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FRANKFURTER ALLGEMEINE -zEITUNG /'° 8~ ~._s--:-z , Tromoeter blasen . .1. : keine Kerzen aus Mediziner legen ein Positionspapier vor, das den Spielbetrieb der Orches_ter wieder ermöglichen könnte E in H0ffnungszeLcheri für p 7 utschlands -~~iklebeo: . Es se1 aus medlZl.lllscher Sicht nicb.t nur möglich sondern auch wünschenswert, dass die Orchester in Deutschland unter den Bedingungen der Covid-19:Pandemie ihren Proben- und Spielbetrieb wieder aufnehmen. Zu diesem Schluss kommen mehrere Fach- leute der Berliner Charite, die ein Positi- onspapier erarbeitet haben, das jetzt vom Institut für Sozialmedizin, Epide- miologie und Gesundheitsökonomie so- wie vom Institut für.Hygiene und Um- weltmedizin in Abstimmung mit den Vot- ständen der sieben städtischen Orchester Berlins veröffentlicht warde. Das Papier soll Entseheidungsträgem als Empfeh- lung dienen, ,,den Start in die Normalisie- rung zu beginnen", wie es Stefan Willich, Epidemiologe und Sozialmediziner an der Charite, im Gespräch mit dieser Zei- tung formuliert. Kunst und Kultur, so heißt es in dem Pas pier, hätten „für die Bevölkerung eine un- verzichtbare Bedeutung. Auf der individu- ellen Ebene wirkt Kunst gesundheits- und entwicklungsfördernd, Musik insbesonde- re bat heilende Wirl.-ungen. Aufder Bev~l- kerungseb~ne besitzen Kunst ung Kultur eine identitätsstiftende, der Bildung und dem Wohlbefinden dienende Wirkung. Eine Wiederaufnahme des Kunst- und Orchesterbetriebs während der Co- vid-19-Pandemie sollte daher parallel zur Wiedereröffnung von Industrie, Handel und Bildungseinrichtungen dringend an- gestrebt werden." , Für den Proben- und Spielbetrieb von Orchestern würden anderthalb Meter Ab- stand zwischen Streichern, Schlagzeu- gern und Spielern von Tasteninstrumen- ten genügen. Bläser sollten einen Ab- stand von zwei Metern einhalten, Blech- bläser durch Plexiglasscheiben von den Menschen, die vor ihnen sitzen, abge- schirmt werden. Kondenswasser bei Blas- instrumenten müsse mit Einwegtüchern aufgefangen und entsorgt werden. An- sonsten gelten die 'üblichen Regeln: kein HandkontaKt, Hust-enetikette, häufiges Händewaschen, Mundschutz außerhalb des Podiums, gründliche Raumreinigung. Das Papier, dem Kulturstaatsministe- rin Monika Grütters bereits kurz nach des- sen Veröffentlichung „Modellcharakter auch über Berlin hinaus" zusprach, ist des- halb so wichtig, weil es sich auf neu~ste Studien in Wien, den Niederlanden und Untersuchungen des Freiburger Musiker- mediziners Bernhard Richter bei den Bamberger Symphonikern stützt: Sie kor- rigieren bisherige Richtlinien gravierend. So haben Messungen ergeben, dass die austretenden· Luftströme bei Blasinstru- menten um vieles geringer seien als beim normalen Sprechvorgang. Stefan Willich fasst es in die prägnante Formulierung: ,,Mit einer Trompete eine Kerze auszubla- sen scheint sehr schwierig zu sein, wäh 0 rend das selbst ein Kleinkind mit einem Puster hinbekommt." Beim Sprechen, Singen und Husten er- folge die Ausbreitung von potentiell •in- fektiösen Aerosolen weiträumig und dif- fus. Was beim Spiel von Blasinstrumen- ten passiere, sei weit weniger problema- tisch. ,,Man muss sich klarmachen", erläu- tert Willich, ,,dass sich ein Orchester beim Spiel maximal