h. wirtschaftsintegration in der eu · 2016. 6. 16. · 3 dieses verbot von zöllen und abgaben...
TRANSCRIPT
-
1
H. Wirtschaftsintegration in der EU
I. Formen der Wirtschaftsintegrationen
1. Allgemeines
Die ursprüngliche Idee hinter den Europäischen Ge-
meinschaften war eine europäische Integration im
wirtschaftlichen Bereich, zunächst beschränkt auf
Kohle und Stahl (Europäische Gemeinschaft für Kohle
und Stahl, EGKS). Mit der Schaffung der Europäischen
(Wirtschafts-)Gemeinschaft (EWG, später: EG) durch
die Römischen Verträge 1957 (Inkrafttreten zum 1.
Januar 1958) wurde das Gebiet der europäischen
Wirtschaftsintegration inhaltlich deutlich erweitert.
Ziel war nunmehr, eine Zollunion und einen Gemein-
samen Markt zu schaffen.
Zollunion und Gemeinsamer Markt –welche zu den
wichtigsten Politiken der Europäischen Union zählen–
sind ganz allgemein dabei nur zwei mögliche Formen
einer wirtschaftlichen Integration. Daneben existieren
Modelle der Wirtschaftsintegration in Form der Frei-
handelszone, des Binnenmarkts bis hin zur am weitest
gehenden Ausprägung, der Wirtschaftsunion.
Dabei bauen die verschiedenen Modelle aufeinander
auf: Die Basis bildet die Freihandelszone, gefolgt von
Zollunion, Gemeinsamen Markt, Binnenmarkt bis hin
zur Wirtschafts- (und Währungs)union. Eine Zollunion
beinhaltet also immer alle Elemente einer Freihan-
delszone; eine Wirtschaftsunion die Elemente aller
anderen ihr zugrundeliegenden wirtschaftlichen Integ-
rationsmodelle. Eine Wirtschaftsunion, der keine Zoll-
union zugrunde liegt oder in der es keinen Gemeinsa-
men oder Binnenmarkt gibt, ist also ausgeschlossen.
Eine Freihandelszone ist die schwächste Ausprägung
einer wirtschaftlichen Integration: Mehrere Staaten
schließen sich hierbei zu einem Wirtschaftsraum des
freien Handels zusammen. In diesem sind Binnenzölle
(also Zölle auf Waren, die zwischen den Mitgliedsstaa-
ten der Freihandelszone gehandelt werden) und Han-
delshemmnisse (z.B. Ein- und Ausfuhrverbote, Kontin-
gente) abgeschafft sind. Jedoch existieren weiterhin
Außenzölle für Waren aus Drittstaaten, wobei jeder
Mitgliedsstaat der Freihandelszone seinen jeweiligen
nationalen Zolltarif gegenüber Drittstaaten beibehält.
Der Geldbetrag, der bezahlt werden muss, damit eine
Ware aus einem Drittstaat über die Grenze in einen
der Mitgliedsstaaten eingeführt werden darf, ist also
von Mitgliedsstaat zu Mitgliedsstaat verschieden. Ein
Unternehmen muss sich also überlegen, in welchen
Staat der Freihandelszone es seine Waren einführt: So
mag Staat A nur 15 % des Warenwertes als Zollsatz
festlegen, Staat B hingegen 17 % und Staat C sogar 20
%. Lässt man alle anderen Faktoren außer Betracht,
würde der Import in den Staat A also finanziell günsti-
ger sein als in die anderen beiden Staaten der Frei-
handelszone. Beachten muss das Unternehmen zu-
sätzlich aber stets auch andere preisbildende Fakto-
ren, z.B. geografische Lage des Staates (zentral oder
am Rande der Freihandelszone) oder die jeweilige
Infrastruktur (liegt ein Staat am Meer oder nicht, gibt
es Flughäfen, Straßen-, Wasser- oder Eisenbahnwege
etc.). Unter entsprechenden Umständen könnte es
also wirtschaftlich sinnvoller sein, die Waren in die
Staaten B oder C einzuführen, obwohl auf den ersten
Blick die finanzielle Belastung durch die Zölle höher ist.
Wichtige Beispiele für Freihandelszonen sind die EFTA
(European Free Trade Association zwischen Norwegen,
Island, der Schweiz und Liechtenstein) sowie die NAF-
TA (North Atlantic Free Trade Agreement zwischen
den USA, Kanada und Mexiko).
Eine Stufe weitergehend als die Freihandelszone ist die
Zollunion. Diese baut entsprechend den obigen Aus-
führungen auf dem Fundament einer Freihandelszone
auf (Binnenzölle sind also abgeschafft), im Vergleich zu
dieser verfügt sie jedoch über einen einheitlichen
gemeinsamen Außenzolltarif gegenüber Drittstaaten.
Der für die Einfuhr einer Ware aus einem Drittstaat in
einen der Mitgliedsstaaten der Zollunion zu zahlende
Geldbetrag wird zentral festgelegt und ist also in je-
dem Mitgliedsstaat gleich. In diesem Fall kann sich das
Unternehmen also ausschließlich auf die anderen
Kostenfaktoren (geografische Lage / Infrastruktur)
konzentrieren, um den Staat zu ermitteln, der als Im-
portstaat am geeignetsten ist. Der Zollsatz ist überall
identisch, entsprechend dem obigen Beispiel also etwa
17 % in den Staaten A, B und C.
Auf der nächsten Stufe folgt der Gemeinsame Markt.
Im Unterschied zu einer reinen Zollunion bietet er
zusätzlich innerhalb des Gemeinsamen Marktes den
freien Verkehr von Kapital und Personen. Die Idee
des freien Handels, also vor allem der Abschaffung von
Kontingentierungen und Handelshemmnissen wird
also von Waren auch auf die anderen relevanten Wirt-
-
2
schaftsfaktoren Kapital (Geldströme) und Personen
(natürliche Personen = Menschen) (Arbeitskraft) über-
tragen. Letzteres beinhaltet auch juristische Personen
(= Unternehmen) sowie die Möglichkeit, Dienstleis-
tungen frei anzubieten. In der EU spricht man in die-
sem Rahmen von den Grundfreiheiten: den freien
Warenverkehr (gesichert bereits durch das Freihandel-
selement), den freien Personenverkehr (Arbeitneh-
merfreizügigkeit, Niederlassungsfreiheit), die Dienst-
leistungsfreiheit sowie den freien Kapital- und Zah-
lungsverkehr.
Einen Schritt weiter geht der Binnenmarkt. Oftmals
wird er synonym für den Gemeinsamen Markt ver-
wendet, da er wesentliche Bestandteile des Gemein-
samen Marktes, vor allem die Grundfreiheiten, not-
wendigerweise verwirklicht und garantiert. Die Gleich-
setzung von Gemeinsamen Markt und Binnenmarkt ist
allerdings nicht ganz korrekt: Zusätzlich verfügt der
Binnenmarkt im Vergleich zum Gemeinsamen Markt
über gemeinsame Wettbewerbsregeln. Außerdem
bringt er die Möglichkeit einer Harmonisierung
(Rechtsangleichung) im Gebiet des Rechts und der
Verwaltungspolitik mit sich.
Die stärkste Form wirtschaftlicher Integration schließ-
lich ist die Wirtschaftsunion. Ihre Wirtschaftspolitik
ist (völlig) harmonisiert und sie verfügt zwingend über
eigene supranationale Institutionen und eine eigene
supranationale Rechtsprechung. Eine tatsächliche
Wirtschaftsunion setzt ebenfalls eine gemeinsame
Sozial- und Steuerpolitik voraus (dies könnte als Grund
angeführt werden, warum es sich bei der EU noch
nicht um eine vollständige Wirtschaftsunion handelt,
obwohl dies häufig behauptet wird). Eine noch tiefere
Integration stellt lediglich die Währungsunion dar, bei
der sich die teilnehmenden Staaten zu den oben ge-
nannten Merkmalen zusätzlich noch eine gemeinsame
Währung geschaffen haben. Dies ist der Fall bei den
Mitgliedsstaaten des Euroraums. Dass eine Währungs-
union nicht notwendigerweise auf einer tatsächlichen
vollständigen Wirtschaftsunion beruhen muss, stellt
die EU mit 19 ihrer Mitgliedstaaten als Beispiel ein-
drucksvoll dar; auch wenn das System gegenwärtig
von einer schweren Krise betroffen ist.
2. Die Zollunion
Als Grundlage der früheren Europäischen (Wirt-
schafts-)Gemeinschaft gilt die Zollunion. Diese er-
streckt sich auf den gesamten Warenverkehr. Der
AEUV spricht insoweit vom „Warenaustausch“, womit
Importe als auch Exporte von der Zollunion umfasst
sind. Die Zollunion ist somit wesentlicher Bestandteil
der Grundfreiheit des freien Warenverkehrs.
Ein Zoll ist der Geldbetrag, der bezahlt werden muss,
damit eine Ware über die Grenzen eines Landes ge-
handelt werden darf. Die Erhebung eines Zolls hat im
Grundsatz zwei klassische Zwecke: zunächst sollen mit
Zöllen Einnahmen für den Staat erzielt werden. Dane-
ben dienen Zölle aber auch als künstliche Verteuerung
eingeführter ausländischer Waren. Damit soll einhei-
mischen Produzenten ein Wettbewerbsvorteil ver-
schafft werden. Zölle haben häufig also einen protek-
tionistischen Charakter. Obwohl die EU kein Staat ist,
verfolgt sie mit ihrer Zollpolitik auch diese beiden
Ziele.
Innerhalb der Europäischen Gemeinschaft war es den
Mitgliedsstaaten bereits seit 1968 verboten, derartige
Zölle (Binnenzölle) bei Ein- oder Ausfuhr von Produk-
ten zu erheben (die Kontrolle an den Binnengrenzen
fielen jedoch erst zum 1. Januar 1993 weg, entspre-
chend dem früher in Art. 14 EGV vorgesehenen Da-
tums der „Verwirklichung des Binnenmarktes“ zum
31.12.1992).
Daneben sind auch Abgaben gleicher Wirkung verbo-
ten, also Geldzahlungen, die nicht als Zoll benannt
sind, aber letztlich auch wegen der Ein- oder Ausfuhr
einer Ware erhoben werden. Solche Abgaben könnten
nämlich benutzt werden, um das Zollerhebungsverbot
zu umgehen und werden oftmals als „Gebühren“ klas-
sifiziert.
Gebühren können nämlich legitim sein, zum Beispiel
Abfertigungsgebühren oder Gebühren für veterinär-
medizinische Untersuchungen. Sie sind aber nur zuläs-
sig, wenn sie (1.) als Gegenleistung für eine Verwal-
tungsleistung verlangt werden (also den tatsächlich
entstandenen Kosten entsprechen und diese ausglei-
chen sollen), (2.) sich inländische Waren dieser Ver-
waltungsleistung zu gleichen Kosten ebenfalls unter-
ziehen müssen und (3.) die Verwaltungsleistung für
den Importeur einen tatsächlichen Wert darstellt
(zum Beispiel bei veterinärmedizinischen Untersu-
chungen, ohne welche lebende Tiere oder Fleischpro-
dukte nicht eingeführt werden dürften). Liegt eine der
drei Voraussetzungen nicht vor, darf die fragliche
Gebühr nicht erhoben werden. Darüber hinaus sind
auch solche Abgaben nicht erlaubt, welche zwar auf
fremde und auf einheimische Produkte erhoben wer-
den, letztendlich aber ausschließlich der Förderung
einheimischer Produzenten dienen.
