august vilmars gesdtidtte der deutsdten national-literatur · 2020-03-24 · august vl1mars...

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18l August Vilmars "Gesdtidtte der deutsdten National-Literatur" Von Friedrich Neumann I. Yom 25. Oktober 1843 bis zum 9. Marz 1844 hielt deT Direktor des Marburger Gymnasiums August Christian Friedrich V i I m a r im Saale deT Konditorei kees an sechsunddreit3ig Nachmittagen Vorlesungen liber die Geschichte der deut smen Dichtung - keine VorIesungen, in denen gelehrter Unterrknt eTteilt wurde, sondern Vortdige aus weiter Simt, die eine Vergangenheit zu vergegenwartigen such ten. Man darf nicht vergessen, daG es damals so etwa s wie eine Professur fur deut sme Sprac:he uDd Literatur in Marburg nimt gab. Vilmars Vortrage. Dam seinen Worten gehalten " vcr einem groBeren Publikum gebildeter Frauen uDd Manner hiesiger Stadt" , wurden daher his in Univers itatskreise hinein als Ereignis empfunden. Die Folge war, daB die Harer auf VeraHentlichung der Vortrage drangen . Mit Vorrede vom September 1844 erschienen sie unter dem Titel "Vorlesungen iiber die Ge- sc:hiente der deutsenen National-Literatur , Marburg und Leipzig 184," im Verlag der Elwert'schen Universitats-Buenhandlung 1 Damit iibernahm Vilmar den Titel, unter dem der 1767 in Gotha geborene Joh. Friedrich Waenler 1818 / 19 Breslauer Vorlesungen herausgegeben hatte 2 , Vilmar, zum Beurteilen und Bekennen geneigt, ftihlte sich in seiner Darstellung a]s eineD, der nicht mit der Zeit geht . Gleienwohl konnte senon 1846 die zweite Auflage herauskommen . Mit der auf das Jahr 1848 erschienenen dritten Auflage wurde der knappere und anspruchsvollere Titel "Ge- schiente der deutsmen National-Literatur" eingefiihrt. Trotz der Unruhe der Zeit erschien 18S1 mit dem Kasseler Vorwort vom .. Jahrestage der Smlamt von Belle Alliance 18,0" die vierte Auflage, die wie die dritte Auflage wenige Erganzungen nach der Gegenwart hin braente. Von diesem Jahre an hat der unveranderte Text uber Vilmars Tod hinaus bis zum Jahre 1913 27 Auflagen ( I) erreicht 3 Immer 1 FUr die Ortsgesdlidlte nidlt obne Wert ist das in der 1. AuA. enthaltene .. Subscribenten- Verzeidlnis"; in ihm die Vorbestellungen. die bei Budlhandlungen der Stadte Marbur g. Ka ssel. Eschwege, Hanau . Hersfeld aufgegeben wurden. Die fast 190 Namen der Stadt Marburg werden den Kreis der Zuhorer umschreiben. zu denen wohl aum einige Namen aus Marbur gs Umgebung zu steIlen sind. Unter den Marburger Zuhorern sind viele Studenten. Von den 75 Hersfelder Bestellern sind 47 Gymnasiasten (I) ; wohl EinfluB des 1795 in Marburg geborenen Gymnasialdirektors Dr . Wilhelm MU n s c her. der einst in Hersfeld Vilmars Lehrer des Griechischen gewesen war und durch Vilmar 1832 Di- rektor wurde. Aum der 1789 in Witzenhausen geborene Dr . Fram Kar! Theodof Pi d e r it. einst Vilmars Lateinlehrer in Hersfeld. war damals nom am Hersfelder Gymnasium. Beide waren von 1827 bis 1831 Hersfelder Kollegen ihres ehemaligen Schiilers gewesen, 2 Wachlers .. Vorlesungen" waren 18H in 2. Aufl. ersmienen , 3 Nach freundJicher Mitteilung der N. G. Elwert'schen Universi tat s- und Verlagsbuch- handlung Marburg) ist zwar 1936 im Safari-Verlag eine .. iiberarbeitete Auflage" er- smienen. Sie kann schon deshalb aul3erhalb unserer Betradltung bleiben. weil sich der friihere Erfolg nimt eingestellt hat . ,

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August Vilmars "Gesdtidtte der deutsdten National-Literatur"

Von Friedrich Neumann

I. Yom 25. Oktober 1843 bis zum 9. Marz 1844 hielt deT Direktor des Marburger

Gymnasiums August Christian Friedrich V i I m a r im Saale deT Konditorei Mar~ kees an sechsunddreit3ig Nachmittagen Vorlesungen liber die Geschichte der deutsmen Dichtung - keine VorIesungen, in denen gelehrter Unterrknt eTteilt wurde, sondern Vortdige aus weiter Simt, die eine Vergangenheit zu vergegenwartigen such ten. Man darf nicht vergessen, daG es damals so etwas wie eine Professur fur deutsme Sprac:he uDd Literatur in Marburg nimt gab. Vilmars Vortrage. Dam seinen Worten gehalten "vcr einem groBeren Publikum gebildeter Frauen uDd Manner hiesiger Stadt", wurden daher his in Universitatskreise hinein als Ereignis empfunden. Die Folge war, daB die Harer auf VeraHentlichung der Vortrage drangen. Mit Vorrede vom September 1844 erschienen sie unter dem Titel "Vorlesungen iiber die Ge­sc:hiente der deutsenen National-Literatur, Marburg und Leipzig 184," im Verlag der Elwert'schen Universitats-Buenhandlung 1• Damit iibernahm Vilmar den Titel, unter dem der 1767 in Gotha geborene Joh. Friedrich Waenler 1818/ 19 Breslauer Vorlesungen herausgegeben hatte 2, Vilmar, zum Beurteilen und Bekennen geneigt, ftihlte sich in seiner Darstellung a]s eineD, der nicht mit der Zeit geht. Gleienwohl konnte senon 1846 die zweite Auflage herauskommen. Mit der auf das Jahr 1848

erschienenen dritten Auflage wurde der knappere und anspruchsvollere Titel "Ge­schiente der deutsmen National-Literatur" eingefiihrt. Trotz der Unruhe der Zeit erschien 18S1 mit dem Kasseler Vorwort vom .. Jahrestage der Smlamt von Belle Alliance 18,0" die vierte Auflage, die wie die dritte Auflage wenige Erganzungen nach der Gegenwart hin braente. Von diesem Jahre an hat der unveranderte Text uber Vilmars Tod hinaus bis zum Jahre 1913 27 Auflagen ( I) erreicht 3 • Immer

1 FUr die Ortsgesdlidlte nidlt obne Wert ist das in der 1. AuA. enthaltene .. Subscribenten­Verzeidlnis"; in ihm die Vorbestellungen. die bei Budlhandlungen der Stadte Marburg. Ka ssel. Eschwege, Hanau. Hersfeld aufgegeben wurden. Die fast 190 Namen der Stadt Marburg werden den Kreis der Zuhorer umschreiben. zu denen wohl aum einige Namen aus Marburgs Umgebung zu steIlen sind . Unter den Marburger Zuhorern sind viele Studenten. Von den 75 Hersfelder Bestellern sind 47 Gymnasiasten (I) ; wohl EinfluB des 1795 in Marburg geborenen Gymnasialdirektors Dr. Wilhelm MU n s c her. der einst in Hersfeld Vilmars Lehrer des Griechischen gewesen war und durch Vilmar 1832 Di­rektor wurde. Aum der 1789 in Witzenhausen geborene Dr. Fram Kar! Theodof Pi d e r it. einst Vilmars Lateinlehrer in Hersfeld. war damals nom am Hersfelder Gymnasium. Beide waren von 1827 bis 1831 Hersfelder Kollegen ihres ehemaligen Schiilers gewesen,

2 Wachlers .. Vorlesungen" waren 18H in 2. Aufl. ersmienen , 3 Nach freundJicher Mitteilung der N. G. Elwert'schen Universitats- und Verlagsbuch­

handlung Marburg) ist zwar 1936 im Safari-Verlag eine .. iiberarbeitete Auflage" er­smienen . Sie kann schon deshalb aul3erhalb unserer Betradltung bleiben. weil sich der friihere Erfolg nimt eingestellt hat.

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184 Friedric;h NeumQn"

wohl noen der groBte ErfoIg einer "Geschicbte der deutsmen Dichtung", uDd zwar nicht nur gegeniiher ausgesprochen gelehrten Biichern. sondern auch gegeniiber Darstellungen. die von der Forsc:hung her auf eine groBere AlIgemeinheit wicken welleD. Wodurch aucb dieser langwahrende Erfolg bedingt sein mag. er allein soIlte schon dazu anregen, Vilmars Darstellung als ein wichtiges Zeugnis zur Erkenntnis des 19. Ihdts. genauer zu betrachten. Doch sei zunachst mit wenigen Stichworten. die Kennern nichts sagen soIlen, daran erinnert, wer August Vilmar war.

August V i I m a r wurde am 28.1anuar 1800 in Solz unweit Rotenburg a. d. F. geboren. Nach zweijahriger Hersfelder Gymnasiastenzeit ging er Ostern 1818 nach Marhurg. Er studierte Theologie und klassische Philologie und trat der Burschen­sdlaft beL Die theologischen Prtifungen bestand er im Sommer und Herbst 1820, damals nom den Gedanken der AufkUirung verbunden. Der "Kandidat des Prd.igt­amtes" nahm sod ann eine Hauslehrerstelle in Kirchheim bei Oberaula an. Er be­stand im Frtihjahr 1821 die Pfarramtsprtifung. Im lanuar 1824 ubernahm er die Rektorschule in Rotenburg. Von einer Krise im Frlihjahr 1824 leitete er spater das her, was er seine Rlickkehr zu "geistiger Gesundheit" nannte. O ste rn 1827 trat er als Lehrer am Hersfelder Gymnasium ein. In der Hersfelder Zeit begannen seine philologischen Studien, die ihn zu Herder, Goethe, Friedrich Schlegel. Jacob Grimm flihrten, vor allem auch zu dem 1830 von Joh. Andreas Schmeller herausgegebenen "Heliand". Im Zusammenhang mit dies en Studien entwickelte sich damals seine , religiose Oberzeugung in die Ausdrucksweisen hinein, die flir sein weiteres Leben bestimmend wurden. Vom Frlihjahr 1831 bis zum Friihjahr 1833 lebte er in Kassel. zunachst als Landtags-Deputierter Hersfelds, spater auch als Referent im Innen­rninisterium. Im Dezember 1832 erhielt er von der Marburger philosophischen Fakultat den Doktorgrad lto~forjs causa. lm Frlihjahr 1833 trat er in die Direktor­stelle des Marburger Gymnasiums ein, das kurz vorher aus der Verbindung rnit der Universitat gelost war. Aus diesen lahrcn geht ncben der Literaturgeschichte die Veroffentlichung der "Schulreden uber Fragen der Zeit" hervor. In die Revolutions­wirren der lahre 1848/49 wurde Vilmar nicht zum wenigsten durch seine Auffas­sung von der Selbstandigkeit der Kirche hineingezogen. Im Marz 1850 rlickte er als vortragender Rat mit dem Titel ,eines Konsistorialrates in das zweite Mini­sterium Hassenpflug ein, libernahm auch bald darauf stelJvertretend das Amt des Superintendenten. Im Oktober 1855 folgten kurz hintereinander: die Nichtbestati­gung Vilmars im freigewordenen Superintendentenamt, der Riicktritt des Mini­steriums Hassenpflug, die Ernennung Vilmars zum Professor der Thcologie in Marburg ohne Befragen des Ernannten und der Fakultat. Die Ereignisse des lahres 1866 empfand Vilmar als einen Revolutionsakt. Er starb am 30. Juli 1868 4 •

4 Flir das Biographische weiterhin grundlegend die Arbeit seines Neffen und SchUlers W i I h e I mHo p f: August Vilmar. Ein Lebens- und Zeitbild. 2 Bande (Marburg 1913). Eine einfUhlende kUrzere Darstellung: Wa I t e r 5 c h war z: August Friedridt Chri­stian Vilmar. Ein Leben fUr Volkstum. Schule und Kirche (Furche-Verlag 1937). Un­zulanglidt, aber fUr das spate 19. Jh. bezeichnend. der Artikel K. W. W i P per m ann 5

in der Allg. deutschen Biographie 39 (1895) 715-21; eine kluge WUrdigung der Artikel J 0 h. Ha uBI e i t e r s in der Realencyclopadie fUr prot. Theologie 20 (1908) 649-6 1. _ Ober den Kirchenmann zusammenfassend: W i I h e I m M a u r er: Bekenntnis uod Recht

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August Vl1mars ~Gesmlmte de, deutsmen National-LIte,atu," 185

