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Das Wissen der Menschheit wchst unaufhr-
lich. Immer strker, so scheint es, sind wir zur
Spezialisierung gedrngt, unwiderruflich vorbei
ist die gute alte Zeit, als ein einzelner Mensch
noch alles verstehen konnte. Ist der Anspruch
der Physik zu erklren, wie das Universum
funktioniert, ein unerfllbarer Traum? Verliert
die Wissenschaft in der Flut einzelner Erkennt-
nisse den berblick? Der prominente Physiker
David Deutsch meint nein und entwickelt in
diesem faszinierenden Buch eine khne Vision:
Ein universelles Verstndnis der Wirklichkeit in
einem umfassenden Sinn ist mglich, indem
man versucht, die wichtigsten Strukturen zuverstehen, die das Gewebe der Wirklichkeit bil-
den. Zu diesem Zwecke stellt er uns die vier
Theorien moderner Wissenschaft vor, mit deren
Hilfe die Wirklichkeit am tiefgehendsten erklrt
werden kann. Es sind dies die Quantenphysik,
die Evolutionstheorie, die Erkenntnistheorie
und die Theorie der Berechnung. David Deutsch
zeigt dem Leser, wie mit Hilfe dieser Theorien
und ihrer vielfltigen Verknpfungen unterein-ander ein wissenschaftliches Weltbild abzulei-
ten ist, das Antworten auf viele der spannend-
sten Fragen moderner Naturwissenschaft ver-
spricht. Aus der Quantenphysik entwickelt er
die Existenz des Multiversums, er diskutiert die
Mglichkeiten zuknftiger Quantencomputer,
die natrlichen und logischen Grenzen von vir-
tueller Realitt und die Physik von Zeitreisen.
Er entwirft einen Zeitbegriff, der auf der
Quantentheorie fut, er erschliet die Bedeu-
tung der Evolution von Leben und Wissen im
Universum und fragt nach dem Schicksal von
intelligentem Leben am Ende einzelner Son-
nensysteme oder des Universums.
Wer sich mit David Deutsch auf die Expedition
in die Grenzbereiche heutigen Denkens begibt,
gert in ein vielschichtiges Leseabenteuer, das
einen ganz neuen Blick auf die Strukturen des
Universums erffnet.
David Deutsch, 1953 in Haifa geboren, hat
Mathematik, Theoretische Physik und Natur-
wissenschaften in Oxford studiert und mehrere
Jahre an der University of Texas at Austin
verbracht.
Im Rahmen seiner Forschungsttigkeiten hat
er mit weltberhmten Wissenschaftlern wie
Roger Penrose oder John Archibald Wheeler
zusammengearbeitet. Er gilt als eine der
fhrenden Persnlichkeiten bei der Erforschung
von Quantencomputern und ist gegenwrtig
am Clarendon Laboratory der Universitt von
Oxford in der Forschungsgruppe Quantum
Computation and Cryptography beschftigt.
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David Deutsch
Die Physikder WelterkenntnisAuf dem Weg zum universellen Verstehen
Aus dem Englischen von Anita Ehlers
Birkhuser Verlag
Basel Boston Berlin
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Deutsche Originalausgabe. Die englische Originalausgabe wird unter dem Titel Fabric of
Reality 1997 bei Penguin Books Ltd., Bath Road, Harmondsworth, Middlesex, UK,
erscheinen.
Die Deutsche Bibliothek CIP-Einheitsaufnahme
Deutsch, David:Die Physik der Welterkenntnis : auf dem Weg zum universellenVerstehen / David Deutsch. Aus dem Engl, von Anita Ehlers. Basel; Boston ; Berlin : Birkhuser, 1996
Einheitssacht.: The fabric of reality dt.ISBN 3-7643-5385-6
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschtzt. Die dadurch begrndeten Rechte, insbeson-dere die des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, derFunksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfltigung auf anderen Wegen und derSpeicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwer-
tung, vorbehalten. Eine Vervielfltigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes istauch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechts-gesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulssig. Sie ist grundstzlich vergtungspflichtig.Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.
1996 der deutschsprachigen Ausgabe:Birkhuser Verlag, Postfach 133, CH-4010 Basel, SchweizUmschlaggestaltung: WSP Design, HeidelbergGedruckt auf surefreiem Papier, hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff. *
Printed in GermanyISBN 3-7643-5385-6
9 8 7 6 5 4 3 2 1
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InhaltVorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
1 Die Theorie fr Alles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
2 Schatten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
3 Problemlsungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
4 Kriterien der Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
5 Virtuelle Realitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
6 Universalitt und die Grenzen der Berechnung . . . . . . . . . . . . . . 137
7 Was ist Leben?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
8 Quantencomputer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
9 Das Wesen der Mathematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209
10 Zeit, der erste Quantenbegriff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243
11 Zeitreisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
12 Die vier Strnge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30913 Am Ende des Universums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349
Index . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351
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Dieses Buch ist Karl Popper, Hugh Everett, Alan Turing und RichardDawkins gewidmet. Es nimmt ihre Ideen sehr ernst.
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VorwortDie Menschheit verfgt aufgrund einer ganzen Reihe von wissen-
schaftlichen Entdeckungen heutzutage ber ungewhnlich tiefgehende
Theorien ber das Wesen der Wirklichkeit. Dies war fr mich die wesent-
liche Motivation, in diesem Buch ein Bild davon zu entwerfen, wie eine
Physik der Welterkenntnis beschaffen sein knnte. Denn wenn wir die
Welt nicht nur oberflchlich verstehen wollen, mssen wir sie aufgrund
dieser Theorien und unserer Vernunft verstehen, nicht aber aufgrund
vorgefater Meinungen, herkmmlicher Ansichten oder weil sie dem
gesunden Menschenverstand entsprechen. Unsere besten Theorien sind
nicht nur zutreffender als der gesunde Menschenverstand, sondern auch
viel sinnvoller. Wir mssen sie nicht nur als Grundlage fr ihre jewei-
ligen Geltungsbereiche ernst nehmen, sondern auch als Erklrungen fr
die Welt im ganzen. Und die Welt knnen wir am besten verstehen, wenn
wir diese Theorien nicht einzeln betrachten, sondern als Gesamtheit,denn sie sind unentwirrbar miteinander verwoben. Die meiner Ansicht
nach wichtigsten wissenschaftlichen Theorien und ihre Verbindungen
untereinander werden in diesem Buch dargestellt.
Der Gedanke mag vielleicht erstaunen, da eine solche Idee neuar-
tig oder auch nur umstritten sein knnte. Aber weil jede der erwhn-
ten Theorien zu Folgerungen fhrt, die uns intuitiv nicht behagen, hat
man versucht, sich der Konfrontation mit diesen Folgerungen durchnderungen oder Umdeutung der Theorien zu entziehen. Einige die-
ser Versuche werde ich in diesem Buch schildern, um die jeweilige Theo-
rie besser erklren zu knnen. Aber es geht nicht um die Verteidigung
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1 Die Theorie fr AllesAls ich ein Kind war, erzhlte mir jemand, vor sehr langer Zeit habe ein
gelehrter Mensch alles wissen knnen, was man wissen konnte. Heute dage-
gen sei das Wissen sehr viel umfangreicher, und auch in einem langen
Leben knne sich niemand mehr als nur einen winzigen Bruchteil an-
eignen. Das berraschte und enttuschte mich. Ich weigerte mich gerade-
zu, es zu glauben, wute aber nicht, wie ich meinen Unglauben recht-
fertigen sollte. Die Sache gefiel mir nicht, und ich beneidete die Gelehrten
von frher.
Mir lag nicht etwa daran, all die Fakten zu kennen, die in den Lexika
und Nachschlagewerken der Welt stehen. Im Gegenteil, ich verabscheute
das Auswendiglernen von Fakten. Fr mich bedeutete der Besitz allen
Wissens der Welt etwas anderes. Es htte mich nicht enttuscht, wenn
man mir erzhlt htte, da jeden Tag mehr verffentlicht wird, als ein
Mensch zu Lebzeiten lesen kann, oder da man 600 000 Kferartenkennt. Ich wollte keineswegs ber jeden einzelnen Spatzen Bescheid
wissen, und ich meinte auch nicht, da ein Gelehrter, der angeblich alles
wute, was man wissen konnte, derlei Sachen gewut htte. Ich hatte
eine genauere Vorstellung davon, was Wissen genannt zu werden ver-
dient: Mit Wissen meinte ich Verstehen.
Der Gedanke, ein Mensch knne alles bisher Verstandene verstehen,
klingt zwar immer noch recht phantastisch, ist aber weniger phanta-stisch als die Idee, ein einziger Mensch knne jede bekannte Tatsache
im Kopf haben. Oder glauben Sie, da sich beispielsweise irgend jemand
alle bekannten Beobachtungsdaten ber die Bewegungen der Planeten
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merken kann? Dennoch verstehen viele Astrophysiker diese Bewe-
gungen so gut, wie sie heute verstanden werden knnen. Verstndnis
geht nmlich nicht mit der Kenntnis vieler Daten einher, sondern setztdie Verwendung der richtigen Begriffe, Erklrungen und Theorien vor-
aus. Eine vergleichsweise einfache und verstndliche Theorie, die auf
einen bestimmten Bereich der Natur zutrifft, kann unendlich viele unver-
dauliche Tatsachen subsumieren. So ist die beste uns bekannte Theorie
der Planetenbewegungen Albert Einsteins allgemeine Relativittstheorie,
die zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts die Gravitations- und Bewe-
gungstheorien Isaac Newtons ablste. Sie sagt im Prinzip nicht nur allePlanetenbewegungen, sondern in den Genauigkeitsgrenzen unserer
besten Messungen auch alle anderen Wirkungen der Schwerkraft vor-
aus. Wenn eine Theorie etwas im Prinzip vorhersagt, folgen die Vor-
hersagen logisch aus der Theorie, selbst wenn in der Praxis die Berech-
nung der Vorhersagen so umfangreich sein kann, da sie technisch gar
nicht durchfhrbar ist und manchmal ist sie in der Welt, wie wir sie
vorfinden, sogar physikalisch unmglich.
Es ist etwas ganz anderes, ob etwas vorhergesagt oder auch mit gr-
ter Genauigkeit beschrieben werden kann oder ob es verstanden ist.
Vorhersagen und Beschreibungen haben in der Physik oft die Form
mathematischer Gleichungen. Bleiben wir beim Beispiel der Planeten-
bewegungen und nehmen wir an, wir wten die Formel auswendig,
mit deren Hilfe jede Planetenstellung berechnet werden knnte, die in
den astronomischen Archiven je verzeichnet wurde. Was htten wir
gegenber dem Auswendiglernen dieser Listen gewonnen? Die Formellt sich leichter behalten aber noch einfacher ist es, die entsprechenden
Zahlen in den Archiven nachzuschlagen. Der eigentliche Vorteil der For-
mel besteht jedoch darin, da sie sich in unendlich vielen Fllen ver-
wenden lt, nicht nur in den archivierten; sie kann beispielsweise auch
die Ergebnisse zuknftiger Beobachtungen voraussagen. Vielleicht las-
sen sich die Positionen der Planeten mit ihrer Hilfe sogar genauer ange-
ben, weil die Archive Beobachtungsfehler enthalten knnten. Aberobwohl die Formel unendlich viel mehr Tatsachen zusammenfat als
die Fakten in den Archiven, vermittelt sie doch nicht mehr Verstndnis
fr die Bewegung der Planeten. Tatsachen lassen sich nicht verstehen,
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indem man sie in einer Formel zusammenfat oder niederschreibt, son-
dern nur, indem man sie erklrt. Glcklicherweise enthalten die besten
Theorien in der Naturwissenschaft nicht nur genaue Vorhersagen, son-dern auch tiefgrndige Erklrungen. So interpretiert beispielsweise die
allgemeine Relativittstheorie die Schwerkraft mit Hilfe einer neuen,
vierdimensionalen Geometrie der Krmmung von Raum und Zeit. Sie
erklrt genau und allgemeingltig, wie diese Geometrie die Materie
beeinflut und wie sie von ihr beeinflut wird. Diese Erklrung ist der
eigentliche Inhalt der Theorie. Die Vorhersage von Planetenbewegun-
gen hat in diesem Modell lediglich den Stellenwert einer Folgerung, diesich aus den Erklrungen ableiten lt.
