ein zusammengehen liberaler, sozial-demokratischer und christdemokra- tisch-muslimischer Bewegungen zur Formulierung und schrittweisen Durch- setzung einer nachhaltigen Reform- politik erscheint nicht ausgeschlossen.
vor allem bei jungen gebildeten Philippinos hohe Zustim-mungsraten hat. Abzuwarten bleibt allerdings, inwieweit der neu gewählte Vizepräsident Binay mit seinem Versuch Erfolg haben wird, die PDP – eine der christdemokratischen Gruppen bei der Wiedererrichtung der Demokratie in den achtziger Jahren – von oben her, mit massivem Mittelein-satz wiederzubeleben und als Instrument für seinen Wahl-kampf um die Position des Präsidenten im Jahr 2016 zu nutzen.
Auch im liberalen Spektrum – insbesondere in der liberalen Partei um ihren bei den Vize-präsidentschaftswahlen unterlegenen Präsi-denten Mar Roxas – und im Bereich sozialde-mokratisch orientierter Gruppen, die sich im Rahmen von „Parteilisten‟ organisiert haben,
gibt es inzwischen Tendenzen, sich gezielt um den Aufbau seriöser, Programm-orientierter und Mitglieder-basierter Parteien zu bemühen, um damit Instrumente zur Stabili-sierung von Demokratie, Rechtsstaat und sowohl gerechter wie funktionsfähiger Wirtschafts- und Sozialordnung zu schaffen. Ein Zusammengehen solcher liberaler, sozialde-mokratischer und christdemokratisch-muslimischer Bewe-gungen zur Formulierung und schrittweisen Durchsetzung einer nachhaltigen Reformpolitik erscheint somit nicht ausgeschlossen.
Von besonderer Bedeutung für die nähere Zukunft ist natürlich der Erfolg der neuen „Aquino-Administration‟ im Hinblick auf die Korrektur institutioneller Schwächen der philippinischen Demokratie. Vor allem
▪ die Korrektur des geltenden Wahlrechts für den Kongress und die Umwandlung des Parteilistensystems in ein echtes proportionales Element, ▪ eine rechtliche Regelung von Parteien- und Wahlkampf-finanzierung, die eine gewisse Unabhängigkeit von Spon- soren aus den herrschenden Familien und Dynastien ermöglicht, sowie ▪ die Schaffung von Rechtsvorschriften und Aufsichtsbe-hörden, die Märkte öffnen und Vermachtungen verhin-dern,
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müssen als Prüfsteine für die Reform- und Zukunftsorien-tierung der neuen Administration angesehen werden.
Daneben muss ein massiver Mitteleinsatz zur Verbesse-rung der Infrastruktur im Bildungs-, Gesundheits- und Forschungsbereich Priorität haben, wenn Aquino seinem Anspruch gerecht werden will, ein Präsident aller Philippinos zu sein, nicht nur der oberen und mittleren Schichten. Der unzweifelhaft vorhandene gute Wille, sauber und gerecht zu regieren, kann in seiner Bedeutung für das Land gar nicht überschätzt werden. Aber alleine wird er nicht ausrei-chen, eine Wende zu demokratischer Stabilisierung und erfolgreicher Armutsbekämpfung herbeizuführen.
Das Manuskript wurde am 30. Juni 2010 abgeschlossen.
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Stefan Jost
Mit einem Referendum im Frühjahr hatte sich Staatsprä-sident Alvaro Uribe eine zweite Wiederwahl ermöglichen wollen. Die Auseinandersetzung darum prägte die politi-sche Entwicklung in Kolumbien seit Ende 2008, eine sach-politische Diskussion fand so gut wie nicht mehr statt. Eine erneute Kandidatur des seit 2002 amtierenden Uribe, an dessen Wiederwahl mit breiter Mehrheit bereits im ersten Wahlgang nach allgemeiner Einschätzung auch nicht der geringste Zweifel bestanden hätte, schwebte wie ein Damoklesschwert über den personalpolitischen Strategie-überlegungen aller Parteien. Ende Februar 2010 erteilte das Verfassungsgericht dem Wiederwahlreferendum auf- grund einfachgesetzlicher wie verfassungsrechtlicher Ver- stöße eine Absage. Damit war knapp zwei Wochen vor den Kongresswahlen zur Abgeordnetenkammer und zum Senat am 14. März, aber vor allem natürlich für die Präsident-schaftswahlen am 30. Mai eine neue und klare Ausgangs-lage geschaffen. Die Post-Uribe-Phase war eingeleitet.
DIE KONGRESSWAHLEN – AUFTAKT zUR KONTINUITÄT
Die Kongresswahlen am 14. März wurden zum ersten poli-tischen Kräftemessen in einem Kontext, in dem Uribe noch immer präsent war, zwar nicht mehr als künftiger Präsident-schaftskandidat, jedoch als nicht zu unterschätzender, aber auch nicht genau einzuschätzender politischer Faktor. Die entscheidende Frage lautete, ob ein „Uribismo ohne Uribe‟ mehrheitsfähig ist oder das bevorstehende Ende der Ära Uribe der Opposition einen unerwarteten Aufwind verschafft.
Prof. Dr. Stefan Jost ist Auslandsmitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Kolumbien.
VOM URIBISMO zUR UNIDAD NAcIONALKOLUMBIEN NAcH DEN KONGRESS- UND PRÄSIDENTScHAFTSWAHLEN
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Das Ergebnis war eindeutig. Die beiden größten Parteien der bisherigen Uribe-Koalition, die Uribe-Partei Partido Social de Unidad Nacional, kurz „la U‟ genannt, sowie die Konservative Partei (PCC) erreichten 50 der 102 Senats-sitze und 81 der 166 Abgeordnetensitze. Aufgrund eines chaotischen Auszählverfahrens am Wahlabend und zahl-reicher Anfechtungen ist die amtliche Auszählung jedoch noch nicht abgeschlossen, so dass die nachfolgenden Tabellen noch nicht das amtliche Endergebnis darstellen.1
Tabelle 1Das Wahlergebnis für den Senat: Die Kongresswahlen 2010 und 2006 im Vergleich2
Kongresswahlen 20103 Kongresswahlen 2006
Partei Stimmen in % Sitze4 Stimmen in % Sitze
Partido Social de Unidad Nacional
2.804.123 25,17 28 1.642.256 17,4920
(29)
Partido Conservador
2.298.748 20,63 22 1.514.960 16,1318
(22)
Partido Liberal 1.763.908 15,83 17 1.457.322 15,52 17
Cambio Radical 888.851 7,98 8 1.254.294 13,3615
(12)
Polo Democrático Alternativo
848.905 7,62 8 914.964 9,74 11
Partido de Inte- gración Nacional
907.468 8,14 9 — — —
Partido Verde 531.293 4,77 5 — — —
34
1 | Der Beitrag wurde am 04.07.2010 fertiggestellt.2 | Die Ergebnisse basieren auf den Angaben der Registraduría Nacional vom 16. März 2010 (Zusammenstellung und Vergleich mit 2006, sofern aufgrund der offiziellen Daten möglich, durch den Verfasser). Aufgeführt sind die stärksten Parteien.3 | Angaben beruhen auf der Auszählung von 93,27 Prozent der Stimmen.4 | Die restlichen fünf Sitze gehen an MIRA (zwei), Compromiso Ciudadano (einer) und zwei noch zuzuordnende für die indigene Vertretung.