Es ist hier nidtt der Ort. die Verzahnung von Vilmars Lebenswerk und Lebens­gang aufzuzeigen. Der leidensdtaftlicbe Mann. den es drangte. sidt und seine Gegner vor Entsdteidungen zu stellen. hat wie wenige um die Mitte des 19. Jhdts. verehrende Zuneigung und erbitterte Ablehnung erweckt. Man pflegt ihn einen Theologen und Politiker zu nennen. Aber die Theologie als gelehrte Erorterung hat er nicbt hodt geschatzt. Und die Poli tik als Kunst des Moglichen mit all ihren taktischen Erwagungen war nicht seine Same. Er war ein Kircnenmann. dem sich im Sinne seines theokratischen Kirdtenbegriffs aUe Gemeinsmaft durdt das Leben in der Kirche zu vollenden hatte. Das ging zusammen mit seiner Neigung zum Unter­riebt und zur Missionspredigt. wie denn sein Herz warm wurde. aIs er in seiner Literaturgesmichte von den altdeutsmen Predigern des 12. und 13 . Jhdts. sprach und dabei des Franziskaners Berthold von Regensburg als eines "Reisepredigers" gedachte. Man hat sein Verhalten. Yor allem vom spateren 19. Jhdt. aus. als ortho­dox. konservativ. reaktionar empfunden. Aber soIche AlIgemeinbegriffe stehn immer unter der Gefahr. daB sie nimt zureicbend greifen. GewiB ist. daB Vilmar mit zunehmender BewuBtheit gegen den Steom der Zeitansdtauungen schwamm. Er war aber zu sehr Volksmann und zugleirn. Einzelner mit Rtickgrat. als da6 er standisrn.e oder gar neuzeitlich feudale Vorurteile hatte vertreten konnen. Ein Konservativer im allgemeinen Sinne mag sein. wer ftir Ererbtes eintritt und von dort her seinen Begriff des Redlts bestimmen laSt. Dorn. gewinnt man mit dieser schwebenden Bezeichnung nicht viel. wenn man sie auf Vilmar anwendet. Seine Vorstellung vom offentlichen Gesamtleben. zu dem ihm vor alIem das kirchliche Gesamtleben gehorte. war ftir die heharrenden Krafte keineswegs bequem. Mit der orthodoxen Theologie seiner Tage hat er es nidlt gehalten, und gar die Partei der PreuSisdt-Konservativen hat er im letzten T eH seines Lehens als Feinde des Recbtes abgelehnt. Auf das Denken und Wollen der Manner. die mit ihrem ge­schidltlimen BewuBtsein und ihrer Rechtsanschauung ausgesproroen .. yormarzliche" Gesta lten sind. pass en nun einmal nicht recht AlIgemeinbegriffe. die vom Denk­gefilge jtingerer Parteibildungen gehalten werdeD. lnsoweit gehoren etwa Jacob Grimm, Ludwig Uhland, selbst nom Georg Gervinus mit August Vilmar zusammen, wie verschieden sie sim hei ungleicher Anlage, getrenntem Alter und anders liegen­den Umstanden zu ihrer jeweiligen Umwelt gestellt haben. Dom genug davonl

in der kurhessischen Kircne des 19. Jhs. -+ Zs. f. Theol. u. Kirche. NF 18 (1937) 120-29. Ders. ausfiihrlicher uber die Briider August uDd Wilhe1m Vilmar : Aufkllirung. Idealis­mus. Restauration 11 = Studien z. Gesch. des neueren Protestantismus 14 (Gie8en 1930) 203- 260. U I r i c hAs end 0 r f: Kulturanalyse und Uroffenbarung als Voraussetzun­gen der Theologie von A. F. C. Vilmar (Gottinger theol. Diss. 195"4). nur in Maschinen­schrift (ubersteigerter Versucn. Vilmars Theologie und Kulturkritik aus den philologi­schen Studien zu begreifen). fm Zuge gr58erer Zusammenhange: Karl Barth: Die protestantische Theologie im 19. Jh . lhre Vorgescnicnte und ihre Gescnichte (Zurich 191-6). 2. Aufl. (1952) 570-78. - Ober den Kirchenmann und Politiker Martha Wo li e n w eber : Theologie und Politik bei A. F. C. Vilmar = Forschung und Lehre des Protestantismus. 3. Reihe. Bd. L (Munchen 1930) ; Versuch. Vilmars ... th eologisch­poli tischen Konservativi smus'" zu bestimmen. - Ausfuhrliche Lit era t u ran g ab e n bei M. Wo lien weber und U. A s endorf.

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"6 Frledridt NeuIflQ""

Es soil uns nur daver bewahren. daB wiT. dUTch irgend ein Vorurteil gehemmt, mit Befangenheit den Text von Vilmars Literaturgeschichte aufnehmen.

Es ist etwas Merkwurdiges urn dies Bum. Ein praktischer Theologe uDd Schul~ mann halt Vorlesungen vcr Mannern uod Frauen einer Gesellschaftssdticht. die man im gaozen als akademisch bezeimnen kann. Der Vortragende hat sich zwar al s einer d e T ersten daTan gemadtt, den altsassischen "Heliand " Zll erfassen. AbeT wenn man das Ganze seines philologischen Arbeitsfeldes absteckt. ist er dom nur ein wissenschaftIidl. geschulter Liebhaber, deT sich, unbelastet von eiDem Oberma8 an Gelehrsamkeit. mit gesdnvinder Fassungskraft dUTch die Geschimte deT deutschen Dichtung hindurchliest. Gleimwohl bleiben die Vorlesungen des Winters 1843/44 nimt das lokale Ereignis einer kleinen Universitatsstadt. Vilmar hat selbst, und zwar im Vorwort zur dritten und vierten Auflage, seine H Vorlesungen" zu be­urteilen gesumt, urn dadurm zu begrunden, warum er, abgesehn von einigen "Er­weiterungen", nim ts andern durfe. Zwei Satze erganzen sim da. Der erste Satz: "Gait es Htir dod l bel dem JH undlirnen Vortrage dieser Gesdticlite unserer Literatur Hur daruJll , die SaclieH selbst in ihrer Wahrheit und Ein facliheit zu den Gemutern UJ1befangener redel1 zu lassel1 und die Freude, welche icli an ihnen hatte, in gleichem Mape in andere Seelen uberzutragen ." Wer die Smwierigkeiten geschichtlichen Untersuchens kennt. wird zweifelnd fragen, ob sim so etwas wie die "Samen" leimt in ihrer " Wahrheit und Einfachheit" darbieten. wenn man sim nur bin­langlich unbefangen fublt . Hier ist nicht allein eine bobe Aufgahe gestellt. Fur ihre Bew5ltigung wird dom wohl vorausgesetzt, daB mindestens das Bedeutende im Bereime der Dichtung seine .. Wahrheit" in seiner "Einfachheit " hekunde. Es wird doch wobl weiterhin vorausgesetzt, daB sich diese Einheit des Wahren und Ein­fachen nicht wissenschaftlic:h-kritisc:her Bemiihung. sondern einer Erschlossenheit darstelle, die Vilmar als eine Hunhefangene", ja als eine "jugendliche Freude" he­stimmt. Damit stehn wir hei dem zweiten Satz : "Die Gelehrsamkeit. die Wissen­scliaft. die Kritik waren und sind anderwarts auf diesem Gebiete hiHreicliend ver­rreten, dem Le ben war und ist norn immer verha'ltninHapig wenig dargeboten worden ." Die "Freude'" Vilmars durfte dem allzu " jugendlich" erscheinen, der be­denkt. daB damals wissenschaftliche Gelehrsamkeit UDd Kritik auf dem Gebiete der deutsmen Dimtung noch nimt hinreichend vertreten sind. Aber fur Vilmars Be­streben ware es gleimgultig, wie man das damalige AusmaB an akademismer Ge­lehrsamkeit und Kritik bewertet. Mit demo was er bringt. und zwar nach seiDem Gestandnis in einer .. vieIleknt allzu smlimten Einfachheit"' , will er dem "Leben" dienen : "dem ganzen und vollen Leben" seines Volkes.

Gesehn wird dieser Dienst von einem Denken her, das die Lebensgesetze des deutschen Volkes aus Vergangenheiten in die Gegenwart Ieiten momte. Naturlich zunamst in die damalige Gegenwart, die fur Vilmar nach der Erregung des }ahres 18 30 uDd erst recht nach der Erregung des Jahres 1848 zur Erkenntnis ihrer Auf­gabe der Vergangenheit bedarf. Gehort ihm doch zu den "letz ten scliweren Zeiten ". daB sich die meisten "von der Vergangenheit und den wahThaftigen Erlebnissen des deutsrnen Vo llus gauzlicU ab und den nUT allzu unbesthumten Gedankeu einer zwei fe lha ften Zukunft mit Leidel1srnaft zuzuwenden" scheinen. Der "Beruf des deutsmen Volkes" werde in der Zukunft kein anderer sein als sein Beruf "seit fast

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August Vilmars "Geschlchte deT delftsc:heH Natfonal-Literat"' · 187

zwei J ahrtausenden". woraus iibrigens erhellt, daG fur Vilmar wie flir Herder uDd Jacob Grimm def Begriff "deutsm" nom den Begriff "germanisch" mitumschlie6t. Diese r Beruf steht ihm uoter einer religiosen UDd moralischen Forderung: "ein Hater zu seiff uHler den V6Ikern fur Zucht lHfd Si rre. fur Gerechtigkeit und far HiHgebul1g, fur DidHul1g lmd Wissensdlaft in ihrer srilleu Innerlidfkeit und far den Glauben deT m,isrlid,eJ1 Kirche in seiner welttiberwindenden HerrlicJ,kei ," . Aber sind das nicht nachtraglidte Erwagungen eines Mannes. der aus offentlicher Tatigkeit heralls spurt. daG er ZUT Arbeit dieser seiner Vorlesungen nicht zuriick­Boden kann? Dod1. halten wir uos daTan. wie nam Vilmars Auffassung einem jugendlim-freudigen Betramter die " Samen selbst" red en. In diesem Vorgehn mtissen wir uns darauf besmriinken. in Auswahl Stellen aufzusumen, an denen sim ViImars Simtweise eindringlim verriit.

Il. Die E in I e i tun g. Bevor sim Vilmar in den bewegten Ablauf der Gesmic:hte

begibt. spritnt er tiber Grundsa tzlimes und Allgemeines. Er bestimmt zunamst. was er unter der "deutschen National-literatur (oder der deutsmen Literatur im en­geren Sinne)" versteht. Zu ihr ziihlen "die;enigen literarischen Kunstwerke" des dcutsmen Volkes. die " in Stoff und Form. dessen eigentumliche Anschaulmg. Gesin­m.mg und Sitte. dessen eigelisteu Geist ulid eigenstes Leben wiedergeben und ab­spiegeln ". Mit sorglosem Zutrauen in das Urteilsvermogen des Literarhistorikers wird vorausgesetzt. daB sim ein Letztes. wie cs das Eigenttimliche eines Volkes ist. wie von selbst zum Greifen anbietet. Mit einem bezeimnenden Satze wird diese erste Inhaltsbestimmung eingeengt: " Und da die Poesie , die liltesre u"d eigen­tumlichste Spradie wie aIler Volker. so auch des deutschen Volkes ist. da in ihr der Charakter des Volkes an Leib, See! und Geist aUl vollstlindigsten «nd sichersren stch ausprligt, so wird die Gesdtichte der po e t i s c hen National-Literat«r unseres Volkes der vorzuglidtste Gegenstand "teiner Aufgabe sein ." Hier sdtieben sich mehrere VorstelIungen ineinander, urn eine Folgerung zu begrtinden. Die Sprache ist es, was den Menschen recht eigentlich zum Menschen macht, die alteste Sprache des Menscben aber deckt sicb mit Dichtung. Nur indem sich das Menschengesc:hlecht in Sprachen gliedert, gliedert es sidt in Volker ; die Wirklidtkeiten von Sprache und Yolk bedingen sich gegenseitig. Daher gilt auch fiir die Volker. daB sic:h ihr Eigenes am eindeutigsten in der Sprac:he ausdriickt und zugleich diese ihre Sprame von ihrem Ursprung her aus der Dimtung lebt. Wer daher dem Eigcnsten eines Volkes in seiner Literatur nacbgehn will, muB folgerichtig seinen .. vorztiglichsten Gegen­stand" in der Gescbidtte der Dichtung sumen. DaB Vilmar diese Gedankenreihe zu einer kurzen Kopplung von Grund und Folge zusammendriicken kann, ist nicht durch ein voreiliges Denken verursac:ht. Er nimmt nur aut was ihn aus der durch Ha­mann angeregten Gedankenwelt Herders erreicht. Nicht zum wenigsten diirfte ihm Jacob Grimm Anreger uDd Heifer gewesen sein. Mit dem zeitbedingten Begriff der deutschen " National-literatur" engt er den weiteren Begri ff "deutsch" (gleich .. germanisch") auf den Begriff .. deutsm" im engeren Sinne ein. Die Verbindung ,.poetische National-Literatur unseres Volkes" hat auszudriicken. daB es aIlein urn das geht. was der deutsdlspradtigen Die h tun g eigenturnlich ist.

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188 F,fed,id. NeuJHlJ""

Die Harer uod Leser soIl en Yilmar his III den altesten Zeiten begleiten. Nur auf diesem Wege werde der .. im,ure ,md HotweHdige ZusammeHHang deT literari~

sdten Ersm eilllHlgeu" deutlich. Zu dieser hesonderen Einladung bewegt ihn die Be~ sorgnis, daB die altesten Zeiten der "gewolm!idteH AHSidH" nom als "UJ1t1l1gebaute und wilde Gegelldel1" ersmeinen. Er verstarkt seine Einladung, indem er etwas heraushebt, was nam sei ner Meinung keine Literatur der anderen Volker mit der deutsdten Litcratur teilt. Zweimal habe sic als Dichtung in einer .. HcirereH. frisdun.. ha/rigen ]ugeud" auf def .. Hone deT Zeile"" gestanden uod das innere uod auSere Leben des deursmen Volkes .. H,it ehf/adur Treue uud gropartiger Wal"haftigkeit" abgespiegelt. Sie habe in diesem Sinne "zwei hiassisdle Periodeu" gehabt. durch diese Zweimaligkeit sogar von der griechischen literatur untersdlieden. Wegen des spa ten Eintritts der zweiten Periode sei den Deutschen von Unkundigen vorgeh.lllten worden. daB sie sim als die letztcn, .. g/eidfsam aIs trage Nadrziigler". auf die Hohe ihres literarismen .. SelbstbewuBtseins" erhoben hatten. Wenn sidt aber ausweise. daB sie nicht nur die letzten. sondern durch ihre erste Periode die ersten gewesen seien. so ware damit bei geredttem Stolz ein eindringenderes Eingehen auf diese erste Periode gerechtfertigt und gefordert. Doppelt wird also begriindet. warum man bei der altesten deu[schen Dichtung ansetzen miisse : durm den geschichtlichen Zu­sammenhang, der ohnedies Anfangen von Dich tung fiir das Auspragen des Yolks­charakters Wiirde gibt, uDd durch die Behauptung. die Geschichte der deutschen Literatu r verlaufe ungewohnlich durch das Emporwachsen von zwei Bliiteperioden. in denen sich Yerwandtes erfiille.

Dann ein weit vorgreifender Satz, dem man anmerkt, daB er nam etwas sucht. von dem aus der geschichtliche Ablauf erklarbar wird. Die .. zweimalige klassisdre BUite" habe ihre Ursache "in der inHersten Natur u"cl dem eigelltilmlidfeu welt­historisduH Berufe" des deutsmen Yolkes. Yilmar verdeutlicht diese kiihne Er­kHirung, indem er die Griechen und Deutsmen gegeniiberstell t. Die Griemen seien stets nur .. sie se lbst" gewesen, darin aber unfahig, sim nach der Zeit einer heiteren, unbesorgten Jugend an Fremdem wieder zu verjiingcn. Auch das Christentum babe die .. griechische Nationalitat" weder belehen konnen nom wollen. Ganz anders das deutsche Yolk. Es habe gem aB seiner Berufung nie den Kampf mit fremdeD Geistern gefiirchtet. In der Fahigkeit, sidl ohne eigene Anspriidte in ein Objekt zu versenken. sei es vielmehr das .. eigelltliche Didlt ervoll~ "mer den Nationeu der Erde". In gei­stigem Ringen Fremdes aufzunehmen und 8 US dem Angeeigneten heraus schopferisch zu werden. dieser Vorgang bedinge die Geschichte der deutsdten Literatur. und zweimal habe sich dieser Vorgang "in reld,er FulIe "lid reine" Forme,," vollendet. Indem das deutsche "Selbst" den Geist des Christentums "voll uod ganz" auf­nimmt, vollendet es sich auf dem Felde der Dichtung im 13 . Jhdt. Indem es den Geist des griechisch-romischen Altertums und den seiner Nachbarvolker aufnimmt. vollendet es sich am Ende des 1S. Jhdts.