-
3
Dieses Verbot von Zöllen und Abgaben gleicher Wir-
kung gilt freilich nur innerhalb der EU. Im Verhältnis
zu Drittstaaten gilt der Gemeinsame Zolltarif, was die
EU-Zollunion über den Rang einer bloßen Freihandels-
zone hinaushebt. Demnach muss bei der Einfuhr einer
Ware aus einem Drittstaat in einen der 27 Mitglied-
staaten Zoll gezahlt werden. Es ist dabei völlig egal, in
welchen Mitgliedsstaat die Ware eingeführt wird, wo
also letztlich die Ware in die Union gelangt – der er-
hobene Zoll ist überall gleich. Würde es sich bei der
EU um eine bloße Freihandelszone handeln, könnte
jeder Staat den Außenzolltarif selbst festlegen, und es
wäre bei der Einfuhr zum Beispiel nach Spanien mög-
licherweise ein völlig anderer Zoll zu zahlen als bei der
Einfuhr in das benachbarte Portugal.
Für die Festlegung, Änderung oder Aussetzung des
Zollsatzes ist der Rat auf Vorschlag der Kommission
zuständig. Die Festlegung des Zolls erfolgt dabei an-
hand folgender Merkmale: (1.) Art der Ware (die so-
genannte Tarifierung), (2.) der Ursprung der Ware,
wobei die Ware als aus dem Land stammend gilt, in
dem ihre letzte wesentliche Be- oder Verarbeitung
erfolgte und (3.) Wert, Anzahl und Gewicht der Ware.
Der Zollsatz wird in Prozenten des Wertes der jeweili-
gen Ware festgelegt. Obwohl sämtliche Formalia be-
züglich des Zolltarifs Sache der Union sind, obliegt der
verwaltungsmäßige Vollzug des Abfertigungsverfah-
rens den Behörden des Mitgliedsstaats, in welchem
die Ware in die EU eingeführt wird. Die zuständigen
Behörden wenden dabei Gemeinschaftsrecht an. Sie
nehmen die Zölle ein und leiten sie an die EU weiter:
dort zählen Zölle mit zuletzt etwa 12 Prozent zu den
wichtigsten Eigeneinnahmen.
3. Der „Gemeinsame Markt“ / Binnenmarkt
Gemäß Artikel 2 des EG-Vertrages war es die Aufgabe
der Europäischen Gemeinschaft, einen Gemeinsamen
Markt (sowie eine Wirtschafts- und Währungsunion,
vgl. heute Art. 3 Abs. 4 EUV) zu errichten. Heute
spricht Art. 3 Abs. 3 EUV von einem zu errichtenden
Binnenmarkt, in welchem „der freie Verkehr von
Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital […]
gewährleistet ist“. Die vier Grundfreiheiten (freier
Warenverkehr, Freizügigkeit der Arbeitnehmer und
Freiheit der Niederlassung, freier Dienstleistungsver-
kehr sowie der freie Kapital- und Zahlungsverkehr)
und damit der ungehinderte Austausch von Wirt-
schaftsleistungen über die Binnengrenzen hinweg
werden also – wie bereits auch schon durch den Ge-
meinsamen Markt – durch den Binnenmarkt verwirk-
licht und garantiert, auf der anderen Seite sind es die
Grundfreiheiten, welche die Existenz des Binnenmark-
tes sichern. Als Vorstufe dazu ist die Errichtung einer
Zollunion gemäß dem oben Gesagten unerlässliche
Voraussetzung.
Gemäß dem „Fahrplan“, den die Einheitliche Europäi-
sche Akte aufgestellt hat, sollte der Binnenmarkt zum
31. Dezember 1992 verwirklicht sein. Obwohl die
Grundfreiheiten weitgehend realisiert worden sind
und in einigen Gebieten bereits die Wirtschafts-
(wenngleich nicht mit all ihren Elementen) und Wäh-
rungsunion besteht, ist der Binnenmarkt in der Praxis
noch nicht vollendet (für diese Ansicht spricht auch
die Formulierung in den Verträgen, nach denen die EU
einen Binnenmarkt errichtet), da es noch immer Aus-
nahmebereiche (zum Beispiel für die neuen Mitglied-
staaten der 2004- und 2007-EU-Erweiterungen; die
Übergangsvorschriften für die 2004-MS liefen spätes-
tens zum 01.05.2011 aus) und praktische Behinderun-
gen durch die Mitgliedsstaaten gibt. Angesichts der
Größe der Union und der immensen Unterschiede
zwischen den Mitgliedsstaaten ist es fraglich, ob der
Binnenmarkt in der Realität überhaupt jemals tatsäch-
lich verwirklicht werden kann.
II. Die Grundfreiheiten des Binnenmarktes
1. Allgemeines
Die Europäische Union kennt bereits seit den Römi-
schen Verträgen von 1957 vier Grundfreiheiten, näm-
lich
den freien Warenverkehr;
die Personenverkehrsfreiheit (Freizügigkeit
der Arbeitnehmer und die Freiheit der Nie-
derlassung);
den freien Dienstleistungsverkehr sowie
den freien Kapital- und Zahlungsverkehr.
Teilweise ist von fünf Grundfreiheiten die Rede, da
vereinzelt der freie Zahlungsverkehr als eigenständige
Grundfreiheit angesehen wird. Dies ist aber zweifel-
haft. Ohne die Möglichkeit, für frei handelbare Wirt-
schaftsleistungen als Gegenleistung ungehindert Zah-
lungen tätigen zu können, wäre die praktische Wirk-
samkeit der Grundfreiheiten stark eingeschränkt. Es
liegt daher nahe, den freien Zahlungsverkehr als Vo-
raussetzung für die Wahrnehmung und Verwirkli-
chung der Grundfreiheiten als bloße Annexgrundfrei-
-
4
heit zu betrachten. Sie ist eng mit dem freien Kapital-
verkehr verbunden.
Die Grundfreiheiten sichern die Existenz der wirt-
schaftlichen Integration innerhalb der EU. Bereits
ohne den freien und ungehinderten Warenverkehr
kann weder eine Freihandelszone noch eine Zollunion
Bestand haben. Zusätzlich zum freien Warenverkehr
sind die anderen drei Grundfreiten konstituierende
Voraussetzungen für einen Gemeinsamen Markt und
damit auch für den Binnenmarkt bis hin zu einer Wirt-
schaftsunion. Die Grundfreiheiten garantieren im
Rahmen der wirtschaftlichen Integration den unge-
hinderten Austausch von Wirtschaftsleistungen über
die Grenzen der Mitgliedsstaaten hinweg. Rechtlich
sind sie im Dritten Teil des AEU-Vertrages („Die inter-
nen Politiken und Maßnahmen der Union“) verankert.
Somit gehören die Grundfreiheiten zum Primärrecht.
Sie sind dabei das Musterbeispiel für unmittelbar
anwendbares Primärrecht: Unionsbürger können die
Grundfreiheiten als subjektive Rechte vor Gericht
geltend machen. Ohne dass eine weitere Umsetzung
nötig ist, verleihen die Grundfreiheiten demnach je-
dem Unionsbürger direkt Rechte. Die Grundfreiheiten
richten sich dabei insbesondere gegen wirtschaftliche
Diskriminierungen von EU-Ausländern (sie stellen in
diesem Sinne eine Konkretisierung des allgemeinen
Diskriminierungsverbotes des Artikels 18 AEUV dar).
Die Grundfreiheiten dürfen allerdings nicht mit
Grundrechten gleichgesetzt oder mit ihnen verwech-
selt werden. Grundrechte haben nämlich eine primäre
Schutz- und Abwehrfunktion für den Einzelnen. Die
Grundfreiheiten hingegen dienen in erster Linie wirt-
schaftspolitischen Zielen der EU. Ihr Zweck bezie-
hungsweise ihre „Schutzrichtung“ ist also völlig an-
ders.
Obwohl die Grundfreiheiten dem Primärrecht angehö-
ren und Primärrecht im Rang über Sekundärrecht
steht, können die Grundfreiheiten durch Sekundär-
recht verdrängt werden. Sofern nämlich Sekundär-
recht einen bestimmten Sachverhalt abschließend
regelt, ist die Anwendung der Grundfreiheiten auf den
jeweiligen Sachverhalt ausgeschlossen. Das bedeutet
aber nicht, dass der Wesensgehalt der jeweiligen
Grundfreiheit in einem solchen Fall keine Bedeutung
mehr hätte: Das Sekundärrecht darf nie gegen Primär-
recht –und damit den AEUV sowie die dort kodifizier-
ten Grundfreiheiten – verstoßen. Sekundärrecht, wel-
ches also eine oder mehrere Grundfreiheiten außer
Kraft setzen würde, wäre stets rechtswidrig. Der An-
wendungsbereich der Grundfreiheiten kann durch
Sekundärrecht allerdings ausgeweitet und inhaltlich
vertieft werden. Regelmäßig wird derartiges Sekun-
därrecht also ein Mehr zum eigentlichen Wesensgeh-
alt der Grundfreiheit darstellen.
Ein Problem, welches sich im Zusammenhang mit den
Grundfreiheiten stellt, ist die sogenannte Inländerdis-
kriminierung. Die Grundfreiheiten finden – anders als
sie gegebenenfalls verdrängendes sekundäres Recht –
nur auf grenzüberschreitende Sachverhalte Anwen-
dung. Auf rein nationale Sachverhalte sind sie jedoch
nicht anwendbar. Sie schließen also Diskriminierun-
gen eines Staates gegenüber seinen eigenen Staats-
angehörigen nicht aus! Aufgrund des Anwendungsvor-
ranges des Unionsrechts bleibt nämlich eine unions-
rechtswidrige mitgliedstaatliche Norm auf rein natio-
nale Sachverhalte anwendbar, selbst wenn sie auf
„europäischer“ Ebene nicht angewendet werden darf,
weil sie Unionsrecht verletzt. Besteht also z.B. in ei-
nem Mitgliedsstaat X eine Vorschrift, nachdem es
Rechtsanwälten nicht erlaubt ist, mehr als ein Büro zu
unterhalten, so wird diese Vorschrift im Verhältnis zu
Anwälten aus den anderen Mitgliedsstaaten nicht
angewendet, da deren Freiheit, im Staat X eine weite-
re Niederlassung (neben ihrem Hauptbüro und even-
tuell bestehenden weiteren Büros) zu gründen, einge-
schränkt werden würde. Für Anwälte, die Bürger des
Mitgliedsstaats X sind, findet das entsprechende Ge-
setz aber weiter Anwendung, da ein rein innerstaatli-
cher Sachverhalt vorliegt. Sie dürfen weiterhin in Staat
X nur ein Büro unterhalten. Im Verhältnis zu ausländi-
schen Rechtsanwälten, die aufgrund der Niederlas-
sungsfreiheit theoretisch so viele Büros eröffnen kön-
nen wie sie wollen, sind die einheimischen Anwälte
also diskriminiert. Dies ist ein typischer Fall der Inlän-
derdiskriminierung. Ein weiteres Beispiel ist der Fall
„Französischer Käse“: eine italienische Vorschrift ver-
bietet den Verkauf von Käse mit einem Fettgehalt von
weniger als 45 Prozent. Während Französischer Käse
mit nur 30 Prozent Fettgehalt dennoch weiterhin nach
Italien eingeführt und dort verkauft werden darf, da
sonst eine Verletzung der Warenverkehrsfreiheit vor-
liegen würden, sind italienische Produzenten weiter-
hin den italienischen Vorschriften unterworfen und
müssen sich an diese halten. Sie sind im Verhältnis zu
den französischen Herstellern diskriminiert.
Obwohl die Grundfreiheiten durch die Mitgliedstaaten
gewährleistet werden müssen, können sie unter be-
stimmten Voraussetzungen durch Maßnahmen der
Mitgliedstaaten beschränkt werden, so dass sich der
Einzelne nicht auf die ihm normalerweise zustehende
Grundfreiheit berufen kann. Der EuGH hat die Voraus-
setzungen für eine Beschränkung der Grundfreiheiten
in seiner Gebhard-Formel definiert: Zunächst muss
jede Beschränkung einem unionsrechtlich anerkann-
-
5
ten Allgemeininteresse entsprechen; hierbei spricht
man von den „zwingenden Gründen des Gemein-
wohls“. Daneben darf eine Beschränkung keine Dis-
kriminierung hinsichtlich der Staatsangehörigkeit
oder Herkunft zwischen Inland und dem EU-Ausland
darstellen. Derartige Diskriminierungen sind nach
heute noch herrschender Meinung nur in besonderen
Gründen, welche im AEU-Vertrag aufgezählt sind,
zulässig. Außerdem darf eine beschränkende Maß-
nahme nur durchgeführt werden, wenn sie tatsächlich
erforderlich ist, um das Allgemeininteresse zu schüt-
zen, und sie muss zur Erreichung des jeweils ange-
strebten Zweckes geeignet sein. Die Möglichkeit für
Mitgliedstaaten, die Grundfreiheiten zu beschränken,
unterliegen also strengen und eng auszulegenden
Voraussetzungen. Diskriminierungen sind dabei im
Grundsatz nicht erlaubt.