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Tabelle 2Das Wahlergebnis für die Abgeordnetenkammer: Die Kongresswahlen 2010 und 2006 im Vergleich
Kongresswahlen 20105 Kongresswahlen 2006
Partei Stimmen in % Sitze Stimmen in % Sitze
Partido Social de Unidad Nacional
2.230.914 25,42 45 1.244.835 o.A.29
(40)
Partido Conservador
1.886.965 21,50 36 1.297.787 o.A.29
(33)
Partido Liberal 1.616.208 18,41 35 1.505.950 o.A. 35
Cambio Radical 669.830 7,63 12 824.073 o.A.21
(17)
Polo Democrático Alternativo
482.685 5,49 4 442.607 o.A. 7
Partido de Inte- gración Nacional
506.139 5,76 12 — — —
Partido Verde 265.593 3,02 3 — — —
5
Diese Wahlen wurden nicht als vorgezogene Präsident-schaftswahlen interpretiert, dafür sind die bei diesen Kongresswahlen vorherrschenden lokalen, regionalen und personellen Einflüsse der Kandidaten zu stark. Viel-mehr wurde das Ergebnis in erster Linie als ein Votum für Uribe und seine Politik verstanden, nicht als unmittelbares Votum für Santos, den ehemaligen Verteidigungsminister und Präsidentschaftskandidaten der „la U‟. Dennoch war damit klar, dass ein „Uribismo ohne Uribe‟ mehrheits-fähig ist. Dieses Wahlergebnis bedeutete für Santos eine Stärkung seiner Position in den Reihen der „la U‟ und in der Wählerschaft einen breiten Auftrieb. Jetzt wurde ihm ein Sieg zugetraut.6 Noch wenige Tage vor den Kongress-wahlen hatte er sich aus den eigenen Reihen öffentlich abstruse Vorschläge zur Steigerung seiner Wahlchancen geben lassen müssen.
5 | Die Angaben beruhen auf der Auszählung von 88,71 Prozent der Stimmen.6 | Zu einer detaillierten Analyse der Kongresswahlen siehe den Länderbericht vom 17. März („Kolumbien hat gewählt‟): http://kas.de/wf/doc/kas_19085-544-1-30.pdf [04.07.2010].
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Anfang April kam es zu dem Phänomen der „grünen Welle‟. Der Kandidat des Partido Verde, Antanas Mockus, legte rasant in den Umfragen zu.
DER ERSTE WAHLGANG – AN DEN URNEN WIRD GEWONNEN
Nachdem in consultas populares, einer Art offener Vor-wahlen, auch die Konservative Partei und der Partido Verde (Grüne Partei) ihre Spitzenkandidaten gewählt hatten, stand das Kandidatentableau für den ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen am 30. Mai fest.7 Neben Santos für die „la U‟ gab es insgesamt fünf weitere ernst zu nehmende Kandidaten: Rafael Pardo für die Liberalen (PL), Gustavo Petro für das linke Bündnis Polo, Germán Vargas Lleras für den Cambio Radical (CR) sowie Noemi Sanín für die Konservative Partei (PCC) und Antanas Mockus für den Partido Verde (PV).
Seit Wochen belegten Santos und Sanín in den Umfragen die beiden vorderen Plätze. Dies schien, nachdem Sanín in einer erbitterten Auseinandersetzung knapp die inner-parteilichen Vorwahlen der Konservativen Partei für sich entschieden hatte, für den PCC die Chance zu bieten, erst-mals seit der Präsidentschaft Pastranas (1998 bis 2002) wieder ernsthaft in den Kampf um die Präsidentschaft eingreifen zu können. Das Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Santos und Sanín währte jedoch nur bis Anfang April.
Dann kam es zu dem Phänomen der „grünen Welle‟. Der Kandidat des Partido Verde, Antanas Mockus, legte rasant in den Umfragen zu. Mockus, ehemaliger Bürgermeister von Bogotá, hatte sich mit früheren Amtskollegen sehr unterschiedlicher politischer Provenienz verbündet und den PV als politische Plattform für seine Kandidatur genutzt.
Mockus profitierte von mehreren Faktoren. Zentrale Themen seiner Kampagne – Korruptionsbekämpfung, Haushaltsseriosität, Achtung der Institutionen, delibera-tiver Politikstil – legten zu Recht den Finger in so manche Wunde kolumbianischen Politikverständnisses und traditi-oneller Politikpraktiken. Die Botschaft eines Stil- und Poli-tikwechsels verfing, vor allem dank der in dieser Massivität in Kolumbien erstmals feststellbaren Nutzung der neuen
7 | Die liberale Partei und der Polo hatten, ebenfalls in consultas populares, bereits im September 2009 ihre Kandidaten nominiert.
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Mockus gilt als autoritär und zeigt keinerlei Berührungsängste mit dem Thema der „demokratischen Sicher-heit‟. Gleichzeitig werden ihm von der Linken positive Attribute zugerechnet.
sozialen Netzwerke via Facebook und Twitter vor allem durch die als „primivotos‟ bezeichneten Erst- und Jung-wähler, nicht zuletzt aber auch dank einer signifikanten Unterstützung durch Leitartikelschreiber und politische Kommentatoren.
Die Stärke des Kandidaten Mockus lag geraume Zeit in seiner Fähigkeit, Unverein-bares zusammenzuführen und Schwächen in Stärken zu verwandeln. So wird Mockus eher verbunden mit einer „rechten Agenda‟. Er hat
sowohl die Universidad Nacional als Präsident wie Bogotá als Bürgermeister mit harter Hand regiert. Der Partido Verde hat als erste Partei das Thema „urbane Sicherheit‟ auf die Tagesordnung gesetzt. Mockus gilt als autoritär und zeigt keinerlei Berührungsängste mit dem Thema der „demokratischen Sicherheit‟: „Wenn ich die FARC wäre, würde ich zu Uribe rennen und verhandeln, denn was nach Uribe kommt, ist noch schlimmer für sie‟, so Mockus. Gleichzeitig werden ihm von der Linken bestimmte positive Attribute zugerechnet. So gilt Mockus trotz seiner bishe-rigen politischen Laufbahn noch immer als „Outsider‟ oder „Unabhängiger‟. Er sammelte alle „Antis‟ und eröffnete sich Zugänge zu traditionellen Enthaltungswählern.
Über eine beachtliche Strecke des Wahlkampfes erwies sich Mockus zunächst als „Teflon‟-Kandidat. Widersprüche, Uninformiertheiten, unverständliche, da philosophisch verschachtelte Aussagen: alles schien ihm verziehen zu werden. Das Bekenntnis, an Parkinson zu leiden, nutzte ihm. Erst gegen Ende der Kampagne gewannen zuneh-mend Zweifel Raum, ob die Wahlbevölkerung angesichts der offensichtlichen Schwächen des Kandidaten die mit seiner Wahl verbundenen Unwägbarkeiten nicht letztend-lich doch scheuen würde.
Der Wahlkampf war von einem deutlich geringeren Pola-risierungsgrad geprägt als erwartet. Interessanterweise kam es eher zwischen affinen politischen Kräften zu Pola-risierungen. So entwickelte sich beispielsweise zwischen dem Partido Verde und dem Polo ein Schlagabtausch aufgrund des durch Mockus im Polo ausgemachten Gewalt-potenzials und einer nicht hinreichenden Abgrenzung zu der Guerrillaorganisation FARC durch einige Teile des Polo.