protekti.v verhält. Alle sitzen hinter- und nebeneinander, niemand sitzt sich gegenüber, niemand spricht. Die vermutete Gefährdung durch die Bläser konnte durch empirische Studi- en als minimal erwiesen werden." Revidiert wird mit diesem Papier vor al- lem die branchenspezifische „Handlungs- hilfe zum Arbeitsschutzstandard Sars- Co V- 2 für Bühnen und Studios sowie für den Probenbetrieb" des Verbands der Be- rufsgenossenschaften VBG vom 27. April 2020. Sie verlangt für Bläser einen Ab- stand von zwölf Metern in Blasrichtung und drei Metern in anderen Richtungen. Diese Forderungen erscheinen nach den jüngsten Studien als haltlos. Die Empfeh- lung, wie man mit singenden oder enga- giert sprechenden Künstlern, für die nach VBG ein Abstand von sechs Metern ver- langt wird, umgehen kann, steht noch aus. Sollten die zuständigen politischen Stel- len und auch die Gesundheitsämter den Empfehlungen der Mediziner von der Charite folgeri, könnte es bald wieder Pro- ben und Konzerte geben. Allerdings gibt es noch keine Richtlinien zum Umgang mit dem Publikum. Die müssten von ande- rer Seite erarbeitet und von den einzel- nen Häusern an ihre räumlichen Gege- benheiten angepasst werden. Denkbar wäre, jede zweite Reihe freizulas$en und nur jeden zweiten Platz zu besetzen, dazu die Konzerte zu verkürzen und zweimal. stattfinden zu lassen. Auf jeden Fall würde die Umsetzung der Abstandregeln bedeuten, dass Orches- terbesetzungen reduziert werden müss- ten. Der Trend der letzten Jahre, von den massiven Orchesterstärken der Karajan- Ära zurückzukehren zu historisch verbürg- ten Größen, würde pandemiebedingt ver- stärkt. Eine Beethoven-Symphonie mit knapp vierzig oder eine Brahms-Sympho- nie mit knapp fünfzig Spielern wären dann auch für nicht historisch orientierte Klangkörper der Normalfall. Ob man re- gulär kolossal besetzte Werke von Gustav Mahler und Richard Strauss mit stark re- duzierten Streichern befriedigend umset- zen kann, müssten Experimente zeigen. Anselm Rose, der Geschäftsführer der Rundfunkorchester und -chöre GmbH Berlin, sagt, die Umsetzung dieses Pos-iti- onspapiers würde den Rundfunkorches- tern ermöglichen, in den Sendesaal zu ge- hen und die vereinbarten Programme zu spielen, die dann auf den gebuchten Sen- deplätzen bei Deutschlandfunk Kultur und dem Kulturradio des RBB ausge- strahlt werden könnten. , Sollte das Papier politisch wirksam und gleichzeitig Publikumsverkehr möglich werden, wären schon bei den Sommerfes- tivals einige Konzerte wieder möglich. Am schwierigsten wird sich die Wieder- aufnahme des Betriebs bei Chören gestal- ten. Aber Studien zur Infektionsverbrei- tung bei Sängern und Sprechern sind be- reits in Arbeit. Stefan Willich, der selbst auch Dirigent ist und einige Jahre als Rek- tor die Hochschule für Musik Hanns Eis- ler in Berlin leitete, sagt, wir sollten unter. den Bedingungen von Covid-19 die Nor- malität auch unseres Musiklebens neu de- finieren: ,,Wir müssen es als normal emp- finden, dass man im Konzertbetrieb für einige Zeit - wir reden hier mindestens von vielen Monaten - bei Orchestern auf der Bühne keine hundert Leute, sondern vielleicht nur 65 sieht. Wir tun gut daran, uns mit diesen Veränderungen anzufreun- den und zu sagen: So ist das Leben jetzt . eine Weile." JAN BRACHMANN