Sind darum djese beiden schopferischen Aneignungen Vorgange gleicher Art und gleichen Wertes? Als ob der Begri ff des Fremden vergessen ware. erfahren wir. da8 das Christentum dem deutschen Charakter nichts Fremdes oder Widerwartiges gewesen sei, sondern nur das Mittel sei ner Vollendung. WenD man von einem Kampfe bei der EinHihrung des Christentums spredte, so sei dies nur mogIidt. wenn

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Auglfst Vllmars HGesdlidae der deutsdJel1 Natlo Jjal-Lfterarur~ 18'

man darunter eineo Kampf def litbe verstehe. Die Vermahlung deutsdten uod duistlichen Geistes gebe den Dichtungen der eesten .. klassischen Periode" eineo soknen .. Charakter der liehe. def Zartheit. der Innigkeit ... . daB die liebeleere Gegenwart fast unHihig sei. die aIten Dichtungen zu verstehn. Dagegen entwidde sich die zweite "klassisme Periode" nicht aus einem .. Kampf der liebe" , sondern aus einem .. Krieg auf T od uod Leben". Erst nam einem langen Kriege der Geister sei es uos gelungen • .. u"serer selbst wieder bewupt" zu weedeD. DaTum habe def groSte Teil der .. modernen klassischen Literatur'" in def Kritik seine "stete Be­gleiterin", ja seine .. Mutter uod Ernahrerin".

Von diesem AlIgemeinsten meint Vilmar, es musse auch in der .. strengs ten wis­senscnaftlichen Fassung" der Literaturgeschichte Geltung behaIten. Es uherrascht daher, daB die heiden Perioden, die als Gipfelperioden angesprochen sind, nicht entscheidend helfen, die Geschichte der Literatur zu gliedern. Auch HilIt an Vilmars Gliederung seiner Literaturgeschichte aut daB in ihr dem fragwiirdigen Ausdruck "Mittelalter" ausgewichen wird, da das, was in der .. Weltgesdtichte" Mittelalter heiBe, nicht einem Zeitraum der deutschen Literatur entspreche. Die Zeit der An­Hinge nennt er die" a I t e s t e Z e it". Sie ist ihm die Zeit, in der der deutsdte Geist mit dem duistlienen Geiste ringt. Sie reicht ihm etwa von der Mitte des 4 . lhdts. his zur Mitte des 12. Jhdts. , "in runder Zahl his zum Jahre 1150". Es folgt vom Jahre 1150 bis zum Jahre 1624, in dem Opitzens "Buch von der deutschen Poeterei" erseneint, die " a I t e Z e it". Nadt einer Vorbereitungszeit verschmelzen zwisdten 1190 und 1300 in der "ersten klassischen Periode" das Deutsdte und Christliche zur Einheit ; diese Einheit bekundet sich flir Vilmar im "nationalen Epos" und im Minnesang. Die Zeit vom Jahre 1300 his zu dem behelfsmaBig einge~etzten }ahre 1517 gilt als Periode, in der die Poesie sinkt, die Zeit vorn Jahre 1517 his zum Jahre 1624 als Periode, in der eine neu hereinbredtende Zeit mit der alten ringt. In der Endperiode der "alten Zeit" werde nur die Spracne neu, die Stoffe und For­meD blieben die aIten. Die "n e u e Z e it" vom Jahre 1624 an vollendet sidt flir Vilmar, indem sidt das mit dem Christlichen geeinte Deutsdte mit FremdHindischem ve rschrnilzt. In dieser "neueD Zeit " wird die erste Periode vom Jahre 1624 bis zum ersten Auftreten Bodmers urn 1720 die "Zeit der Herrschaft des FremdHindischen uber das Einheimisme " genannt. Es folgt von 1720 his gegen 1760 eine Periode. von der es heiBt, daG sich in ih r eine neue Selbsdindigkeit vorbereite. Dann wird zwi senen den Anfangen Klopstocks und Goethes Tod die "zweite klassische Periode'" angesetzt. Die ungefahr urn 1830 anhebende Periode werde das "Zeitalter der Epi­gonen" heiGen ; sie musse von streng historisdter Darstellung ausgesmlossen bleiben. da sie nom nient abgesch lossen sei.

Diese Gliederung ist fu r ihre Zeit nicht originell, was audt rnindestens fur die alteren Perioden bei der damaligen Kenntnis der Quellen auBerhalb der Erwartung liegt. Filr uns ist an dieser Gliederung widltig, daB sie zu einer Frage drangt, und zwar wegen der Wertungen, durch die Vilrnar die beiden Gipfelperioden auszeichnet. Stellt er nicht in diesen beiden Gipfelperioden und ihren Wertungen Unvergleich­bares gegenuber? Diese Frage verlangt, daB wir von der Einleitung weg zu den dar­stellenden T eilen gehn.

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190 Frfedridt NeUlfiaHH

Ill. A It est e Z e i t. Den Beginn def altesten Zeit legt Vilmar beheIfsmaBig auf

die Mitte des 4. lhdts. fest, weil ihm die Bibeliibersetzung des Gotenbismofs Ulfila im weiteren Sinne cin Denkmal der deutsrnen Literatur ist 5. Nicnt ctwa weil er eiDem kiinstlimen Germanismus zustrebt, sondern weil ihm die Sprachwissensrnaft, in diesem Falle die Grammatik Jacob Grimms. nom nicht ermoglicnt, die Verhalt~ nisse des germaniscnen Sprachfeldes zu beurteilen. Echtestem Vilmar begegnen wir erst in der Begriindung. mit der er den Vorwurf der Barbarei vcn der "aItesten Zeit" uDd den vorausgehenden lahrhunderten abzuwehren sumt. Das "sicherste. seiner selbst gewisseste SeIbstbewuBtsein" liege bei alien Volkern stets "im Anfang des Lebens". Die Gefahr, daB das geistige und besonders das poetisme Leben eines Volkes verfalle, trete erst ein, wenn die .. uranfanglimen" Stoffe verbraumt und die mit ihnen gegebenen Formen abgenutzt seien. Von den" unerfundenen und un­erfindbaren poetismen Stoffen" der "artesten Zeit" weiB er zwei zu nennen, die bis in die Gegenwart lebendig sind: die Heldensage (der M ythus) von Siegfried dem Dracbentoter, der als der "hornerne Siegfried'" bekannt sei. und. Jacob Grimm foIgend , die Tiersage von Reiohart dem Fums uod Isengrim dem Wolf, die nom Goethe ansprecbend nachgedidltet habe. Wir braumen nient darauf einzugehn. wie sorglos Vilmar die dem Sagendenken zugehorigen Grundrisse ausgesproenen lite­rariscber Werke in feme Vergangenheiten zuriicksetzt. Das Schwebende seiner Vor­stellungen trennt ihn im Grundlegenden nicht vom wissenscnaftlichen Denken seiner Tage. Uns Spateren vielIeicht am auffallendsten, daB er dem Bruchstiick des Hilde­brandsliedes, dessen Aufzeidmung am Anfang des 9. Jhdts. wir der ,.Langeweile" zweier Fuldaer Monme verdanken soIl en, den untragisdlen SchluB des jiingeren Hildebrandsliedes zusprimt.

Anreger ist in all dem eine Auffassuog, durch die der alten Dimtkunst eine eigene Daseinsweise zugeteilt wird. Der Dimter ist nur "das begunstigte Organ", durch das siro das "gemeinschaftliche poetische Vermogen des Volkes" bekundet. Da nom alle die gleiche Lebensanschauung uod Sitte verbindet und nom ein "Ge­samtbewuBtsein", eine .. Gesamtphantasie" die Erlebnisse all er gestaltet, ist .. Zu­stimmung" und nicht .. Eindruck", was die Dimtungen hervorrufen. Streng genom­men gibt es damals noch keine Di<:nter und keine Dichtung, sondern allein Sanger und Gesang, da das Wort .. didlten" Caus lateinisch dictaTe hergeleitet) stets auf das .. bewuBte kunstmaBige Erzahleo" Eiozelner zieIt. Fur den gestaltenden Vor­trag alter Heldenlieder solI sogar charakteristism sein, daB die VersammeIten aus leidenschaftlicher Teilnahme an der .. Same" mindestens an bedeutenden Stellen zusammensingen. Grade deshalb kann aber nam Vilmars Meinung der Unter­smied zwischen Volks- uod Kunstpoesie, der die Gesmichte der deutsmen Dichtung beherrsche, nimt an griedtischer Dichtung erfaSt werden. Die Griechen schaffen die mustergiiItigen poetischen Fonnen. aber smon die homerischen Gedimte ver­schmelzen Volkspoesie mit Kunstpoesie. Sie setzen nicht personliche T eilnahrne

5 Die Namensform .. Ulfila" ist wohl eine besondere Koseform fUr .. Wulfila" ( .. Wolfdlen"). Fur die Verwcndung der Form .. U1fila" tritt neuerdings wieder mit gutem Grunde Wolfgang Krause ein -+ Handbudl des Gotismen (1953) § 9.

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August Vifmars .. Geschidtre de, deutsdfell Natiollal~Literatur" 191

vocaus, sondern erwec:ken kiinstlerisme T eilnahme. Dagegen ist Hir Vilmar eine uralte Eigenheit deutscher Dichtung. daB der Stoff (will sagen, der Gehalt) betont uod von der Form nicht bewaltigt wird, was im Bereich def aIte" epismen Dichtung personliche T eiInahme fur das Sein uod Hande!n deT Helden verlangt.

Jacob uod Wilhelm Grimm hatten besonders in ihren Anfangen unter def Fern­wirkung Herders Natur- uod Kunstpoesie, Volks- uod Kunstpoesie im Blick auf streng epische Dichtung als etwas Geschidltliches unterschieden, daher an diesen Paaren ihren Begriff von alter uod "euer Poesie entwickelt. Im Ausdeuten dieses Unterscniedes stellte sich grade fur den JUDgen Jacob Grimm die Naturpoesie, die unter dem "Schleier eines Geheimnisses" anhebe und fortgesungen werde. auch in ih rcm Werte als die urspriinglichere Dichtung dar 6. Indem lacob Grimm nam unverbildeten Aussageweisen gestaltender Sprache sudlt. sieht er das Vollkommene in eine unwiederholbare Vergangenheit hinein. Was aber wird aus den Gesicnten der Grimms in dem von einem starken WilIen getriebenen Denken Vilmars? Er macht das, was bei den Grimms bewcgliche Anschauung bleibt. nicht oh ne Gewalt­samkeit zu einem Tatsachlichen. das fur festen Zugriff freiliegt. Er trennt zugleich mit der ihm iiberkommenen Asthetik an aller Didltung Stoff uDd Form. Gehalt und Gestaltung. Er weist dabei der Volkspoesie und Kunstpoesie je ein eigenes Verhalt ­nis von Stoff und Form zu. das sich im Unterschied personlicher und kunstlcrischcr T eilnahme bezeugen 5011. Wie werden sich diese Annahmen. die wie Beobachtungen behandelt SiDd, an geschichtlich greifbaren Denkmalern bewahren?

Vilmar findet seine Auffassung fm Sprachraum der "a!testen Zeit'" durch zwei Denkrnaler des 9 .• des karolingischen lahrhunderts bestatigt. Noch immer be­schaftigt ihn jene im lahre 1830 erschienene altsassische Evangelienharmonie, fUr die ihr Herausgeber Joh. Andreas Schmeller den Namen .Heliand" ( .Heiland") eingefUhrt hatte 7. D ies Sprachwerk. das in stabende Verse und die durch diesen Versbau bedingte epische Sprache hineingesprochen ist. wird von Vilmar das "ein­zige wirkliche christliche Epos" genannt. Ohne das Herbeiziehn einer christlichen Mythologie. durch die Klopstock seinen "Messias" verunstaltet habe. begegne uns hier .. Christus in Deutschland. Christus unter den Samsen". In diesem .. machtigen Gesange" des Sachsenvolkes vollziehe sidl zugleich der Abschied von der Yolks­poesie der "altesten Zeit". Dagegen trete in der dreiBig lahre jungeren Evangelien­harmonie des Benediktiners at fried von WeiBenburg. dem ersten Reimwerk der deutschen Dimtung, der erzahlende Dichter mit seiner Subjektivitat, seinem "Ich" hervor. So anheirnelnd die Heliandbemerkungen des Heliandkenners Vilmar wir­ken. wie hoch schweben sie fUr uns uher der Geschichtel Da wird nichts von Kloster­gelehrsamkeit erspUrt, die hinter diesem Werke steht. und nichts von dem an

6 Hingewiesen sei auf J a cob G rim m 5 smmales Bum " Uber den altdeutsmen Meister­gesang", das 1811 in Gottingen ersmien und Vilmar wohlbekannt war. Man vgl. dort die Seiten 5- 8. Zu vergleimen aud! Wilhelm Sch e rer: Jacob Grimm 1(1865), '(1885) , Kap. V. Neudrudc -+ Der Domsc:hatz 9 (1921).

7 Se h m e Il e r 5 Ausgabe mamte zum erstenma1 den .. Heliand" vollstandig bekannt. ob­woh1 man von der Londoner Handsmrift smon um 1700 Kenntnis hatte. VgI. E d u a r d Sievers: Heliand (Halle 1878) XV H. Sievers hebt aum S. XXI/XXII Vilmars Sduift : Deutsme Alterthiimer im He1iand (Marburg 1845, 2. Ausg. 1862) gebuhrend hervor.

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192 Fritdridt NellHfamf

angelsachsismen Versen gescbulten Wogengang der gebundenen Rede. die we it ab van allem Gesang ist. Daher kommt denn auch die Frage nimt, wo dies Werk ge­schaffen sein kODne.

IV. Alte Zeit. Fur Vilmar sind es die Kreuzziige, die im 12. Jhdr. das poetische

Vermogen der Deutsc:hen erwedcen. Die Aufgahe der Kreuzziige sei gewesen, den ahendlandismen Krieger- uDd Heldenc:harakter mit dem christlichen Geiste III ver­schmelzen - als oh van einem eTst spater erkennbaren Ziele her geschichtliche Ent­wicklung vorbestimmt ablaufe. Nac:h dem Durchgang dUTch eineo "Vorhof" werden WiT vcr die .. erste kIassisme Periode". vor die Zeit des vollendeten ... nationalen Epos" uod des "Minnesangs" gestellt. In dieser Zeir babe der Geist des Christen­turns als Iteigentlimer Volksgeist - den Deutsmen hefahigt. sien in seinem .. wahr­sten Sein '" zu offenbaren. Die Kreuzziige. die Erreger der Phantasie. hatten ein Gefiihl zurn Erwaenen gebramt. in dern sien Heimatliebe und Drang in die Feme rnisme. Nom seien damals die Erinnerung an die Vorzeit, die Sprache und die er­erbte Siue Gcmeingut gewesen.