2. Die einzelnen Grundfreiheiten
a) Die Warenverkehrsfreiheit, Artikel 28 bis 37 AEUV
Der freie Warenverkehr (Dritter Teil, Titel II des AEUV)
umfasst auf der einen Seite die bereits skizzierte Zoll-
union (Artikel 30 bis 33 AEUV). Zweites wesentliches
Element der Warenverkehrsfreiheit ist das Verbot von
mengenmäßigen Ein- und Ausfuhrbeschränkungen
zwischen den Mitgliedstaaten (Artikel 34 bis 37
AEUV). Dieses Verbot erfasst auch Maßnahmen glei-
cher Wirkung. Es sind also nicht nur Kontingentierun-
gen untersagt sondern auch andere, den Handel be-
hindernde Maßnahmen. Wie Maßnahmen gleicher
Wirkung zu definieren sind, hat der EuGH in seinem
Urteil Dassonville (Rs. 8/74) festgelegt (vgl. unten
Dassonville-Formel).
Von diesem Grundsatz des Verbotes mengenmäßiger
Ein- und Ausfuhrbeschränkungen gibt es jedoch Aus-
nahmen (Artikel 36 AEUV). (Diskriminierende) Be-
schränkungen sind nämlich dort erlaubt, wo sie dem
Schutz wichtiger nationaler Rechtsgüter dienen. Dazu
zählen die öffentliche Sittlichkeit, Ordnung und Si-
cherheit, das Leben und die Gesundheit von Men-
schen, Tieren und Pflanzen, das nationale Kulturgut
sowie gewerbliches und kommerzielles Eigentum. Um
die Wirksamkeit der Warenverkehrsfreiheit zu ge-
währleisten, müssen die Ausnahmen jedoch eng aus-
gelegt werden. Vor allem muss die Gefahr von willkür-
lichen Diskriminierungen und „versteckten“ Handels-
beschränkungen ausgeschlossen sein. Letztlich muss
eine Beschränkung stets verhältnismäßig sein.
Die Warenverkehrsfreiheit findet Anwendung auf
nationale Regeln über handelbare Waren. Waren sind
grundsätzlich alle Erzeugnisse, die einen Geldwert
haben und somit Gegenstand von Handelsgeschäften
sein können. Waren müssen nicht notwendig körper-
lich sein. Auch Strom und Gas sind beispielsweise
erfasst, ebenso Müll. Von der Warenverkehrsfreiheit
umfasst sind Unionswaren, also solche Waren, die aus
den EU-Mitgliedsstaaten selbst stammen sowie sol-
che aus dritten Staaten, welche sich in den Mitglieds-
staaten im freien Handelsverkehr befinden, vgl. Art
28 Absatz 2, 29 AEUV. Auf die Staatsangehörigkeit des
Importeurs oder Exporteurs kommt es nicht an! Der
russische Staatsbürger, der gebrauchte französische
PKW durch die Union nach Russland transportiert,
kann sich also auch auf die Freiheit des Warenverkehrs
berufen. Relevant ist aber, dass ein grenzüberschrei-
tender Sachverhalt gegeben ist: auf rein innerstaatli-
che Vorgänge findet die Warenverkehrsfreiheit keine
Anwendung. Sie kann jedoch wie jede der Grundfrei-
heiten durch sekundärrechtliche Spezialvorschriften
verdrängt werden, zum Beispiel durch Marktverord-
nungen oder Vorschriften im Bereich der Landwirt-
schaftspolitik. Die Gültigkeit und Anwendbarkeit von
Sekundärrecht ist allerdings gerade nicht an einen
grenzüberschreitenden Sachverhalt gebunden: Ver-
ordnungen, Richtlinien oder Beschlüsse sind stets
(auch) auf rein nationale Sachverhalte anwendbar.
Während der Begriff der mengenmäßigen Beschrän-
kung ganz eindeutig Kontingentierungen erfasst (Bei-
spiel für eine Einfuhrbeschränkung: es dürfen im Jahr
nur 10.000 französische PKW in Deutschland einge-
führt werden; Beispiel für eine Ausfuhrbeschränkung:
Frankreich darf nicht mehr als 10.000 Flaschen Cham-
pagner im Jahr exportieren), ist der Begriff der Maß-
nahme gleicher Wirkung nicht leicht auszulegen.
Vielmehr musste der EuGH den Begriff in seinem Urteil
Dassonville (Rs. 8/74) durch die sogenannte Dasson-
ville-Formel definieren:
Maßnahmen gleicher Wirkung sind sämtliche
Maßnahmen, die geeignet sind, den innergemein-
schaftlichen Handel [also den Handel innerhalb der
EU] mittelbar oder unmittelbar, tatsächlich oder
potentiell zu behindern.
Ein Beispiel einer Maßnahme gleicher Wirkung zeigt
sich in der EuGH-Rechtssache C-265/95: dort hatten
im Ausgangsfall französische Landwirte spanische
Lastkraftwagen mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen
behindert, angegriffen und teilweise die Ware zer-
stört, ohne dass der französische Staat durch die Poli-
zei eingriff. Ein solches Unterlassen des Staates bei
-
6
Handelsbeeinträchtigungen durch Privatpersonen ist
eine Maßnahme gleicher Wirkung.
Im Grundsatz verbietet die Warenverkehrsfreiheit
diskriminierende Beschränkungen, also solche Be-
schränkungen, die zwischen inländischen und (EU-
)ausländischen Waren direkt oder indirekt unter-
scheiden. Diese können nur durch die in Artikel 36
AEUV genannten Ausnahmen gerechtfertigt werden.
Gerade durch die extrem weit gefasste Dassonville-
Formel sind aber auch nichtdiskriminierende Han-
delsbeschränkungen vom Verbot der Artikel 34 (men-
genmäßige Einfuhrbeschränkungen) und 35 (men-
genmäßige Ausfuhrbeschränkungen) AEUV umfasst.
Da solche nichtdiskriminierenden Beschränkungen
aber „milderer“ Art sind als Diskriminierungen, da sie
nämlich in- und ausländische Waren gleichermaßen
betreffen, erscheint es ungerechtfertigt, auch diese
Beschränkungen nur nach den strengen und limitiert
anwendbaren Ausnahmen des Artikels 36 AEUV zu
rechtfertigen. Der EuGH hat in seinem Cassis-de-Dijon-
Urteil (Rs. 120/78) auf die Problematik reagiert und
die Cassis-de-Dijon-Formel aufgestellt:
Mit seinem Cassis-de-Dijon-Urteil privilegierte der
Gerichtshof nichtdiskriminierende Beschränkungen
(als „Hemmnisse für den Binnenhandel“) gegenüber
solchen mit diskriminierendem Charakter. Er stellte
nämlich klar, dass nichtdiskriminierende Beschränkun-
gen nicht nur durch die Ausnahmen des Artikels 36
AEUV gerechtfertigt sein können sondern zusätzlich
durch sogenannte immanente Schranken zugunsten
zum Beispiel des Umwelt- oder Verbraucherschutzes.
Angesichts unterschiedlicher Schutzniveaus in den
verschiedenen Mitgliedsstaaten ist das nicht ganz
unproblematisch, da diese die Produktionskosten
beeinflussen und somit zu Wettbewerbsverzerrungen
führen können. Beispiel: ein Unternehmen, welches
Autos produziert und dabei strenge nationale Umwelt-
schutzbestimmungen beachten muss (was entspre-
chend der Cassis-Formel „hingenommen“ werden
muss), hat höhere Produktionskosten als ein Konkur-
renzunternehmen in einem Mitgliedsstaat, in welchem
Umweltschutzvorschriften nicht existieren und ent-
sprechende teure Maßnahmen (z.B. Einbau von Fil-
tern) nicht ergriffen werden müssen. Eine Lösung
dieses Problems soll durch Rechtsangleichung in den
entsprechenden Bereichen erzielt werden (Harmoni-
sierung durch Artikel 114 ff. AEUV), wobei ein generell
hohes Schutzniveau in allen Mitgliedsstaaten ange-
strebt wird.
Die Konsequenz der Entscheidung des EuGH im Fall
Cassis de Dijon ist, dass, wenn ein Produkt in einem
Mitgliedsstaat rechtmäßig hergestellt und in Verkehr
gebracht worden ist, die Einfuhr in einen anderen
Mitgliedsstaat nur bei zwingenden Erfordernissen des
Allgemeinwohls beschränkt werden kann. Diese Be-
schränkung muss stets verhältnismäßig sein.
Eine weitere Einschränkung fand die Dassonville-
Formel durch die ebenfalls vom EuGH aufgestellte
Keck-Formel (Keck et Mithouard, Rs. C-267/91 und
268/91):
Diesbezüglich wird zwischen produktbezogenen und
vertriebsbezogenen Modalitäten unterschieden.
Demnach sind produktbezogene Regelungen (zum
Beispiel Vorschriften, welche die Änderung einer im
Herstellungs-Mitgliedsstaat zugelassenen Verpackung
in einem anderen Mitgliedstaat erzwingen) keine
Verkaufsmodalitäten. Sie werden vielmehr wie dis-
kriminierende Maßnahmen behandelt und müssen
somit immer dem Artikel 36 AEUV entsprechen um
zulässig zu sein. Vertriebsbezogene Regelungen hin-
gegen (zum Beispiel die Beschränkung der Ladenöff-
nungszeiten, Fernsehwerbungsverbote für ein be-
stimmtes Produkt) sind Verkaufsmodalitäten, die
nicht vom Verbot des Artikels 34 AEUV erfasst sind,
sofern die genannten Voraussetzungen vorliegen.
„Hemmnisse für den Binnenhandel [...] müssen hin-
genommen werden, soweit diese Bestimmungen
erforderlich sind, um zwingenden Erfordernissen
gerecht zu werden, insbesondere den Erfordernissen
einer wirksamen steuerlichen Kontrolle, des Schutzes
der öffentlichen Gesundheit, [...] und des Verbrau-
cherschutzes.“
Nationale Bestimmungen, die bestimmte Verkaufs-
modalitäten beschränken, fallen nicht unter das Ver-
bot des Artikels 28 EGV [heute 34 AEUV], wenn sie für
alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten … und
sofern sie den Absatz der inländischen Erzeugnisse
und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedsstaaten
rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berüh-
ren.
-
7
b) Die Personenverkehrsfreiheit („Freizügigkeit), Arti-
kel 45 bis 55 AEUV
aa) Allgemeines
Die Freiheit des Personenverkehrs umfasst einmal die
Arbeitnehmerfreizügigkeit und daneben die Nieder-
lassungsfreiheit. Sie schützt also sowohl Selbstständi-
ge (Unternehmer) wie auch Angestellte. Die Perso-
nenverkehrsfreiheit ist geregelt im Dritten Teil, Titel
IV, Kapitel 1 und 2 AEUV (Artikel 45 bis 55).
Im Gegensatz zur Warenverkehrsfreiheit, welche als
Verbot von Beschränkungen formuliert ist, verleiht die
Personenverkehrsfreiheit unmittelbar Rechte. Sie wird
darüber hinaus aber erweitert ausgelegt, so dass – wie
bei der Warenverkehrsfreiheit – Beschränkungen
verboten sind.