Die allgemeine Relativittstheorie ist im brigen nicht deswegen so
wichtig, weil sie die Bewegungen der Planeten einen Hauch genauer
vorhersagen kann als Newtons Theorie, sondern weil sie zuvor unge-
ahnte Aspekte der Wirklichkeit wie die erwhnte Krmmung von Raum
und Zeit aufzeigt und erklrt. Genau dies ist ein Kennzeichen wissen-
schaftlicher Erklrungen. Theorien wie diese erklren die Dinge und
Erscheinungen unserer Erfahrungswelt im Rahmen einer Wirklichkeit,
die wir nicht unmittelbar wahrnehmen. Aber die wertvollste Eigenschaft
einer Theorie, die einen Teilbereich der Natur erklren will, ist nicht ihre
Fhigkeit, unsere Erfahrungen zu erklren, sondern die Wirklichkeit
selbst, wobei wir in diesem Zusammenhang einen umfassenden Wirk-
lichkeitsbegriff zugrunde legen, der weit ber unsere Erfahrungswelt hin-
ausgeht. Diese Fhigkeit, Wirklichkeitsstrukturen aufzuzeigen, ist ber-
haupt und ganz allgemein das, was menschliches Denken wertvoll,sinnvoll und insbesondere ntzlich macht.
Einige Philosophen jedoch und selbst einige Naturwissenschaftler
schtzen den Wert der Erklrung in der Naturwissenschaft gering. Fr
sie besteht der Hauptzweck einer wissenschaftlichen Theorie nicht in
der Erklrung, sondern in der Vorhersage von Versuchsergebnissen. Ihrer
Meinung nach ist jede widerspruchsfreie Erklrung, die eine Theorie
fr ihre Vorhersagen liefern kann, so gut oder schlecht wie jede andere,so lange nur alle Vorhersagen zutreffen. Diese Einstellung wird Instru-
mentalismus genannt, denn eine Theorie liefert danach die Instrumente,
um Vorhersagen zu machen. Instrumentalisten halten es fr einen Irr-
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tum, da die Naturwissenschaft die unseren Beobachtungen zugrun-
deliegende Wirklichkeit verstehen knne. Ihrer Meinung nach besteht
eine wissenschaftliche Theorie ber die Vorhersage von Versuchs-ergebnissen hinaus nur aus Worthlsen. Insbesondere Erklrungen sind
fr sie eine Art Fiktion, die wir in unsere Theorien einbauen, um sie
einprgsamer und unterhaltsamer zu machen. Von dem Nobelpreistr-
ger Steven Weinberg ist die folgende typische uerung eines Instru-
mentalisten berliefert:
Es kommt darauf an, da man etwas ber die Bilder auf den photo-graphischen Platten der Astronomen oder die Frequenzen von
Spektrallinien vorhersagen kann, und es ist einfach nicht wichtig,
ob wir diese Vorhersagen den physikalischen Wirkungen zu-
schreiben, die Gravitationsfelder auf die Bewegung der Planeten
und Photonen haben, oder ob wir die Krmmung von Raum und
Zeit dafr verantwortlich machen.*
Auch Nobelpreistrger knnen irren! Es kommt sehr wohl darauf an,
auf was wir die Abbildungen auf den photographischen Platten der Astro-
nomen zurckfhren! Gerade das ist fr theoretische Physiker wichtig,
die ja vor allem deshalb Theorien formulieren und untersuchen, weil
sie die Welt besser verstehen mchten. Selbst bei rein praktischen
Anwendungen kommt es vor allem darauf an, wie gut eine Theorie etwas
erklren kann; ihre Vorhersagekraft ist nur eine Zugabe. Stellen Sie sich
vor, ein auerirdischer Wissenschaftler habe die Erde besucht und unsein ultra-hochwissenschaftliches Orakel geschenkt, das fr jedes belie-
bige Experiment das Ergebnis vorhersagen kann, aber keine Erklrun-
gen liefert. Wren wissenschaftliche Theorien dann berflssig und nur
noch zu unserem Vergngen da? Wie wrde das Orakel praktisch ein-
gesetzt werden? In gewissem Sinn wrde es das Wissen enthalten, das
beispielsweise zum Bau eines interstellaren Raumschiffs ntig ist. Aber
* Steven Weinberg: Gravitation and Cosmology (John Wiley 1972).
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wrde uns das helfen, wenn wir wirklich eines bauen wollten? Oder
wenn wir ein anderes Gert zur Vorhersage derselben Art bauen woll-
ten? Oder auch nur eine bessere Mausefalle? Das Orakel wrde nur dasErgebnis von Experimenten vorhersagen. Wenn wir es berhaupt ver-
wenden wollten, mten wir wissen, nach welchen Experimenten wir
es befragen sollen. Wenn wir ihm das Aussehen eines Raumschiffs und
die Einzelheiten eines geplanten Probeflugs vorgeben wrden, knnte
es uns sagen, wie das Raumschiff sich bei einem solchen Flug verhal-
ten wrde. Aber, und das ist wichtig, es knnte uns nicht den Bauplan
fr das Raumschiff selbst liefern. Und wenn es vorhersagte, da das vonuns entworfene Raumschiff beim Start explodieren wrde, knnte es
uns nicht sagen, wie wir eine solche Explosion verhindern knnen. Das
mten wir selbst herausfinden. Und bevor wir es herausfinden knnten,
mten wir verstehen, welche Grundstze fr das Raumschiff gelten und
was zu einer Explosion fhren knnte. Vorhersagen sind einfach kein
Ersatz fr Erklrungen und Einsicht!
Es sind allerdings auch Anwendungen denkbar, bei denen wir mit
einem vorhersagenden Orakel fast genauso zufrieden wren wie mit
einer erklrenden Theorie. Sie wissen, was gemeint ist: die sprichwrt-
lich unzuverlssigen Wetterprognosen. In der Praxis sind Wettervor-
hersagen notwendigerweise unvollstndig und unvollkommen, und um
das gutzumachen, enthalten sie Erklrungen darber, wie die Wetter-
propheten zu ihren Vorhersagen kamen. Diese Erklrungen ermglichen
es uns, die Zuverlssigkeit der Vorhersage abzuschtzen und weitere
Erklrungen herzuleiten, die unseren eigenen Wohnort und unsereBedrfnisse bercksichtigen. Fazit: Auch die Meteorologen brauchen
erklrende Theorien ber das Wetter, damit sie abschtzen knnen, wel-
che Nherungen sie in ihre Computersimulationen aufnehmen drfen
und welche weiteren Messungen die Vorhersage genauer und aktuel-
ler machen wrden. Unser imaginres Orakel wre also strenggenom-
men nur von beschrnktem Nutzen.
Eine extreme Form des Instrumentalismus ist der sogenannte Posi-tivismus, der behauptet, da all jene Aussagen sinnlos sind, die nicht Beob-
achtungen beschreiben oder vorhersagen. Diese Lehre ist zwar nach
ihrem eigenen Kriterium selbst sinnlos, war aber doch in der ersten Hlfte
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des zwanzigsten Jahrhunderts die vorherrschende Wissenschaftstheo-
rie! Noch heute sind positivistische Gedanken verbreitet. Sie sind ober-
flchlich gesehen deshalb plausibel, weil die Vorhersage ein wesentli-cher Teil der fr die Naturwissenschaft charakteristischen Methode ist.
Zur wissenschaftlichen Methode gehrt die Aufstellung einer neuen
Theorie, die eine Klasse von Erscheinungen erklren kann, und deren
berprfung in einem experimentum crucis, also einem Experiment, fr
das die alte Theorie ein anderes Beobachtungsergebnis vorhersagt als
die neue. Die Theorie, deren Vorhersagen sich als falsch herausstellen,
wird dann verworfen. Das Ergebnis eines solchen Experiments, das zwi-schen zwei Theorien entscheidet, hngt also nur von den Vorhersagen
ab, die die Theorien liefern, und nicht von ihren Erklrungen. Und genau
dies ist die Quelle des Irrtums! Zur Vermehrung des Wissens gehrt mehr
als nur die experimentelle Besttigung. Die allermeisten Theorien wer-
den verworfen, weil sie schlechte Erklrungen geben, nicht, weil sie sich
nicht experimentell besttigen lassen. Beispiel gefllig? Stellen Sie sich
eine medizinische Theorie vor, wonach eine gewhnliche Erkltung sich
heilen liee, indem man ein Kilo Gras verzehrt. Diese Theorie macht
experimentell berprfbare Vorhersagen: Wenn Menschen die Graskur
ausprobierten und sie unwirksam wre, wrde sie als falsch bewiesen
sein. Aber so weit ich wei, wurde diese Theorie bis heute nicht ber-
prft und wahrscheinlich wird sie auch niemals berprft werden, weil
sie gar nichts erklrt. Wir nehmen einfach an, da sie falsch ist. Wir knn-
ten unendlich viele Theorien dieser Art aufstellen, und immer wrden
uns die Zeit und die Mittel oder die Lust fehlen, sie alle zu berprfen.Wir berprfen nur Theorien, die uns bessere Erklrungen verheien
als die gebruchlichen.
Man verwechselt also Mittel und Zweck, wenn man sagt, es sei der
Zweck einer wissenschaftlichen Theorie, Vorhersagen zu machen. Man
knnte genauso sagen, der Zweck eines Raumschiffs sei es, Treibstoff
zu verbrennen. Die experimentelle Besttigung ist nur eine der Hr-
den, die eine Theorie berwinden mu, die dem wirklichen Zweck derWissenschaft gengen will nmlich zu helfen, die Welt zu verstehen.
Wie gesagt beruhen Erklrungen von Teilen der Welt unweigerlich auf
Einsicht in Dinge und Zusammenhnge, die wir nicht unmittelbar beob-
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achten knnen, so etwa, wenn wir Aussagen ber Atome, das Innere
von Sternen oder die Rotation von Galaxien machen. Die Gren, auf
die sich die Erklrung bezieht, sind um so weiter von der unmittelbarenErfahrung entfernt, je tiefer die Erklrung geht. Aber diese Gren sind
keine Fiktionen, sondern im Gegenteil das, woraus das Gewebe der Wirk-
lichkeit wirklich besteht.