Wir befinden uns an der Stelle, an der Vilmar recht eigentlich die Begriffe Volkspoesie (Naturpoesie) und Kunstpoesie zu Grundbegriffen der geschimtlimen Erkenntnis erhebt. In der "ersten klassismen Periode" bliihn beide Gattungen in .. scbonster Vollendung". die .. zweite klassische Periode" (die .. neue Zeit") hat .. keine bliihende Volkspoesie, nur eine Kunstpoesie". Zwar fallt die Volkspoesie bis zu einem gewissen Grade rnit der Poesie smlechthin zusammen, aber zur voll­stiindigen Entfaltung des poetischen Vermogens ist audt die Kunstpoesie notwendig : "eln Yolk otHle Yolhspoesie ware hein redttes Yo lk reinen Stmumes, ware ein Misdtvolk und ein Yolk von Nadtahmern ; ein Yolk ohne Kunst poesle konnte nur ein solcJses sein, weldtes in seiner Entwiddung gewaltsam ware gehe~Hmt worden ." Aber wo erfilllt die Volkspoesie, in der gleichsam die Gesamtheit spridtt, in der "ersten klassismen Periode" ihre Aufgabe? Vilmars Antwort: Dcr hauptsachlidtste, wenn nient einzige Gegenstand der Volkspoesie ist das .. Epos", das .. Heldengedicht", von dem ausgesagt wird, daB es die .. Quelle", das .. Fundament" aUer Poesie, ja die .. groBte vollendetste Poesie selbst" sei. Filr uns eine ilbersteigerte Behauptung. Aber Vilmar lebt grade hier ganz aus dem, was ihm die Brilder Grimrn darbieten. Nur hat das, was die Brilder vor Augcn haben, wiederum bei Vilmar jenes traum­haft Atmospharische verloren, in dessen Licbt etwas von ilberzeitlicher Wahrheit aus dem Ersdtauten hervorJeumtet.

Der junge Jacob Grimm sagte im Jahre 1811 in der Vorrede zu sciner Schrift .. ilber den altdeutschen Meistergesang u

: .. Man kmm die Natu rpoesie das Leben in der reinen HaHdlung selbst Ifemlen, ein lebeJfdiges Buc:h, wahrer Gesdtic:hte voll, das man aul jedem Blatt mag anfangeH ZII lesen uHd zu versteheH, Himmer aber ausliest noch durchversteht. Die KUHstpoesie ist eine Arbeit des Lebens und SdtOH im ersten Keim philosophisdier Art" 8. Vilmar hat seine eigenen Wendungen, mit

8 Dort S. 6. VielIeidtt kannte audt Vilmar J a cob G rim m s Aufsatz .. Von der Oberein~ stimmung der alten Sagen ", der im Iahre 1807 im .. Neuen literarisdten Anzeiger" S. 568 H. erscbien und in den .. Kleineren Sdtriften" IV (1869) 9 H. abgedrudct ist. Dort

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August Vi/mars .. Gesdtfchte der deutschen NatfoHtJ!-Literatu," 193

denen er sim das Episme einkreist. Das Epos, der "Gesang von den TateD", sdllieSt die "Subjektivitiit des Erzahlers", es schlieSt alle .Willkurlichkeiten" aus: lOin der Erzahlung selhst findet es seinen Zweck, sein Ziel". Die "T atsamen", die es er· fuHen. miissen sich auf die "Ursprilnge" des Yolkes benehn, denn nur die .. auf def Stammesverwandtschaft gegriindete Einheit des Lebens uDd Willens" vermag cin Epos IU schaffen. Dies ursprunghaft Epische ersc:heint aIs He1densage. als Gotter­uod Natursage. die zum Marmen wird. uDd aIs Tiersage. die sich unter dem Ein­BuS von Kunstpoesie in der Fabel auflost. Die vollendetsten Epen erwachsen aus Heldensagen, die drei groBten Heldengedichte sind die .. Bias" ... der Nibelungen Not", die ,.Gudrun".

Yilmar wollte hier nimts Neues sagen, er gIaubte SelbstverstandHches aus~

zuspremen. Nadt rund hundert }ahren ist es nicht leicht. sim in die Sprache der Vilmarsatze zurilckzudenken. Dies beginnt smon damit. daB wir nicnt mehr recht empfinden, was damals noch der Wunsch bedeutete, ein volleridetes, der .. I1ias" vergleichbares Epos zu haben: eine Dichtung, die, wie es Wilhelm Grimm ausge~ drUckt hat, "das ganze Leben zu erfassen strebt". Und vom Wissenschaftlichen her drangt sicn uns nur allzusehr auf, daB eine GroBerzahlung wie das Nibelungenlied in Sprache und Versgang. in Aufbau und Darstellung ein hochmittelalterlicnes und insoweit zeitbedingtes Werk ist. Wer damals mit den Grimms White, spUrte in alien Erzahlwerken, die nacn Grundrissen unterliterarischer Oberlieferung erbaut waren. ein gUltig Dauerndes. das unabhangig von all em Zeitbedingten aus den Geschehnissen selbst sprknt. Yilmar erreicht die Hohe seiner Literaturgeschichte, indem er das Nibelungenlied in einem "AbriS" zu vergegenwartigen sucht. Unsere vorsichtigere Interpretation laSt zwar nicht zu, mit Yilmar im Blick auf die Gestalt Siegfrieds und das Gold des Hortes den My thus hinter dem Nibelungenlied er~

scheinen zu lassen. Ober das Entstehn des Nibe1ungenliedes haben wir andere Yor~ stellungen, so wenig sich auch eine einhellige Auffassung hat bilden wollen. Aber noch jetzt ergreift Vilmars Namerzahlen, das die Horer seiner Yorlesung ersmUttert haben muS. Auch Yilmars SchluSwort zum Nibelungenlied laSt uns nom trotz mancher allzu pathetismer Wendung aufhormen. Aus der groBen Dimtung spricht ihm die "StiJmHe der Vergiinglichkeit uHd des Todes fur den, der den innersten Sinn der Natur begri ffen hat". Und indem er dann doch die Gefilhlswelt des Nibelungenp

liedes von der Gefilhlswelt der altesteD Zeiten abzuheben sucnt, befreit er sich in dem Satz: "Dieses wilde. fin stere Grauen der altesten Poesie ist nun durch drei p

hundertjiilfrigen Eiu{lHf1 der Religion des ewigen Lebens in den DiimmerscUein be­wegter AhlfJllfg gemi/dert, zu leiser Wehmut verkliirt worden ". Wie stark ilbrigens filr Yilmar die Erzahlungen, die unter den Begriff Yolksepos gestellt sind, aus einer gegenstandlich genommenen "dichteriscnen Bewegung des Yolkes" hervor­gehn, mag das Urteil verdeutlichen. das er Uber die Spatfassung der Erzahlung von der "Rabenschlacht" faIlt. Die schwankende Behandlung des Stoffes zeigt ihm, daS die Sage "gleichsam an sim irre zu werden" beginnt.

die Anmerkung 5. 568 (5 . 10): das alte Epos sei alte Geschichte. alte Geschichte und alte Poesie fielen notwendig zusammen; es sei ungereimt, ein Epos erfinden zu wollen. denn jedes Epos musse sich selbst dichten.

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194 F,icd,/di NeUHtaHH

Ware cs nidlt folgerichtig, daB Vilmar dem Kunstepos. dem er die .. Erzahlungen def hofismen Didttec" zuteilt, mit abwertender Zuriickhaltung gegeniihertrate1 Er spricht denn audt dem Kunstepos .. unmittelhare groBartige Naturwahrheit" ab. die dem die Heldensage gestaltenden Volksepos eigne. Dach horeD wir zugleich. daB das Kunstepos durdt die groBen Gedanken der sinnenden Dichter. dUTch die .. einfache Wurde oder den Glanz uDd die Zierlichkeit der DarstelIung" fesseln konne. Im Blick auf die kunstma8igen Erzahlungen der Neuzeit beiSt es sogar, einige der alren Erzablungen miisse man als • v6l1ig unerreichte. ja vieUeidlt iiberhaupt unerreim­hare Muster" anerkennen. Beadttenswert, was er beim Bespredten der in diese Erzahlungen eingegangenen fremden Stoffwelten uber den Begriff "romantism" sagt. Der Begriff "romantisch u , den er mit Remt nadl seiner Herkunft dem Begriff "romanisdt u gleimsetzt, habe seit dem 16. Jhdt. unter der Wirkung des Amadis­Romans die Bedeutung .. phantastisch". ..abenteuerlich" angenommen. Die .,ro­mantisme Smule 'der beiden Smlegel" sei van der Aufgabe, die altere romanisme Poesie zu vergegenwartigen, auf die altere deutsme Poesie gefuhrt worden. Dies habe zu dem .fast liimerlimen Mi8verstand " gefllhrt, die . deutsme National­poesie der alten Zeit", sogar das Mittelalterliche uberhaupt "romantism U zu nen­nen l . Dieser .. MiBverstand" sei jetzt in der .. Literargesdlic:hte" (will sagen : Lite­raturgeschichte) beseitigt. Unter .. romantischer Poesie" werde nur noch das verstanden, was aus romanismer Dichtung des Mittelalters, mit Vorzug aus der Sagendichtung urn Karl den GroBen uns zugewandert sei. Nicht unwicbtig 1St fur uos an dieser Begriffswahl Vilmars, daB er mit ihr verhindert, ihn der .. romantisdten Scbule der Smlegel" zuzuteilen. Auch Jac:ob Grimms Verhalnis zur iilteren, zur eigentlichen Romantik ltiBt sich nient so einfach bestimmen, wie dies wobl in weit verbreiteter Meinung angenommen wird.

Was Vilmar uber die Kunstpoesie der hoenritterlidten Zeit zu sagen hat. muB vor dem Werke Wolframs von Esdtenbach erkennbar werden, fur dessen Geist er dunn. "ein neues, ein helleres und reiferes VolksbewuBtsein" Verstandnis, Liebe und Bewunderung erwartet. Zu Wolframs .. Parzival"IO wird ausdriicklich gesagt. daB er kein Epos von dcn • Taten der Yolker", kein Epos der • Yolksfreude und des Volksleides" sei. Er sei ein Epos von den .. raten des Geistes und den Begeben­heiteD der Seele". ein Epos .der bomsten Ideen von gottlicheD uDd menschlimen DingeD". AD einem solenen recht allgemeiDen Eingangsurteil wird man nimt prufen, wie weit es das Eigene einer gesdtichtlichen Erscheinung zu fasseD vermag. Schwerer wiegt. daB Vilmar. darin nicht aIleinsteheDd. neuzeitliche BegriHe und sogar die Aussicht auf ein neuzeitliches Werk braucht, urn an Wolframs .. Parzival" heranzukommen. In Wolframs "Parzival" hat ihm die "Bildungs- und Entwick­lungsgeschichte des inneren Mensmen" ihre ideale DarsteIlung erfahren: der

9 Ich erinnere daran, d38 A u g u S t W i1 h e I m Se hie gel in seinen Vorlesungen der lahre 1802-1804 die griechisch-romische literatur .. ldassische literatur", die literatur der europiiismen N3tionen von ihren mittelalterlichen Anfangen an .. romantische litera­tur" nannte.

la Vilmar smreibt gemaB alterem Braucb, der sich an My tI e r s 1784 erschienenen Ab­druc:k von Wolframs Werk anschlie6t, .. Parcival ", obwohl er sim auf Kar! Lach­m ann s Ausgabe vom lahre 18H beziebt.

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August VllHtars .. Gesddchte der deutscheH NatloHal-Ltreratu," I ••

.. Parzival'" hat als .. psymologismes Epos'" nur ein Gegenstuck in dem .psymolo~ gismen Drama" von Goethes .. Faust". Allerdings hemerkt Vilmar einen Unter~ smied, der ihm smon jetzt ein Urteil uher die Zeit Goethes aufdrangt. In Goethes .. Faust '" hildet sim eine Zeit ab, die sumte, aber nimt bnd; in Wolframs .. Parzi­val" erfullt sim ein lahrhundert, das gesucht und gefunden hatte. Etwas von Vil­mars eigenem Wollen diirfte mitschwingen, aIs er ParzivaIs Sieg uher Gawan in seiner Weise deutet. Das hloB weltlime Strehen miisse dem .. gottlimen Amte-' unterliegen, dom das .. gottlime Amt" sei nimt dunn .. tatenlose Gedanken" zu erwerhen oder zu behaupten. In Vilmars Darstellung ist es eine Art priesterlicher Parzival. der die "Hut und Pflege gottlidter Dinge" iibernimmt. nachdem er sien siegreidt im Kampf mit dem n weltlichen Arm'" gemessen hat.

Etwas Merkwiirdiges tritt ein, aIs Vilmar den n Tristan" Gottfrieds von StraB­burg bespricht. Er geht zwar peinigend gegen die nschamIose Unsittlidtkeit" des Stoffe, an. Aber wiihrend ihm Wolfram, SpradlStil nicht lebendig wird. gibt er ,ich an Gottfrieds Sprachstil hin, der ihn vom Grundsatzlichen her abstoBen miiBte. Nimt zufaUig HiBt sich Gottfrieds groBes Romanfragment leichter aIs Wolframs .. Parzival'" in die Bildungssprame des spateren 18. und friihen 19. Jhdts. iibersetzen. Vilmar hat denn auch den so smwer greifbaren StraBburger nur allzusebr auf Zu­kiinftiges hin beurteilt und entsprechend das gespannte Verhaltnis Wolfram-Gott­fried ausgedeutet. Wolfram stemmt sich gegen den Strom des Weltlaufs und schleudert die Stimme eines "Lehrmeisters, ja eines Propheten" in das Weltgewiihl. Gottfried ist ein .. Weltkind", das der Welt vorausscnwimmt als .. Fiihrer zu Gelust und GenuS", ein .. Vorbote"' jener europaismen Mensdtheit des 14. und 15. Jhdts .. die aus .. Mundbekennern und Tatleugnern der mristlichen Wahrbeit'" besteht. Hatte Gottfried sein Werk vollendet, so wiirde der Tod Tristans und Isolts nicbt besser versohnt haben als der Tod der Helden in Goethes .. Wahlverwandtsmaften". In soIchen Urteilen ist nichts mehr da von emtem Einfiihlen in alte Texte. Die umworbene homritterliche Welt wird nicht aus dem 12. und 13. lhdt. verstanden, sondern mit neuzeitlichen Denkweisen und Wertungen herangeholt. Bezeichnend, daB ein ausgesprochener Ritter wie Wolfram im letzten Urteil Vilmars gesehn wird, wie ihn die Meisterdichter des spateren 13. Jhdts. und ihre Nachfolger sahen.