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Santos entpersonalisierte den bis dahin allein auf ihn abgestellten Wahlkampf, stellte die Partei in den Mittelpunkt und akzentuierte stärker den Kontinuitäts-gedanken zur Uribe-Regierung.
Sanín wiederum schien streckenweise eher in Santos den bevorzugten politischen Gegner zu sehen.
Insgesamt entwickelte sich der Wahlkampf zunehmend themenorientiert, was nicht zuletzt durch eine Fülle von Fernsehduellen der Kandidaten befördert worden sein dürfte. Ein dominierendes Thema war jedoch nicht feststellbar. Dies schloss die „Politik der demokratischen Sicherheit‟, das Markenzeichen der acht Uribe-Jahre, mit ein.
Hervorzuheben in dieser Phase des Wahlkampfes ist der Strategiewechsel durch Santos. Er entpersonalisierte den bis dahin allein auf ihn abgestellten Wahlkampf, stellte die Partei „la U‟ stärker in den Mittelpunkt, forcierte eine Regionalisierung seiner Wahlkampagne und akzentuierte stärker den Kontinuitätsgedanken zur Uribe-Regierung.
Allerdings beließ er es nicht dabei, sondern setzte, teils behutsam, eigene Akzente. Überraschend rief Santos zu einer Regierung der Unidad Nacional (Nationale Einheit) auf, die alle Parteien mit einschließen sollte, um die zent-ralen Problemfelder der kolumbianischen Politik anzu-gehen.
Das Programm der Unidad Nacional umfasst folgende inhaltliche Politikfelder:
1. Arbeit: Angemessene Arbeitsplätze und Löhne. Zumin-dest ein Mitglied jeder Familie soll in einem formalen Beschäftigungsverhältnis stehen. Sozialer Dialog zwischen Arbeitnehmern, Arbeitgebern und der Regie-rung. Verringerung der Armuts- und Arbeitslosen-quote.
2. Demokratischer Wohlstand für alle: Gesundheit und qualitativ hochwertige Bildung im privaten Leben sowie am Arbeitsplatz, würdige Wohnbedingungen und Einkommensmöglichkeiten.
3. Politik der demokratischen Sicherheit: Konsolidierung dieser Politik und Stärkung der städtischen Sicherheit auf der Grundlage der Verfassung und der Achtung der Menschenrechte. Kampf gegen den Terrorismus.
4. Transparenz und keine Korruption: Geltung ethischer Prinzipien in öffentlichen Angelegenheiten; Kultur der
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Legalität und Intoleranz gegenüber Korruption, sowohl im privaten als auch im öffentlichen Sektor.
5. Gute Regierungsführung: exzellente, sachorientierte, effiziente, dezentralisierte, partizipative und verant-wortungsvolle öffentliche Verwaltung auf allen Ebenen. Zusammenarbeit mit der lokalen Führung, um die Entwicklung der Regionen zu fördern.
6. Demokratische Institutionalität: Stärkung des demo-kratischen Staates mit Unabhängigkeit, Gleichgewicht und harmonischer Zusammenarbeit der Gewalten.
7. Gerechtigkeit und keine Straffreiheit: Stärkung des Rechtsstaats durch striktes Vorgehen gegen Straf-freiheit und eine unmittelbare und effiziente Justiz. Garantie des Rechtszugangs der Gesellschaft und der Individuen. Verteidigung der Rechte der Opfer durch die Prinzipien der Wahrheit, Gerechtigkeit und Entschädigung.
8. Urbane und ländliche Agenda: Verbesserungen der Lebensbedingungen in den Städten durch Mobilität, Wohnraum, öffentliche Räume und Dienstleistungen für alle. Prosperierende und sichere ländliche Regi-onen zur Sicherstellung der umfassenden, legalen und nachhaltigen Bewirtschaftung des kultivierbaren Bodens (Land als Vorratskammer der Welt).
9. Umwelt: Nachhaltige Nutzung des Umweltpoten-zials. Verteidigung des Wassers als lebenswichtige Ressource. Kolumbien auf globaler Ebene als „Macht der Biodiversität‟ positionieren.
10. Internationale Beziehungen: Die Eingliederung des Landes in die Weltordnung verstärken und die Bezie-hungen zu den Nachbarstaaten auf der Grundlage des Respekts und der Zusammenarbeit enger gestalten. Die politische Führung Kolumbiens soll auf der inter-nationalen Bühne anerkannt sein.
Mit diesem Programm und der Ankündigung der Unidad Nacional konnte Santos glaubhaft vermitteln, dass er trotz aller Kontinuität zur Regierung Uribe über mehr Gespür für soziale und über die „Politik der demokratischen Sicherheit‟ hinausgehende Probleme hat, als ihm zugeschrieben wurde. Diesem Ziel diente auch die in den eigenen Reihen nicht unumstrittene Ernennung des ursprünglich aus der Kommu-nistischen Partei kommenden Gewerkschafters Angelino Garzón zum Kandidaten für das Amt des Vize-Präsidenten.
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Das Rennen um die Präsidentschaft spitzte sich zuneh-mend zu einem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Santos und Mockus zu. Während Mockus in manchen Umfragen Santos vom ersten Platz verdrängte, landete Sanín seit Anfang April abgeschlagen auf dem dritten Platz, allen anderen Kandidaten wurden ebenfalls kein ernsthaftes Eingreifen mehr zugetraut. Das Ergebnis des ersten Wahlganges am 30. Mai war schließlich in vielfacher Hinsicht überraschend.
Tabelle 3Die Ergebnisse des ersten Wahlgangs und der Kongresswahlen im Vergleich
Präsident-schaftswahlen
am 30.05.20108
Kongresswahlenam 14.03.20109
Kandidat (Partei) Stimmen in % Stimmen in %
Santos (Partido de la U)
6.758.539 46,56 2.804.123 25,17
Mockus (Partido Verde)
3.120.716 21,49 531.293 8,14
Vargas Lleras (Cambio Radical)
1.471.377 10,13 888.851 7,98
Petro (Polo Democrático)
1.329.512 9,15 848.905 7,62
Sanín(Partido Conservador)
892.323 6,14 2.298.748 20,63
Pardo (Partido Liberal)
636.624 4,38 1.763.908 15,83
Calderon (Apertura Liberal)
33.924 0,23 95.157 o.A.
Devia (La Voz de la Consciencia)
32.080 0,22 — —
Araujo (Alianza Social Afrocolombiana)
15.701 0,10 11.767 o.A.
89
Wieder einmal bestätigte sich ein Gesetz der kolumbiani-schen politischen Kultur: Kongresswahlergebnisse lassen sich nicht auf Präsidentschaftswahlen übertragen. Die Wähler fühlen sich bei Präsidentschaftswahlen sehr viel freier als bei Kongress- oder gar Regional- und Kommu-nalwahlen, wo lokale und personale Strukturen deutlich stärker zum Tragen kommen.
8 | Auf der Basis von 99,7 Prozent der Wahllokale.9 | Das amtliche Endergebnis steht noch nicht fest.
162 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 9|2010
Santos wurde zu einem Kandidaten einer gewünschten Kontinuität. Dies zeigt auch, dass sich die häufig beschworene unversöhnliche Spaltung der kolumbia-nischen Gesellschaft in „pro und contra Uribe‟ prioritär auf die politische Klasse bezieht.