Erklrungen fhren jedenfalls im Prinzip oft zu Vorhersagen. Wenn
etwas im Prinzip vorhersagbar ist, mu eine hinreichend vollstndige
Erklrung davon im Prinzip vollstndige Vorhersagen machen. Aber es
lassen sich auch viele Dinge erklren und verstehen, die im Grunde nichtvorhersagbar sind. So kann man beispielsweise nicht vorhersagen, auf
welche Zahl die Kugel in einer nicht gewichteten Roulettescheibe fal-
len wird. Aber wenn man versteht, was beim Bau und Betrieb einer sol-
chen Scheibe beachtet werden mu, damit sie nicht gewichtet ist, kann
man erklren, warum die Reihenfolge der Zahlen nicht vorhersagbar
ist. Und wieder ist es zweierlei, ob man wei, da die Scheibe nicht
gewichtet ist, oder ob man den Grund dafr versteht.
Uns geht es um das Verstehen und nicht nur um die Kenntnis oder
Beschreibung oder Vorhersage. Doch Theorien, die uns zum Verstehen
befhigen, knnen einen hohen Grad von Allgemeingltigkeit auf-
weisen. Die meisten Menschen wrden denn wohl auch sagen, da sich
nicht nur das Tatsachenwissen mit berwltigender Geschwindigkeit ver-
mehrt, sondern auch die Anzahl und Komplexitt der erklrenden Theo-
rien, die uns helfen, die Welt zu verstehen. Heute sei es deshalb nicht
nur unmglich, alles Tatsachenwissen sich anzueignen, sondern auch,alles zu verstehen, und es werde um so weniger mglich, je mehr unser
Wissen und die Zahl der strukturierenden Theorien zunehme. Tatsch-
lich beobachten wir eine starke Zergliederung der Physik durch neue
Erklrungen. Das Fach hat sich unter anderem in die Bereiche Astro-
physik, Thermodynamik, Teilchenphysik und Quantenfeldtheorie auf-
geteilt. Jeder dieser Bereiche hat einen theoretischen Rahmen, der min-
destens so umfassend ist wie die ganze Physik vor hundert Jahren, undviele dieser Teilbereiche spalten sich schon wieder in weitere Unterbe-
reiche auf. Je mehr wir entdecken, so scheint es, um so mehr werden
wir unwiderruflich zur Spezialisierung gedrngt und um so ferner scheint
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die gute alte Zeit, als ein einziger Mensch noch alles verstehen konnte,
was sich verstehen lie.
In Anbetracht dieser riesigen und immer umfangreicher werdendenSpeisekarte der von Menschen entwickelten Theorien zur Welterklrung
sind Zweifel daran verzeihlich, ob ein einzelner zu seinen Lebzeiten es
schaffen knnte, alle Speisen auch nur zu kosten, geschweige denn, alle
Rezepte zu kennen. Aber die Erklrung ist eine seltsame Speise. Nicht
immer lt sich eine grere Portion schwieriger verdauen. Manchmal
wird in der Naturwissenschaft eine Theorie von einer neuen Theorie
abgelst, die mehr erklrt und genauer ist, zugleich aber einfacher zuverstehen. In diesem Fall wird die alte Theorie berflssig. Wir verste-
hen dann mehr als frher, obwohl wir weniger lernen mssen. So war
es, als das komplexe heliozentrische Weltbild der die Sonne umkrei-
senden Erde das ptolemische System ablste, das die Erde im Zentrum
der Welt gesehen hatte. Eine neue Theorie kann auch zwei alte Theo-
rien miteinander verbinden und uns ein besseres Verstndnis ermg-
lichen als beide fr sich; so war es, als Michael Faraday und James Clerk
Maxwell die Theorien der Elektrizitt und des Magnetismus zu der Theo-
rie des Elektromagnetismus vereinheitlichten. Auch wenn bessere
Erklrungen gewhnlich weniger direkt zu besseren Methoden und
Begriffen fhren, erlauben sie es uns doch, andere Bereiche zu verste-
hen. Deshalb kann unser Wissen als Ganzes zwar anwachsen, aber doch
gleichzeitig einfacher zu verstehen sein.
Wenn wir hier immer wieder zwischen Verstndnis und bloem
Wissen unterscheiden, wollen wir jedoch keineswegs die Bedeutung auf-gezeichneter Information schmlern, die nichts erklren kann. Solche
Information ist selbstverstndlich fr alles mgliche bedeutungsvoll, von
der Reproduktion eines Mikroorganismus (der sie in seinen DNA-Mole-
klen enthlt) bis zum abstraktesten Denken. Was also unterscheidet
Verstehen von bloem Wissen? Was unterscheidet eine Erklrung von
der bloen Feststellung einer Tatsache? In der Praxis fllt die Unter-
scheidung gewhnlich leicht. Wir wissen es, wenn wir etwas nicht ver-standen haben, obwohl wir es genau beschreiben und vorhersagen kn-
nen (beispielsweise den Verlauf einer Krankheit, deren Ursache wir nicht
kennen). Wir spren auch, wenn eine Erklrung uns zu besserem Ver-
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stndnis verhilft. Trotzdem fllt es schwer, Erklrung oder Ver-
stndnis genau zu definieren. Grob gesagt betreffen sie das Warum
und nicht das Was. Verstehen setzt voraus zu begreifen, wie Dingewirklich sind, nicht, wie sie zu sein scheinen. Es geht um das Eigent-
liche der Dinge, um Naturgesetze und nicht nur um Faustregeln. Es geht
um Stimmigkeit, Eleganz und Einfachheit im Gegensatz zu Willkr und
Komplexitt. Verstehen ist eine ganz einzigartige hhere Funktion des
menschlichen Gehirns. Viele andere physikalische Systeme etwa
Gehirne von Tieren, Computer und andere Maschinen knnen Tat-
sachen aufnehmen und mit ihnen umgehen. Aber zur Zeit kennen wirauer dem menschlichen Geist nichts, was fhig ist, eine Erklrung zu
verstehen oder eine Erklrung auch nur zu wnschen. Jede neue
Erklrung und jedes Begreifen einer vorhandenen Erklrung setzt krea-
tives Denkvermgen voraus, das wir nur beim Menschen kennen.
Wenn wir behaupten, wir verstnden den Einflu der Krmmung
von Raum und Zeit auf die Bewegungen von Planeten, sogar in Son-
nensystemen, von denen wir noch nie gehrt haben, sagen wir damit
nicht, da wir ohne weiteres Nachdenken alle Einzelheiten in den Schlei-
fen und Schwankungen einer jeden Planetenbahn erklren knnen. Viel-
mehr verstehen wir die Theorie, die all diese Erklrungen enthlt und
deshalb jede von ihnen herleiten knnte, wenn uns bestimmte Daten
ber einen bestimmten Planeten bekannt wren. Wir knnten dann im
Rckblick sagen: Ja, wir finden in der Bewegung dieses Planeten ber
die reinen Daten hinaus nichts, was sich nicht durch die allgemeine
Relativittstheorie erklren lt. Und das bedeutet: Wir verstehen dieWirklichkeit in unserem umfassenden Sinn nur, wenn wir die Theorien
verstehen, die sie erklren. Und da sie mehr erklren, als uns unmittel-
bar bewut ist, knnen wir mehr verstehen, als uns unmittelbar bewut
ist.
Andererseits mssen wir nicht notwendigerweise alles verstehen, was
eine Theorie erklren kann. Bei einer sehr grundlegenden Theorie kann
schon die Erkenntnis, da sie ein bestimmtes Phnomen erklrt, einewesentliche Entdeckung sein, die einer eigenen Erklrung bedarf. So
waren beispielsweise Quasare extrem heie Strahlungsquellen in den
Zentren von Galaxien viele Jahre lang eines der groen Geheimnisse
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der Astrophysik. Frher dachte man, ihre Erklrung wrde eine neue
Physik erfordern. Jetzt jedoch glauben wir, da sie sich durch die all-
gemeine Relativittstheorie und andere Theorien erklren lassen, diees schon gab, bevor die Quasare entdeckt wurden. Aber diese Schlu-
folgerung war erst nach Jahren der Beobachtung und der theoretischen
Forschung mglich. Jetzt, da wir Quasare einigermaen zu verstehen
meinen, glauben wir nicht, da wir dieses Verstndnis schon frher ht-
ten haben knnen. Die Erklrung der Quasare hat uns zu wirklich neuen
Erkenntnissen verholfen, obwohl sie auf der Grundlage bestehender
Theorien erfolgte. Es lt sich also nur schwer definieren, was eine wirk-liche Erklrung ist, und es lt sich genauso schwer definieren, wann
aus der Erklrung eines Naturphnomens eine selbstndige und unab-
hngige Theorie geworden ist, und wann sie nur als Teil oder Vorlufer
einer elementareren Theorie zu sehen ist. Es ist schwer zu definieren,
aber nicht so schwer zu erkennen. Wir erkennen Erklrungen in der
Naturwissenschaft eben, auch neue, wenn wir sie sehen. Wieder hat der
Unterschied etwas mit Kreativitt zu tun. Wenn man die allgemeine
Erklrung der Gravitation schon verstanden hat, ist es eine mechani-
sche, wenn auch mglicherweise sehr komplexe Aufgabe, die Bewe-
gung eines Planeten zu erklren. Aber wenn eine schon bestehende
Theorie Quasare erklren soll, ist schpferisches Denken ntig.
Der Vorrat an uns bekannten Theorien, die die physikalische Welt
erklren, nimmt also genauso lawinenartig zu wie unser Tatsachenwis-
sen, aber deswegen ist die Gesamtstruktur nicht unbedingt schwerer zu
verstehen als frher. Denn whrend wir immer mehr spezielle Theorienentwickeln und immer mehr Einzelheiten verstehen, werden ltere Theo-
rien abgeschafft, wenn das in ihnen enthaltene Verstndnis durch neue,
tiefergehende Theorien erfat wird. Diese Theorien aber werden sogar
immer weniger, dafr offenbaren sie ein immer tieferes Verstndnis der
Natur und auf allgemeinerer Ebene. Allgemeiner bedeutet, da jede
von ihnen ber einen greren Bereich mehr aussagt als zuvor mehrere
getrennte Theorien. Tiefer meint, da jede von ihnen mehr erklrt mehr Verstndnis ermglicht als alle ihre Vorgnger zusammen.