Vilmars geschichtliches BewuBtsein sucht mit gutem Grunde geschichtliche Ab­laufe auf ihre Anfange zu beziehn. Bei diesem Vorgehn gehort zu seiner person .. lichen Auffassung, daB er das Christentum als erfiillende Kraft in das Deutsche der altesten Zeiten aufnimmt. Dadurch smwacht er sein Sehvermogen fur die gelehrt­akademismen Ziige. die von der Welt des Klerus her allem smrifttiimlidten Dicbten eignen. Dieser Mangel bedingt zugleich, daB er fUr seine . alteste" und seine .aIte Zeit" von einer Einheit des Lebens ausgeht, in der die standisch-gesellschaftlidlen Lebensbedingungen der alteren Literatur eingeebnet sind. Das was er Volkspoesie nennt, deckt sim so sehr mit "nidlt erfundener" altheimismer Sage. daB dieser Begriff ihn hindert, auf gestalten de Krafte zu achten. Das was er Kunstpoesie nennt, hat dann freilich den Dimter und zwar den Kunstdimter. Aber die Tatigkeit dieses Kunstdicbters ist zu sehr darauf eingeschrankt, Gedanken und Darstellungsweisen an einen gewahlten Stoff heranzubringen. Diese von oben kommende Arbeit soIl erklaren. daB der Kunstdichter fremde Stoffe vorzieht : an fremden Stoffen konne

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er redtt eigentlich seine Kraft hewahren. Die FoIgen dieser Begriffsbestimmungen? Volkspoesie uDd Kunstpoesie sind in ihrem Spannungsverhaltnis nur bedingt zwei Gegebenheiten des geschichtlichen Lehens. Sic sind vielmehr dauernd dabei. zu Idealbegriffen zu werdeD, an denen man geschichtlidtes Leben zu messeD hat. Daher kommt cs, daB die Denkmaler der Volkspoesie wie der Kunstpoesie trotz einiger eingeHigter Zeitmarken in ihrem Periodenraum smweben. Warum haIten sie denn nidlt auf die Daucr ihre Hohe? Die Begriindung paSt sicb ihrem Sdtwebezustand an. Die Volkspoesie steht unter der Gefahr, daB sich die Sage verbraucnt. Die Kunstpoesie unter der Gefahr, daB sicb Gedanken uod Gefuhlc verhraumen uod dann die Darstellungsmittel abnutzen. Das spate re 13. Jhdt., das ViImar van der Kunstpoesie her eine Zeit der Epigonendichtung nennt, treibt in diesem fast not~ wendigen AbIauf durch die Ausbildung der Technik in eine Bliite der "FormaI~

•• poesle . Eine Art Traumwelt ist es, in der sich Vilmars Aussagen iiber den Minnesang

bewegen. Daber konnen sich ihm hier die Kategorien Valkspoesie und Kunstpoesie ineioaodersdtieben. Die Frage, wie der aItdeutsme und iiberhaupt der hommittel p

alterIidte Minnesang eotsteht. mamt Vilmar noch keine Sorge. In fast wortIimem AnsmIuB an den jungen Jacab Grimm des Jahres 1811 neont er es ein Gesetz. daB dem epismen Heldengesang ein Gesang folgt, "der start aus dem Gemute des GaHzeH, aus dem des EiuzelHeu llervorquillt"l1 . Das Volkslied besingt Empfjn~ dungen. die Gemeingut sind. In der Kunstlyrik erreimt der Einzelne durch die .. reine Form", daB an seinen Erlebnissen teilgeoommen wird. Der Minnesang ist zwar fiir Vilmar Kunstlyrik uod zwar eine Kunstlyrik, iiber die sich das .. Hell~ dunkel" der ersten Jiinglingszeit ausbreitet. Gleimwohl prage er in einem jugend~ lichen ZusammenIeben mit der Natur den Typus "Naturpoesie" aus. Daher sei ihm ein krankhaftes Naturgefiihl fremd, wie cs sich in den 70er Jah ren des 18. Jhdts . "aus Ossianischen Reminiscenzen und unter dem Einflusse Rousseauscher Natiir~ lichkeiten" zur "Sentimentalitat und Empfindelei" ausgebildet habe. Dazu kommt. daB fUr Vii mar der von Mannern erschaffene Minnesang nicht nur eine "jugend~ liene", sondern eine .. frauenhafte " Poesie ist. womit abermals ein Gedanke des JUDgeD lacob Grimm aufgenommen wird. Die Frauenverehrung, "Ehrerbietung gegen die edlere uod hahere Seite der menschlicheo Natur" offenbart im .. reinen Weibe", babe sich aus Anfangen, von denen Tacitus berichte, durch das Christen~ turn vollendet. Daher sei der Minnesang, wenn iiberhaupt, nur durch eine .. allge­meine Inspiration" van Frankreich angeregt. Die siidfranzosische Lyrik der Trouba­dours sei eine "mannliene" Liebespoesie. die kennzeichne, daB skh in ihr die Leiden­schaft riicksichtslos entbloGe. Mit der Art, wie Ulrich van Lichtenstein seinen .. Frauendienst" romanhaft-biographisdt darstelIt, wird Vilmar dadurch fertig, daB er hier eine .. Vermischung reiner. idealer Zustande mit dem gemeinen Leben" ent­deckt. in der sich der drohende Untergang der Minnepoesie ankiindigt. Wohl geht Vilmars Auffassung des Minnesangs mit einem riickwarts gewandteD Wunsch-

11 Er weist hier se1bst auf J a cob G rim m 5 Sduift .. Ober den altdeutscben Meistergesang" hin (auf S. HI). Diese fruhe Scbrift, die sicb in scbopferiscben Ahnungen bewegt, hat iiberhaupt starksten Einflu6 auf Vii mar gehabt. Zu dem im folgcnden genanntcn .. frauenhaften Zug" des Minnesangs vgl. Grimms Scbrift S. 8.

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August Vilmars .. Geschlditt der deutsdwf National-Llteratu," 1 .. 7

denken romantischer Kreise zusammen. Sie ist abeT vcr allem durcn Vilmars Ge~ samtauffassung seiner "ersten klassismen Periode" bedingt. in der sim in den Zeiten der ErHillung Volkspoesie uDd Kunstpoesie die Waage haIten miissen.

Kein Wunder. daB Vilmar roit den literarismen Denkmalern des 14. uDd 15. lhdts. nimt viel anzufangen weiB. Er sieht hi er nur eine "poetisme Wiiste", An~ strengung .. ohne Ziel" , ohoe "ein die Massen durmsauerndes, bewegendes. e1-hebendes Resultat u

• AIs Folge def Buchdrud<erkunst setzt er an, daB def Dimter nicht mehr ,. wirkliche Gesichter" vcr sich hat, sondern nur nom eine nformIose Masse". genannt "Publikum". Letzte Ursame des Verfalls ist ihm jetzt, da8 schon im Beginn des 13. lhdts. (also in der Zeit des Nibelungenlieds und Wolframs) Yolkspoesie und Kunstpoesie scharf gesdlieden sind. Es habe sich das Wagnis ge­ramt, "die ganze Poesie auf die Spitze von Dichter-Subjekten, von Individuali­taten zu stellen start sie auf das Dichtungsobjekt und auf das mitdidltende und mit­singende Yolk zu grUnden". Da nicht jedes Ihdt. groBe Dichter erzeuge, gerate Kunstpoesie notwendig in Verfall; sei nicht eine Yolkspoesie gleidtzeitig gepflegt worden. gehe dann die ganze Poesie zu grunde. Nicht gestort fUhlt sim Yilmar in seinem allgemeinen Urteil. daB er das im frUhen 19. Ihdt. umworbene "Volkslied" im 14. lhdt. entstehn. im 15. lhdt. wamsen. im 16. lhdt. bliihn lassen muB. Er be­schreibt es als ein Lied des " wirkHch Erlebten. wirklidt Erfahrenen" und zwar zum guten Teil mit Wendungen Herders. der freilich mit seioem Yolksliedbegriff auf aUe echte Dichtung gerichtet war I!. Heftig wendet er sidt gegen das Bemuhn, das "Yolkslied" durch "Ueder fur das Yolk" nachzuahmen. was er einen der "smlimmsten Auswuchse unserer gaozen Poetasterei" neont. Und er spricht sehr aus sich heraus. wenn sich ihm Goethes GroBe am vornehmlidtsten in der "Behand­lung von Gegenstanden mit volksmaBiger Grundlage" zeigt.

Wie ruckt sich Yilmar die Denkmaler des 16. Jhdts. zurecht1 Das voll erbliihte Yolkslied und eioe neue Volksliteratur konnen sich nicht gegeniiber der gelehrten Welt behaupten, die auf alien Feldern. so auch auf dem Felde der Theologie, des Red1ts, der staatlichen Verhaltnisse siegt. Die "nationale (will sagen: die ererbte) literarisme Kultur" wird unterbromeo, das altdeutsme GesamtbewuBtsein zer­riittet. Ein Hauptfeind erhebt sich "fast hohnlamend" liber der alten deutsmen Poesie. Es mag Uberrasmen, daB der Gymnasialdirektor Vilmar diesen siegreimen Hauptfeind die "sogenannte klassisrne Gelehrsamkeit, die griechisch-romisrne Philologie" nennt. Er gibt allerdings zugleidt an, warum der Sieg der griernisch­rorr.ischen Philologie notwendig und heilsam war. Im 15. Ihdt., in dem man die .. wahrhaften Quellen der Kirche" und die .. wahrhafte Quelle der alten Kultur des Mensmengeschlechts" entdecke, sei die in sich versunkene deutsc:he Dic:htung un­fahig gewesen, .. wahrhaft Bedeutendes, das ganze Yolk Bewegendes" hervorzu­bringen. So habe immerhin die .. despotische Einflihrung despotism herrschender fremder Stoffe" im Bereiche der Dichtung eine neue Zeit herauffiihren konnen. Es seien dann freilich drei Jahrhunderte notig gewesen. urn das Fremde mit dem Ein­heimismen zu einem "organismen Ganzen" zu verschmelzen. Das Letzte der Vil-

12 Vgl. Gber Herders Begriff des Volksliedes: Clemens Lugowski: Der junge Herder und das Volkslied -+ ZS. fur deutsche Bildung (1938) 265-277.

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)." FriedrjcJ. NeUmaHH

mar-Auffassung offnet siro wit so oft nur in wenigen Satzen. Indem tin ebrlidtes Woll~n erstrebt babe. die Welt dee Romer und Griemen zum "ausschlieBlidten Lebensinhalt" des deutsmen Volkes Zll mameD. seie" dem christlidt-kirmlichen Leben sdtwerste Wuoden gescblagen. Das Christlidte ist ihm dee .. wesentlidte Lebensinhalt" des deutsmen Yolkes.

An dee Darstellung des 16. lhdts. braumt fur tine alIgemeine Charakteristik van Vilmars Literaturgeschidlte nur Weniges herausgehoben Zll werdeD. Im evan­gelismen ICirmenlied des 16. Ihdts. entsteht fUr Yilmar die .edelste Lyrik" des deutsmen Volkes. Sdton in dieser Bestimmung liegt, daB ihm das Kircbenlied in demselben strengen Sinnt volksmaGig ist wit das Volksepos und das Volkslied. Die Reformation verlangt. daB die Erkenntnis def Siinde und das Wissen um die Gnade in die .. eigene Erfahrung" des Einzelnen aufgenommen wird, darin eine "im edeIsten Sinne volksmaSige Erscneinung". Sie bedient sicn auf dem Gebiete der Spracne derjenigen Aussageweisen, die sie nocb als entwiddungsfahig vorfindet : der Prosa und des volksmaBigen Gesangs. Das Kircnenlied ist volksmaBig. weil es gemeindebildend nur das .wahrhaft Erlebte. das wirklim Erfahrene" aussprimt. Eine Sonderbetradttung zum welt1icnen Drama deutet scnon auf Spateres hin. Narn griedrischem Muster wird verlangt, daB das rechte. volksmaBige, reinst gestaltete Drama gleidt dem Epos Motive enthalten musse, die im ganzen Volke lebendig seten. Nach den .. poetisrnen Naturgesetzen" hatte im 16. Jhdt. ein entspremendes deutsches Drama entstehn scUen. Das NibelungenIied etwa babe bereits in seiner .dramatisdten Haltung" dem Drama vorgegriffen 13. Aber durch die Schwachung des VolksbewuBtseins sei damals im 16. Jhdt. die Moglidtkeit. eine deutsdte Buhne zu schaffen. ungenutzt vorubergegangen, was durm einen Hinweis auf den 1564 geborenen Shakespeare erlautert wird. Mit Zuneigung wird unter den Satirikern lohann Fisdtart gewiirdigt. Was Vilmar anzieht, ist Fiscnarts Gewalt uber die deutsdte Sprame, die nie " freier, kiihner, diktatoriscber" behandelt sei. Diese Spradte babe aUes, nur nimt Tranen. Drum sei fa]scn. einen "geborenen Gefiihls­dicbter" wie den " fast minnesangerism traumenden" Jean Paul mit Fismart zu vergleimen.

Y .

.. Neue Zeit". Am Eingang der "Deuen Zeit'" klagt Vilmar in bartem Urteil iiber eineD damals eingetretenen Schaden, der nimt gut gemacht werden konne: .. Wir vergessen U11ser eigenes Leben. und es ist fur UJlS verloren, aIs hli tte11 wir 11ie gelebt". Der deutsme Geist wird zunadtst Sklave eines fremden Herrn. Erst nam langem uod miihseligem Kampfe bam er sich mit fremden Stoffen und in fremden MaBen, aber nacn seinen Gedanken und nam seinem Plan ein neues Gebaude. Es ist weniger erbaben als das frubere, das aus einem einsamen Walde ragt, aber wohnlidter uod gastlicher liegt es an der "groBen HeerstraSe des europaischen Volkerverkehrs". Selten laSt uns Vilmar so wie bier erkennen, wie er an der a]t­deutsdten Dichtung das Ungelehrte, Eigengewachsene, unmittelbar Erfahrene uber~ schatzt. gelenkt von seinem Begriff der Volkspoesie, bestimmt auch von seiner

13 Dieser Gedanke jetzt in anderem Zusammcnhang ausgesprochen von Hu g 0 K u h n : . Annalen der deutschen Literatur, hsg. von Heinz Otto Burger (1952) 156.