Im Laufe der Jahrzehnte haben sich der Hintergrund
und damit auch der Anwendungsbereich der Perso-
nenverkehrsfreiheit stark verändert. Ursprünglich
stand hinter Arbeitnehmerfreizügigkeit und Niederlas-
sungsfreiheit eine rein wirtschaftspolitische Motivati-
on: Menschen als Produktionsfaktoren sollten zu den
Orten wandern, an denen sie am effektivsten und
unter den besten Bedingungen eingesetzt werden
konnten. Demnach sollten nur Wanderarbeitnehmer
beziehungsweise wirtschaftlich Tätige diese Rechte
ausüben können. Mittlerweile haben jedoch der
„menschliche“ Faktor und die soziale Dimension an
Bedeutung gewonnen. Durch neu geschaffenes Se-
kundärrecht und die weiten Auslegungen des Ge-
richtshofes sind nunmehr beispielsweise auch Fami-
lienangehörige des Arbeitnehmers geschützt.
Neben der Personenverkehrsfreiheit besteht die all-
gemeine Freizügigkeit innerhalb der Europäischen
Union, welche in Artikel 21 des AEU-Vertrages nor-
miert ist. Da die Personenverkehrsfreiheit aber expan-
siv ausgelegt wird, bringt die allgemeine Freizügigkeit
in der Praxis kaum erweiterte Rechte.
Eingeschränkt sind Arbeitnehmerfreizügigkeit und
Niederlassungsfreiheit durch Übergangsfristen, die
neuen Mitgliedsstaaten der Osterweiterung betref-
fend. Bis zu sieben Jahre nach Beitritt dieser Staaten
sind die Freiheiten im Anwendungsbereich beschränkt
oder außer Kraft gesetzt.
bb) Freizügigkeit der Arbeitnehmer, Artikel 45 bis 48
AEUV
Zentrales Element für die Arbeitnehmerfreizügigkeit
ist die freie Wahl des Arbeitsplatzes. Zunächst können
daher nur Arbeitnehmer mit Staatsangehörigkeit
eines Mitgliedsstaates (also Unionsbürger) in den
Genuss der Rechte aus der Arbeitnehmerfreizügigkeit
kommen. Neben ihnen können aber auch noch andere
Personen diese Rechte ausüben, wenn sie mit dem
Arbeitnehmer in einer Verbindung stehen. Diese
abgeleiteten Rechte stehen insbesondere Familien-
angehörigen des Arbeitnehmers zu.
Bezüglich der Arbeitnehmerfreizügigkeit können also
folgende Personengruppen unterteilt werden:
Arbeitnehmer, wovon Wanderarbeitnehmer
und Grenzgänger umfasst werden. Der EuGH
hat den Arbeitnehmerbegriff unionsrechtlich
definiert als jeder, der weisungsgebunden
(abhängig) für einen anderen tätig ist und
dafür eine Entlohnung oder Gegenleistung
erhält. Die Entlohnung oder Gegenleistung
muss jedoch nicht notwendig zur Bestreitung
des Lebensunterhaltes des Arbeitnehmers
verwendet werden;
Vor-Arbeitnehmer, worunter zukünftige Ar-
beitnehmer zu verstehen sind, die sich noch
in der Ausbildung befinden. Sie sind nicht
durch die Arbeitnehmerfreizügigkeit ge-
schützt;
Familienangehörige, welche sowohl privile-
giert (durch die Arbeitnehmerfreizügigkeit
geschützt) als auch nichtprivilegiert (nicht
durch die Arbeitnehmerfreizügigkeit ge-
schützt) sein können. Nicht jeder Familienan-
gehörige kann sich also auch auf die Arbeit-
nehmerfreizügigkeit berufen, sowie
sonstige Personen, welche nicht unter die Ar-
beitnehmerfreizügigkeit fallen, entweder weil
sie Inländer sind (da in diesem Fall kein
grenzüberschreitender Sachverhalt vorliegt)
oder aber Angehörige eines Drittstaates.
Die Arbeitnehmerfreizügigkeit findet sich im Kern in
Artikel 45 des AEU-Vertrages. Daneben bestehen ele-
mentare Sekundärrechtsquellen zur Freizügigkeit der
Arbeitnehmer, welche die Freizügigkeit näher konkre-
tisieren und ihren Anwendungsbereich erweitern.
Neben den Verordnungen 1612/68 und 1251/70 ist
vor allem die Richtlinie 2004/38 von Relevanz. Diese
Richtlinie hat die beiden genannten Verordnungen
geändert und an die Gegenwart angepasst. Zudem hat
-
8
sie Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Arbeit-
nehmer und deren Familienangehörige aufgehoben
und ein Aufenthaltsrecht von Studenten begründet.
Die Arbeitnehmerfreizügigkeit verleiht den Berechtig-
ten verschiedene Rechtspositionen.
- Zunächst hat der Arbeitnehmer ein Ausreise-
recht aus seinem Heimatstaat. Kein Mit-
gliedsstaat kann also einen Arbeitnehmer, der
gerne in einem anderen Staat der Union ar-
beiten möchte, auf seinem Staatsgebiet fest-
halten, etwa mit dem Argument, es bestünde
gerade ein Mangel an Arbeitskräften.
- Parallel zum Ausreiserecht hat der Arbeit-
nehmer auch ein Einreise- und Aufenthalts-
recht in den anderen Mitgliedsstaaten. Die
anderen Staaten dürfen ihn also nicht an der
Grenze zurückweisen oder ihm den Aufent-
halt in ihrem Staatsgebiet verweigern. Davon
sind auch Arbeitssuchende umfasst. Ihre
Aufenthaltsdauer ist allerdings auf sechs Mo-
nate beschränkt. Finden sie in dieser Zeit kei-
ne Arbeitsstelle beziehungsweise besteht
dann keine konkrete Aussicht auf eine solche,
können sie sich nicht mehr auf die Arbeit-
nehmerfreizügigkeit berufen. In diesem Fall
wäre aber das allgemeine Freizügigkeitsrecht
aus Artikel 21 AEUV zu beachten, so dass der
Arbeitssuchende weiter in dem Staat verblei-
ben kann. Nur jene Rechte, welche die Ar-
beitnehmerfreizügigkeit konkret gewährt
(siehe unten), entfallen in einem solchen Fall.
Das Einreise- und Aufenthaltsrecht steht
auch den (privilegierten) Familienangehöri-
gen eines Arbeitnehmers zu, solange der Ar-
beitnehmer dieses Recht ebenfalls geltend
machen kann. Das Recht gilt zunächst wäh-
rend der gesamten Dauer des Arbeitsver-
hältnisses sowie nach dessen Beendigung für
weitere sechs Monate fort. – Das Recht zur
Einreise und zum Aufenthalt ist jedoch von
der Vorlage eines gültigen Personalausweises
abhängig. Pflichten zur Meldung bei den Be-
hörden des Aufenthaltsstaates sind zwar zu-
lässig, aber grundsätzlich keine Vorausset-
zung für die Erteilung des Aufenthaltsrechts.
Daher müssen Sanktionen im Fall der Nichter-
füllung von Meldepflichten durch den Arbeit-
nehmer oder seine Familienangehörigen im-
mer verhältnismäßig sein. Vor allem ist in der
Regel eine Ausweisung aus dem Aufenthalts-
staat nicht zulässig.
- Daneben hat der Arbeitnehmer ein Recht auf
Gleichbehandlung beim Zugang zur Beschäf-
tigung. Es darf ihm also im Verhältnis zu in-
ländischen Arbeitnehmern nicht erschwert
(oder sogar unmöglich) sein, ein Arbeitsver-
hältnis aufzunehmen. Das Recht zur Gleich-
behandlung beinhaltet unter anderem auch
eine Hilfestellung bei der Arbeitssuche (zum
Beispiel durch Job Center). Einschränkungen
für den ausländischen Arbeitnehmer beim
Berufszugang sind grundsätzlich unzulässig.
Eine Ausnahme bildet jedoch der Nachweis
erforderlicher Sprachkenntnisse durch den
Arbeitnehmer.
- Auch bei der Ausübung der Beschäftigung
hat der Arbeitnehmer ein Recht auf Gleich-
behandlung. Dieses erstreckt sich auch auf
den Arbeitsuchenden. Demnach muss ein
ausländischer Arbeitnehmer den Inländern
gleichgestellt werden. Dies gilt beispielsweise
für Arbeitsbedingungen wie Arbeitszeiten,
Löhne oder die Anzahl der Urlaubstage (s. Ar-
tikel 45 Absatz 2 AEUV). Eingeschränkt wird
dieses Gebot jedoch dadurch, dass es im pri-
vatrechtlichen Bereich nur hinsichtlich kol-
lektiver Regelungen (Tarifverträge) gilt. Ein-
zelne Arbeitsverträge zwischen einem Arbeit-
geber und einem EU-ausländischen Arbeit-
nehmer, welche diesem gegenüber Inländern
weniger attraktive Klauseln beinhaltet (z.B.
eine niedrigere Vergütung), sind also nicht
notwendig rechtswidrig (Grundsatz der Ver-
tragsfreiheit). Sehr deutlich tritt hier das
Problem der Inländerdiskriminierung zutage:
das Recht auf Gleichbehandlung bei Aus-
übung der Beschäftigung findet nämlich keine
Anwendung auf Inländer, die ihren Wohnsitz
in einen anderen Mitgliedsstaat verlegen,
aber weiterhin in ihrem Heimatstaat arbeiten.
Zieht also beispielsweise ein Saarländer, wel-
cher an der Grenze zu Frankreich wohnt, in
seinen Nachbarort in Frankreich, arbeitet
aber weiterhin im Saarland, kann er sich nicht
auf das Recht auf Gleichbehandlung berufen.
– Das Recht auf Gleichbehandlung bei der
Ausübung der Beschäftigung gilt auch für so-
ziale Vergünstigungen, und zwar auch für die
Zeit der Arbeitssuche. Soziale Vergünstigun-
gen sind allerdings vom System der sozialen
Sicherung (wie Rente, Krankenversicherung
etc.) zu unterscheiden. Diese Systeme fallen
nicht unter das Inländergleichbehandlungs-
-
9
gebot, dafür existiert aber auf Grundlage von
VO 883/2004 ein System der Koordinierung
der verschiedenen Sozialversicherungsleis-
tungen.
- Letztlich bestehen die Sonderrechte der (pri-
vilegierten) Familienangehörigen des Arbeit-
nehmers. Diese dürfen also nicht nur gemein-
sam mit diesem einreisen und sich im Mit-
gliedsstaat aufhalten. Vielmehr haben sie
darüber hinaus ein Recht zur Teilnahme an
Ausbildungsmöglichkeiten des Aufnahmes-
taats unter gleichen Bedingungen wie Inlän-
der. Dieser unionsrechtliche Schutz geht bei-
spielsweise weiter als der Schutz der Ehe und
Familie in der Bundesrepublik Deutschland,
welcher im Grundgesetz verankert ist!
Von den vorgenannten Berechtigten sind Ausbil-
dungswillige und Vor-Arbeitnehmer zu unterscheiden,
also diejenigen, die (noch) keine Arbeitnehmer (und
auch keine Familienangehörigen solcher) sind. Bei
ihnen ergibt sich das Verbot der Diskriminierung aus
dem allgemeinen Diskriminierungsverbot des Artikels
18 AEUV. Sie könne sich aber nicht direkt auf die Rech-
te, welche die Arbeitnehmerfreizügigkeit gewährt,
berufen. Für Studenten gilt zudem das Aufenthalts-
recht im Aufnahmestaat aus der vorgenannten Richtli-
nie 2004/38.
Die Arbeitnehmerfreizügigkeit wird jedoch nicht unbe-
schränkt gewährt. Stattdessen existieren Ausnahmen,
nach denen die Einreise oder Verlängerung des Auf-
enthalts verweigert werden oder sogar die Ausreise
verlangt werden darf. Weitere Diskriminierungen sind
jedoch nicht möglich. Eine Beschränkung der Arbeit-
nehmerfreizügigkeit ist möglich zum Schutz der öf-
fentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit (Arti-
kel 45 Absatz 3 AEUV). Wie jede Ausnahmeregelung
wird auch diese vom EuGH restriktiv ausgelegt: Zu-
nächst muss eine tatsächliche, hinreichend schwer-
wiegende Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und
Ordnung vorliegen und es muss von der betroffenen
Person ein Verhalten zu erwarten sein, welches eine
hinreichende Gefährdung eines Grundinteresses der
Gesellschaft im Aufenthaltsstaat nahelegt. Auch hier
gilt, dass das Verhältnismäßigkeitsprinzip gewahrt
werden muss. Generalpräventive Abschreckungs-
maßnahmen sind völlig unzulässig.