Santos erzielte ein in dieser Höhe nicht erwartetes Ergebnis. Dies zeigte noch deutlicher als die Kongresswahlen, dass der „Uribismo nach Uribe‟ signifikant stärker ist als erwartet. Santos gelang es besser als nach den Umfragen
zu erwarten war, das positive Potenzial der Regierung Uribe und das hohe Ansehen von Uribe selbst für seine „Kandidatur der Konti-nuität‟ zu nutzen, und weniger als erwartet für die ebenfalls existente Negativ-Bilanz der Regierung Uribe abgestraft zu werden.
Santos wurde von einem Kandidaten mit begrenzter, wenn nicht sogar potenziell gefährlicher Erbschaft zu einem Kandidaten einer gewünschten Kontinuität. Dies zeigt auch, dass sich die häufig beschworene unversöhnliche Spaltung der kolumbianischen Gesellschaft in „pro und contra Uribe‟ prioritär auf die politische Klasse bezieht, während in der breiten Bevölkerung Uribe und sein Regierungslegat in hohem Ansehen stehen.
Auch wenn eine schlichte Addition der Ergebnisse poli-tisch nur begrenzt aussagefähig ist, sind auch die Ergeb-nisse von Vargas Lleras und Noemi Sanín dem uribismo zuzurechnen. Dies bedeutet rund 9,1 von 14, 3 Millio nen Stimmen. Beide Parteien, Cambio Radical (CR) und Partido Conservador Colombiano (PCC), waren zuverläs-sige Verbündete der Regierung Uribe. Es war daher nicht verwunderlich, dass Santos am Wahlabend PCC und CR an erster Stelle einlud, Partner seiner Regierung zu werden.
Mockus erzielte ein beachtliches, wenn auch deutlich hinter den Umfragen zurückbleibendes Ergebnis und kam damit in die Stichwahl. Aus der „grünen Welle‟ wurde kein „grüner Tsunami‟, wie noch in den letzten Tagen vor der Wahl spekuliert wurde. Es ist „sein‟ Ergebnis und sollte nicht als Ergebnis des Partido Verde gedeutet werden. Diese Partei diente Mockus lediglich als politisches Vehikel einer Kandidatur. Er, nicht die Partei, war die zentrale „Botschaft‟, auf die viele ihre sehr heterogenen Vorstel-lungen und Erwartungshaltungen projizierten. Die Gründe für das gegenüber den Umfragen deutlich schlechtere Abschneiden sind vielfältig. An Hinweisen darauf hat es jedoch nicht gefehlt. Erkennbar wurde, dass Mockus und der Anstieg der „grünen Welle‟ noch deutlicher als
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Vargas Lleras wie Petro haben ihren politischen Gestaltungsanspruch unter-mauert und einen weiteren wichtigen Schritt auf dem Weg zur angestrebten Präsidentschaft zurückgelegt.
erwartet ein Ergebnis des „voto de opinión‟ waren, eines „Meinungsphänomens‟, dem auf der Zielgeraden die Luft ausging. Im Zuge einer stärkeren thematischen Debatte traten die Schwachstellen des Projekts Mockus kontu-rierter hervor. Dies führte offensichtlich zu einer „Rationa-lisierung des Stimmverhaltens‟, das in einem Sieg Mockus‛ einen „Sprung ins Leere und Ungewisse‟ (salto al vacío) sah und in letzter Konsequenz davor zurückschrecken ließ.
Die Überraschungen des ersten Wahlgangs waren neben Santos vor allem Vargas Lleras und Gustavo Petro, die beide deutlich besser als in den Umfragen und auch bei den Kongresswahlen abgeschnitten haben. Vargas Lleras konnte sich zunehmend als programmatischer Kandidat profilieren und landete knapp vor Petro auf dem dritten Platz. Petro wiederum kann sich in seinem Modernisierungskonzept einer Mitte-links-Option mit Koalitionsbereitschaft bestärkt sehen. Ob daraus eine Spaltung des Polo entstehen kann, die fundamentalistischen Sektoren eigene Wege gehen und sich daraus eine Option für eine Neuformierung der parteiorganisatori-schen moderaten Linken ergibt, bleibt abzuwarten. Vargas Lleras wie Petro haben mit diesem Wahlergebnis jedenfalls ihren politischen Gestaltungsanspruch untermauert und einen weiteren wichtigen Schritt auf dem Weg zur ange-strebten Präsidentschaft zurückgelegt.
Für eine in diesem Ausmaß nicht erwartete negative Überraschung sorgte der liberale Kandidat Rafael Pardo. Er landete abgeschlagen auf dem sechsten Platz, mit 4,38 Prozent knapp über der Grenze, die die Partei noch für die Wahlkampfkostenerstattung legitimiert. Auch wenn man nicht viel erwartet hatte, dieses Wahlergebnis ist nach den erfolgreichen Kongresswahlen ein dramatischer Rückschritt. Der Partido Liberal (PL) sah sich damit vor die Situation gestellt, auf weitere vier und damit insgesamt 16 Jahre von der Beteiligung an der Macht ausgeschlossen zu sein oder den Sprung ins Santos-Lager zu wagen. Vor diesem Hintergrund ist die Betonung von Santos am Wahlabend, dass er aus dem liberalen Lager komme, zu verstehen.
164 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 9|2010
Die Sanín-Strategie konnte weder eine pro- noch eine contra-uribistische Linie entwickeln. Dies führte dazu, dass uri-bistische Pcc-Wähler direkt zu Santos gingen.
Die Konservative Partei (PCC) steht vor einem Scher-benhaufen: Knapp sechs Prozent der Stimmen für die Kandidatin Sanín und der fünfte Platz unter sechs ernst-haften Kandidaten. Mit der Kandidatur Saníns hoffte der PCC, seinen Anspruch auf politische Führung durchsetzen, zumindest aber seinen eigenständigen „Willen zur Macht‟ manifestieren zu können. In der letzten Phase des Wahl-kampfes hoffte der PCC zumindest auf eine votación decente, also ein „akzeptables Abstimmungsergebnis‟, das auf etwa zwei Millionen Stimmen angesetzt wurde. Beide Ziele wurden verfehlt. Nun steht der PCC vor einem Wahlergebnis, das die schlimmsten Befürchtungen noch übertrifft. Im Vergleich zur Kongresswahl verlor er
rund 1,3 Millionen Stimmen, im Verhältnis zur consulta popular zur Bestimmung des Präsidentschaftskandidaten sogar rund 1,6 Milionen Stimmen. Die Kandidatin Sanín war nicht einmal in der Lage, ihre rund 1,1
Millionen Stimmen bei der Urwahl zu erreichen. Selbst in Hochburgen des PCC wie beispielsweise Antioquia kam sie nur auf knapp über neun Prozent.
Die Gründe für dieses Wahlergebnis sind vielfältig. Zum einen konnte Sanín nicht vermitteln, dass der PCC geschlossen hinter ihr stand. Die erbitterte Auseinander-setzung um die Spitzenkandidatur der Partei hatte tiefe Wunden geschlagen. Teile der Parteimaschinerie dürften dem spät geschlossenen Burgfrieden zwar zugestimmt, sich aber nicht mit voller Konsequenz im Wahlkampf betei-ligt haben. Die Sanín-Strategie konnte auf Dauer weder eine pro- noch eine contra-uribistische Linie entwickeln, die als authentisch empfunden worden wäre. Dies führte dazu, dass uribistische PCC-Wähler, nicht zuletzt aufgrund der Angriffe von Sanín gegen Santos, direkt zu Santos gingen, während die unabhängigen Wähler zu Mockus wechselten. Gerade sie waren für Saníns Sieg in der consulta popular entscheidend.