Wenn jemand vor einigen Jahrhunderten ein groes Bauwerk, etwa
eine Brcke oder einen Dom, errichten wollte, beauftragte er einen Bau-
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meister, der wute, wie ein Bauwerk mit mglichst wenig Kosten und
Mhen stark und widerstandsfhig gebaut werden kann. Er konnte sein
Wissen nicht oder nur geringfgig, wie wir heute, in der Sprache derMathematik und Physik ausdrcken, sondern er verlie sich vor allem
auf seine Intuition, seine Erfahrung und die Faustregeln, die er von sei-
nem Lehrmeister gelernt oder selbst erarbeitet hatte. Diese Intuition,
Erfahrung und Faustregeln enthielten das Wissen und das Verstndnis
von Disziplinen, die wir heute Ingenieurwesen und Architektur nen-
nen. Man beauftragte den Baumeister damals mit dem Bau, weil er ber
dieses Wissen verfgte, auch wenn es im Vergleich mit dem heutigenerbrmlich ungenau war und einen sehr engen Anwendungsbereich
hatte. Wenn wir Gebude betrachten, die seit Jahrhunderten stehen,
vergessen wir oft, da wir nur die sehen, die berlebt haben. Die aller-
meisten Bauwerke des Mittelalters und frherer Zeiten sind schon vor
langer Zeit, oft bald nach ihrem Bau, zusammengefallen. Das galt beson-
ders fr neuartige Gebude. Man hielt es fr sicher, da jede Neuerung
eine Katastrophe bedeuten knnte, und deshalb wichen die Baumei-
ster selten von den Plnen und Verfahren ab, die sich in einer langen
Tradition bewhrt hatten. Heute dagegen kommt es sehr selten vor, da
ein Bauwerk, auch eines, das ganz anders ist als alle zuvor erbauten,
milingt, weil der Bauplan fehlerhaft ist. Alles, was ein alter Meister
gebaut haben knnte, knnen seine modernen Kollegen besser und mit
viel weniger menschlicher Anstrengung bauen. Sie knnen Bauwerke
wie Wolkenkratzer und Raumstationen errichten, von denen er sich nicht
htte trumen lassen. Sie knnen Baustoffe wie Glasfasern oder Stahl-beton verwenden, von denen er nie gehrt hatte und die er kaum htte
benutzen knnen, selbst wenn man sie ihm gegeben htte, denn er
wute einfach zuwenig ber sie.
Wir sind nicht deshalb auf einem hheren Wissensstand, weil wir
nach Art des Baumeisters viel Intuition, Erfahrung und Faustregeln ange-
sammelt haben. Unser Wissen und unser Verstndnis von Architektur
ist heute nicht nur viel umfangreicher, sondern auch strukturell ganzanders als seines. Es ist umfassender, allgemeiner und tiefer. Wenn unser
Baumeister etwa ber die Dicke einer tragenden Mauer entscheiden
mute, hatte er ein ziemlich genaues Gespr dafr, oder er kannte eine
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Faustregel, was aber beides durchaus auch zu hoffnungslos falschen Ant-
worten fhren konnte. Heute leitet man diese Dinge aus einer Theorie
her, die allgemein genug ist, um fr Mauern aus beliebigem Materialund in allen mglichen Situationen zu gelten, also auch auf dem Mond,
unter Wasser oder irgendwo sonst. Die Theorie ist deshalb so allge-
meingltig, weil sie auf einem sehr tiefen Verstndnis fr Stoffe und
Strukturen beruht. Um die richtige Dicke einer Mauer zu finden, die
aus Material und unter Bedingungen gebaut werden soll, mit denen man
nicht vertraut ist, wendet man dieselbe Theorie an wie bei jeder ande-
ren Mauer, nimmt aber fr die Rechnung andere Anfangsbedingungenan, setzt also fr die beteiligten Parameter andere numerische Werte ein.
Das ist der Grund, weshalb ein moderner Architekt keine lngere
oder strengere Ausbildung bentigt, auch wenn er unvergleichlich viel
mehr versteht als ein alter Baumeister. Eine Theorie aus dem Lehrplan
eines modernen Studenten mag schwerer zu verstehen sein als alle
Faustregeln des alten Baumeisters, aber es gibt viel weniger moderne
Theorien als alte Faustregeln. Und weil die Theorien Erklrungen lie-
fern knnen, haben sie andere Eigenschaften wie Schnheit, innere Logik
und Beziehungen zu anderen Bereichen, die es leichter machen, sie zu
erlernen. Von einigen der alten Faustregeln wissen wir, da sie fehler-
haft sind, von anderen, da sie zutreffen oder die Wahrheit gut annhern,
und wir kennen auch den Grund dafr. Einige wenige werden auch
heute noch angewandt. Aber unser Verstndnis fr das, was Bauwerke
Bestand haben lt, beruht auf keiner von ihnen.
Trotz alledem ist ganz unbestreitbar, da in vielen Bereichen, in denendas Wissen zunimmt, auch in der Architektur, die Spezialisierung immer
strker wird. Das ist keine Einbahnstrae, denn auch Spezialisierungen
knnen berflssig werden: Rder werden nicht mehr von Wagnern
entworfen oder hergestellt und Pflge nicht von Pflugmachern, und
Briefe werden nicht mehr von Schreibern geschrieben. Ganz offensicht-
lich ist nicht nur der beschriebene Hang zur Vertiefung und Verein-
heitlichung zu beobachten, sondern gleichzeitig findet eine kontinu-ierliche Verallgemeinerungstatt. Neue Ideen lsen oft nicht nur bestehende
Theorien ab, vereinfachen oder vereinheitlichen sie, sondern sie ermg-
lichen es uns auch, Bereiche zu verstehen, die zuvor nicht verstanden
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wurden von deren Existenz man womglich nicht einmal etwas ahnte.
Sie knnen uns neue Mglichkeiten, neue Probleme, neue Spezialisie-
rungen und sogar neue Bereiche erschlieen.Die Medizin ist wohl der am hufigsten zitierte Fall zunehmender
Spezialisierung: Fr immer mehr Krankheiten werden neue Heilmit-
tel und bessere Behandlungsmethoden entdeckt. Aber selbst in der
Medizin ist auch die entgegengesetzte, vereinheitlichende Tendenz zu
beobachten, und sie wird immer strker, seit die medizinische und bio-
chemische Forschung tiefere Erklrungen fr die Vorgnge gefunden
hat, die sich im kranken (und auch im gesunden) Krper abspielen.Wenn fr Erkrankungen in Krperteilen, die anscheinend nichts mit-
einander zu tun haben, gemeinsame molekulare Grundlagen nach-
gewiesen werden, knnen allgemeinere Begriffe speziellere ersetzen.
Sowie eine Krankheit einmal in einen allgemeinen Rahmen eingepat
werden kann, kommt dem Spezialisten keine wichtige Rolle mehr zu.
So hngt also die Frage, ob es im Lauf der Zeit schwerer oder leich-
ter wird, alles zu verstehen, was verstanden werden kann, vom Gleich-
gewicht zwischen diesen beiden entgegengesetzten Wirkungen ab, die
der Wissenszuwachs hat: der zunehmenden Breite unserer Theorien und
ihrer zunehmenden Tiefe. Breite macht es schwerer. Tiefe macht es leich-
ter. Wenn wir eine Chance haben wollen, die Ablufe der Natur zu ver-
stehen, die Welt im umfassenden Sinn zu erklren, mu die Tiefe sie-
gen! Eine These dieses Buchs besagt, da sie langsam, aber sicher auch
tatschlich siegen wird. Die Aussage, die ich als Kind nicht glauben wollte,
ist danach also tatschlich falsch. Wir entfernen uns nicht von einemZustand, in dem ein Mensch alles verstehen konnte, was zu verstehen
ist, sondern wir nhern uns ihm.
Aber aufgepat: An dieser Stelle mssen wir ganz genau formulie-
ren. Es ist nicht etwa so, da wir bald alles verstehen werden. Das ist
wieder etwas ganz anderes! Ich glaube nicht, da wir jetzt nahe daran
sind, alles, was es gibt, zu verstehen oder da wir je so weit kommen wer-
den. Vielmehr ist gemeint, dass wir alles, was von Menschen verstanden wird,verstehend nachvollziehen. Das ist ein betrchtlicher Unterschied. Ob
wir es schaffen, hngt mehr von der Struktur unseres Wissens ab als
von seinem Inhalt. Wenn Wissen unbegrenzt weiterwchst, und wenn
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wir trotzdem auf einen Zustand hinsteuern wollen, in dem ein Mensch
alles verstehen knnte, was verstanden wird, mu die Tiefe unserer
Theorien rasch genug mitwachsen. Das kann nur dann geschehen, wenndas Gewebe der Wirklichkeit selbst sehr einheitlich ist, und wenn die
Einheitlichkeit unserer erklrenden Theorien in dem Ma besser ver-
standen werden kann, in dem unser Wissen zunimmt. Dann werden
unsere Theorien so allgemein, tief und miteinander verwoben sein, da
sie schlielich eine einzige Theorie eines einheitlichen Gewebes der Wirk-
lichkeit darstellen. Diese Theorie wird immer noch nichtjeden Aspekt der
Wirklichkeit erklren knnen, denn dieses Ziel ist, wie gesagt, uner-reichbar. Aber sie wird alle bekannten Erklrungen umfassen und fr
das ganze Gewebe der Wirklichkeit gelten, soweit es verstanden wird.
Whrend alle frheren Theorien auf bestimmte Bereiche bezogen waren,
wird dies eine Theorie aller Bereiche sein, eine Theorie fr Alles.
Sie wird natrlich nicht die letzte solche Theorie sein, sondern nur
die erste. Warum? Wir verdanken Newton beispielsweise die erste uni-
versale Gravitationstheorie und die Vereinheitlichung der Mechanik des
Himmels mit der der Erde. Aber Newtons Theorie wurde von Einsteins
allgemeiner Relativittstheorie abgelst, die auch die Geometrie, die
zuvor fr einen Zweig der Mathematik gehalten wurde, in die Physik
einbezog und die weit tiefere Erklrungen lieferte und zudem genauer
war. Die erste wirklich universale Theorie, die Theorie fr Alles, wird
ebenso weder vollkommen wahr noch unendlich tief sein. Auch sie wird
schlielich einmal abgelst werden. Aber sie wird nicht durch eine Ver-
einheitlichung mit anderen Theorien abgelst werden, denn sie ist dannja schon eine Theorie fr Alles. Alle spteren groen Entdeckungen wer-
den vielmehr unser Verstndnis von der Welt als Ganzes verndern, also
unser Weltbild beeinflussen. Eine Theorie fr Alles ist die letzte groe
Vereinheitlichung und gleichzeitig der erste radikale Weg zu einem neuen
Weltbild. Ich glaube, da eine Vernderung der Sichtweise in dieser Rich-
tung schon begonnen hat.
Aber noch einmal mssen wir unsere Begriffe ganz genau klren.Wir meinen nicht nur die Theorie fr Alles, die einige Teilchenphy-
siker bald zu entdecken hoffen. Die Hauptkomponente ihrer Theorie
fr Alles ist eine groe Vereinheitlichungoder GUT (ein Krzel fr Great
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Abb.lEine ungengende Auffassung der Theorie fr Alles.
Unified Theory), eine Theorie, die die in der Physik bekannten Grund-
krfte des Elektromagnetismus und der Kernkrfte, nicht aber die
Schwerkraft, vereint. Sie soll alle Arten subatomarer Teilchen be-
schreiben, die in der Natur vorkommen, ihre Massen, Spins, elektrische
Ladungen und andere Eigenschaften sowie ihre Wechselwirkungen.
Wenn der Anfangszustand eines isolierten physikalischen Systems hin-
reichend genau bekannt ist, lt sich das zuknftige Verhalten des
Systems im Prinzip vorhersagen. Falls das genaue Verhalten eines
Systems aus Grnden, die im System liegen, nicht vorhersagbar ist, kann
eine GUT alle mglichen Verhaltensweisen beschreiben und ihre Wahr-
scheinlichkeiten vorhersagen. In der Praxis knnen die Anfangszustndeder uns interessierenden Systeme oft nicht sehr genau festgestellt wer-
den, und jedenfalls wre die komplizierte Berechnung der Vorhersagen
nur in den einfachsten Fllen mglich. Trotzdem wrde eine GUT zusam-
men mit einer Festlegung der Anfangsbedingungen fr das Weltall zur
Zeit des Urknalls, der heftigen Explosion, als die wir das frhe Welt-
all beschreiben, im Prinzip die Information enthalten, aus der sich alle
Vorhersagen herleiten lassen, die ber unsere physikalische Wirklich-keit berhaupt gemacht werden knnen.