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August Vi/mars .. Gesddchtt der deutsche" NatioHal-Llteratur· 199

Vorstellung, daB sim altdeutsdter Geist, unbelastet von Gelehrsamkeit, im Christ~ limen erfiillt. So kommt es, daB er da.s ]ahrhundert, das mit dem Auftreten Opitzens anhebt, in verzerrter Sidtt eine "Zeit des smweren dumpfen Sdtlafes, der Besin­nungslosigkeit uod der smmadtvollen Knemtsmaft" nennen kann. Wie sehr Vil­mars Urteil uber die "gelehrte Poesie" der "neueo Zeit" mit seinen kirchlich­religiosen Oberzeugungen zusammenhangt, wird erkennbar, als er von dem unheil­vollen Weg sprimt, den die Reformation unter gelehrter Wirkung eingeschlagen habe: den Weg der Verwechslung der ](jrche mit der Tbeologie.

Was auch ViImar aus dem ersten }ahrhundert einer "neuen Zeit" vorlegt, wir durfen schnell daran vorbeigehn. Er, der doch selbst ein .. GelehrterU ist, kommt mit seiner Vorstellung der "erfahrenen" Dichtung nicht an jene Zeit heraD. Be­zeidlDend, wo er AusDahmen mamt. Aum im 17. }hdt. spridtt ihm nom aus dem Kirchenlied die "urunittelbare Wahrheit des selbst Empfundenen", in deren Dar­stellung es freilidt nimt mehr vorzugsweise "Bekenntnis", sondern .. ZeugnisU ist. Das echte Kirchenlied stirbt ubrigens fur Vilmar mit dem 17. ]hdt. Was spater an religiosen Liedern erscneiot. nennt er "geistliche Lieder". Didttungen "aus der mristlichen Phantasie statt aus der duistlichen Erfahrung u

• lm ganzen wirkt auf Vilmar im 17. Jhdt. all das positiv, was nom in Zugen an das 16. }hdt. erinnert. So erhalt Grinunelshausens .. Simplicissimus" vom }ahre 1669 das Lob, daB er sidt .. fast vor alien anderen literariscnen Produkten" jener Tage .. durm ein Element der Wahrheit uDd NaturgemaBheit" auszeichnet 14. Ein bead1tenswertes UrteiI . weil der Romanliteratur von Philipp von Zesens "Adriatischer Rosemund" vom }ahre 1645 his hin zu Joh. Gottfried Schnabels "InseI Felsenburg", die zwismen den}ahren 1731 uDd 1743 ersdteiot. im ganzen der "Kunstwert" abgesprodten wird. Oberhaupt scheint ihm die Gattung des neuzeitlichen Romans Uberwiegend oder fast aus­schlieBlidt fur die .. Kulturgesdtichte" belangvoll zu sein, die er auf jeder Stufe begleite.

Nicht vorhanden ist fur Vii mar der BegriH "Barock u• Auch den BegriH .. Renais­

sance" verwendet er nicht. der ohnedies erst mit Jacob Burckhardts Buch "Die Kunst der Renaissance in Italien" vom Jahre 1860 als moglicher EpochenbegriH heranzieht. Allgemein liegt ihm fern, Dic:htungen eines Zeitraumes einem gemein· samen Zeitstil zuzuordnen und dann unter schwebende Allgemeinbegriffe zu stellen. die wie die Begriffe Gotik. Barod<. Rokoko der Geschidtte der .. bildenden Kunste" entnommen sind. Sein Arbeiten mit den Herder·Grimmsdten Gegensatzpaaren Naturpoesie-Kunstpoesie. Volkspoesie-Kunstpoesie ware ohnedies soIchen Ober· tragungen nicht glinstig- gewesen. Nicht libersehn wollen wir. daB ihm wie vie1en His torikern des 19. lhdts. noch der Sinn fUr die besonderen Sichten fehlt, durch die sidt die einzelnen Perioden der Geschichte auszeidtnen.

Mit dem Auftreten Gottscheds und Bodmers setzt fUr Vilmar in den 20er }ahren des 18. Jhdts. die Vorberei tungszei t eines neuen BlUtenalters ein. fUr dessen Beginn

14 Erst in Aufsatzen der lahre 1838 und 1843 war der Name Grimme1shausens und damit einiges van seinen lebensumstanden festgesteIlt worden! V i I m a r durfte einer der ersten gcwesen sein, der diese Kenntnis verbreitet hat. G. G. G e r v i n u 5 nannte in seiner Literaturgesenkhte (in T.III. 1838. S. 383) den .. Simplicissimus'" -Verfasser noen nam einem von dessen Decknamen Samuel Greifenson von Hirsenfeld.

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200 Friedrich Neumnl1tl

ihm def Name Klopstock steht. Dem entspricht, daB Vilmar aum deT "ersten klas­sismen Periode" zwischen den Iahren 1150 uod 1190 eine Art Vorbereitungszeit vorausgehn Hillt. in beiden Fallen eine Betrachtungsweise, die vom Spateren aus urteilt uod nur allzusehr in def Forsmung uod liber sie hinaus verbreitet ist. Was die Dicbterwerke dieser zweiten "Vorbereitungszeit" angeht, hat freilich Vilmar •. uod vcn seinem Standort aus mit Remt. nur selten etwas zu finden. das sich liber Mittelma6igkeit erhebt. Nicht klar wird. warum er diese als "Vorhereitungszeit" bestimmte Periode erst mit det Zeit urn 1760 schlie6t. Was er die "zweite klassische Periode" nennt, versammelt er urn .. sechs Heroeo def Poesie": urn Klopstock. Lessing, Wieland, Herder, Goethe, Schiller, so verschieden er ihre Werke wertet. Obwohl die ersten drei (Klopstock, Lessing, Wieland) schon urn 1750 einsetzen, bat er wohl nach einer mittleren Zabl gesucht, die naher an der ersten Wirkung Herders und Goethes ist. Indem er als "rohe Ansicht" abIehnt, daB der menschliche Geist nur ein "Produkt der Zeitverhaltnisse" sei, werden ihm die genannten Sechs zu Schaffenden, von denen jeder einen eigenen Vhg einschlagt. ledem von ihnen folgen dann andere in ihrer Weise nach, ohne daB diese Nachfolger geschlossene Gruppen bilden. So erscheint im Zuge soIcher bedingten Nachfolge hinter Klopstock der "Gottinger Dichterbund", hinter Lessing 10hann lacob Enger. hinter Wieland Wilhelm Heinse, hinter Herder lean Paul. hinter Goethe und Schiller die Romantik von den Schlege1s bis hin zu lustinus Kerner und Ludwig Uhland. Auf uns Spatere, die wir nicht einmal Vilmars sechs "Heroen" in einer Gleichordnung auf gleicher Zeitebene sehn konnen, muB diese Aufgliederung kiinstlich wirken, soviel sie auch zu Uberlegungen anzuregen vermag. Sie zeigt uns, wie nahe noch fUr Vilmars Gene~ ration die durch Klopstocks Anfange und Goethes Ende eingegrenzte Epoche war 15.

Vergewissern wir uns nun in skizzenhaften Satzen, wie sich Vilmar zu seinen "sechs Heroen" stellt, nimt urn ihm in allem gerecht zu werden, was groBerer Zuriistungen bediirfte, sondern urn einen Eindruck zu gewinnen, wie er auf die Werke dieser Sechs antwortet.

Klopstock wird in iibersteigerter Rede als der "Meister" der mit ihm Lebenden und der Kommenden gepriesen. Doch mischt sich in dies Preisen immer wieder mit verschiedener Betonung ein .. Obwohl" ein. Klopstock will sich nicht zu einem Deutschen mamen, er i s t einer in seinem Gesamtgefiihl. Gleichwohl schlagt er zur Belebung des deutschen Altertums den gle ichen verkehrten Weg ein, den die vorausgehende Zeit ging. Er ist wie keiner seit den Tagen Wolframs von Eschenbam ein christlicher Dichter, der vom Tun, nicht von der Lehre singt. Gleichwohl ware in einer "Kulturgeschichte" vom Willkiirlichen uDd Bedenklichen seines Geftihls~ christentums zu sprechen. Uberhaupt haben er und die "neue Zeit" das Deutsche und das Christliche nicht so gediegen wie die alte Zeit. Seine schop£erische Leistung ist, daB er die "MaBe und Formen" des klassischen Altertums mit deutschem Stoffe und Geiste erftillt. Er hat dartiber hinaus die Dichtung vom "toten Formalismus" befreit und auf "groBe Gedanken" durch eine "wahrhaft dichterische" Sprache gelenkt. Aber selbst da gibt es fur Vilmar etwas zu bedenken. Er weist mit guter Beobachtung auf eine Eigenheit, die Klopstocks Dichtung mit Dichtungen der

IS Gewisse Entsprechungen Hnden sim auch bei G e r v i n u s in Bd. V und VI se iner Lite~ raturgeschichte, die in den lahren 1840, 1841 erschiencn.

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August Vilmars .. Gesdiidite der deutsduH Natfonal·Literatu," 201

neuen Zeit gemeinsam hat. Mensmen der neuen Zeit haben im Streben. von den "Fesseln def Konvenienzwelt" frci zu werden. das "fast angstlime Suc:hen nam NaturgenuB uod freier Natlirlichkeit." Aus diesem Sumen gerat Klopstock in eine " iyrisme Oberschwenglic:hkeit", die sich in allgemeinen Empfindungen aufiost . Dem "Messias" vollends. dem Versuch Klopstodcs. "die Erlosung des Menschen durm Christus zu besingen", kann Vilmar hei aBer Hochsc:hatzung vorwerfen, die .. duistlime Mythologie" Klopstocks sdueite. milde ausgedrlickt, "auE def sc:harf­stcn Kante zwismen dem Zuiassigen uod dem geradezu AhstoBenden uod Verwerf­lichen". Den unbestritten "klassismen" Klopstock findet er in den friihen Oden. Nimts Gutes weiS er iiber Klopstocks "dramatisme Poesie" zu sagen.

Lessing, der "zweite Erwecker der neuen poetismen Selbstandigkeit" genannt, wird fur Vilmar der AnlaS, aus der neueren Zeit ein geistiges Verbalten beraus­zulosen, das den Charakter der "Dissonanz" bat. Fast gleimzeitig mit der Refor­mation sei man, zunamst in ltalien, bestrebt gewesen. einen "neuen befriedigenden Lebensinhalt" in der "geistigen Welt des heidnismen Altertums" zu gewinnen. Im "englismen Deimus" des 17. Jhdts. sei sod ann der Zwiespalt zwismen dem uber­lieferten mristl imen und dem neuen antik-heidnismen BewuStsein unubersebbar geworden. So sei man in der neuen Zeit vom Standort des Habenden und GenieSen­den auf den Standort des Sumenden und Zweifelnden zuruckgetreteD. Aber da man den .. naiven" Standort des sum endeD Griemen und Romers Dimt wieder erreimen konnte. hatten das neuere Suchen und Zweifeln etwas Unruhiges und Gewaltsames. Vom "Sumen und Nicht-Finden" sei unsere ganze neuere Dimterzeit erfullt. Man braumt kaum zu sagen. warum Vilmar zu Lessings Werk diese Betramtung ein­ruckt. Lessing ist ibm der "erste und bedeutendste Reprasentant dieser Suchenden und Nimt-Findenden". Dom wird Lessing zugespromen. daS in ibm. wenn man von Goethe absieht. mehr .. antik-klassiscne Rube" des Sumens ist als in den Sum end en der Folgezeit, an deren Ende sich in Vilmars Tagen die "vom Weltschmerz Zer­ri ssenen" bewegen. Das hom ste Lob. das Lessing empfangt. beziebt sich nimt auf das Dimten : Nach Luther sei er der "zweite Smopfer" der deutsmen Prosa.

Was Vilmar mit verhartetem Sinn uber Wieland zu sagen hat. engt dessen Be­deutung so sehr ein. daS es fur unseren Zusammenhang nimt lohnt. dabei zu ver­wei len. AIs Beispiel nUr Vilmars Urteil uber den .. Oberon". der allein mit den "Abderiten" unter den Werken Wielands einen guten Stoff habe. Die Gestalten dieses Werkes erwumsen .. nidtt aus dem gesunden Boden der Naturwahrheit . son­deln aus der udr aIlerlei ki;nsrltchen Salzen versetzten Blumentopferde der StubeH­klfltlfr". Es nutzt Wieland auch nidtts. daS er mit Gottfried von Stra Bburg ver­glimen wird. dessen Darstellungsgabe sidt Vilmar nimt zu entziehn vermomte.

Etwas kiinstl ich wird dem Wirken Klopstocks, Lessings und Wielands zugeteilt, in der jungeren Generation auf geistigem Felde den Drang nam "Urzustanden" ausgelost zu haben. Vilmar laBt diese fur Deutschland kennzeichnende .. poetisme Revolution". die bei ihm wie bei dem im Jahre 1840 vorausgehenden Gervinus "Periode der Originalgenies" heiSt. mit Herders Auftreten beginnen. wobei er an die im Jahre 1767 in Riga erschienenen Fragmente Herders "aber die neuere deutsme Literatur" denkt. Den 1730 geborenen Hamann. der Dur ein Jahr jiinger als Lessing und sogar drei Jahre alter als Wieland ist. und den 1744 geborenen

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202 FriedrieJi NeumanH

Herder. dem Klopstoc:k uDd Kant zwanzig lahre voraushaben. nennt Vilmar .. offeo­barende Geister". Hamann, den Vilmar gegen Gervinus verteidigt, weist auf die .. Unwillkurlicbkeit uDd Notwendigkeit der altesten. emteo UDd wahren Poesie" hin. Er erweckt das BewuBtsein, daB alles GroBe nur vom "gaozeD" Mensmen. der Leib uod Seele uDd Geist ist. gesdtaffen werden kann. Indem dann Herder in einem nom nicht erreicbten Universalismus die F5higkeit hat, sich an das "eigentiimliche. innerste, edeIste Leben aner Nationen anzuschlieBen", ist er das "Zentrum def neuen Zeit" I Da meldet sich die Frage, ob in Vilmars. Darstellung nicht die Ge­dankenwelt Hamanns uod Herders eineo starkeren Einsc:hnitt setzt als def Beginn seiner .. klassischen Periode". du!<n den das 5chaffen Klopstocks, Lessings und Wielands an das Schaffen Goethes und Schillers herangezogen wird. Antwort kann vieIleidtt Vilmars 5teIlung zu Goethe geben. Von dieser seiner Stellung sagt freilidt Vilmar, daB sie nidtts AbschlieBendes ilbermitteln konne. Erst von dem Auftreten eines neueo Genius her koone man den frilheren Genius betrachten, wie erst mit und nam dem Ablauf jener in Goethe vollendeten Bliltezeit die Dimtung der alten Zeit (also vor anem die hochmittelalterliche Dichtung) ihre historische Wtirdigung zu finden beginne.