Die absoluten Verlierer des Wahlabends waren die Umfrage-institute. Bis heute gibt es keine plausible Erklärung dafür, wie alle Institute mit ihren Prognosen derart neben dem tatsächlichen Wahlergebnis liegen konnten.
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Nach dem fulminanten Wahlergebnis von Santos im ersten Wahlgang und sei-nem erkennbar ernst gemeinten Aufruf zur Unidad Nacional entstand nun eine Konstellation des „Todos con Santos‟ – „Alle mit Santos‟.
„TOcOSAN‟ – AUF DEM WEG zUM zWEITEN WAHLGANG
Die drei Wochen bis zum zweiten Wahlgang am 20. Juni 2010 waren nicht mehr als eine Pflichtübung. An einem Wahlsieg Santos‛ zweifelte keiner mehr, Wetten wurden nur noch über die Höhe des Sieges abge-schlossen. Sollte Mockus je eine ernsthafte Chance gehabt haben, Santos im zweiten Wahlgang gefährlich zu werden, verspielte er diese auch nach Ansicht wohlmeinender Beobachter noch am Wahlabend des 30. Mai. In einer Manier, die an einen Urlaubsanima-teur erinnerte, verknüpfte er Gesänge mit fundamenta-listischen Botschaften. Dieser erratische Auftritt war für viele der Schlusspunkt einer nicht mehr zu gewinnenden Kampagne.
Der Wahlkampf selbst brachte keine besonderen Höhe-punkte mehr. Santos konnte sich noch stärker als ein souveräner Kandidat profilieren, während die bereits in den vorangegangenen Wochen erkennbaren Schwächen des Gegenkandidaten Mockus einen deutlichen Kontrast markierten.
Dass es am Wahlausgang keinerlei Zweifel gab, war vor allem auf den Bedeutungswandel der über Wochen beschworenen Formel „tocosan‟ zurückzuführen. Diese hatte ihren Ursprung in der Phase, in der laut Umfragen Santos und Sanín in den zweiten Wahlgang einziehen würden und sich in dieser Konstellation alle Oppositions-kräfte um Sanín scharen würden, um Santos zu verhin-dern: Todos contra Santos – „Alle gegen Santos‟. Nach dem fulminanten Wahlergebnis von Santos im ersten Wahlgang und seinem erkennbar ernst gemeinten Aufruf zur Unidad Nacional entstand nun eine Konstellation des „Todos con Santos‟ – „Alle mit Santos‟.
Die Konservative Partei sowie die große Mehrheit der libe-ralen Partei und deren Kongressmitglieder schlossen sich Santos an. Der Cambio Radical folgte wenig später. Mockus dagegen lehnte ein Koalitionsangebot des Polo ab und ging ohne zusätzliche formalisierte Unterstützung alleine in
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Im Wahlkampf begann Santos eher verhalten, war aber rasch zu einem Strategiewechsel in der Lage, gewann sichtbar an Statur und wurde nicht als Strohmann von Uribe wahrgenommen.
den zweiten Wahlgang. Vor diesem Hintergrund war das Wahlergebnis vom 30. Mai keine Überraschung. Selbst die Umfrageinstitute lagen mit ihren Prognosen gut.
Tabelle 4Ergebnisse des ersten und zweiten Wahlganges der Präsidentschaftswahlen
zweiter Wahlgang am 20.06.2010
Erster Wahlgang am 30.05.2010
Kandidat(Partei)
Ergebnis (absolut)
Ergebnis (in %)
Ergebnis (absolut)
Ergebnis (in %)
Santos(Partido de la U)
9.004.221 69,05 6.758.539 46,56
Mockus(Partido Verde)
3.588.819 27,52 3.120.716 21,49
BEWERTUNG DES WAHLERGEBNISSES
Wenige Wochen nach der Wahl ist es selbstverständlich verfrüht, angesichts des neuen und in vielfacher Hinsicht im Fluss befindlichen politischen Kontextes gesicherte Erkenntnisse formulieren zu wollen.
Dennoch sollen einige erste Schlussfolgerungen und Über-legungen mit Blick auf denkbare künftige Entwicklungsli-nien formuliert werden.
1. Santos wurde in mehrfacher Hinsicht falsch einge-schätzt. Dies betrifft seine eigenen Fähigkeiten als Wahl-kämpfer. Im Wahlkampf begann Santos eher verhal- ten, war aber rasch zu einem Strategiewechsel in der
Lage, gewann sichtbar an Statur und wurde trotz seiner Anknüpfung an die Regierung Uribe nicht als von Uribe aus dem Präsiden-tenpalast ferngesteuerter Strohmann wahr-genommen.
Santos ist es gelungen, sich als Kandidat der Kontinu-ität der Ära Uribe zu präsentieren und deren positives Erbe für sich politisch zu kapitalisieren ohne, wie lange befürchtet oder erhofft, für die Negativperzeption der Regierung Uribe verantwortlich gemacht zu werden. Eigene Ansätze konnte er glaubhaft vermitteln. Seine
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Santos hat einen großen strategischen Vorteil aufgrund der Breite des Bünd-nisses der Unidad Nacional, die jeden einzelnen Partner für sich gesehen verzichtbar macht.
thematische Bandbreite und Sensibilität verhinderten es, dass er als auf die „Politik der demokratischen Sicherheit‟ reduzierter Kandidat wahrgenommen wurde. Der Aufruf zu einer Regierung der Unidad Nacional und das Zehn-Punkte-Programm, wenngleich sehr allgemein gehalten, haben dabei eine gewichtige Rolle gespielt.
2. Nach dem klaren Ergebnis des ersten Wahlgangs gab es auch Überlegungen, dass alle anderen Kandidaten ihre Kandidatur zurückziehen sollten, um Santos ohne zweiten Wahlgang die Präsidentschaft zu ermöglichen. Santos ist mit dem jetzigen Ergebnis jedoch mehr gedient als mit dem Ergebnis des ersten Wahlganges. Der Plebiszitcharakter des zweiten Wahlganges eröffnet ihm einen äußert breiten Handlungsspielraum und eine Unabhängigkeit, die er in seiner Rede in der Wahlnacht des 20. Juni auch zum Ausdruck brachte.