Aber Vorhersage ist ja nicht dasselbe wie Erklrung. Die erhoffte GUT,
die den Anfangszustand einbezieht, kann bestenfalls eine winzige Facette
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einer Theorie fr Alles sein. Sie kann vielleicht alles vorhersagen, aber
es ist nicht zu erwarten, da sie mehr erklrt als die relativ wenigen Ph-
nomene, die durch subatomare Wechselwirkungen bestimmt sind.Warum nennt man dieses zwar faszinierende, aber doch enge Wis-
sen eine Theorie fr Alles? Dahinter steckt die von vielen Kritikern
der Naturwissenschaft mibilligte und von vielen Naturwissenschaft-
lern (leider) gebilligte falsche Sichtweise, wonach die Naturwissenschaft
im wesentlichen reduktionistisch sei. Die Wissenschaft kommt danach zu
Erklrungen, indem sie die Dinge in Komponenten zerlegt. So erklrt
man beispielsweise den Widerstand, den eine Wand Versuchen entge-gensetzt, durch sie hindurchzugehen oder sie zu zerschlagen, indem man
die Wand als eine ungeheuer groe Menge von miteinander wechsel-
wirkenden Moleklen sieht. Die Eigenschaften dieser Molekle wer-
den selbst wieder durch die Atome, aus denen sie bestehen, und deren
Wechselwirkungen erklrt, und so weiter, bis hin zu den kleinsten Teil-
chen und den Grundkrften, dem Geltungsbereich der GUT. Nach Mei-
nung der Reduktionisten sind alle wissenschaftlichen Erklrungen so
beschaffen.
Die reduktionistische Auffassung fhrt auf natrliche Weise zu einer
hierarchischen Klassifizierung von Fachbereichen und Theorien, indem
sie sie danach beurteilt, wie nahe sie den elementarsten uns bekann-
ten vorhersagenden Theorien sind. In dieser Hierarchie bilden Logik und
Mathematik den sicheren Fels, auf dem das Gebude der Naturwissen-
schaft ruht. Den Grundstein bildet die GUT gemeinsam mit einer Theo-
rie ber den Anfangszustand der Welt. Die brige Physik entspricht denersten Stockwerken, Astrophysik und Chemie entsprechen einer hhe-
ren Stufe, die Geologie einer noch hheren und so weiter. Das Gebude
hat viele Trme mit immer gehobeneren Bereichen. In den allerhch-
sten, dann schon schwindelerregenden Hhen sind Disziplinen wie die
Darwinsche Evolutionstheorie, die Wirtschaftswissenschaften, Psycho-
logie und Computerwissenschaft angesiedelt. Sie scheinen aus dieser
Sicht in fast unvorstellbar hohem Grade hergeleitet zu sein.Die GUT oder existierende Nherungen sagen Bewegungsgesetze fr
einzelne subatomare Teilchen vorher. Aus diesen relativ einfachen Geset-
zen knnen heutige Computer die Bewegung jeder isolierten Gruppe
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einiger weniger wechselwirkender Teilchen mit bekanntem Anfangs-
zustand einigermaen genau berechnen. Aber selbst der kleinste sicht-
bare Fleck Materie enthlt Abermilliarden Atome, von denen jedes ausvielen subatomaren Teilchen besteht und sich unablssig mit der Auen-
welt in Wechselwirkung befindet. Es ist deshalb vllig ausgeschlossen,
das Verhalten Teilchen fr Teilchen vorherzusagen. Wenn die genauen
Bewegungsgesetze durch Nherungsverfahren ergnzt werden, knnen
wir einige Aspekte des Grobverhaltens sehr groer Objekte vorhersagen
beispielsweise die Temperatur, bei der eine bestimmte chemische Ver-
bindung schmilzt oder siedet. Auf diese Weise wurde ein groer Teil derGrundlagenchemie auf die Physik zurckgefhrt. Aber das reduk-
tionistische Programm lt sich auf hheren Stufen seines Wissen-
schaftsgebudes nur im Prinzip anwenden. Niemand erwartet, die vielen
Grundstze der Biologie, Psychologie oder Politik aus physikalischen
Grundgedanken herleiten zu knnen. Diese Themen knnen berhaupt
nur deshalb erforscht werden, weil das unglaublich komplexe Verhal-
ten sehr vieler Teilchen unter bestimmten Umstnden einfach und ver-
stndlich wird. Wir sprechen dann von Emergenz: Was auf einer niedri-
geren Schicht kompliziert und komplex ist, zeichnet sich auf einer
hheren Schicht durch Einfachheit aus. Phnomene, die sich auf einer
hheren Stufe befinden und deren Erklrung nicht aus untergeordne-
ten Theorien abgeleitet werden kann, heien emergent. So kann eine
Mauer deshalb stark sein, weil ihre Erbauer frchteten, ihre Feinde knn-
ten versuchen, sich einen Weg hindurch zu erzwingen. Dies ist eine
Erklrung der Mauerstrke, die sich nicht aus der oben gegebenen Er-klrung herleiten lt, obwohl sie ihr auch nicht widerspricht. Erbauer,
Feinde, Angst und versuchen sind emergente Phnomene. Die
hheren Wissenschaften sollen es uns ermglichen, emergente Phno-
mene zu verstehen, von denen die wichtigsten, wie wir sehen werden,
Leben, Denken und Berechnungsind.
Der Naturwissenschaft geht es nach Meinung der Reduktionisten
darum, die Dinge in Komponenten zu zerlegen, nach Meinung derInstrumentalisten aber darum, sie vorherzusagen. Wegen der Kom-
plexitt der Beziehungen knnen wir mit Hilfe der Grundlagenphysik
keine Vorhersagen auf hherer Stufe machen, deshalb stellen wir Ver-
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mutungen darber an, wie diese Vorhersagen lauten wrden, wenn wir
sie machen knnten. Die Struktur wissenschaftlicher Erklrungen aber
ist kein Spiegel der reduktionistischen Hierarchie, denn es gibt auf jederStufe der Hierarchie Erklrungen, die autonom sind und sich nur auf
Begriffe auf dieser Schicht beziehen (z.B. Der Br hat den Honig geges-
sen, weil er Hunger hatte). Andere Erklrungen enthalten Herleitungen,
die reduktionistischen Begrndungen gerade entgegengesetzt sind. Sie
erklren Dinge also nicht aufgrund einer Zerlegung in kleinere, einfa-
chere Teile, sondern sie sehen sie als Komponenten grerer, komple-
xerer Dinge,fr die es dennoch erklrende Theorien gibt. Man betrachte bei-spielsweise ein bestimmtes Kupferatom auf der Nasenspitze der Statue
von Sir Winston Churchill auf dem Parlamentsplatz in London. Warum
befindet sich dieses Kupferatom dort? Es ist da, weil Churchill im
nahegelegenen House of Commons als Premierminister wirkte und weil
er durch seine Fhrungsqualitt fr den Sieg der Alliierten im zweiten
Weltkrieg wichtig war. Und natrlich ist es auch deshalb dort, weil es
blich ist, berhmte Menschen zu ehren, indem man ihnen Statuen wid-
met und aufstellt, und weil solche Statuen gewhnlich aus Bronze sind
und weil dieses Material Kupfer enthlt und so weiter. Wir erklren also
eine auf einer niedrigen Stufe gemachte physikalische Beobachtung mit
Hilfe von Begriffen ber emergente Phnomene wie Fhrungsqualitt,
Krieg und Tradition.
Es gibt keinen Grund, warum es berhaupt eine Erklrung fr das
Vorhandensein dieses Kupferatoms geben sollte, die elementarer ist als
die eben gegebene. Vermutlich wrde eine GUT auf einer elementarerenStufe im Prinzip eine Vorhersage fr die Wahrscheinlichkeit der Existenz
einer solchen Statue machen, wenn der Zustand von (sagen wir) dem
Sonnensystem zu einem frheren Zeitpunkt bekannt wre. Sie knnte
im Prinzip auch angeben, wie die Statue wohl dahingekommen ist. Aber
solche Beschreibungen und Vorhersagen (die natrlich in hchstem
Mae unwahrscheinlich sind) wrden nichts erklren. Sie wrden ledig-
lich den Weg all der Kupferatome von der Kupfermine durch denSchmelzofen und das Atelier des Knstlers verfolgen. Sie knnten auch
feststellen, wie diese Bahnen durch Krfte beeinflut wurden, die von
den Atomen in ihrer Umgebung ausgehen, etwa jenen, aus denen die
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Krper der Bergwerker und des Knstlers bestehen, und daraus die Exi-
stenz und die Form der Statue vorhersagen. Tatschlich wrde eine sol-
che Vorhersage alle Atome auf dem ganzen Planeten einbeziehen ms-sen, die an der komplexen Bewegung Anteil hatten, die wir den Zweiten
Weltkrieg nennen. Aber selbst wenn man die bermenschliche Fhig-
keit htte, solchen Vorhersagen zu folgen, knnte man immer noch nicht
sagen: Ach ja, jetzt verstehe ich, warum es da ist. Man wrde ledig-
lich wissen, da seine Ankunft dort auf diese Weise in Anbetracht der
Anfangsbedingungen und der physikalischen Gesetze unvermeidlich
(oder wahrscheinlich oder was auch immer) war.In der reduktionistischen Hierarchie sind die Gesetze fr die Wech-
selwirkungen zwischen subatomaren Teilchen auerordentlich wichtig,
weil sie die Grundlage allen Wissens sind. In der eigentlichen Natur-
wissenschaft und fr unser Wissen insgesamt spielen solche Gesetze
jedoch eine viel bescheidenere Rolle. Welche? Keiner der zur Zeit erwo-
genen GUT-Kandidaten enthlt wesentlich neue Erklrungen, und
sicherlich erwartet man von einer GUT auch keine wirklich neuartigen
Erklrungen. Die meisten neuen Gedanken liefert wohl noch die String-
theorie (oder die derzeit vieldiskutierte Variante der Superstringtheorie).
Nach diesen Theorien sind nicht punktfrmige Teilchen, sondern aus-
gedehnte Fden, strings, die Bausteine der Materie. Die GUT entnimmt
die Mittel, mit denen sie etwas erklrt, den bestehenden Theorien fr
den Elektromagnetismus, die Kernkrfte und die Schwerkraft. Deshalb
knnen wir die Beitrge, die die Grundlagenphysik zu unserem Ver-
stndnis von Welt insgesamt macht, in dieser Grundstruktur suchen,die uns schon aus bestehenden Theorien bekannt ist.
Es ist wichtig, sich darber im klaren zu sein, da der Reduktionis-
mus die Struktur wissenschaftlicher Erkenntnis noch auf andere Weise
miversteht. Er nimmt nicht nur an, da ein System in immer kleinere
und einfachere Systeme zerlegt werden kann, sondern auch, da sich
Erklrungen spterer Ereignisse immer auf frhere berufen, eine Erkl-
rung also allein auf der Angabe von Ursachen beruht. Erklrungen wer-den fr um so einleuchtender gehalten, je frher die zur Erklrung ange-
fhrten Ereignisse eintraten; die beste aller Erklrungen betrfe dann
den Anfangszustand des Weltalls.