Der junge Goethe singt gleim den Dichtern der aIten Zeit, deren .. OrakeI­Herder ist, "mit dem HeTzen ulld fUT das HeTz »tit der lebendigen Sri»tme des Mundes und fUT des MffHdes Iebendige Stimme" . 50 tritt er oeben die Dimter der Griemen, neben die groBten altdeutschen Dichter. neben Shakespeare und die Volkslyrik. Nur die Stufe des Volksepos erreicht er nicht. da sie dem Individuum unerreichbar ist. Dom von Beginn an trennt ihn von den Dichtern seiner Tage. selbst von Klopstock. daB er nichts werden will und nichts wird: .. er ist gewesen, was er war". Mit dem, was Vilmar im Einzelnen zu Goethes Werken sagt, ha ben wir hier nicht zu rechten. Von Yilmars Standort aus ist fa st selbstverstandlich, daB es ihn (urn seine Ausdrilcke zu verwenden) "zu den Vulkanen der goethismen Jugend" und nicht zu dem "Kaminfeuer des Greises" zieht. Was faIlt aber Vilmar in einer Obersmau am Dichter Goethe auf? Nach Yilmars Auffassung ist der erste Eindruck. den man von Goethe hat, der Eindruck der .. Gesundheit". Er findet an Goethe "nichts Gespanntes. nichts Qberreiztes, nichts Gewaltsames" . nichts mithin von Eigenschaften, die ihm rVilmar] so stark eignen konnten. Goethes gesundem Auge zeigen sich die Dinge in ihrer "wahren, einfamen, natilrIichen Gestalt". Darin grilndet das Heilende. Beruhigende. Versohnende seines Wesens. Aus dem Gefiihl filr das Ungesunde. ihm 5chadliche empfangt er ein BewuBtsein von notwendigen Schranken, von dem, was er die .. Forti6kationslinien des menschlichen Daseins" nennt. Zu diesen 5chranken gehort. daB er (und dies ist nun filr Vilmar etwas Ne­gatives !) die .. Bewegungen der Nationen. das groBe Volkerleben nicht in Harmonie mit seinem eigenen Selbst" zu setzen weiB. In diesen Zusammenhang steIlt sich Vilmars Urteil. die franzosische Revolution habe in Goethe wohl ein tiefes MiB­behagen erzeugt. aber keine entschiedene, dichterisch zu gestaltende Ansicht ge­weckt, weil er .. zu vie l personliche Verwandtschaft mit den letzten Elementen und Anfangen" der Revolution gehabt ha be. Dom SpD.rt sich Vilmar entsprechend dem damals fast selbstverstandlichen Zusammennehmen von Goethe und Schiller ein letztes Urteil auf, bis er auch den jilngeren in seine Betrachtung einbezogen hat .

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Augl'st Vilmars .. Geschichte der deutsd.eH National-Literatu," 103

Vilmar Whit sim an Sdliller hefan. indem er ihn als .. SpatIing" clef Genieperiode betrachtet. Yon dort her habe er die Neigung. "IdeeD in die Wirklichkeit hinein­zuwerfen". auch die Neigung zum lebhaften. oratorisdt geHirbten DarsteIlen. Durm diese Zuge sei er, wenigstens unter Gesinnungsverwandten, zum .. Lieblingsdichter cler Nation" geworden. Vilmar hat cs allS seiner Welt hefalls nimt Icicht. Goethe uod Schiller nebeneinander zu sehen. Bietet sich ihm dom in def Reihe def vier SchiIlerscnen Jugenddramen die franzosische Revolution "in umgekehrter Folge" dar: zuerst cin blindes Losschlagen in den .. Raubern", sd1IieBlich IdeenrevoIution im "Don Carlos". Ohoe Einwand wird selbst der hom gesmatzte "Wallenstein" nicht aufgenommen. Dauernde Wirkung verspricht Vilmar den Balladen und Ro­manzen Schillers. Den feinsten Duft strahlt ihm Schillers Dimten in einer kleinen Gruppe von Gedankenlyrik aus, besonders in jenem philosophischen Gedichte, das zuletzt die Obersduift .. Das Ideal und das Leben" erhalten hat.

Wie wird Vilmar mit jener Gegensatzlichkeit fertig, die nun einmal auch in der Freundsmaft Goethe-Sd1iller zum mindesten als fordernde Spannung spurbar ist? Vergessen wir nimt, daB die Vorlesungen zwischen der lulirevolution des lahres 1830 und der Marzrevolution des lahres 1848 gehalten werdeD. Noch ist der Streit urn die WertuDg Goethes uDd Smillers keine zeitferne, rein akademische AngelegeD­heit. Vilmar hebt diesen Streit durch ein ihn kennzeichnendes Urteil auf. Was Goethe und Schiller unterscheidet, ist der "uralte Gegensatz der Naturpoesie und der Kuustpoesie U ! In alten Zeiten war er an die Gegebenheiten Yolk und In­dividuum gebunden, diesmal verwirklicht er sich in zwei Einzeipersonen, eben in Goethe uod Sd1iller. Ob Vilmar hier beim HeranfUhren der Begriffe Naturpoesie und Kunstpoesie an Schillers Scheidung des Naiven und Sentimentaleo gedacbt hat? Gesagt wird es nimt von ihm. Wie dem auch sei , fur uos beute ist nimt smwer, die Brucke, die ViImar an dieser StelIe zur alten Zeit hin schlagt, als nicht tragfahig Zll

erweisen. SeiD Begriff des sachlich Erfahrenen, des sadtlich Lebendigen muBte ihm schon fruher helfen, seineD Bcgriff von Volkspoesie zu erlautern, der den Begriff Naturpoesie in Klammer mit sich Whrt. Nur zu verstandlicb ist, daB er jetzt fur das Spannungsverhaltnis Goethe- Smiller allein den Begriff Naturpoesie heranholt, oh ne ihm den Begriff Volkspoesie in K1ammer beizufUgen. Wir sehn hier tief in Vilmars gleitendes Denkeo binein, das die begrifflimen Einheiteo Naturpocsie, Volkspoesie uDd Poesie aus Erfahrung nimt klart. sondern nam Bedarf ineinander und ubereinander smiebt.

1st fur Vilmar nach diesem Urteil. was Goethe und Schiller angeht. die "zweite klassische Periode" von gleichem Rang mit der "ers ten klass isch.en Periode"? Als er von Klopstock zu Lessing kommt, spricht er von der "Dissonanz", die aufkJingt, wo im Hinwenden zum griemisch-romischen AItertum das christliche BewuBtsein nicht festgehalten wird. Diese "Dissonanz" vern immt er nimt nur im Schaffen Schillers, sondern audl im Schaffen Goethes: Goethe halte es mehr pantheistisch rnit einer Vergotterung der Natur. Schillcr mehr rationalistisch mit einer Vergotterung des Mensmen. Und dann hringt er eine Erklarung, warum Goethe als Dichter nimt die "Bewegung der Narionen, das groBe Volkerleben" zu gestalten, warum er sich als Dicbter nlmt his rum lcrzten mit der franzosischen Revolution 3useinanderzusetzen vermochte. Goethe konnte nicht die .. welthistorisdle Bedeutung des Christentums"

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mit .. personlichem Glauben" erfassen. Leider wird uns nimt erliiutert, wie sim dies Versagen des Dichters Goethe bekundet. Vilmar gIaubt wohl dessen enthoben zu sein, weiI ihm deT Volksbegriff mit dem Begriff des Religiosen uDd so auch mit dem Begriff des Christlichen unloshar verhunden ist. Ohendrein gilt ihm die franzosisrn.e Revolution in ihren Anlassen uDd ihrem Verlauf als "eine Manifestation des anti~ christlichen Geistes". Dazu stelle man Vilmars Behauptung, Goethe sei innerlich ein Teilhaher an den " tiefsten uod geheimsten Elementen" der Revolution ge~ wesen, oh ne die Entwicklung guthei6en zu kanDeD. die diese Elemente nach auBen genommen hatten. In eester Hinsicbt wird er da Goethes Verhindung mit dem Denken der "Genies" meinen, soweit es die Kultur wieder von vorn bei den "Ur­zustanden des Menschengeschlechts" anzufangen streht. Auf Schiller hat Vilmar dies nur in Andeutungen DargeIegte nicht angewandt, wohl weil ihm da das Er­lautern nicht notig zu sein schien.

1st dies ViI mars letztes Wort liber Goethe und Schiller? Vilmar fragt , oh nicht doch in ihrem Schaffen die aus derTiefe gewachsene Dichterbliite gleich der Wasser­lilie mit ihren Wurzeln auf dem "ewigen Grunde" festgewachsen sei. Er neigt zu der positiven Antwort, daB vor allem Goethes Schaffen fahig machen kann, den Sprecher der Bergpredigt zu horen und ihn als den Gekreuzigten in seiner "einfachen Wahr­heit" aufzunehmen. Begrlindend sieht er auf jenes Wirken Goethes, das weit uber den Bereich der Dichtung hinaus den Sinn flir die Objekte erzeugt und starkt: an Goethes treue "Wahrhaftigkeit" , die sich an das wirklich Erschaute und Erfahrene halt. Durch die ganze Dichtung Goethes sei dieses "AufschlieBende, Bahnmacbende, dieses Befreiende und Weltlich-Erlosende" ausgebreitet. Den Dimter Schiller aber trage der "tiefe Instinkt der Wahrheit", daB Gottesoffenbarung und Poesie im letzten eins seien. So hestatigt sim fur Vilmar an Goethe und Schiller die Erfahrung, dn.B das Fruchtbarste und Dauerndste unseres Wirkens nicht in dem liegt, was wir am klarsten zu erkennen glauben, sondern in dem, was wir aus dunklem, aber gott­lkilem Triebe und selhst gegen unsere Neigung tun.

Vilmar hestreitet, daB man literarisme "Schulen und Richtungen", die in die Gegenwart hineinreichen, geschichtlich darstellen kann. Er woIle nicht aus einem .. Geschichtserzahler" ein .. Besprecher der Tagesnovitiiten" werden. Nur andeutend beurteilt er denn auch die Arbeiten und Strehungen derer, die er nach dem Sprach­gehrauch der Zeit unter dem Namen der "romantischen Sd1Ule" zusammennimmt. Tragender Gedanke dieser Richtung seL "die Einheit der Poesie ~nit dem Leben zu begreifen, zu verkundigeJ1 , herzustelIeJ1 ". Dieser Gedanke bewirke fast notwendig die Liebe zum Mittelalter. Bestimmter als vorher wird jetzt mit dem Blick auf Herder und Goethe der "zweiten klassischen Periode" der Charakter der nUniver­salitiit" gegeben. Entsprechend wird die " sogenannte romantische Schule" aIs "not­wendiges Erganzungsglied" dieser zweiten Periode angesprochen. Es sei daran er­innert, daB Vilmar in seiner Gliederung der Literaturgesdtichte die Romantiker unter die Nachfolger Goethes und Schillers einordnet. Nicht unwichtig ist fiir uns, daB Vilmar die Forschungen der Brlider Grimm dem Boden der "romantismen Schule" erwachsen laBt, was hingehn mag, wenn man den Begriff der "romantischen Schule" so we it wie Vilmar faBt. Bei dieser Beurteilung der Brlider konnte daher Vilmar nkilt abstreiten, daB aum er trotz des Trennenden mindestens mittelhar der

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August Vilmars "Geschidtte der deutsruen National-Llteratu," 20'

"romantismen Smule" verbunden sei. Etwas Oberrasmendes hat, daB Vilmar seine DarstelIung der Literaturgesmichte endet. ohoe in eiDer Rucksmau den Weg zu iiherpriifen. den er durdtmessen hat. Kein Ersatz ist die SchluBwendung, daB hei Pflege des gesmicbtlichen BewuBtseins vielleicht fruher oder spater ein "drittes Blutenalter" eintrete, in dem sich "die tiele Glaubensbefriedigung und das starke NationalgefiHtl deT iilterel1 mit dem vollel1deteu Weltbewu{1tseili deT jUl1gerel1 Zeit" vereine. Darf man iiberhaupt in dieser smwehenden Aussage mehr erkennen als eineo Ruf an die Horer. sich uher die Gegenwart zu erheben7 Urn so mehr haben wir AnlaB. uos im Zuriidcdenken zu vergewissern, welme Auffassungen es sind, aus denen Vilmar seine wertenden Urteile cntwickelt.

Zuvor muG freilim nom eins ausgespromen werden, was - wenn im richtig unterrichtet bin - bisher nimt mit der notigen Aufmerksamkeit beachtet worden ist. Vilmars Vorlesungen waren, gleimgUltig, wie weit sich Vilmar dessen bewuGt wurde, einer literaturgeschichte jener Tage entgegengestcllt. Ich meine die "Ge­senichte der poetischen National-Literatur der Deutsmen", die Georg Gottfried Gervinus unter dem Sondertitcl "Gesmiente der deutschen Dichtung" vom lahre 1835 bis zum lahre 1842 in flinE Banden seinen "Historischen Schriften" eingeord­net hatts. Vilmar weist gelegentlich zustimmend oder ablehnend auf Gervinus hin. Sein allgemeines Urteil iiber Gervinus rudet er im Voriibergehn ein, als er ein Vers­werk des 12. !hdts .• das .Alexanderlied" des Pfaflen Lamprecht. bespricht. Er be­dauert, daB man dies Werk nient mehr remt loben ke nne, nachdem es Gervinus .,auf iibertriebene Weise" gelobt habe. Hierbei wird Gervinus ein "deutsmer literar­historiker" genannt, .. welcher mit nur zu viel fremden MaBstaben und vorgefaBten Meinungen an sein Werk gegangen ist, so daB seine Unpartei lichkeit und die Rim­tigkeit all e r seiner Urteile nimt geringem Bedenken unterliegt ". Es ist wohl der offenste Ausbruch gegen das Werk eines nur wenige lahre jiingeren Gelehrten. der gIeich Vilmar in seiner Darstellung der literaturgeschichte dem Leben dienen will . sim aber trotz gewisser Verwandtschaft in anderer Richtung bewegt 17 . Gervinus ging es in seiner literaturgeschichte im Ietzten urn politische Geschichte. In der Gesd1.id1.te der deutschen Didltung glaubt er einen Ablauf verfolgen zu kennen, der auf der Wende des 18. und 19. Jhdts . in Goethes und Sd1.iIlers Werken sein "ZieJ", das Durchdringen der in ihm angeleg ten .. Idee"' , erreicht. Auf dem geis tigen Felde der deutschen Geschichte hat sidl damit fUr ihn eine .. Revolution '" vollzogen, die sim

16 Histori sche Schri ften 2.-6. Bd. (Leipzig bei W. EngeImann). Fur einen Ve rgleich mit Vilmars Literaturgeschichte darf man nur diese 1. Aufl . benutzen. - Zur Einordnung der kiihnen Arbeit des im }ahre 1805 in Darmstadt Geborenen vgI. man R u d o l fUn g er : Gervinus und die Anfange der politi schen Lireraturgeschichtssch re ibung in Deutscbland -. Nachr. d. Ges. d. Wissensch. zu Gottingen, Phil.-h ist. Kt. (1935) = Zur Dichtungs­und Geistesgescbichte der Goerhezeit (Berlin 1944) 298- 324. Dort weitere Literatur.