3. Die Regierung Santos verfügt im neuen Kongress über rund 85 Prozent der Sitze. Allein die Partei „la U‟ und die Konservative Partei nähern sich in der Abgeord-netenkammer und dem Senat der absoluten Mehr-heit. Das Problem der „Regierbarkeit‟ (gobernabilidad) dürfte sich vor diesem Hintergrund zunächst für Santos nicht stellen. Allerdings ist die Heterogenität dieser Koalition nicht zu unterschätzen. Hinzu kommt, dass die jeweiligen Koali-tionspartner keinen übergreifenden gemeinsamen Koalitionsvertrag geschlossen haben, sondern der Anschluss an Santos auf jeweils bilateraler Ebene erfolgte. Dies erleichterte zunächst den Abschluss des jeweiligen Abkommens, beinhaltet jedoch auf längere Sicht eine ganze Reihe von Sollbruchstellen. Diese betreffen die Machtaufteilung zwischen den Parteien, die so genannte „bürokratische Quote‟, aber auch inhaltliche Fragen und unvermeidbare Kompromisse. Wie es ein konservativer Politiker ausdrückte: „Wo wir stehen, stehen wir gut, aber mit zu vielen.‟
Santos hat in dieser Gemengelage für geraume Zeit einen großen strategischen Vorteil. Zum einen in Form seines Wahlergebnisses. Zum anderen aufgrund der
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Unmittelbar nach seiner Wahl traf sich Santos mit allen Präsidenten der Obers-ten Gerichte. Dies scheint den Weg freizumachen für eine konfliktfreiere Beziehung zwischen der Justiz und dem Staatspräsidenten.
Breite des Bündnisses der Unidad Nacional, die jeden einzelnen Partner für sich gesehen verzichtbar macht. Das Drohpotenzial einer Aufkündigung der Koalition ist damit auf absehbare Zeit denkbar gering. Gelingt es Santos, in den ersten Monaten durch bestimmte Entscheidungen, Verhaltensweisen und einen stärker konsensorientierten Politikstil eine post-elektorale Akzeptanz bei der Bevölkerung zu gewinnen, wird er auf absehbare Zeit die Unidad Nacional zusammen-halten können. Die Zeichen dafür stehen gut.
4. In diesem Kontext kommt es entscheidend darauf an, wie Santos sein Institutionenverständnis in die Praxis umsetzt. Sein Bekenntnis zur Gewaltenteilung
und insbesondere zu einer unabhängigen Justiz hat einen sehr konkreten Hintergrund. Das gespannte bis konfliktive Verhältnis zwischen Staatspräsident Uribe und Teilen der Gerichtsbarkeit hat zu einem choque de trenes, zu einem „Aufeinanderprallen
der Züge‟ mit problematischen Begleiterscheinungen geführt. So harrt die Wahl des Generalstaatsanwalts seit über einem Jahr der Durchführung.
Unmittelbar nach seiner Wahl traf sich Santos mit allen Präsidenten der verschiedenen Obersten Gerichte des Landes. Dies scheint den Weg freizumachen für eine signifikant konfliktfreiere Beziehung zwischen der Justiz und dem Staatspräsidenten.
5. Das Projekt Unidad Nacional sollte nicht allein als kurz-fristiger Wahlkampfschlager missinterpretiert werden. Dieser Aufruf ist als ein Signal an die Gesellschaft wie die politischen Eliten zu verstehen. Santos hat Taten folgen lassen. Dies betrifft die Abkommen mit verschie-denen Parteien, die Offenheit selbst einer Zusammen-arbeit mit dem Polo und dem Partido Verde gegenüber.
Dies ist aber auch in seinen Ankündigungen über die Struktur seiner Regierung zu entnehmen. So wird die unter Uribe vorgenommene Zusammenlegung einer Reihe von Ministerien rückgängig gemacht. Santos hat unter anderem die Schaffung eines eigenständigen Justiz- und Umweltministeriums angekündigt. Auch
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Es ist nicht auszuschließen, dass sich die eigentliche Opposition aus dem Kontext der Unidad Nacional selbst entwickelt. Vor allem ist nicht zu erwarten, dass Parteiführer wie Vargas Lleras ihren Präsidentschaftsambitionen abschwö-ren werden.
der Sozialbereich soll durch verschiedene Ministerien abgedeckt werden.
Abgesehen davon, dass ihm diese Schaffung neuer Ministerien natürlich auch personellen Handlungsspiel-raum verschafft, macht es doch deutlich, dass Santos den im Wahlkampf und in den Abkommen eingegan-genen Verpflichtungen nachkommen und thematische Schwerpunkte verfolgen will.
Ob sich die Unidad Nacional zu einer Regierung ohne Opposition entwickelt, bleibt abzuwarten. Parteiorga-nisatorisch besteht die Opposition im Wesentlichen aus dem Polo und dem Partido Verde. Hinsichtlich des Polo muss sich erweisen, ob und inwieweit er zu einem geschlos-senen parlamentarischen Handeln in der Lage sein wird, der Partido Verde wiederum verfügt über keine größere parlamentarische Erfahrung. Zudem kommt Mockus der Begriff „Opposition‟ schwer über die Lippen. Er schließt nicht aus, die Regierung dort zu unterstützen, wo sie die richtigen Ansätze verfolgt.
Das Zehn-Punkte-Programm der Unidad Nacional ist in seiner Allgemeinheit unterschriftstauglich, hier muss sich jedoch erst noch erweisen, welche konkrete Linie der künftige Staatspräsident im Einzelnen verfolgt, und wie es ihm gelingt, die unterschiedlichen Inter-essen der verschiedenen Bündnispartner kompromiss-fähig zu gestalten.
Es ist mittelfristig nicht auszuschließen, dass sich die eigentliche Opposition aus dem Kontext der Unidad Nacional selbst entwickelt. Vor allem ist nicht zu erwarten, dass Parteiführer wie beispielsweise Vargas Lleras nur wegen ihrer Beteiligung in der Unidad Nacio nal für die nächsten acht Jahre, Santos Ehrgeiz zur Wieder- wahl unterstellt, ihren Präsidentschaftsambitionen ab- schwören werden.
6. Santos hat bereits in der Wahlnacht deutlich gemacht, dass er die Parteien als Institutionen sehr ernst nimmt, dies jedoch nicht bedeutet, dass er an traditionellen
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Santos wird ein Politikstil bescheinigt, der weniger caudillohaft ist als der Stil Uribes, stattdessen institutionenorien-tierter, stärker delegierend und stärker am Konsens orientiert.
Vergabekriterien politischer Macht festhalten will. Stattdessen müssten sich Parteien ihres dienenden Charakters bewusst werden. Angesichts der politisch-kulturellen Traditionen Kolumbiens eine große Ankün-digung.
Die ersten bekannt gewordenen Personalentschei-dungen des künftigen Präsidenten geben jedoch einen Vorgeschmack darauf, dass es Santos, anstatt sich auf eine Quotendiskussion einzulassen, eher darauf ankommt, sich mit fachlich ausgewiesenen Personen zu umgeben. Diese können im Einzelfall durchaus einen parteipolitischen Hintergrund haben, müssen jedoch nicht zu den einflussreichen Politikern der jeweiligen Parteien zählen.
7. Auch wenn die „grüne Welle‟ Mockus nicht bis in den Präsidentenpalast gespült hat, sollten weder die anderen Parteien noch Santos die Botschaft unter-schätzen, die mit diesem noch vor wenigen Monaten
unerwarteten Erfolg einer Splitterpartei verbunden ist. Vielmehr sollten sie ihn in ihrer mehrfacettigen Bedeutung für die Politik und Demokratie des Landes sehr intensiv analysieren. So heterogen bis diffus die auf
Mockus projizierten Erwartungen auch waren, kommt darin ein partizipa tionsbereites Protestpotential zum Ausdruck, dessen Inhalte ernst genommen werden sollten, und dessen Unterstützer für die kolumbiani-sche Demokratie nicht verloren gehen sollten.
8. Nicht erst seit dem Triumph von Santos ist die Frage, wie uribistisch Santos ist und ob er es bleiben wird, oder ob sich eine Konstellation „Santismus vs. Uribismus‟ herauskristallisieren wird, ein beliebtes Spekulationsthema.