Eine weitere Ausnahme von der Arbeitnehmerfreizü-
gigkeit besteht im Gebiet der öffentlichen Verwal-
tung: demnach findet die Freizügigkeit der Arbeit-
nehmer dort grundsätzlich keine Anwendung (Artikel
45 Absatz 4 AEUV). Auch hier erfolgt allerdings eine
restriktive Auslegung durch den Europäischen Ge-
richtshof: die von der Arbeitnehmerfreizügigkeit aus-
genommene Tätigkeit muss einen typisch hoheitlichen
Charakter haben, zum Beispiel Tätigkeiten bei der
Polizei oder im Gerichtswesen. Tätigkeiten, die zwar
im öffentlichen Bereich erfolgen, aber nicht typi-
scherweise der öffentlichen Verwaltung zuzurechnen
sind, unterfallen hingegen der Arbeitnehmerfreizügig-
keit, beispielsweise Lehramtsreferendare. Auch Tätig-
keiten, welche möglicherweise mit der Ausübung von
Hoheitsgewalt verbunden sein können, dies aber pri-
mär nicht zum Inhalt haben (z.B. Kapitäne auf Über-
seeschiffen), haben keinen typisch hoheitlichen Cha-
rakter und unterfallen somit der Arbeitnehmerfreizü-
gigkeit.
cc) Niederlassungsfreiheit, Artikel 49 bis 55 AEUV
Die Niederlassungsfreiheit ist die zweite Komponente
der Personenverkehrsfreiheit. Im Gegensatz zur Ar-
beitnehmerfreizügigkeit, welche ja gerade Arbeitneh-
mer als weisungsgebunden Tätige berechtigt, findet
sie Anwendung auf
- Selbstständige sowie auf
- Gesellschaften (juristische Personen), welche
nach den Rechtsvorschriften eines Mitglieds-
staates gegründet sind und ihren Sitz, ihre
Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlas-
sung im Unionsgebiet haben (Artikel 54
AEUV).
Die Niederlassungsfreiheit schützt demnach gemäß
Artikel 49 Absatz 2 AEUV die
- Aufnahme und Ausübung selbstständiger
Erwerbstätigkeiten sowie die
- Gründung und Leitung von Unternehmen
nach den Bestimmungen des Aufnahmestaa-
tes.
Die Niederlassungsfreiheit muss dabei von der Dienst-
leistungsfreiheit abgegrenzt werden. Dies ist im Einzel-
fall kompliziert, als Faustregel kann man jedoch auf
das Merkmal der Dauerhaftigkeit zurückgreifen: wer
eine Dienstleistung erbringt, tut dies in der Regel nur
über einen begrenzten Zeitraum. Wer sich jedoch
irgendwo niederlassen möchte oder eine juristische
Person zu gründen vorhat, orientiert sich hingegen in
der Regel an einer dauerhaften, also nicht nur vo-
rübergehenden, Erwerbs- oder Unternehmenstätig-
keit.
-
10
Die Niederlassungsfreiheit richtet sich vor allem gegen
solche nationale Berufsregelungen, welche für EU-
Ausländer eine praktische Beschränkung der Möglich-
keit zur Aufnahme und Ausübung selbstständiger Er-
werbstätigkeiten im jeweiligen Staat darstellen (zum
Beispiel Regelungen zur Zulassung zum Rechtsanwalt),
aber auch gegen solche Regelungen, die die Gründung
einer Gesellschaft, einer Zweigstelle, Tochterfirma
oder ähnliches (vgl. Artikel 49 Absatz 1 Satz 2 AEUV)
durch Unionsbürger oder juristische Personen aus
einem Mitgliedsstaat erschweren oder unmöglich
machen.
Wie die anderen Grundfreiheiten auch, kann die Nie-
derlassungsfreiheit beschränkt werden. So sind Aus-
nahmen möglich zum Schutz der öffentlichen Ord-
nung, Sicherheit und Gesundheit (Artikel 52 AEUV)
und hinsichtlich der Ausübung öffentlicher Gewalt
(Artikel 51 AEUV). Bezüglich letzterem findet die Nie-
derlassungsfreiheit keine Anwendung. Dies betrifft vor
allem Notare. Im Sinne der ursprünglich für die Wa-
renverkehrsfreiheit aufgestellten Cassis-de-Dijon-
Formel sind darüber hinaus Ausnahmen auch aus
zwingenden Gründen des Allgemeinwohls möglich.
Ein wichtiges Mittel zum Abbau von Diskriminierungen
existiert auf Ebene des sekundären Unionsrechts: Mit
Richtlinien für die gegenseitige Anerkennung von
Diplomen und Zeugnissen soll die Aufnahme und
Ausübung selbstständiger Tätigkeiten in einem ande-
ren Mitgliedstaat erleichtert werden (vgl. Artikel 53
AEUV).
Einige Probleme ergeben sich hinsichtlich der Nieder-
lassungsfreiheit von Gesellschaften. Bezüglich der
Ausübung der „primären“ Niederlassungsfreiheit
(also die Zulässigkeit einer Sitzverlegung als Ganzes)
hat der EuGH in der Rechtssache Daily Mail (81/87)
entschieden, dass eine solche ausdrücklich unter dem
Vorbehalt nationaler Rechte steht. In einem solchen
Fall scheint eine Beschränkung der Niederlassungs-
freiheit also zulässig. In der Rechtssache Daily Mail
ging es allerdings um den Wegzug einer Gesellschaft in
einen anderen Staat, vergleichbar dem Recht auf Aus-
reise eines Arbeitnehmers. In der Entscheidung Über-
seering (Rs. 208/00) hatte der Gerichtshof weiterhin
entschieden, dass Gesellschaften das Recht zum Zuzug
in einen Mitgliedsstaat aus der Niederlassungsfreiheit
geltend machen können. Ob der EuGH mit dieser Ent-
scheidung sein Daily-Mail-Urteil teilweise verworfen
oder aber sogar bestätigt hat, blieb mit dem Übersee-
ring-Urteil unklar. Es ist also nicht sicher, ob Gesell-
schaften in Bezug auf die primäre Niederlassungs-
freiheit nur ein begrenztes Recht auf Zuzug in einen
anderen Mitgliedsstaat geltend machen können oder
auch ein Recht auf Wegzug aus ihrem bisherigen
Sitzstaat. Mit seinem unerwarteten Urteil in der Rs.
Cartesio (C-210/06) scheint der Gerichtshof ein solches
Recht auf Wegzug abzulehnen. – Unklar ist auch, in
welchem Staat eine Gesellschaft überhaupt ihren Sitz
hat, wenn die Staaten der Gründung und des Sitzes
unterschiedlich sind. In Frage kommt der Staat der
Gründung der Gesellschaft (Gründungstheorie) oder
der Staat, in dem die Gesellschaft ihren (Haupt-)Sitz
hat, von dem aus also die Firmenaktivitäten gesteuert
werden (Sitztheorie). Mit seinem Urteil Überseering
tendierte der EuGH allerdings wohl zur Gründungs-
theorie. Mit dem Urteil Cartesio hat der Gerichtshof
nun allerdings erneut eine Kehrtwende (wohl) zurück
zur Sitztheorie vollzogen. – Seit dem Oktober 2004
besteht für Unternehmer die Möglichkeit, den geschil-
derten Problemen mit der Gründung einer europäi-
schen Gesellschaft, einer „Societas Europae“ (S.E.),
aus dem Weg zu gehen. Für eine solche S.E. gelten
nämlich unionsweit einheitliche Voraussetzungen.
c) Die Dienstleistungsfreiheit, Artikel 56 bis 62 AEUV
Die Dienstleistungsfreiheit, welche im Dritten Teil,
Titel IV, Kapitel 3 des EGV (Artikel 56 bis 62) normiert
ist, hat die Funktion eines Auffangtatbestandes. Sie
greift erst dort, wo die Waren-, Personen- oder Kapi-
talverkehrsfreiheiten keine Anwendung finden. Sie ist
also gegenüber den letztgenannten subsidiär. Auf-
grund dessen ist eine Abgrenzung der Dienstleistungs-
freiheit zu den anderen Grundfreiheiten erforderlich.
Zur Arbeitnehmerfreizügigkeit kann festgestellt wer-
den, dass diese weisungsgebundene Tätigkeiten um-
fasst, während die Dienstleistungsfreiheit selbststän-
dige Tätigkeiten schützt. Die Dienstleistungsfreiheit ist
damit der Niederlassungsfreiheit nahe. Während die
Freiheit der Niederlassung jedoch stets auf eine dau-
erhafte Ausübung der mit ihr verbundenen Tätigkeiten
gerichtet ist, hat die Dienstleistungsfreiheit lediglich
vorübergehende Tätigkeiten zum Gegenstand. Das
beinhaltet auch mehrere gleichartige Dienstleistun-
gen, die über einen Zeitraum von vielen Jahren erfol-
gen, zum Beispiel Waschmaschinenreparaturen, die
ein saarländischer Elektroinstallateur regelmäßig in
grenznahen französischen Orten durchführt. Bezüglich
der Warenverkehrsfreiheit gilt, dass auf den Schwer-
punkt der betroffenen Handlung abgestellt werden
muss. So erbringt das Speditionsunternehmen, wel-
-
11
ches regelmäßig spanisches Obst nach Frankreich
transportiert, auch eine Dienstleistung. In erster Linie
handelt es sich aber um einen Transport von Waren
mit eigenem wirtschaftlichem Interesse, so dass die
Warenverkehrsfreiheit Anwendung findet. Als weite-
res Beispiel mag ein Maler dienen, der zur Erfüllung
seines Auftrags seine eigene Farbe mitbringt. Hier hat
das Mitbringen der Farbe kein eigenes wirtschaftliches
Interesse. Der Maler bringt die Farbe lediglich mit, um
damit Wände zu streichen, sie also zur Erfüllung seines
Auftrags zu verwenden. Somit ist das Mitbringen der
Farbe ein bloßer Annex zur Dienstleistung, dem Strei-
chen der Wände.
Was eine Dienstleistung ist, ist in Artikel 57 AEUV
definiert. Demnach sind Dienstleistungen solche
selbstständigen wirtschaftlichen Leistungen, die in
der Regel gegen Entgelt erbracht werden, insbeson-
dere gewerbliche, kaufmännische, handwerkliche
und freiberufliche Tätigkeiten.
Es muss, wie bei den anderen Grundfreiheiten, immer
ein grenzüberschreitender Sachverhalt vorliegen.
Daraus ergeben sich für die Dienstleistungsfreiheit
folgende Fallkonstellationen:
Aktive / positive Dienstleistungsfreiheit – der
Dienstleistungserbringer begibt sich in den
Mitgliedsstaat des Dienstleistungsempfän-
gers. Beispiele: der Elektroinstallateur aus
dem Saarland fährt nach Frankreich, um dort
Waschmaschinen zu reparieren; ein polni-
sches Bauunternehmen begibt sich nach
Deutschland, um dort ein Haus zu errichten.
Passive / negative Dienstleistungsfreiheit –
der Dienstleistungsempfänger begibt sich in
den Mitgliedsstaat des Dienstleistungser-
bringers. Beispiele: ein britischer Tourist fährt
nach Spanien in den Urlaub (Hotel, Restau-
rant, Mietwagen etc.); ein Belgier begibt sich
nach Deutschland, um dort zum Zahnarzt o-
der zum Friseur zu gehen; Musikfans aus Lett-
land, Malta, Ungarn und Italien fliegen nach
Manchester, um dort ein Konzert der Gruppe
Oasis zu sehen.