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FRANKFURTER ALLGEMEINE -zEITUNG

/'° 8~ ~._s--:-z V · , Tromoeter blasen . .1.

:keine Kerzen aus Mediziner legen ein Positionspapier vor, das den Spielbetrieb der Orches_ter wieder ermöglichen könnte

E in H0ffnungszeLcheri für p7utschlands -~~iklebeo: . Es se1 aus medlZl.lllscher Sicht nicb.t nur möglich sondern

auch wünschenswert, dass die Orchester in Deutschland unter den Bedingungen der Covid-19:Pandemie ihren Proben­und Spielbetrieb wieder aufnehmen. Zu diesem Schluss kommen mehrere Fach­leute der Berliner Charite, die ein Positi­onspapier erarbeitet haben, das jetzt vom Institut für Sozialmedizin, Epide­miologie und Gesundheitsökonomie so­wie vom Institut für.Hygiene und Um­weltmedizin in Abstimmung mit den Vot­ständen der sieben städtischen Orchester Berlins veröffentlicht warde. Das Papier soll Entseheidungsträgem als Empfeh­lung dienen, ,,den Start in die Normalisie­rung zu beginnen", wie es Stefan Willich, Epidemiologe und Sozialmediziner an der Charite, im Gespräch mit dieser Zei­tung formuliert.

Kunst und Kultur, so heißt es in dem Pas pier, hätten „für die Bevölkerung eine un­verzichtbare Bedeutung. Auf der individu­ellen Ebene wirkt Kunst gesundheits- und entwicklungsfördernd, Musik insbesonde­re bat heilende Wirl.-ungen. Aufder Bev~l­kerungseb~ne besitzen Kunst ung Kultur eine identitätsstiftende, der Bildung und dem Wohlbefinden dienende Wirkung. Eine Wiederaufnahme des Kunst- und Orchesterbetriebs während der Co­vid-19-Pandemie sollte daher parallel zur Wiedereröffnung von Industrie, Handel und Bildungseinrichtungen dringend an-gestrebt werden." ,

Für den Proben- und Spielbetrieb von Orchestern würden anderthalb Meter Ab­stand zwischen Streichern, Schlagzeu­gern und Spielern von Tasteninstrumen­ten genügen. Bläser sollten einen Ab­stand von zwei Metern einhalten, Blech­bläser durch Plexiglasscheiben von den Menschen, die vor ihnen sitzen, abge­schirmt werden. Kondenswasser bei Blas­instrumenten müsse mit Einwegtüchern aufgefangen und entsorgt werden. An­sonsten gelten die 'üblichen Regeln: kein HandkontaKt, Hust-enetikette, häufiges Händewaschen, Mundschutz außerhalb des Podiums, gründliche Raumreinigung.

Das Papier, dem Kulturstaatsministe­rin Monika Grütters bereits kurz nach des­sen Veröffentlichung „Modellcharakter auch über Berlin hinaus" zusprach, ist des­halb so wichtig, weil es sich auf neu~ste Studien in Wien, den Niederlanden und Untersuchungen des Freiburger Musiker­mediziners Bernhard Richter bei den Bamberger Symphonikern stützt: Sie kor­rigieren bisherige Richtlinien gravierend. So haben Messungen ergeben, dass die austretenden· Luftströme bei Blasinstru­menten um vieles geringer seien als beim normalen Sprechvorgang. Stefan Willich fasst es in die prägnante Formulierung: ,,Mit einer Trompete eine Kerze auszubla­sen scheint sehr schwierig zu sein, wäh0

rend das selbst ein Kleinkind mit einem Puster hinbekommt."

Beim Sprechen, Singen und Husten er­folge die Ausbreitung von potentiell •in­fektiösen Aerosolen weiträumig und dif-

fus. Was beim Spiel von Blasinstrumen­ten passiere, sei weit weniger problema­tisch. ,,Man muss sich klarmachen", erläu­tert Willich, ,,dass sich ein Orchester beim Spiel maximal protekti.v verhält. Alle sitzen hinter- und nebeneinander, niemand sitzt sich gegenüber, niemand spricht. Die vermutete Gefährdung durch die Bläser konnte durch empirische Studi­en als minimal erwiesen werden."