Der Kern dieser Spekulation birgt die Überzeugung, dass Santos mehr ist oder werden kann als eine Uribe-Verlän-gerung. Ihm wird ein Politikstil bescheinigt, der weniger caudillohaft ist als der Stil Uribes, stattdessen institutionen-orientierter, stärker delegierend und stärker am Konsens orientiert. Vieles spricht für die These, dass Santos, aufbauend auf den Errungenschaften der Uribe-Ära, einen
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Die „la U‟ muss sich als Präsidenten-partei neu ausrichten und nachhaltige und tragfähige Parteistrukturen auf-bauen.
continuismo básico verfolgt, darüber hinaus aber seine eigenen Schwerpunkte setzt.
Abschließend soll auf die Frage eingegangen werden, welche Auswirkungen und Herausforderungen diese Präsi-dentschaftswahlen und die Bildung der Unidad Nacional auf die jeweiligen Parteien und das Parteiensystem insgesamt zeitigen werden.
AUSWIRKUNGEN AUF DIE PARTEIEN
In einer Phase, in der ein Sieg von Manuel Santos nicht als gesichert gelten konnte, wurden bereits Überlegungen darüber angestellt, ob die Uribe-Partei „la U‟ als Oppo-sitionspartei eine Überlebenschance hätte. Die „la U‟ als stärkste Regierungs- und Präsidentenpartei steht vor einer doppelten Herausforderung. Zum einen muss sie sich als Präsidenten-partei neu ausrichten, zum anderen geht es auf einer viel niedrigeren, aber umso anspruchvolleren Ebene darum, nachhaltige und tragfähige Parteistrukturen aufzubauen. Auch nach Aussagen eigener Kongressmitglieder ist die „la U‟ parteiorganisatorisch eher eine Walkampfmaschine denn eine strukturierte Partei.
Die Konservative Partei steht vor sehr viel schwierigeren Zeiten. Die innerparteiliche Aufarbeitung der letzten Monate, beginnend mit der die Partei spaltenden Ausei-nandersetzung um die Präsidentschaftskandidatur bis hin zum desaströsen Wahlergebnis von Sanín, wurde durch den zweiten Wahlgang und die Koalition mit Santos überla-gert, dürfte aber nicht mehr lange auf sich warten lassen. Welche Kräfte und Strömungen sich hier wie gruppieren, ist aktuell nicht einschätzbar.
Die Partei muss sich neu aufstellen. Erleichtert wird ihr dies durch eine starke Präsenz im Kongress und in den Regionen. Erschwert wird ihr dies durch ein geringeres Gewicht im Gefüge der Unidad Nacional. Auch der PCC ist verzichtbar geworden. Darüber darf die Beschwörung der tragenden Rolle in der Uribe-Koalition nicht darüber hinwegtäuschen. In den nächsten Jahren muss der PCC über eine Stärkung seines programmatischen Eigenprofils sowohl der Partei wie der Fraktionen in der Abgeordnetenkammer und dem
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Santos betont häufig seine Herkunft aus dem liberalen Lager. Fraglich ist, ob die Wiederannäherung der drei liberalen Gruppierungen in der Unidad Nacional die Keimzelle einer neuen liberalen Formation darstellen kann.
Senat, aber auch durch eine parteiorganisatorische Moder-nisierung bis in die Regionen hinein die Grundlage für einen glaubhaften nationalen Führungsanspruch legen.
In keiner einfachen Situation befindet sich der Cambio Radical. Diese Partei ist überaus stark personenkonzent-riert und verfügt ebenfalls über wenige Parteistrukturen. Als der kleinste der Koalitionspartner dürfte ihm eine personelle Profilierung in der Koalition erschwert werden. Bleibt die Frage, inwieweit er sich inhaltlich konturieren kann. Hinzu kommt aber vor allem, dass Vargas Lleras im Reigen der führenden Koalitionspolitiker, Santos ausge-nommen, ohne Frage einer der profiliertesten Persönlich-keiten ist und seine Ambitionen auf das Präsidentenamt kaum aufgeben wird. Ob und wie lange eine solche Kons-tellation in die Unidad Nacional eingebunden werden kann, bleibt abzuwarten.
Die Liberale Partei (PL) konnte ihren Beitritt zur Unidad Nacional nicht geschlossen vollziehen. Einige Abgeordnete und Senatoren verweigerten sich diesem Schritt. Inwieweit dies zu einem offiziellen Übertritt zum PV oder zum Polo führt, kann noch nicht abgeschätzt werden. Für den PL bietet die Unidad Nacional nach langen Jahren der Opposi-
tion die Möglichkeit, an der Regierungsmacht beteiligt zu sein, wenngleich in begrenzter Form. Zunächst ungeklärt bleibt, inwie-weit die heterogenen parteiinternen Strö-mungen, überwiegend repräsentiert durch zwei ehemalige liberale Staatspräsidenten, Gaviria und Samper, ihre Interessen verwirk-
licht sehen, wenn nach dem Honeymoon mit Santos erste Kompromisse anstehen.
In diesem Zusammenhang ist auf eine andere, in Kolum-bien noch nicht debattierte denkbare Entwicklung hinzu-weisen. Santos betont im Gegensatz zu Uribe häufig seine Herkunft aus dem liberalen Lager. Santos denkt weitaus langfristiger und strategischer als ihm das politische Beob-achter zugetraut haben. In einem ersten Schritt ist es ihm gelungen, alle drei liberalen oder aus dem liberalen Lager entstandenen Parteien, „la U‟, PL und CR, unter dem Dach der Unidad Nacional zusammenzubringen. Fraglich ist, ob diese Wiederannäherung der drei liberalen Gruppierungen
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Ganz offensichtlich hat sich das Links-bündnis gespalten: Hier die linksfun-damentalistischen Kader und dort eine gemäßigte, auf Kooperation und Koali-tion setzende Strömung.
in der Unidad Nacional die Keimzelle einer neuen liberalen Formation darstellen kann.
Eine solche Strategie könnte für Santos realistischer sein als darauf zu hoffen, dass es zu einer über Koaliti-onsabsprachen hinausgehenden Kooperationsform mit der Konservativen Partei kommen könnte. Zwar ist eine programmatische Nähe zur Konservativen Partei gegeben, was nach konservativer Lesart nur das historische Bonmot bestätigt, dass ein Liberaler nichts anderes sei als ein intel-ligenter Konservativer. Doch auch wenn es im PCC eine gewisse Strömung gibt, die durchaus bereit wäre, in eine andere Form der Kooperation mit „la U‟ einzutreten, dürfte die Partei insgesamt kaum bereit sein, 160 Jahre eigene Parteigeschichte über Bord zu werfen.
Das beachtliche Ergebnis für den Polo hat nicht zu einem unumstrittenen Führungsanspruch von Petro geführt. Vielmehr hat dessen nach der Wahl bekundete Bereitschaft, Santos in den für den Polo zen tralen Politikbereichen wie zum Beispiel der Landfrage zu unterstützen, zu einer offiziellen Desautorisierung und zu Spekulationen über einen Parteiausschluss oder einen Austritt geführt.