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Eine GUT allein bietet deshalb keine vollstndige Beschreibung der
physikalischen Wirklichkeit, weil sie nur Bewegungsgesetze liefert, und
Bewegungsgesetze allein liefern nur bedingt Vorhersagen. Sie sagen alsoniemals kategorisch, was passiert, sondern nur, was zu einer bestimm-
ten Zeit passieren wird, wenn vorgegeben ist, was zu einer anderen Zeit
passiert ist. Wenn eine GUT beispielsweise den Anfangszustand des Uni-
versums vollstndig beschreiben knnte, mte sie auch eine vollstn-
dige Beschreibung der physikalischen Wirklichkeit herleiten knnen.
Heutige kosmologische Theorien legen den Anfangszustand des Uni-
versums nicht einmal im Prinzip vollstndig fest, aber sie sagen, da dasWeltall anfangs sehr klein, sehr hei und sehr gleichfrmig war. Wir
wissen auch, da es nicht vollkommen gleichfrmig gewesen sein kann,
weil das unvertrglich ist mit der heute beobachteten Verteilung der Gala-
xien im Raum. Die anfnglichen Dichteschwankungen wren durch die
von der Schwerkraft bedingte Klumpenbildung deutlich verstrkt wor-
den, denn relativ dichte Bereiche htten immer mehr Materie angezogen
und wren immer dichter geworden. Diese anfangs relativ geringen
Dichteschwankungen mssen fr jede reduktionistische Beschreibung
der Wirklichkeit uerst wichtig sein, weil fast alles, was um uns herum
geschieht, von der Verteilung der Sterne und Galaxien am Himmel bis
zur Aufstellung von Bronzestatuen auf dem Planeten Erde, aus Sicht
der Grundlagenphysik eine Auswirkung dieser Schwankungen ist. Wenn
unsere reduktionistische Beschreibung mehr enthalten soll als die alier-
grbsten Zge der Kosmologie, brauchen wir eine Theorie, die diese ber-
aus wichtigen anfnglichen Abweichungen von der Gleichfrmigkeitbeschreibt.
Bewegungsgesetze eines physikalischen Systems machen nur be-
dingte Vorhersagen und sind deshalb mit vielen mglichen Ablufen ver-
einbar. Die Bewegungsgesetze, die beispielsweise fr die Bahn einer
Kugel gelten, die von einer Kanone abgeschossen wird, lassen viele mg-
liche Bahnen zu, und zwar eine fr jede mgliche Richtung, in die die
Kanone beim Abschu zeigen kann (siehe Abbildung 2). Mathematischlassen sich die Bewegungsgesetze durch die sogenannten Bewegungs-
gleichungen erfassen. Jede ihrer vielen Lsungen beschreibt eine mg-
liche Bahn. Um festzulegen, welche Lsung die tatschliche Bahn
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Abb. 2Einige mgliche Bahnen, auf denen eine Kugel fliegen kann, die am Punkt G von einerKanone abgeschossen wird. Alle diese Bahnen gehorchen den Bewegungsgesetzen, aberwenn eine Kugel abgeschossen wird, fliegt sie jeweils nur auf einer Bahn.
beschreibt, brauchen wir weitere Daten ber das tatschliche Gesche-
hen, mssen also den wirklichen Ablauf kennen. Eine Mglichkeit
besteht darin, den Anfangszustand festzulegen, in diesem Fall also die
Richtung, in die die Kanone zeigt. Aber wir knnten genausogut den
Endzustandfestlegen, also den Ort und die Bewegungsrichtung der Kugel
bei der Landung angeben. Wir knnten auch vorgeben, an welcher Stelle
die Bahn ihren hchsten Punkt erreicht. Es kommt nicht darauf an,
welche zustzlichen Daten wir vorgeben, solange sie einer einzigen
Lsung der Bewegungsgleichungen entsprechen. Alle diese ergnzen-
den Daten und die Bewegungsgesetze zusammen fhren zu einer Theo-
rie, die alles beschreibt, was mit der Kugel zwischen Abschu und Auf-prall passiert.
Setzen wir unser Universum nach dem Urknall mit der abgeschos-
senen Kanonenkugel gleich. Auch die Bewegungsgleichungen der GUT
lassen viele Lsungen zu, von denen jede einem anderen Geschehen
entspricht. Um die Beschreibung zu vervollstndigen, mten wir an-
geben, was tatschlich passiert ist, indem wir gengend weitere Daten
in die Rechnung einbringen, die es erlauben, aus den vielen Lsungender Bewegungsgleichungen die richtige auszuwhlen. Eine Mglichkeit
wre, den Anfangszustand der Welt festzulegen. Wir knnten aber auch
den Endzustand oder den Zustand zu irgendeinem anderen Zeitpunkt
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festlegen. Oder wir knnten einige Bedingungen fr den Anfangszu-
stand, einige fr den Endzustand und einige fr die Zustnde zu ande-
ren Zeiten geben. Wenn hinreichend viele solcher zustzlichen Datenmit den Bewegungsgesetzen kombiniert wrden, verfgten wir im Prin-
zip ber eine vollstndige Beschreibung der physikalischen Wirklich-
keit, so wie wir den Flug der Kanonenkugel zwischen Abschu und Lan-
dung bestimmen knnen. So weit, so gut. Aber fr das Universum sind
die meisten solchen Berechnungen praktisch nicht durchfhrbar. Der
Groteil unseres Wissens ber zustzliche Daten entstammt nicht ele-
mentaren Theorien, sondern Disziplinen aus hheren Stockwerken desGebudes der Wissenschaft. Solche Theorien ber emergente Phnomene
lassen sich also nach Definition nicht in Form von Aussagen ber den
Anfangszustand fassen. So hat beispielsweise der Anfangszustand des
Weltalls fr die meisten Lsungen der Bewegungsgleichungen nicht die
Eigenschaften, die fr die Entwicklung von Leben ntig sind. Unser Wis-
sen, da sich Leben entwickelt hat, gibt daher wesentliche zustzliche
Information. Wir erfahren vielleicht nie, was diese Tatsache ber die
Struktur des Urknalls besagt, aber wir knnen daraus unmittelbar
Schlsse ziehen. So wurde beispielsweise die frheste richtige Scht-
zung des Erdalters auf der Grundlage der biologischen Evolutionstheo-
rie gemacht, die der Physik der damaligen Zeit widersprach. Nur eine
reduktionistische Einstellung knnte uns glauben machen, da diese
Form der Begrndung irgendwie weniger gltig sei oder da es im all-
gemeinen grundlegender sei, Theorien ber den Anfangszustand auf-
zustellen als ber emergente Eigenschaften der Wirklichkeit.Selbst im Bereich der Grundlagenphysik beruht die Meinung, Theo-
rien des Anfangszustands seien die elementarsten uns bekannten Theo-
rien, auf einem schwerwiegenden Miverstndnis. Sie schliet nmlich
logisch die Mglichkeit aus, den Anfangszustand zu erklren, warum
also der Anfangszustand selbst so war, wie er war , obwohl wir tatsch-
lich viele Aspekte des Anfangszustands erklren knnen. Noch allge-
meiner kann keine Theorie der Zeit den Anfang durch etwas Frhe-res erklren; aber die allgemeine Relativittstheorie und noch mehr
die Quantentheorie geben uns Erklrungen des Zeitbegriffs. Darauf kom-
men wir spter zurck.
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theorie ist aus Grnden, die mehr auerhalb als innerhalb der Physik
liegen, die tiefere Theorie. Ihre Reichweite ist sehr gro und geht weit
ber die Physik und sogar ber das gewhnliche Verstndnis von Wis-senschaft hinaus. Die Quantentheorie gehrt zu den grundlegenden
Erklrungsmodellen, zu den wichtigen Strngen, aus denen das Gewebe
der Wirklichkeit besteht.
Die anderen drei wichtigen Strnge, die uns Wirklichkeit in einem
umfassenden Sinn verstehen lassen, sind aus Sicht der Quantenphysik
auf hherer, abgeleiteter Ebene der Hierarchie angesiedelt. Es sind die
Theorie der Evolution (vor allem der Evolution von Lebewesen), die Epi-stemologie (die Erkenntnistheorie) und die Theorie der Berechnung(die sich
mit dem befat, was Computer im Prinzip berechnen und nicht berech-
nen knnen). Wie wir sehen werden, bestehen zwischen den Grund-
prinzipien dieser vier voneinander scheinbar unabhngigen Bereiche so
tiefe und vielfltige Verbindungen, da man keinen Bereich verstehen
kann, wenn man nicht auch die anderen drei versteht. Alle vier zusam-
men bilden ein stimmiges Erklrungsmuster. Es ist so weitreichend und
umfat so viel von unserem Verstndnis der Welt, da es mit Recht den
Anspruch erheben kann, die erste wirkliche Theorie fr Alles zu sein,
denn sie erklrt das Gewebe der Wirklichkeit. Wie wir sehen werden,
kann diese Theorie fr Alles sehr viel mehr und sehr viel tiefgreifender
erklren als die GUT, der die Teilchenphysiker nachjagen. Warum? Weil
wir mit Gewebe der Wirklichkeit einen umfassenderen Begriff von Rea-
litt meinten als den, der durch Raum, Zeit, Krfte und Elementarteil-
chen gekennzeichnet ist. Zu ihm gehren wie bereits erwhnt auch dieBegriffe Leben und Evolution, Denken und Erkenntnis sowie die Bere-
chenbarkeit durch Computer. Aus diesem Grund werden wir uns in den
folgenden Kapiteln mit den grundlegenden Strngen, die zu dieser
hheren Welterkenntnis notwendig sind, befassen. Beginnen werden
wir mit der Quantentheorie.
Wir sind damit an einem wichtigen Augenblick in der Geschichte des
Denkens angekommen, einem Augenblick, in dem unser Verstehen wirk-lich universell zu werden beginnt. Bis jetzt hat sich alles Verstehen mit
Aspekten der Wirklichkeit befat. In Zukunft wird es um die Wirklich-
keit in einem umfassenden Sinn gehen. Dann sind alle Erklrungen vor
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2 SchattenUnter den Gesetzen, nach denen unser Weltall regiert wird, gibt
es keines, das nicht auch bei der Naturgeschichte der Kerze in
Betracht kommt. Kein besseres und bequemeres Tor bietet sich fr
den Eingang zum Studium der Physik.
Faraday
Michael Faraday erklrte seinen Zuhrern die Welt am Beispiel einer
brennenden Kerze. Wir wollen statt dessen eine Taschenlampe betrach-
ten. Das ist recht passend, denn die Technik der Taschenlampe beruht
zu einem groen Teil auf Faradays Entdeckungen. So ausgerstet, wol-
len wir nun einige der Experimente, die der Quantenphysik zugrunde
liegen, beschreiben. Versuche mit Licht und Schatten stellen seit Jah-
ren in vielen Variationen und Verbesserungen sozusagen den Lebens-
inhalt der Quantenoptik dar, die Ergebnisse aber sind, obwohl unum-stritten, zum Teil selbst heute noch fast unglaublich. Die grundlegenden
Experimente sind erstaunlich einfach. Sie erfordern keine besonders
raffinierte instrumenteile Ausrstung und setzen kein groes mathe-
matisches oder physikalisches Wissen voraus im wesentlichen geht
es um nichts anderes als um Schattenbilder, aus denen sich bei auf-
merksamer Betrachtung auerordentliche Schlsse ziehen lassen. Eine
gewhnliche Taschenlampe schon kann sehr seltsame Muster von Lichtund Schatten erzeugen, deren Erklrung nicht nur neue Naturgesetze
erfordert, sondern eine neue Schicht der Beschreibung und Erklrung,
die jenseits dessen liegt, was man frher einmal zur Naturwissenschaft
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zhlte. Zunchst einmal offenbart sie jedoch die Existenz paralleler
Welten.