Revidiert wird mit diesem Papier vor al­lem die branchenspezifische „Handlungs­hilfe zum Arbeitsschutzstandard Sars­Co V-2 für Bühnen und Studios sowie für den Probenbetrieb" des Verbands der Be­rufsgenossenschaften VBG vom 27. April 2020. Sie verlangt für Bläser einen Ab­stand von zwölf Metern in Blasrichtung und drei Metern in anderen Richtungen. Diese Forderungen erscheinen nach den jüngsten Studien als haltlos. Die Empfeh­lung, wie man mit singenden oder enga­giert sprechenden Künstlern, für die nach VBG ein Abstand von sechs Metern ver­langt wird, umgehen kann, steht noch aus.

Sollten die zuständigen politischen Stel­len und auch die Gesundheitsämter den Empfehlungen der Mediziner von der Charite folgeri, könnte es bald wieder Pro­ben und Konzerte geben. Allerdings gibt es noch keine Richtlinien zum Umgang mit dem Publikum. Die müssten von ande­rer Seite erarbeitet und von den einzel­nen Häusern an ihre räumlichen Gege­benheiten angepasst werden. Denkbar wäre, jede zweite Reihe freizulas$en und nur jeden zweiten Platz zu besetzen, dazu die Konzerte zu verkürzen und zweimal. stattfinden zu lassen.

Auf jeden Fall würde die Umsetzung der Abstandregeln bedeuten, dass Orches­terbesetzungen reduziert werden müss­ten. Der Trend der letzten Jahre, von den massiven Orchesterstärken der Karajan­Ära zurückzukehren zu historisch verbürg­ten Größen, würde pandemiebedingt ver­stärkt. Eine Beethoven-Symphonie mit knapp vierzig oder eine Brahms-Sympho­nie mit knapp fünfzig Spielern wären dann auch für nicht historisch orientierte Klangkörper der Normalfall. Ob man re­gulär kolossal besetzte Werke von Gustav Mahler und Richard Strauss mit stark re­duzierten Streichern befriedigend umset­zen kann, müssten Experimente zeigen.

Anselm Rose, der Geschäftsführer der Rundfunkorchester und -chöre GmbH Berlin, sagt, die Umsetzung dieses Pos-iti­onspapiers würde den Rundfunkorches­tern ermöglichen, in den Sendesaal zu ge­hen und die vereinbarten Programme zu spielen, die dann auf den gebuchten Sen­deplätzen bei Deutschlandfunk Kultur und dem Kulturradio des RBB ausge-strahlt werden könnten. ,

Sollte das Papier politisch wirksam und gleichzeitig Publikumsverkehr möglich werden, wären schon bei den Sommerfes­tivals einige Konzerte wieder möglich. Am schwierigsten wird sich die Wieder­aufnahme des Betriebs bei Chören gestal­ten. Aber Studien zur Infektionsverbrei­tung bei Sängern und Sprechern sind be­reits in Arbeit. Stefan Willich, der selbst auch Dirigent ist und einige Jahre als Rek­tor die Hochschule für Musik Hanns Eis­ler in Berlin leitete, sagt, wir sollten unter. den Bedingungen von Covid-19 die Nor­malität auch unseres Musiklebens neu de­finieren: ,,Wir müssen es als normal emp­finden, dass man im Konzertbetrieb für einige Zeit - wir reden hier mindestens von vielen Monaten - bei Orchestern auf der Bühne keine hundert Leute, sondern vielleicht nur 65 sieht. Wir tun gut daran, uns mit diesen Veränderungen anzufreun­den und zu sagen: So ist das Leben jetzt . eine Weile." JAN BRACHMANN