Korrespondenzdienstleistung – nur die
Dienstleistung überschreitet die Grenze, Er-
bringer und Empfänger bleiben in ihrem je-
weiligen Mitgliedsstaat. Beispiele: Rundfunk-
und Fernsehprogramm; ein deutscher Euro-
parechts-Rechtsanwalt sendet ein Beratungs-
schreiben an einen Klienten in Brüssel.
Rein innerstaatliche Sachverhalte unterfallen der
Dienstleistungsfreiheit nicht. Auch in dem Fall, dass
eine Dienstleistung zwischen Ansässigen eines Mit-
gliedsstaates erbracht wird, das Entgelt jedoch auf ein
ausländisches Konto überwiesen wird, fehlt es am
grenzüberschreitenden Element der Dienstleistung
(zu denken ist dann aber an den freien Kapital- und
Zahlungsverkehr). Zudem muss mindestens entweder
der Erbringer oder Empfänger der Dienstleistung (oder
beide) die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedsstaats
besitzen. Ein algerischer Friseur, welcher seinen Salon
in Frankreich betreibt, kann also einem im Saarland
wohnenden chinesischen Staatsbürger die Haare
schneiden, ohne dass die Dienstleistungsfreiheit An-
wendung findet. Für Unternehmen gilt, dass ihr
Hauptsitz im Unionsgebiet liegen muss.
Die Dienstleistungsfreiheit enthält ein Verbot von
Beschränkungen für den Dienstleistungsverkehr in-
nerhalb der EU. Dieses Verbot umfasst nicht nur Dis-
kriminierungen, sondern auch sonstige Beschränkun-
gen. Der Anwendungsbereich und Schutzumfang der
Dienstleistungsfreiheit ist nach und nach erweitert
worden, einmal durch Rechtsprechung des EuGH,
daneben durch Sekundärrecht. Aktuell ist die Dienst-
leistungsrichtlinie 2006/123/EG von großer Relevanz,
welche Ende 2009 von den Mitgliedsstaaten umzuset-
zen war, wobei die Umsetzung in einigen Mitgliedstaa-
ten allerdings noch immer nicht erfolgt ist. Diskutiert
wird derzeit darüber, welche Sozialleistungen der
Dienstleistungsfreiheit unterfallen. Frei erbringbare
medizinische Leistungen (nichtstationärer Arztbesuch
etc.) fallen unter die Dienstleistungsfreiheit, stationäre
Krankenhausaufenthalte (wegen Operationen oder
ähnlichem) hingegen nicht. Auch die genannte Dienst-
leistungsrichtlinie schafft keine Klarheit oder Abhilfe,
da der Gesundheitssektor völlig aus ihr herausge-
nommen ist. Da das Ziel der Richtlinie jedoch die
Schaffung eines Binnenmarktes für Dienstleistungen
ist, ist anzunehmen, dass in einem nächsten Schritt
auch der gesamte Gesundheitssektor der Dienstleis-
tungsfreiheit unterstellt wird.
Auch die Dienstleistungsfreiheit gilt jedoch nicht un-
beschränkt. Neben Beschränkungen aus Gründen der
öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit
(über Artikel 62 AEUV findet Artikel 52 AEUV Anwen-
dung) sind zudem gemäß dem Gerichtshof Beschrän-
kungen zum Schutz überragender Allgemeininteres-
sen wie Umwelt-, Daten- oder Verbraucherschutz
möglich. Letzteres entspricht der Cassis-de-Dijon-
Formel. Im Bereich der Ausübung der öffentlichen
Gewalt findet die Dienstleistungsfreiheit konsequen-
-
12
terweise keine Anwendung (Beispiel: Beurkundungs-
pflicht durch einen Notar in Deutschland) (hier findet
über Artikel 62 AEUV Artikel 51 AEUV Anwendung).
Weiterhin unterfallen Dienstleistungen in den Berei-
chen Verkehr und Kapitalverkehr nicht den Vorschrif-
ten über die Dienstleistungsfreiheit sondern anderen,
speziellen primärrechtlichen Vorschriften. Für den
Kapitalverkehr, welcher selbst eine Grundfreiheit dar-
stellt, sind die die Vorschriften der Artikel 63 bis 66
AEUV maßgeblich; für den Verkehr finden sich speziel-
le Vorschriften im Dritten Teil, Titel VI des AEUV (Arti-
kel 90 bis 100).
d) Kapitalverkehrsfreiheit und freier Zahlungsverkehr,
Art. 63 bis 66 AEUV
Die vierte Grundfreiheit ist die Kapitalverkehrsfrei-
heit. Sie steht in engem Zusammenhang mit dem
freien Zahlungsverkehr, der vorzugsweise als Annex-
freiheit zu den Grundfreiheiten angesehen wird: man
spricht in diesem Zusammenhang auch vom „echten“
und „unechten Kapitalverkehr“. Letzterer –der Zah-
lungsverkehr– ist lediglich die entgeltliche Gegenleis-
tung für eine Leistung, die im Rahmen der anderen
Grundfreiheiten erbracht wurde, beispielsweise für
eine Dienstleistung.
Der echte Kapitalverkehr betrifft die einseitige Wer-
tübertragung aus einem Mitgliedstaat in den ande-
ren. Zumeist geht es dabei um Vermögensanlagen wie
Immobilieninvestitionen oder Unternehmensbeteili-
gungen. Erfasst sind aber auch Schenkungen oder
Erbschaften.
Die Freiheit von Kapital- und Zahlungsverkehr verbie-
tet alle diesbezüglichen Beschränkungen. Der AEUV
sieht jedoch enumerativ Ausnahmen vom Beschrän-
kungsverbot in seinen Artikeln 64, 143 und 144 vor.
Eine weitere Ausnahme findet sich in Artikel 3 der
Richtlinie 88/361. Diese Ausnahmen greifen zumeist
bei Zahlungsbilanzschwierigkeiten der Mitgliedsstaa-
ten sowie bei mitgliedsstaatlichen Beschränkungen
aufgrund nationalen Steuer- oder Ordnungsrechts.
3. Prüfungsschema Freier Warenverkehr
Vorprüfung: kein abschließendes Sekundärrecht
I. Schutzbereich Art.34 AEUV
1. Sachlicher Schutzbereich : Ware im Sinne des Art. 28 Abs. 2 AEUV. Definition: Alle, nicht notwendigerweise
körperlichen, Gegenstände, die im Hinblick auf Handelsgeschäfte über eine Grenze zwischen den
Mitgliedstaaten verbracht werden, ohne Rücksicht auf die Natur dieser Geschäfte (extensives Verständnis:
alles, was handelbar ist)
Kürzer: Alle körperlichen oder messbaren Gegenstände, die einen Geldwert haben und daher Gegenstand
von Handelsgeschäften sein können.
2. Räumlicher Schutzbereich: Grenzüberschreitender Bezug
3. Vorsicht: kein persönlicher Schutzbereich, da WVF sachbezogen und nicht personenbezogen ist.
II. Eingriff
1. Handeln des Staates: nationale, staatliche Maßnahme: z.B. ein mitgliedstaatliches Gesetz
2. Art. 30 AEUV
3. Art. 34, 35 AEUV mengenmäßige Ein- und Ausführbeschränkung
4. Maßnahme gleicher Wirkung wie mengenmäßige Einfuhrbeschränkung = Dassonville: Definition: Jede
Handelsregelung der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder
mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern, ist als Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine
mengenmäßige Beschränkung anzusehen: Potentielle Behinderung durch Inhaltsangabe
5. Tatbestandsausschluss durch Keck? Eine Maßnahme gleicher Wirkung liegt nicht vor, wenn die nationale
Regelung vertriebsbezogen ist und für alle im Inland tätigen Wirtschaftsteilnehmer unterschiedslos gilt und
-
13
den Absatz inländischer und aus anderen MS stammender Erzeugnisse rechtlich wie tatsächlich
gleichermaßen berührt.
Achtung: Drei-Stufen-Test durch EuGH eingeführt, Bsp-Fall: Krad-Anhänger (C-110/05)
Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen i.S.v. Art. 34 AEUV:
1. Maßnahmen eines Mitgliedstaats, mit denen bezweckt oder bewirkt wird, Erzeugnisse aus anderen
Mitgliedstaaten weniger günstig zu behandeln [Diskriminierung ausländischer Waren] oder
2. Hemmnisse für den freien Warenverkehr, die sich in Ermangelung einer Harmonisierung der
Rechtsvorschriften daraus ergeben, dass Waren aus anderen Mitgliedstaaten, die dort rechtmäßig
hergestellt und in den Verkehr gebracht worden sind, bestimmten (produktbezogenen) Vorschriften
entsprechen müssen, selbst wenn diese Vorschriften unterschiedslos für alle Erzeugnisse gelten,
oder
3. jede sonstige Maßnahme (z.B. Vertriebs- oder Benutzungsbeschränkung), die den Zugang zum Markt
eines Mitgliedstaats für Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten behindert
III Rechtfertigung
1. geschriebene Rechtfertigungsgründe des Art.36 S.1 AEUV
a) Bei allen, auch offen diskriminierenden Maßnahmen
b) Verhältnismäßigkeitsprüfung (legitimer Zweck, Geeignetheit, Erforderlichkeit)
2. ungeschriebene Rechtfertigungsgründe: Cassis-Formel: Voraussetzungen
a) Unterschiedslos geltende Maßnahme bzw. versteckte Diskriminierung
b) Zwingende Erfordernisse des Gemeinwohls (nicht erschöpfend): Lauterkeit des Handelsverkehrs, Erfor-
dernisse effektiver steuerlicher Kontrolle, Umweltschutz, Verbraucherschutz
c) Verhältnismäßigkeitsprüfung (legitimer Zweck, Geeignetheit, Erforderlichkeit)
3. eventuell: Rechtfertigung aus Gründen des Grundrechtsschutzes
Abwägung: Vorrang des Grundrechts oder der Grundfreiheit im konkreten Fall?
4. Prüfungsschema Arbeitnehmerfreizügigkeit
Vorprüfung: kein abschließendes Sekundärrecht
I. Eröffnung des Schutzbereichs
1. Persönlich: EU-Arbeitnehmer / Staatsangehöriger eines MS
Def. Arbeitnehmer = Person aus einem Mitgliedstaat, die unselbstständig für jemand anderen nach dessen
Weisungen Leistungen erbringt, für die sie als Gegenleistung eine Vergütung erhält.
2. Räumlich: Grenzüberschreitender Bezug
3. Keine Bereichsausnahme nach Art. 45 Abs. 4 AEUV: Öffentliche Verwaltung
II. Eingriff in den Schutzbereich
1. Beeinträchtigende Maßnahme
Die Grundfreiheiten sind zunächst an die Staaten als Verpflichtete gerichtet
-
14
ggf. auch durch Regelungen Privater (intermediäre Gewalten, kollektive Regelung unselbständiger Arbeit)
- Art. 45 AEUV sei allgemein formuliert und richte sich nicht speziell an die MS.
- Effet utile, Wahrung der einheitlichen Anwendbarkeit des Unionsrechts
- Es soll eine nichtdiskriminierende Behandlung auf dem Arbeitsmarkt gewährleistet werden. Dies
verdeutliche auch Art. 18 AEUV und Art. 157 AEUV.
2. Auf der Staatsangehörigkeit beruhende unterschiedliche Behandlung als offene oder versteckte
Diskriminierung
Exkurs: Diskriminierungsfreier Eingriff – Art. 45 AEUV als allgemeines Beschränkungsverbot i.S.d.
Dassonville-Formel (Gebhard-Formel)?
(P): Anwendbarkeit des allgemeinen Beschränkungsverbots auf die ANF?