Ganz offensichtlich hat sich das Linksbündnis gespalten: Hier die alten, traditionellen und linksfundamentalistischen Kader, deren Verhältnis zur Gewalt in der Tat nicht durch-gängig zweifelsfrei ist und die mit ihrem absoluten Wahr-heitsanspruch die Oppositionsrolle bevorzugen, und dort eine gemäßigte, auf Kooperation und Koalition setzende Strömung. Das Kräfteverhältnis dieser Strömungen ist allerdings schwer abschätzbar.
Ob aus der innerparteilichen Spaltung auch kleinere Abspal-tungen oder eine gesamtorganisatorische Spaltung hervor-gehen, bleibt abzuwarten. Dies könnte zu einer Wiederfor-mierung der radikalen Linken auf der einen Seite führen und auf der anderen zu einer Art sozialdemokratischer Partei zusammen mit denjenigen Teilen der liberalen Partei, die den Santos-Anschluss ablehnen. Dies wiederum könnte, eine Stabilisierung des Partido Verde vorausgesetzt, zu einer weiteren Option der Zusammenarbeit oder Fusion führen. Der Partido Verde hat trotz seines Namens mit „grüner
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Der Partido Verde steht vor der men-talen Hürde, von Alleinvertretungsan-sprüchen Abstand nehmen und sich koalitionsbereit zu zeigen. Das gilt vor allem für Mockus selbst.
Bewegung‟ recht wenig zu tun. Es handelt sich um eine Splitterpartei, die mittels der Kandidatur von Mockus, der eine rechtlich gesicherte Plattform für seine Präsident-schaftskandidatur benötigte, in eine Sphäre geschleudert wurde, in der die Voraussetzungen aktuell nicht gegeben sind, die für das politische Überleben erforderlich sind.
Mockus hat in einer ausgesprochen guten Rede am Wahl-abend des 30. Mai klar gemacht, dass nun der Ausbau des Partido Verde prioritäre Aufgabe ist, vor allem mit Blick auf die im nächsten Jahr anstehenden Kommunal- und Regio-nalwahlen, zu denen man breit mit eigenen Kandidaten antreten wolle. Der Umstand, dass Mockus mit seinem Stimmenanteil nicht wie befürchtet abgefallen ist, sondern, wenngleich in begrenztem Umfang, zulegen konnte, bietet
eine durchaus gute Ausgangslage für dieses Unterfangen. Einer der wichtigsten Mitstreiter Mockus‛, Peñalosa, kündigte bereits an, dass man diese Partei als „Partei des Zentrums‟ aufstellen wolle. Hier wird abzuwarten sein, wie sich die ideologisch durchaus hetero-
genen Kräfte dieser Bewegung bei dieser Aufgabe posi-tionieren und ob eine solche Aussage mehrheitsfähig ist. Interne Sollbruchstellen personeller wie programmatischer Natur sind hinreichend vorhanden.
Die Aussage, man sei nach den Präsidentschaftswahlen die zweite politische Kraft im Land, ist allzu simplifizie-rend. Die kolumbianische Geschichte kennt einige in Präsidentschaftswahlen erfolgreiche Wahlbewegungen, die eine Konsolidierung oder gar einen weiteren parteior-ganisatorischen Ausbau und entsprechende Wahlerfolge nicht erreichten. Der Weg von einer aktuell nicht mehr als konjunkturellen Oppositionsbewegung zu strukturierteren Organisationsformen ist schwierig. Die parlamentarische Basis hierfür ist äußerst gering. Auch steht der Partido Verde vor der mentalen Hürde, von Alleinvertretungsan-sprüchen Abstand nehmen und sich koalitionsbereit zeigen zu müssen. Das gilt vor allem für Mockus selbst, sollte er eine führende Rolle bei dieser Herkulesaufgabe über-nehmen.
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Diese Präsidentenwahl hat latente Soll-bruchstellen in den Parteien aufgedeckt und vergrößert, und auch neue geschaf-fen. Eine teilweise Umgestaltung des Parteiensystems wird diese Entwick-lung fortsetzen.
AUSWIRKUNGEN AUF DAS PARTEIENSySTEM
Für eine fundierte Einschätzung der Auswirkungen dieser Präsidentschaftswahlen und der Bildung der Unidad Nacional ist es deutlich zu früh. Das Wahlergebnis und die anschließende Entwicklung haben Sollbruchstellen in einigen Parteien offengelegt. Deren Aufarbeitung wird noch geraume Zeit in Anspruch nehmen. Ergebnisse dieser internen Prozesse sind schwer abschätzbar. Neben diesen innerparteilichen Entwicklungen in den betroffenen Parteien und dem Funktionieren der Unidad Nacional hängt auch viel vom Ausgang der Kommunal- und Regional-wahlen in der zweiten Jahreshälfte 2011 ab.
Vielfach wird die Auffassung vertreten, mit der Unidad Nacional trete Kolumbien in eine mit der Frente Nacional zwischen 1958 und 1974 vergleichbare Phase ein. Diese „Nationale Front‟ bestand aus der liberalen und konser-vativen Partei, die sich turnusgemäß in der Staatsführung abwechselten und alle anderen politischen Machtebenen unter sich aufteilten. Verbunden wird diese Sicht mit der Einschätzung, dass mit dieser Präsiden-tenwahl und der Unidad Nacional das Mehr-parteiensystem in der Substanz beschädigt und eine Rückkehr zum traditionellen Zwei-Parteiensystem vorhersehbar sei. Erfahrungswerte aus der kolumbia-nischen Geschichte prägen diese Analyse. Es erscheint jedoch problematisch, diese Erfahrungen auf einen Jahr-zehnte später relevanten Kontext zu übertragen.
Wie oben ausgeführt, hat diese Präsidentenwahl latente Sollbruchstellen in den bestehenden Parteien aufgedeckt und konfliktiver gemacht, und auch neue Sollbruchstellen geschaffen. Darin liegt fraglos das Potential einer partiellen Umgestaltung des aktuellen kolumbianischen Parteiensys-tems. Die Ausdifferenzierung der kolumbianischen Gesell-schaft und Politik ist jedoch zu sehr fortgeschritten, als dass die These einer durch die Unidad Nacional nahezu zwangsläufigen Rückkehr zu einem Zweiparteiensystem überzeugen könnte. Das Funktionieren der Unidad Nacional muss sich im Alltag der kolumbianischen Politik erst noch erweisen.
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Polen – Nachbar, Partnerund Freund im Osten. Die deutsch-polnischen Beziehungen seit 1989Stephan Georg Raabe
Neue Partner, bewährtePartnerschaft – Die Bezie-hungen Deutschlands zu Tschechien und der SlowakeiHubert Gehring / Tomislav Delinić / Andrea Zeller
Die Beziehungen Deutsch-lands zu den baltischen Ländern seit der Wieder-vereinigungAndreas M. Klein / Gesine Herrmann
Über die Befindlichkeitendes deutsch-französischen Paares zwei Jahrzehnte nach der WiedervereinigungJörg Wolff / Laura-Theresa Jaspers
Die Beziehungen zwischenGroßbritannien und dem wiedervereinigten Deutsch-landClaudia Crawford
Union für das Mittelmeer –Realitäten anerkennen und Chancen nutzen!Gerrit F. Schlomach
Die Philippinen nach denWahlen vom 10. Mai 2010Peter Köppinger
Vom Uribismo zur UnidadNacional – Kolumbien nach den Kongress- und Präsi-dentschaftswahlenStefan Jost