Wie das? Welche Schattenmuster knnten je solche Folgen haben?Man denke sich in einem sonst dunklen Zimmer eine eingeschaltete
Taschenlampe. Das Licht geht kegelfrmig vom Glhfaden der Lampe
aus. Um das Experiment nicht durch die Reflektion von Licht zu kom-
plizieren, sollten die Zimmerwnde alles Licht verschlucken, also schwarz
sein. Da wir diese Experimente nur in Gedanken durchfhren, knnen
wir uns auch ein Zimmer mit astronomischen Ausmaen vorstellen. Das
Licht hat dann keine Zeit, die Wnde zu erreichen und zurckzukeh-ren, bevor das Experiment abgeschlossen ist.
Abbildung 3 veranschaulicht diese Situation, ist aber etwas irrefh-
rend, denn wenn wir die Taschenlampe aus der Sicht der Abbildung
betrachten, knnen wir ja weder die Lampe noch, natrlich, ihr Licht
sehen. Die Unsichtbarkeit des Lichts ist eine seiner einfachsten Eigen-
schaften. Wir sehen Licht nur, wenn es uns in die Augen fllt. Wenn Licht
an uns vorbeigeht, ist es fr uns unsichtbar. Wir knnten reflektierende
Krper sehen, wenn sie im Weg des Lichtstrahls liegen, auch wenn es
Staubkrner oder Wassertropfen sind. Im Strahl aber ist nichts, und wir
beobachten ihn von auen, deshalb erreicht uns sein Licht nicht. In die-
sem Fall zeigt eine zutreffende Darstellung also ein vllig schwarzes Bild.
Wenn es eine zweite Lichtquelle gbe, knnten wir vielleicht die
Taschenlampe sehen, aber immer noch nicht ihr Licht. Lichtstrahlen,
auch die strksten, die wir (z.B. mit Lasern) erzeugen knnen, durch-
dringen einander, als ob sie gar nicht da sind.Unser Bild zeigt, da das Licht in der Nhe der Taschenlampe am
hellsten ist und schwcher wird, wenn der Strahl eine immer grere
Flche beleuchtet. Fr einen Beobachter, der auf dem Strahl sitzt, sich
also von der Taschenlampe entfernt, wrde die Taschenlampe immer
kleiner, und wenn sie nur noch ein einzelner Punkt wre, wrde auch
das Licht sehr viel schwcher sein. Oder etwa nicht? Kann Licht sich
wirklich unaufhrlich verdnnen, ohne jede Grenze? Die Antwort istnein. Das menschliche Auge knnte das Licht in einer Entfernung von
etwa zehntausend Kilometern von der Taschenlampe nicht mehr ent-
decken, und ein Beobachter wrde nichts sehen. Ein menschlicherBe-
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Schatten 37
Abb. 3Das Licht einer Taschenlampe.
obachter wrde also nichts sehen. Wie wre es bei einem Tier mit emp-
findlicherem Sehvermgen? Froschaugen sind um ein Mehrfaches emp-
findlicher als Menschenaugen fr sie wrde dieses Experiment ganz
anders ausgehen. Wre der Beobachter ein Frosch und entfernte er sich
immer weiter von der Taschenlampe, kme niemals der Augenblick, in
dem er berhaupt nichts mehr sieht. Der Frosch wrde die Taschen-
lampe schlielich flackern sehen und zwar in unregelmigen Inter-vallen, die immer lnger wrden, je weiter sich der Frosch entfernte.
Die Helligkeit des Flackerns wrde jedoch immer gleich bleiben. In einer
Entfernung von hundert Millionen Kilometern von der Taschenlampe
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Abb. 4Frsche knnen einzelne Photonen sehen.
wrde das Licht im Mittel nur einmal am Tag flackern, aber dieses
Flackern wre so hell wie jedes, das der Frosch aus anderer Entfernung
beobachten knnte.
Frsche knnen uns nicht erzhlen, was sie sehen, deshalb benut-
zen wir in wirklichen Experimenten Photovervielfacher (Lichtdetekto-
ren, die noch empfindlicher sind als Froschaugen), und wir betrachtendas Licht nicht aus hundert Millionen Kilometern Entfernung, sondern
schicken es durch dunkle Filter. Aber das Prinzip ist dasselbe: Wir beob-
achten weder scheinbare Dunkelheit noch gleichfrmiges Dmmerlicht,
sondern ein Flackern, wobei das einzelne Flackern immer gleich hell
bleibt, unabhngig davon, wie dick der Filter ist, den wir verwenden.
Dieses Flackern zeigt an, da es eine Grenze dafr gibt, wie dnn
Licht sich gleichmig verteilen kann. In der Sprache der Goldschmiedeknnte man sagen, Licht sei nicht unendlich hmmerbar. Wie Blattgold
lt sich auch sehr wenig Licht gleichmig ber einen sehr groen
Bereich verteilen, aber wenn man es dann schlielich noch feiner ver-
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Schauen 39
teilen will, klumpt es. Weil Goldatome sich nicht teilen lassen, wenn
sie Gold bleiben sollen, liee sich eine Schicht Gold von einem Atom
Dicke auch dann nicht weiter auswalzen, wenn man die Atome irgend-wie am Zusammenklumpen hindern knnte. Um eine noch dnnere
Goldschicht herzustellen, mte man die Atome also weiter voneinan-
der trennen und zwischen ihnen leeren Raum lassen. Wenn sie hinrei-
chend weit getrennt sind, bilden sie natrlich keine zusammenhngende
Schicht mehr. Wenn beispielsweise jedes Goldatom im Mittel mehrere
Zentimeter von seinem nchsten Nachbarn entfernt ist, knnte man seine
Hand durch die Schicht hindurchstecken, ohne je Gold zu berhren.Analog zu den Goldatomen gibt es eine kleinste Einheit Licht, das Photon.
Jedes Flackern, das der Frosch wahrnimmt, wird durch ein Photon ver-
ursacht, das auf die Netzhaut seines Auges fllt. Wenn ein Lichtstrahl
schwcher wird, werden also nicht die Photonen selbst schwcher, son-
dern sie entfernen sich weiter voneinander; zwischen ihnen bleibt lee-
rer Raum (Abbildung 4). Wegen dieser Unstetigkeit ist es irrefhrend,
wenn man von Strahl spricht. Wenn der Frosch also phasenweise
nichts sieht, liegt die Ursache nicht darin, da das in sein Auge fallende
Licht zu schwach ist, um die Netzhaut anzuregen, sondern schlicht in
der Tatsache, da in den Intervallen kein Licht ins Auge fllt.
Wenn etwas anscheinend nur in Klumpen auftritt, sprechen Physi-
ker von Quantelung. Ein einzelner Klumpen, etwa ein Photon, heit
Quant. Die Quantentheorie, die ihren Namen dieser Eigenschaft verdankt,
schreibt sie allen mebaren physikalischen Gren zu, nicht nur Licht
oder Gold, also Stoffen, die gequantelt sind, weil sie aus Teilchen beste-hen. Selbst fr Gren wie die Entfernung beispielsweise die Entfer-
nung zwischen zwei Atomen hat sich die Vorstellung eines stetigen
Wertebereichs als Idealisierung erwiesen. Es gibt in der Physik keine ste-
tig vernderlichen mebaren Gren. Wie wir sehen werden, gibt es in
der Quantenphysik vieles Neuartige, und oberflchlich gesehen ist die
Quantelung eine der zahmsten Erscheinungen. In gewissem Sinn jedoch
stellt sie den Schlssel zu allen anderen dar. Denn wie verndert eineGre ihren Wert vom einen zum anderen, wenn alles quantisiert ist?
Wie gelangt ein Objekt von einem Ort an einen anderen, wenn es nicht
an jedem dazwischenliegenden Ort sein kann?
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Abb. 5Schatten und Halbschatten.
Wir werden in Kapitel 8 darauf zurckkommen, lassen im Augen-
blick aber die Frage beiseite und kehren zu unserer Taschenlampe zurck,
dorthin, wo der Strahl stetig zu sein scheint, weil er in jeder Sekunde
etwa 1014
(hundert Billionen) Photonen in das Auge des Betrachterswirft.
Ist die Grenze zwischen Licht und Schatten vollkommen scharf? Oder
gibt es da einen grauen Bereich? Abbildung 5 lt uns einen Grund erah-
nen, warum es gewhnlich einen ziemlich breiten grauen Bereich gibt.
Wir sehen einen dunklen Bereich, den Schatten, den das Licht des Glh-
fadens nicht erreicht. Es gibt einen hellen Bereich, der von allen Teilen
des Glhfadens Licht erhlt. Weil nun der Glhfaden kein geometrischerPunkt ist, sondern eine gewisse Ausdehnung hat, existiert zwischen den
hellen und dunklen Bereichen auch ein Halbschatten, also ein Bereich,
der Licht von einem Teil des Fadens erhlt, aber von anderen Teilen nicht
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Schatten 41
beleuchtet wird. Vom Halbschatten aus sieht man nur einen Teil des
Glhfadens, das Licht ist dort weniger hell.
Taschenlampen werfen jedoch nicht nur deshalb einen Halbschat-ten, weil der Glhfaden eine endliche Ausdehnung hat, sondern weil
viele Einflsse auf das Licht wirken, die beispielsweise vom Spiegel hin-
ter der Lampe, von der Glasscheibe vor ihr bis zu den Schweinhten
oder Unregelmigkeiten in der Fertigung reichen. Das Schattenmuster
einer Taschenlampe ist also ziemlich kompliziert, weil die Taschenlampe
selbst kompliziert ist. Aber bei unseren Experimenten geht es nicht um
diese zuflligen Eigenschaften von Taschenlampen, sondern um eine vielgrundlegendere Frage, die Licht ganz allgemein betrifft: Gibt es eine
grundstzliche Grenze dafr, wie scharf ein Schatten sein kann (wie
schmal also ein Halbschatten sein kann)? Wrde der Halbschatten etwa
beliebig klein, wenn die Taschenlampe aus einem vollkommen
schwarzen (nicht reflektierenden) Material bestnde und der Glhfa-
den kleiner wre?
In Abbildung 5 sieht es so aus. Htte der Glhfaden keine Ausdeh-
nung, gbe es keinen Halbschatten. Der Zeichner hat brigens ange-
nommen, da Licht sich nur auf Geraden ausbreitet. Das entnehmen
wir unserer alltglichen Erfahrung, denn wir knnen nicht um die Ecke
sehen. Sorgfltige Experimente zeigen aber, da Licht nicht immer auf
Geraden luft. Unter gewissen Umstnden krmmt es sich.