(+) Bestimmungen, die einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats daran hindern oder davon abhalten,
sein Herkunftsland zu verlassen, um von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen, stellen
Beeinträchtigungen dieser Freiheit dar, auch wenn sie unabhängig von der Staatsangehörigkeit der
betroffenen Arbeitnehmer Anwendung finden (vgl. Bosman)
III. Rechtfertigung:
1. Geschriebene Rechtfertigungsgründe Art. 45 Abs. 3 AEUV
2. Ungeschriebene Rechtfertigungsgründe („Cassis de Dijon“ - Formel) gibt es auch bei ANF (durch Rs. Bosman
übertragen):
a) Unterschiedslos geltende Maßnahme bzw. indirekte Diskriminierung
b) Zwingende Erfordernisse des Gemeinwohls (nicht erschöpfend):
- Problematisch, ob die ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe bei indirekter Diskriminierung (oder sogar
bei vertretbar angenommener direkter Diskriminierung) Anwendung finden
- Allerdings ist zu beachten, dass Private gerade nicht im Allgemeininteresse handeln.
- Der EuGH stellt daher auf sachliche Gründe ab, die die Regelung rechtfertigen können; hier:
Sicherstellung von Sprachkenntnissen
c) Verhältnismäßigkeitsprüfung (legitimer Zweck, Geeignetheit, Erforderlichkeit)
5. Prüfungsschema Niederlassungsfreiheit
Vorprüfung: kein abschließendes Sekundärrecht
I. Eröffnung des Schutzbereichs
1. Sachlich: tatsächliche Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mittels einer festen Einrichtung auf unbestimmte Zeit. Nach Art. 49 II AEUV umfasst die Niederlassungsfreiheit die Aufnahme und Ausübung selbständiger Erwerbstätigkeit. Mit dem Merkmal der selbstständigen Tätigkeit wird die Niederlassungsfreiheit zudem von der Arbeitnehmerfreizügigkeit abgegrenzt.
2. Bereichsausnahme nach Art. 51 AEUV? öffentliche Gewalt: Nach dem EuGH ist Art 51 (und auch die entsprechenden Ausnahmen bei den anderen Grundfreiheiten) restriktiv auszulegen die Bereichsausnahme erfasst daher keine ganzen Berufe, sondern nur bestimmte Tätigkeiten, die unmittelbar und spezifisch mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind.
-
15
3. Räumlich: grenzüberschreitender Bezug (+)
II. Eingriff Jede Diskriminierung stellt einen Eingriff in die Niederlassungsfreiheit dar. Der EuGH sieht seit dem Gebhard-Fall auch solche nationalen Maßnahmen als Beschränkungen der NLF an, die die Ausübung der durch den Vertrag garantierten grundlegenden Freiheiten behindern oder weniger attraktiv machen können.
III. Rechtfertigung
1. Geschriebene Rechtfertigungsgründe, Art. 52
Eine Rechtfertigung ist dann möglich, wenn es die öffentliche Sicherheit, Ordnung und Gesundheit fordert und wenn die Maßnahme verhältnismäßig ist. Die öffentliche Sicherheit und Ordnung kann allerdings nur geltend gemacht, werden, wenn eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. a) Bei allen, auch offen diskriminierenden Maßnahmen
b) Verhältnismäßigkeitsprüfung (legitimer Zweck, Geeignetheit, Erforderlichkeit)
2. Ungeschriebene Rechtfertigungsgründe nach der Cassis-Formel: a) Unterschiedslos geltende Maßnahme bzw. versteckte Diskriminierung
b) Zwingende Erfordernisse des Gemeinwohls (nicht erschöpfend): Lauterkeit des Handelsverkehrs, Erfor-
dernisse effektiver steuerlicher Kontrolle, Umweltschutz, Verbraucherschutz
c) Verhältnismäßigkeitsprüfung (legitimer Zweck, Geeignetheit, Erforderlichkeit)
6. Prüfungsschema Dienstleistungsfreiheit
Vorprüfung: kein abschließendes Sekundärrecht
I. Schutzbereich
1. Persönlich: EU-Dienstleister: Natürliche Person od. Gesellschaft (Art.62, 54 AEUV)
2. Sachlich: Dienstleistung (siehe Art.57 AEUV) = Selbstständige Tätigkeit, i.d.R. gegen Entgelt und zeitlich begrenzt
ACHTUNG: Subsidiarität der DLF abgrenzen von anderen Freiheiten
- Von der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch das Merkmal der Selbständigkeit (dieses wird zwar in Art. 57 AEUV nicht ausdrücklich genannt, kann aber aus den Beispielen der Buchstaben a bis d herausgelesen werden)
- Von der Niederlassungsfreiheit durch das Merkmal der vorübergehenden Tätigkeit - Von der Warenverkehrsfreiheit dadurch, dass bei der DLF gerade keine körperlichen oder messbaren
Gegenstände, sondern „unsichtbare“ Leistungen gehandelt werden (Abgrenzungsprobleme bei Software etc.)
- In Grenzbereichen ist auf den wirtschaftlichen Schwerpunkt der Tätigkeit abzustellen!
3. Räumlich: Grenzüberschreitender Bezug - Aktiven Dienstleistungsfreiheit - Passiven Dienstleistungsfreiheit oder - Korrespondenzdienstleistung
4. Keine Bereichsausnahme nach Art.62, 51 AEUV: Ausübung öffentlicher Gewalt
-
16
II. Eingriff in den Schutzbereich
1. Nationale staatliche Maßnahme oder Maßnahme Privater
2. Offene oder versteckte Diskriminierung = auf der Staatsangehörigkeit beruhende unterschiedliche Behandlung
3. Diskriminierungsfreier Eingriff – Art. 56 AEUV als allgemeines Beschränkungsverbot? Durch „Übertragung“ der Dassonville-Formel in der Rs. C-76/90, „Säger/Dennemeyer“ (Slg. 1991, S. I- 4221) hat der EuGH auch die DLF als allgemeines Beschränkungsverbot ausgestaltet
DLF auch einschlägig, wenn unterschiedslos anwendbare Maßnahmen die Ausübung der DLF unterbinden, behindern oder weniger attraktiv machen.
4. Übertragung der Keck-Rspr. auf die DLF?:
Konsequenterweise musste dann auch die Reduktion i.S.v. Keck erfolgen (ausdrücklich in „Mobistar“, verb. Rs. C-544/03 u. C-545/03, Slg. 2005, S. I-7723; zuvor wohl aber auch schon in der Rs. „Alpine Investments“, C-384/93, Slg. 1995, S. I-1141.
Keine Beschränkungen i.S.d. Art.56 AEUV sind solche nationalen Bestimmungen, die Ausübungsmodalitäten von Dienstleistungen regeln, und für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer unterschiedslos gelten und das Erbringen wie Empfangen inländischer wie EU-ausländischer Dienstleistungen rechtlich wie tatsächlich in gleicher Weise betreffen.
III. Rechtfertigung
1. Geschriebene Rechtfertigungsgründe nach Art. 62 i.V.m. Art. 52 Abs. 1 AEUV Eingriffe in die DLF können aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt werden. 2. Ungeschriebene Rechtfertigungsgründe
a) Unterschiedslos geltende Maßnahme bzw. versteckte Diskriminierung
b) Zwingende Erfordernisse des Gemeinwohls (nicht erschöpfend): Lauterkeit des Handelsverkehrs, Er-
fordernisse effektiver steuerlicher Kontrolle, Umweltschutz, Verbraucherschutz
c) Verhältnismäßigkeitsprüfung (legitimer Zweck, Geeignetheit, Erforderlichkeit)
III. Wettbewerbspolitik der EU, Art. 101 ff. AEUV
1. Allgemeines
Die Wettbewerbspolitik der Union fällt – wie auch die
Zollunion, die Währungspolitik (für den Euroraum)
oder die Handelspolitik – in die ausschließliche Uni-
onszuständigkeit, Art. 3 Abs. 1 AEUV.
Die Vorschriften des Wettbewerbsrechts (Art. 101 ff.
AEUV) schützen primär den unverfälschten Wettbe-
werb. Daneben wird durch die EU-Wettbewerbspolitik
aber auch das Ziel des Verbraucherschutzes verfolgt.
Umfasst sind im Grundsatz Unternehmen und Unter-
nehmensvereinigungen, worunter wirtschaftlich täti-
ge juristische und natürliche Personen fallen. Erfasst
sind zudem auch öffentliche Unternehmen, also solche
des Staates, und –nach neuerer Rechtsprechung des
EuGH– auch die Mitgliedsstaaten. Sie alle sind durch
die Wettbewerbspolitik in erster Linie Verpflichtete,
aber auch Träger von Rechten.
Das Wettbewerbsrecht der Union gilt nur für wirt-
schaftliche Aktivitäten, die im Territorium der EU
Auswirkung haben. Nicht erfasst sind hingegen solche
Wirtschaftstätigkeiten, die ausschließlich in Drittstaa-
ten durchgeführt werden.
Zuständig ist die Kommission durch die Generaldirek-
tion Wettbewerb, welche weitgehende Durchfüh-
rungskompetenzen und Vollzugsbefugnisse hat. Die
Beamten dort überprüfen wettbewerbsrelevante
-
17
Sachverhalte und erlassen, wenn notwendig, Be-
schlüsse, um die Wettbewerbspolitik durchzuführen
und durchzusetzen, z.B. Genehmigungen staatlicher
Beihilfen, Genehmigungen von Fusionen von Unter-
nehmen oder Geldstrafen gegen Unternehmen wegen
wettbewerbsverzerrenden Verhaltens. Diese Beschlüs-
se können durch die Betroffenen vor dem EuGH (zu-
ständig dort ist das Europäische Gericht) im Rahmen
einer Nichtigkeitsklage (Art. 263 AEUV) angefochten
werden.
Politisch steht derzeit Margarete Vestager aus Däne-
mark als die für den Wettbewerb zuständige Kommis-
sarin an der Spitze der EU-Wettbewerbspolitik.
Hauptinstrumente der Wettbewerbspolitik sind
Kartellaufsicht;
Missbrauchsaufsicht;
Fusionskontrolle sowie
Beihilfenaufsicht.
Die EU-Wettbewerbspolitik ist in den vergangen Jah-
ren wiederholt reformiert worden. Mit dem Inkrafttre-
ten unter anderem der Kartellverfahrensordnung
1/2003, der Europäischen Fusionskontrollverordnung
sowie des Modernisation Package der Kommission
zum 1. Mai 2004 ist der Prozess im Wesentlichen ab-
geschlossen, wobei allerdings einige Teilbereiche des
Wettbewerbsrechts (z.B. zuletzt im Bereich PKW-
Verkauf, -Wartung und -Reparatur, in denen bisher
den Wettbewerb behindernde Sonderregelungen
galten) periodisch durch die Kommission überprüft
und wenn notwendig modifiziert werden. Somit befin-
det sich die Wettbewerbspolitik, den tatsächlichen
Umständen Rechnung tragend, in steter Weiterent-
wicklung. Der Vertrag von Lissabon hat primärrechtlich
nahezu keine Veränderungen im Bereich EU-
Wettbewerbspolitik mit sich gebracht. Sekundärrecht-
lich vorgesehene Rechtsakte – Verordnungen und
Richtlinien – ergehen in diesem Politikbereich in einem
besonderen Gesetzgebungsverfahren durch den Rat,
welcher auf Vorschlag der Kommission handelt; das EP
wird nur angehört.
Die Relevanz der Wettbewerbspolitik als -neben den
Grundfreiheiten und der Währungsunion- eine der
Stützen der EU-Wirtschaftspolitik zeigt sich immer
wieder an in den Medien prominent behandelten
Wettbewerbsverfahren vor allen gegen globale Unter-
nehmen, welche möglicherweise ihre marktbeherr-
schende Stellung missbraucht haben. Vor allem die
abgeschlossenen Fälle Microsoft und Intel sowie lau-
fende Verfahren gegen Google oder Gazprom erhalten
hohe Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit.
2. Kartellaufsicht
Durch die in Artikel 101 des AEU-Vertrages normierte
Kartellaufsicht sind wettbewerbsbehindernde Ver-
einbarungen oder Beschlüsse sowie aufeinander
abgestimmte Verhaltensweisen verboten. In Abgren-
zung zur Missbrauchsaufsicht, welche regelmäßig nur
ein Unternehmen betrifft, richtet sich die Kartellauf-
sicht stets gegen mindestens zwei Marktteilnehmer.