17 J a c o b G rim m hat den ersten Teil des "Gervinus" im Erscheinungs jahr 18 35 in den Gouingischen Gelehrten Anzeigen bespromen, mit der ihm eigenen Vorsicht seine Ein­wande anmeldend (= Kleinere Schriften V. 1871, 176- 187). Vilmar hat diese Be­spremung gekannt. - Vilmar traf im September 1846 mit Gervinus auf der Germanisten­versammlung zu Frankfurt a. Main zusammen. AIs er in einem Bride an se ine Frau erwiihnt. wie freundlich und zuvorkommend alle zu ihm sind. schlieBt er ausdruddich Gervinus ein . Vgl. W. Hop£, 1. Bd., S. 357.

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nur mit der Reformation Luthers vergleichen laSt. Nacbdem 50 def ., Wettkampf der Kunst" vollendet ist. bleibt aIs einzige Aufgabe die Reform des Staatslebens. Da­durch daG filr das Feld der Dichtung der Gang der Geschichte auf das .KunSlideal" Goethes uDd Schillers hezogen wird, liegt fast notwendig die altdeutsme Zeit im Zwielimt. Und in def Art wie Gervinus Goethes Dichtung zur Natur. 5cililIers Didttung zur Idee der Freiheit stellt, bekundet er, daB ihm im Unterschied von Vilmar SchilIer naher ist als Goethe. Bei vielen Beriihrungen im Einzelnen liegt das alles weir ab von Vilmars Wertung der alten uDd DeueD Zeit, auch von Yilmars Einordnung der Reformation in die Geschichte der Bekenntnisse. Es ist eine eigene Aufgabe. den Kirchen- uDd Schulmann Vilmar uDd den politischen Historiker Gervinus in ihren Literaturgeschichten IU vergleichen. Wir miissen uns mit diesen £liichtigen Ausblicken begniigen. so sehr erst im Nebeneinanderstellen der bei.den literaturgeschichten die Farben ihrer Vorstellungswelten kraftig aufleumten wer~ den. Aber was sagt uns ViImar allein iiber das Gefiige seiner Wertungen7

Vilmar findet seinen Weg. indem er sich immer wieder von den aufeinander be~ zogenen Begriffen Volkspoesie und Kunstpoes ie leiten laBt. Nur wo das SpaDnungs­verhaltnis Volkspoesie - Kunstpoesie gut ausgewogen ist. kann Dichtung hachster Ausdruck des Lebens sein. Aber wanD verdient Didltung den Namen Volk s~

poesie? Dort wo sich das Lebcn des Volkes gleichsam aus sich selbst unmittelbar "in voIler Wahrheit" dorSlent. Wenn auch dcr Volksbegriff nicht ausdriicklich erlautert wird. ist deutIich. daB er nicht auf Staatlich-PoIitisches fiihrt. sondern auf etwas Urspriinglicheres: auf Erlebniseinheiten. die sich durch die gemeinsame Sprache binden. Indem sich in der Volkspoesie das Leben selbst spiegeln soll. kann Vilmar auch dort. wo es angemessen erscheint. statt von Volkspoesie in einem Herderschen Sinne von Naturpoesie sprecheD. Dabei fiihlt er sich nicht in der Ge~ fahr. irn ADschluB an einen antiken Naturbegriff eine Utopie von Naturleben im Sinne des 17. und 18. Jhdts. heraufzubeschwaren. die nach seiner Meinung die Re~ volutionen der Neuzeit mitverursacht hat. Das Natiirliche. das er will. deckt sich ihm nic:ht mit einer vitalen oder stofHichen Naturhaftigkeit. sondern mit dern. was er das Tiefempfundene. das Echte. das Wahre nennt. wobei ihm das Wahre zugleich ein Einfaches sein muB. Aus all dem folgt. daB der Begriff Kunstpoesie nur von den Begriffen Volkspoesie. Naturpoesie her IU bestimmen ist. Kunstpoesie setzt. wenn es urn Gehalte geht. an individuellen Erlebnissen oder an Gehalten fremder Sprach­welten an. darum zumeist an willkiirlich Erfundenem oder wiUkiirlich Aufgenom­menem. Ihren eigentlichen Charakter entwickelt sie in der darstellenden Arbeit des Kunstdichters. Vilmar sagt uns selbst. daB ihm Herder uDd Jacob Grimm diese BegriffsweIt zugeleitet haben. Was der jiingere Herder auf der Suche Dach edttem Dichterwort in sprunghafter Aussage liber das Volkslied und was der JUDge Jacob Grimm in sdtwebender Aussage liber die Urform des Epos gebeD. verwandelt Vilmar in ein handfestes Begriffsgut. urn geschidltliche Ablaufe im Urteil iiberschaubar zu mamen. Kein bequemes Verfahren, da sich die gesdlid.1tliche Wirklkhkeit dagegen sperrt. in diese heiden BegriHsHicher eingefangen zu werden. Das Spannungsver­haltnis Volkspoesie-Kunstpoesie glaubt Vilmar in eiDer Art Vollkommenheit am Neheneinander van Nibelungenlied und Wolframs .. Parzival" aufzeigen zu kanneD. Wie aber von daher begreifen, was er die .. zweite klassische Periode" nennt und

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Augus t VIIHfars .Gesdtldtte der deutsdteH NatioHal-Literatur" 207

seiner geistigen Herkunft nach nennen muB? Es hilft ihm. daB ihm sein Sprach­gebraudt erlaubt. dem echtesten Goethe das BewuSte. Gemachte. Kunstliche zu entziehn. Fur Goethes gegenstandliches Erleben und Denken bietet sich ihm der nich t durcbgekHirte Begriff Naturpoesie an. Indem er Schillers smaffendes Denken hinzunimmt. stelIt sich ihm wie von selbst auch auf neuzeitlicher Ebene das er p

wunschte Spannungsverhaltnis Naturpoesie-Kunstpoesie ein. AIIgemeiner ausge p

driickt: Vilmar zwingt uns in seine Sichtfelder. indem die begriffliche Einheit van Dichtung aus erlebnisechter Erfahrung das Mittel wird. Verschiedenartiges un ter die ineinander gleitenden FamerbegriHe Valkspoesie. Naturpoesie zu bringeD. Das un­bewuSt Gewaltsame dieses Vorgehens wird aufgehoben durdt Darlegungen. die an­sprechen. und durch manches Urteil. das anregt oder trifft. FreiJich bekundet sich auch in Vilmars Verfahren. daB der dem offentlichen Leben zugewandte gefiihls­starke Mann alles and ere denn ein smarfer Denker ist. Das zeigt sich aum an der SpradJ.e seiner Darstellung. Man hat die Sprachkraft seiner Aussagen geruhmt. Vilmar ist gewiB ein anheimelnder Erzahler. wo ihn Gegenstandlidtes fesselt. Aber wo er sich im freien Denkraum bewegt. da verHingt er sich nur zu leicht in einer Rhetorik. deren Satzglieder man nicht bis ins Letzte durchleuchten darf.

Mit den Begriffspaaren VoIkspoesie- Kunstpoesie. Naturpoesie- Kunstpoesie haben wir noch nicnt Vilmars Vorstellungswelt zureichend erfaSt. Durdtgreifender wirkt eine Oberzeugung Vilmars. die nur geIegentlicb ins Wort kommt. Es ist. wie wenn sie als ein Selbstverstandliches vorauszusetzen sei. Idt meine das fur Yilmars Literaturgeschichte charakteristisme Yerhaltnis der Begriffe .. deutsch" und .. christ­lich". Das Christentum. so horeD wir. hat den deutschen Charakter (will etwa sagen: den angestammten Charakter der Deutschen) in der Bekehrung nicht verandert. sondern gehoben. verklart, geheiligt, vollendet. In der Gemeinde der Deutsmen findet die napostolische Gemeinde" ("aIs Braut des Herrn") ihr Gegenbild. Was heiSt das? Doch wohl nur dies: Da sich der Begriff Yolk im Begrifl echter Sprach­gemeinschaft erfiHlt. laSt sich seit der Bekehrung der auf die Deutschen bezogene BegriH Yolk nicht vom Begriff des Christlichen trennen, wenn er in seinem aIten Sinn genommen wird. Von da her erklart sim, daB das evangelische Kirchenlied die ... edelste Lyrik" des deutsmen Volkes genannt wird. Beachtet will die beilaufige Bemerkung sein. in der Vilmar begrundet. warum die Reformation eine volksmaBige Gestaltung der Kirme ist. Im .. wahrhaften Volksleben" liege .. die wahrhafte Kirme. dem Keime nam und der Entwidd ung bedurftig, vorgebildet". Sehe ich richtig. so erkliirt hier Vilmar echtes Yolksleben und echtes Kirchenleben zu zwei zusammen­gehorigen GroBen, die eine gemeinsame Selbstandigkeit aus eigenem Recht ha ben. Wohl aus Erinnerungen seiner Jugend heraus sagt er vom Yolk. es sei im 17. Jhdt .• dari" von den haheren Standen unterschieden, nidJ.t vom Gift der "galanten Poesie'" getroffen gewesen und habe "gerade nach dem Drei Bigjahrigen Kriege bis zur fran­zosismen Revolution vielleimt die beste. ehrbarste. frommste Zeit seines ganzen bisherigen Daseins" gehabt. Yor aUem aber gewinnt er durch das Zusammengreifen von echtem Volksleben und chr istlimem Kirmenleben ein Einheit smaffendes Band, das von den AnHingen der deutschen Gesmichte bis in die Gegenwart des 19. Jhdts. reicht. Die Reformation ist fur ihn nimt wie fur Gervinus eine Revolution. Indem sie das Verhaltnis von Sunde und Gnade der eigenen Erfahrung des Christen zu p

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208 F,'~drfd1 N~UHfaH": August Vflmars "Gesdtlc:hte det deutschcH National-Literatu,"

weist, entwickelt sie nUf, was langst im eenten VolksJeben angelegt ist. Den Bruch in die Gesmichte der deutsmen Dichtung bringt im 16. Jhdt. nic:ht die Reformation, sondern die .. Gelehrsamkeit", die sich in Nachahmungen verstrickt, his mit der ... zweiten klassismen Periode" die Befreier erscneinen. Und wenn auch Goethe uDd Schiller keine christlimen Dimter im strengen Sinne sind. sie fah reD, ohoe es zu wo lieD, dorthin, wo der Weg Zll Christus offen liegt. Durm die Oberzeugung, daB ec:htes Volksleben uod echtes Kirmenleben eine geschichtlicn begriindete Einheit sind. halt Vilmar seine Geschichte der deutschen Dimtung unter der OberfIame zusammen. Und soIch Bindendes an seiner DarsteIlung hilft auch mit, die auffaUende Dauerwirkung zu erklaren. die die Marburger Vortrage gehabt haben 18.

Damit sind wir bei einer letzten Oberlegung. ViImar hielt seine Vortrage in "vormarzlichen" Tagen, in denen die Menschen trotz franzosischer Revolution und Napoleonischer Zeit immer noch im politischen Raumgeffihl des 18. lhdts. zu Hause waren. Welch Wandel durch das lahr 1848 und seine Folgen, dunn die 60er und 70er lahre des 19. lhdts. , schlie6Iich durm die Veranderung des gesamten Lebens~ stiIs, die urn die lahrhundertwende ausdrudcsfahig wirdl Vilmars Literaturgeschiente bat in all diesen lahrzehnten ihre Leser, obwohl mit der vierten Auflage des lahres 1851, also mit Vilmars Absenied von seiner Marburger Direktorzeit und seinem Obertritt in die groSe Politik, der Text unangetastet bleibt. Bei Vilmars T od im lahre 1868 waren zw6lf Auflagen hinausgegangen. Mit einer Fortsetzung von Adolf Stern ersenien Vilmars unveranderter Text 1886 in der 22. Auflage. Damals lag bereits seit drei lahren Wilhelm Smerers "Gesmiente der deutsmen Literatur" vor, die bei aIlem wisseDschaftIichem Anspruch gleichfaIls breitere Wirkung er~ strebte uDd grade auch durch die geistige Verbindung mit Gervinus dem naher war, was man den Zeitgeist nennen kann. Trotz der Wirkung von Smerers Literatur­geschichte bringt noch nach der lahrhundertwende das lahr 1905 die 26. Auflage. Dann tritt freilich eine Pause ein. Immerhin erscheint im lahre 1913, ein lahr vor Beginn des ersten Weltkrieges, im Zusammenhang mit dem vorausgehenden Er­folg eine letzte, die 27. Auflage. GewiB hat fUr diesen Gesamterfolg mitgesprochen, daB der "Vilmar" ein handliches Bum war. Und nur den, der die allgemeinen Ver­haltnisse nient beohachtet, kann iiberraschen, daB sich die Leser des spateren 19. lhdts. mit dem iiberholten ForsdlUngsstand zufrieden gegeben haben. Aber es muG zu solmen verhaltnismaBig auBeren AnHissen noch ein innerer Grund hinzu­gekommen sein. Mehr als wir gegenwartig haben, dUrften nknt zum wenigsten in kirchlich~religi6s gebundenen Schichten evangelismer Bekenntnisse unterhalb der Zeitansmauungen, die das offentlime Dasein bestimmen, noch ein Lebensgefiige und eine Denkweise wirksam gewesen sein, in denen sich das friihere ... vormarz~ lime"' 19. ]hdt. fortsetzte. Die Augusttage des Jahres 1914 richteten auch fUr die unmittelbare Wirkung der von August Vilmar im Winter 1843/44 gehaltenen Vor­lesungen eine uniihersehbare Grenze zwismen Vergangenheit und Gegenwart au£.

18 Nur vom 5tandort der Forscnung aus hat Edward Schroder im lahre 1895 im 39. Bd. der Allgemeinen deutsdten Biographie (5. 715- 721 ). anscnlieBend an den Ar­tikel K. W. Wippermanns, Vilmars germanistiscne Arbeiten behandelt. Nacb meiner Erinnerung hat er sicb spater in Gottinger Kol1egs personlicber und freundlicber uber Vilmars Literaturgescnichte geauBert.