Dies lt sich nicht gut mit einer Taschenlampe nachweisen, weil es
schwierig ist, sehr kleine Glhfden und sehr dunkle Flchen herzu-
stellen. Diese praktischen Probleme verschleiern die Grenzen, die dieGrundlagenphysik der Schrfe von Schatten auferlegt. Glcklicherweise
lt sich die Antwort auch anders finden. Dazu lassen wir das Licht einer
Taschenlampe wie in Abbildung 6 nacheinander durch zwei kleine
Lcher in sonst undurchlssigen Schirmen hindurchgehen und das
durchgehende Licht auf einen dritten Schirm fallen. Unsere Frage lau-
tet jetzt: Kann man den Schatten den vllig dunklen Bereich belie-
big weit an die Gerade heranbringen, die durch die Mitte der beidenLcher geht, wenn dieser Versuch mit immer kleineren Lchern und
mit immer grerem Abstand zwischen dem ersten und dem zweiten
Schirm durchgefhrt wird? Lt sich der beleuchtete Bereich zwischen
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Abb. 6Ein enger Strahl entsteht, wenn Licht nacheinander durch zwei Lcher geht.
dem zweiten und dem dritten Schirm auf einen beliebig engen Kegel
einengen? In der Sprache der Goldschmiede fragen wir jetzt nach der
Ausziehbarkeit, also danach, wie fein der Faden sein kann, bevor er reit.
Gold, der geschmeidigste Festkrper, den wir kennen, lt sich zu Fden
von einem Zehntausendstel Millimeter Dicke ausziehen.
Erstaunlicherweise ist Licht nicht so ausziehbar wie Gold! Lange bevor
die Lcher einen Durchmesser von einem Zehntausendstel Millimeter
erreichen, ja sogar schon bei etwa einem Millimeter Durchmesser,
beginnt das Licht merklich zu rebellieren. Statt geradlinig durch dieLcher zu gehen, wehrt es sich gegen die Einengung; hinter jedem Loch
breitet es sich aus, und dabei zerfranst es sich.
Licht weicht um so mehr von seinem geradlinigen Weg ab, je klei-
ner das Loch ist. Es bildet dann komplexe Licht- und Schattenmuster;
es gibt also nicht mehr nur einen hellen Bereich, einen dunklen Bereich
und dazwischen einen Halbschatten, sondern vielmehr konzentrische
Ringe unterschiedlicher Dicke und Helligkeit. Es entstehen auch Far-ben, weil weies Licht aus einer Mischung von verschiedenfarbigen
Photonen besteht, und jede Farbe verbreitet und zerfranst sich auf ihre
eigene Art. Abbildung 7 zeigt ein Muster, das sich bei weiem Licht auf
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Schatten 43
Abb. 7Das von weiem Licht geworfene Licht- und Schattenmuster eines kleinen kreisrun-den Lochs.
dem dritten Schirm typischerweise bildet, nachdem es durch die Lcher
in den beiden ersten Schirmen hindurchgegangen ist.
Man bedenke, da hier lediglich Schatten geworfen werden. Abbil-
dung 7 zeigt den Schatten, den der zweite Schirm wirft. Wenn Licht nur
auf Geraden liefe, wrde man nur einen winzigen weien Fleck (viel
kleiner als der helle Fleck in der Mitte von Abbildung 7) und einen ihn
umgebenden schmalen Halbschatten sehen, und darum herum nurSchatten, also vllige Dunkelheit.
Vielleicht verblfft es, da Lichtstrahlen abgelenkt werden, wenn sie
durch kleine Lcher hindurchgehen, aber das ist kein grundstzliches
Problem. Fr die jetzigen Zwecke ist wesentlich, da Licht gebeugt wer-
den kann. Schatten sind also nicht notwendig Silhouetten der Dinge,
die sie werfen. Mehr noch, das Schattenbild verschwimmt nicht nur wie
im Halbschatten, ein Hindernis mit einem Lochmuster kann darber hin-aus einen Schatten mit einem vllig anderen Muster werfen.
Abbildung 8 zeigt nherungsweise lebensgro einen Teil des Schat-
tenmusters, das in drei Metern Entfernung von einem Paar gerader, paral-
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Schatten 45
Abb. 9a
Teil des Schattens einer Schranke mit viergeraden, parallelen Schlitzen.
Abb. 9bTeil des Schattens einer Schranke mit zwei geraden, parallelen Schlitzen.
einen Zehntel Millimeter zur Seite verschoben also fast an derselben
Stelle. Wir wissen auch, da Lichtstrahlen einander gewhnlich unge-
hindert durchdringen. Die beiden Schlitzpaare zusammen sollten also
im wesentlichen dasselbe Muster erzeugen, das jedoch doppelt so hell
und etwas verschwommener sein sollte.
In Wirklichkeit jedoch geschieht etwas ganz anderes. Abbildung 9a
zeigt den wirklichen Schatten einer Schranke mit vier geraden, paral-
lelen Schlitzen. Zum Vergleich sehen wir noch einmal das Bild mit zwei
Schlitzen. Offensichtlich ist der Schatten aus vier Schlitzen keine Kom-
bination von zwei etwas gegeneinander verschobenen Schatten aus zwei
Schlitzen, sondern er weist ein neues und komplizierteres Muster auf.In diesen Mustern gibt es Orte wie den mit X markierten Punkt, die
einmal dunkel sind und ein andermal hell. Solche Orte sind also hell,
wenn Licht durch zwei Schlitze luft, und dunkel, wenn das Licht zwei
weitere Schlitze passieren kann. Das ffnen dieser Schlitze hat mit dem
Licht, das zuvor bei X ankam, interferiert.
Die Hinzufgung von zwei weiteren Lichtquellen verdunkelt also
den Punkt X. Er wird wieder hell, wenn wir die Schlitze wegnehmen.Wie das? Man knnte sich vorstellen, da zwei Photonen auf X zulau-
fen und wie Billardkugeln voneinander abprallen. Jedes Photon allein
htte X getroffen, weil die beiden Photonen aber miteinander inter-
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ferieren, sind sie am Schlu beide woanders. Wir werden gleich sehen,
da diese Erklrung nicht richtig sein kann. Trotzdem ist der Grund-
gedanke unausweichlich, da etwas durch das zweite Schlitzpaar kom-men mu, das das Licht vom ersten Paar daran hindert, X zu erreichen.
Aber was? Wir knnen das mit einigen weiteren Experimenten her-
ausfinden. Erstens tritt das Muster aus den vier Schlitzen von Abbil-
dung 9a nur dann auf, wenn alle vier Schlitze im Laserstrahl liegen.
Wenn nur zwei beleuchtet werden, stellt sich das bekannte Muster ein,
wenn drei beleuchtet werden, ergibt sich wieder ein anderes Muster.
Das, was die Interferenz verursacht, steckt also im Lichtstrahl. Das zweiSchlitzen entsprechende Muster stellt sich auch dann wieder ein, wenn
zwei der Schlitze mit etwas Undurchsichtigem gefllt werden, nicht aber,
wenn sie mit Durchsichtigem gefllt werden. Das, was interferiert, wird
folglich durch alles behindert, was Licht behindert, selbst durch etwas
so Flchtiges wie Nebel. Aber es kann alles durchdringen, was Licht
durchlt, selbst etwas so Hartes wie Diamanten. Wenn ein kompli-
ziertes Spiegel- und Linsensystem in das Gert eingebaut wird, be-
obachtet man an diesem Punkt den Teil eines Vier-Schlitz-Musters, falls
das Licht aus allen vier Schlitzen auf diesen Punkt auf dem Schirm ge-
langen kann. Wenn das Licht von nur zwei Schlitzen einen bestimm-
ten Punkt erreichen kann, beobachtet man dort ein Muster mit zwei
Schlitzen und so weiter.
Etwas, das die Interferenz verursacht, verhlt sich also wie Licht. Es
ist berall im Lichtstrahl, aber nirgendwo auerhalb zu finden. Es wird
von allem reflektiert, durchgelassen oder blockiert, was Licht reflektiert,durchlt oder blockiert. Vielleicht fragen Sie sich, warum wir diesen
Punkt so betonen mssen. Das Etwas ist offensichtlich Licht. Was also
mit den Photonen aus den Schlitzen interferiert, mssen Photonen aus
den anderen Schlitzen sein. Doch warten Sie ab. Nach dem nchsten
Experiment knnte man geneigt sein, das Offensichtliche zu bezweifeln,
denn es durchbricht das Gesetz der Serie.
Was sollten wir erwarten, wenn diese Experimente mit nur einemPhoton durchgefhrt werden? Nehmen wir beispielsweise an, die
Taschenlampe sei in der Entfernung, in der an jedem Tag nur ein Photon
auf den Schirm fllt. Was sieht unser Frosch dann vom Schirm aus? Sollte
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Ich nenne diese Gren von jetzt an Photonen. Das sind sie nmlich,
obwohl es im Augenblick so aussieht, als ob es zwei Arten von Photonen
gbe, die ich vorbergehend fabarund schattenhaft nenne. FabarePhotonen sind die, die wir sehen oder mit unseren Instrumenten nach-
weisen knnen. Schattenhafte Photonen sind nicht fabar. Sie sind also
unsichtbar. Wir knnen sie nur indirekt durch ihre Interferenz mit fa-
baren Photonen entdecken. Spter werden wir sehen, da es zwischen
fabaren und unsichtbaren Photonen keinen wesentlichen Unterschied
gibt, denn jedes Photon ist in einer Welt fabar und in allen anderen
parallelen Welten unfabar aber wir wollen nicht vorgreifen. Was wirbis jetzt hergeleitet haben, besagt nur, da zu jedem fabaren Photon
ein Gefolge von schattenhaften Photonen gehrt und da dann, wenn
ein fabares Photon durch einen unserer vier Schlitze hindurchgeht,
einige schattenhafte Photonen durch die anderen drei Spalte gehen. Da
andere Interferenzmuster entstehen, wenn die Schlitze an anderen Stel-
len des Schirms, aber im Strahl, liegen, mssen berall auf dem beleuch-
teten Teil des Schirms schattenhafte Photonen ankommen, wenn ein
fabares Photon ankommt. Deshalb gibt es sehr viel mehr schattenhafte
Photonen als fabare. Wie viele mehr? Die Experimente knnen keine
Obergrenze setzen, wohl aber eine grobe Untergrenze. In einem Labor
mit die grte Flche, die wir mit einem Laser gut beleuchten kn-
nen, etwa einen Quadratmeter, und das kleinste Loch, mit dem man
noch gut arbeiten kann, hat etwa ein Tausendstel Millimeter Durch-
messer. Es gibt also in dem Schirm etwa 1012 (eine Billion) mgliche
Orte fr Lcher. Deshalb mu jedes fabare Photon von mindestens einerBillion schattenhafter Photonen begleitet sein.
Wir haben also die Existenz einer schumenden, sagenhaft kom-
plizierten, verborgenen Welt schattenhafter Photonen hergeleitet. Sie
haben Lichtgeschwindigkeit, prallen an Spiegeln ab, werden von Lin-
sen gebrochen und von undurchlssigen Filtern einer anderen als der
ihnen entsprechenden Farbe aufgehalten. Auch die empfindlichsten
Detektoren sprechen nicht auf sie an. Ein schattenhaftes Photon ltsich nur an seiner Wirkung auf das fabare Photon erkennen, zu des-
sen Gefolge es gehrt. Das ist das Phnomen der Interferenz. Schat-
tenhafte Photonen wrden ohne dieses Phnomen und das seltsame
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unterscheiden, da die Teilchen in jedem Universum in anderen