Ein Kartell setzt also immer mindestens zwei, häufig
jedoch auch mehr Marktteilnehmer voraus, welche
sich in ihm zusammenschließen.
Vereinbarungen umfassen Verträge zwischen mindes-
tens zwei Unternehmen. Sie sind auf den Eintritt einer
Rechtsfolge zwischen den Parteien ausgerichtet. Be-
schlüsse können zum Beispiel Satzungen von Industrie
und Handelskammern, also Unternehmensvereinigun-
gen, sein. Abgestimmte Verhaltensweisen meinen ein
bewusstes und gewolltes Zusammenwirken von Par-
teien ohne eine ausdrückliche Absprache zwischen
ihnen, beispielsweise durch einen Austausch von In-
formationen zwischen den Parteien. Sie sind abzu-
grenzen vom faktischen Parallelverhalten, welches
ohne jeden Kontakt der betroffenen Parteien erfolgt
(Beispiel: Preisanpassungen der Discount-Supermärkte
B, C und D für Milch, nachdem der Discounter A den
Milchpreis reduziert oder auch erhöht hat – eine ent-
sprechende Absprache bzw. Abstimmung zwischen A,
B, C und D wird hier regelmäßig nicht anzunehmen
sein, es handelt sich lediglich um eine marktwirtschaft-
lich motivierte Reaktion der anderen Marktteilnehmer
auf das Verhalten von A; ähnliches kennen wir von
Tankstellen).
Verboten sind insbesondere:
die Festsetzung von Preisen oder sonstigen
Geschäftsbedingungen; Beispiele:
- Fluggesellschaften A und B sprechen die
von ihnen erhobenen Flugpreise auf den
von ihnen beflogenen Strecken von Eu-
ropa in die USA bzw. umgekehrt ab;
- die deutschen Kaffeeröstereien A, B und
C legen in Absprache die (Großhandels-
)Verkaufs-preise für ihre Erzeugnisse fest
(dieses Beispiel hatte in der Praxis aller-
dings nur Auswirkung auf den deutschen
Markt und fiel somit nicht unter das EU-
-
18
Wettbewerbsrecht sondern das deutsche
Kartellrecht; zuständig war in diesem Fall
das Bundeskartellamt);
Einschränkung oder Kontrolle von Erzeu-
gung, Absatz, technischer Entwicklung oder
Investitionen; Beispiele:
- zwei Unternehmen A und B sprechen sich
ab, ihr Angebot zu verknappen, um somit
die Preise erhöhen zu können;
- von 5 auf einem definierten Markt täti-
gen Unternehmen schließen sich A, B, C
und D, was die Entwicklung neuer Pro-
dukte angeht, zusammen, um Unter-
nehmen E wegen dessen vergleichsweise
niedriger Innovationen aus dem Markt zu
drängen – Achtung: unter bestimmten
Voraussetzungen können derartige Zu-
sammenschlüsse allerdings erlaubt sein,
nämlich wenn das Ziel des Zusammen-
schlusses nicht das Herausdrängen eines
Wettbewerbers aus dem Markt sondern
vielmehr der technische Fortschritt ist
und der Wettbewerb nicht ausgeschaltet
wird, Art. 101 Abs. 3 AEUV;
die Aufteilung der Märkte oder Versor-
gungsquellen (Beispiel:
- mehrere Pharmaunternehmen teilen sich
die Vertriebsmärkte für eine neuartige
Medizin gegen Grippe so auf, dass in je-
dem EU-MS immer nur eines der Unter-
nehmen auf dem Markt aktiv ist und so-
mit aufgrund mangelnder Konkurrenz
den Verkaufspreis für das Produkt unna-
türlich hoch festlegen kann);
- die drei einzigen Hersteller von Autoglas
(Scheiben etc.) teilen sich den EU-
Binnenmarkt geographisch derart auf,
dass alle in etwa einen gleich großen
Kundenstamm haben und sich gegensei-
tig nicht mehr „in die Quere kommen“;
die Anwendung unterschiedlicher Bedingun-
gen bei gleichwertigen Leistungen gegenüber
Handelspartnern, wodurch diesen Wettbe-
werbsnachteile entstehen; Beispiel:
- von den Luxusgüterherstellern L1 und L2
durch Vertragsfreiheit und freien Wett-
bewerb nicht gerechtfertigte abgespro-
chene Preisunterschiede gegenüber ih-
ren Abnehmern A1, A2 und A3 eines Pro-
dukts, je nachdem ob die Abnehmer das
Produkt nur in Ladenlokalen oder auch
über das Internet weiterverkaufen, sowie
die an den Abschluss von Verträgen geknüpf-
te Bedingung der Abnahme zusätzlicher Leis-
tungen durch den Handelspartner; Beispiel:
- Hersteller H1 und H2 legen in den Kauf-
verträgen ihrer Maschinen fest, dass die
Käufer die Maschinen ausschließlich
durch Mitarbeiter des jeweiligen Herstel-
lers (also H1 oder H2) warten bzw. repa-
rieren lassen dürfen, nicht jedoch durch
freie Wartungs- oder Reparaturbetriebe
– auch dies kann unter bestimmten Um-
ständen gerechtfertigt sein, vor allem in
der Automobilindustrie war das lange
aufgrund einer entsprechenden Grup-
penfreistellungs-Verordnung der Fall (das
bedeutet, dass die Wettbewerbsregeln
auf die Automobilindustrie nur mit Ein-
schränkung oder auch gar nicht Anwen-
dung gefunden haben), in unserem Bei-
spiel wäre eine mögliche Rechtfertigung
darin zu sehen, dass das nötige Know-
How für die Reparatur der Maschinen
ausschließlich bei Mitarbeitern von H1
und H2 zu finden ist, da es sich um kom-
plizierte und neuartige Maschinen han-
delt und fehlerhafte/ungenügende War-
tung bzw. Reparatur erhebliche Schäden
hervorrufen können.
Diese Aufzählung der verbotenen Maßnahmen ist
nicht abschließend.
Das Verbot einer Maßnahme greift jedoch nur, wenn
die betreffende Maßnahme eine Beschränkung oder
Verfälschung des Wettbewerbs bewirkt oder zumin-
dest bezweckt. Hat also eine der beispielhaft aufge-
zählten Maßnahmen, wie eine Preisabsprache zwi-
schen Unternehmen, keine Auswirkung auf den ord-
nungsgemäßen Handel und ist eine solche Auswirkung
auch gar nicht beabsichtigt, ist die Maßnahme recht-
mäßig. Für gewöhnlich liegt allerdings vor allen bei
Preisabsprachen, aber auch bei den anderen aufge-
führten Maßnahmen, eine Beschränkung oder Verfäl-
schung des Wettbewerbs vor, auch wenn diese
manchmal gar nicht beabsichtigt sein mag (vgl. das
Beispiel der notwendigen Reparatur der Maschinen
durch Mitarbeiter von H1 und H2, um sicherzustellen,
dass die komplizierten Geräte auch tatsächlich sachge-
recht gewartet und somit Schäden finanzieller und
wirtschaftlicher Art vermieden werden).
-
19
Selbst wenn eine Maßnahme nach dem Gesagten an
sich rechtswidrig sein sollte, muss sie aber nicht auch
notwendig verboten sein: ein Verbot greift nämlich
grundsätzlich nur dann, wenn die mit der Maßnahme
einhergehende Beschränkung spürbar ist. Als Indiz
dient dabei die de-minimis-rule, nach der man bei 5
Prozent Umsatzanteil am relevanten Markt (im Regel-
fall dem EU-Binnenmarkt) von einer Spürbarkeit aus-
gehen kann. Ist die Wettbewerbsverzerrung also ledig-
lich minimaler Natur, werden gegen das Kartell im
Regelfall keine Maßnahmen ergriffen.
Damit EU-Wettbewerbsrecht greifen kann, müssen die
fraglichen Maßnahmen – wie bei den Grundfreiheiten
ein grenzüberschreitender Sachverhalt vorliegen muss
– zudem Auswirkungen auf den zwischenstaatlichen
Handel haben. Bei rein nationalen Sachverhalten greift
lediglich das Kartellrecht des jeweiligen Mitgliedsstaa-
tes. Betrifft im Beispiel der deutschen Kaffeeröstereien
A, B und C ihre Preisfestlegung ihrer Produkte aus-
schließlich den Markt in Deutschland (s.o.), so ist das
Bundeskartellamt die zuständige Behörde, welches
den Sachverhalt unter Bezugnahme der zugrundele-
genden deutschen Rechtslage beurteilt.
Unter engen Voraussetzungen können Maßnahmen,
die eigentlich unter das EU-Kartellverbot fallen, aus-
nahmsweise zulässig sein. Dies sieht Artikel 101 Ab-
satz 3 AEUV ausdrücklich vor. Eine solche Legalaus-
nahme ergibt dort Sinn, wo Wettbewerbsbeschrän-
kungen positive Auswirkungen haben und bezwecken,
beispielsweise die Förderung des technischen oder
wirtschaftlichen Fortschritts, man denke an das Bei-
spiel der Unternehmen, welche sich zwecks Entwick-
lung neuer Produkte zusammenschließen. Dies kann
gerechtfertigt sein, wenn das Ziel des Zusammen-
schlusses gerade nicht das Herausdrängen der ande-
ren Unternehmen aus dem Markt oder ähnliche Fol-
gen bezweckt. Relevant ist dies derzeit vor allem im
Automobilsektor in der Entwicklung leistungsfähiger
Elektroautos.
Wenn eine Vereinbarung jedoch tatsächlich unter
Artikel 101 AEUV fällt und rechtswidrig ist, so ist sie
automatisch nichtig. Damit soll das Entstehen von
Marktmacht einzelner Unternehmen mit entspre-
chenden negativen Auswirkungen auf andere Markt-
teilnehmer und den freien Wettbewerb verhindert
werden. Betroffene, die Schäden erlitten haben, kön-
nen diese gemäß dem jeweils einschlägigen nationalen
Schadensersatzanspruch ersetzt verlangen. Zudem
kann die Kommission die Unterlassung des rechtswid-
rigen Verhaltens verlangen und zu Teilen sehr hohe
Geldbußen verhängen, welche sich an der Dauer und
Marktauswirkung des Kartells sowie der Mitwirkung
des jeweiligen Unternehmens in diesem orientieren.
Maximal sind Geldbußen in Höhe von 10 Prozent des
globalen (!) Jahresumsatzes eines Unternehmens mög-
lich. Im Bereich der Verhängung von Geldbußen oblie-
gen der Kommission also echte Vollzugsbefugnisse. In
Kartellverfahren gehen Kronzeugen (welche das Kartell
gegenüber der Kommission zur Anzeige gebracht und
aufgedeckt haben) straffrei aus. Andere Kartellmitglie-
der, welche die Kommission aktiv bei der Aufklärung
des Sachverhalts unterstützen, erhalten prozentuale
Reduzierungen ihrer Geldbußen (normalerweise 20 bis
50 Prozent). In jüngerer Zeit geht der Trend weg von
Kartellverfahren, welche regelmäßig langjährige Ver-
fahren vor dem Gerichtshof (in beiden Instanzen) zur
Folge haben, zu Absprachen zwischen der Kommission
und den beteiligten Unternehmen eines Kartells.
Kommission und „Sünder“ einigen sich sozusagen
gütlich auf eine Strafe.
3. Missbrauchaufsicht
Neben der Bildung von Kartellen ist auch die miss-
bräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden
Stellung, welche den Handel beeinträchtigt, verbo-
ten, Artikel 102 AEUV. Das Verbot umfasst jede Maß-
nahme, die als Diskriminierung oder Ausbeutung der
Handelspartner anzusehen ist. In Abgrenzung zur
Kartellaufsicht bezieht sich die Missbrauchsaufsicht
immer nur gegen ein Unternehmen mit marktbeherr-
schender Stellung.
Ob ein Unternehmen eine marktbeher