11-04-30 gse narva...deutschlandfunk gesichter europas samstag, 30. april 2011 - 11.05 – 12.00 uhr...

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Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 30. April 2011 - 11.05 – 12.00 Uhr Getrennt durch die Schengen-Grenze – Die Zwillingsstädte Narva in Estland und Iwangorod in Russland Mit Reportagen von Andrea Rehmsmeier Musikauswahl: Babette Michel Moderation: Henning von Löwis Urheberrechtlicher Hinweis Urheberrechtlicher Hinweis Urheberrechtlicher Hinweis Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar - DESIGN MUSIK MODERATOR Ein Rentner in Narva über die Geschichte seiner Heimatstadt:

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  • Deutschlandfunk

    GESICHTER EUROPAS

    Samstag, 30. April 2011 - 11.05 – 12.00 Uhr

    Getrennt durch die Schengen-Grenze –

    Die Zwillingsstädte

    Narva in Estland und Iwangorod in Russland

    Mit Reportagen von Andrea Rehmsmeier

    Musikauswahl: Babette Michel

    Moderation: Henning von Löwis

    Urheberrechtlicher HinweisUrheberrechtlicher HinweisUrheberrechtlicher HinweisUrheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig.

    ©

    - unkorrigiertes Exemplar - DESIGN MUSIK MODERATOR Ein Rentner in Narva über die Geschichte seiner Heimatstadt:

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    O-TON REIN ANNIK

    Für die Russen beginnt die Geschichte von Narva nach dem Zweiten

    Weltkrieg, als sie hierherkamen, um die Stadt wieder aufzubauen. Auf eine

    gewisse Weise haben sie damit sogar Recht. Ja: Die Russen haben Narva

    aufgebaut, nicht die Esten. Aber eine Frage sei mir dennoch erlaubt: Wer hat

    Narva denn zerstört? Darüber spricht hier nämlich keiner.

    MODERATOR …und eine Mitarbeiterin der Stadtverwaltung von Iwangorod über die Perspektiven

    Iwangorods und Narvas:

    O-TON TATJANA SCHAROVA

    Ich glaube, Iwangorod und Narva haben eine gemeinsame Zukunft –

    Schengener Grenze hin oder her. Welche politischen Entscheidungen auch

    immer getroffen werden: Die Einwohner verbindet eine enge Geschichte.

    Natürlich wäre es besser, wenn es diese Grenze gar nicht erst gäbe. Aber da

    sie nun einmal da ist, da wir auf diese Tatsache keinen Einfluss haben, wollen

    wir wenigstens alles tun, um für unsere Bürgern die Grenz-Bürokratie zu

    minimieren.

    MODERATOR Gesichter Europas – Heute: Getrennt durch die Schengen-Grenze – Die Zwillingsstädte

    Narva in Estland und Iwangorod in Russland.

    Eine Sendung mit Reportagen von Andrea Rehmsmeier.

    Am Mikrofon: Henning von Löwis.

    MUSIK MODERATOR Es war einmal eine Stadt mit einer Brücke, die die Menschen verband. Sie konnten die

    Brücke passieren – zu Fuß, mit dem Fahrrad oder dem Auto. Und sie mussten keinen

    Pass vorzeigen, kein Visum haben.

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    Diese Stadt hieß Narva , lag in der UdSSR, vor 1918 in Russland – gehörte einst

    zum Gouvernement Sankt Petersburg.

    Heute ist alles anders in Narva. Seit die UdSSR untergegangen ist, die Republik Estland

    ihre Unabhängigkeit wiedererlangte und der Europäischen Union beitrat endet an

    dieser Brücke EU-Europa.

    Und das hat Folgen für die Menschen – im estnischen Narva und im russischen

    Iwangorod. Jede Phase des europäischen Einigungsprozesses trennt die Einwohner der

    Zwillingsstädte weiter voneinander. Morgen, am 1. Mai, öffnen Deutschland und

    Österreich als letzte der alten EU-Länder ihren Arbeitsmarkt für Bürger aus

    Osteuropa. Dann können sich die Bewohner Narvas mit estnischer Staatsbürgerschaft

    ohne spezielle Arbeitserlaubnis in der gesamten Europäischen Union bewerben. Den

    Bewohnern Iwangorods ist das verwehrt.

    Es leben vorwiegend Russen an beiden Ufern des Grenzflusses Narva.

    Estlands drittgrößte - Estlands östlichste – Stadt hat zwar einen estnischen

    Bürgermeister, doch etwa 95 Prozent der rund 70.000 Einwohner sind ihrer Herkunft

    nach Russen.

    Und nicht wenige von ihnen haben Verwandte und Bekannte in Iwangorod oder im

    gerade mal hundert Kilometer entfernten Sankt Petersburg.

    ATMO MOTORGERÄUSCHE

    REPORTERIN

    Es ist immer das gleiche Bild – zu jeder Tageszeit, und manchmal auch des

    Nachts: Quer durch die Stadt Narva, den zentralen Peetri Platz entlang, quält

    sich eine Autoschlange in Richtung Schlagbaum. Direkt hinter der

    Passkontrolle führt eine Autobrücke über einen Fluss: Drüben beginnt die

    Russische Föderation. Meistens stehen die Wagen mit laufenden Motoren

    herum. In einer Parkanlage neben der Straße - in monumentaler Größe und

    strahlendem Weiß - erhebt sich der Lange Hermann, der berühmte Wachtturm

    der Hermannsfeste. Doch die Wartenden sind nicht in Stimmung für

    kulturhistorische Erbauung.

    ATMO MÄDCHENSTIMME, PAPA ERZÄHLT

    REPORTERIN

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    „Wir fahren nach St. Petersburg – nach Hause“, ruft ein Mädchen durch die

    offene Autotür. Hier, in Estland, hat sie ihre Großeltern besucht – jetzt geht es

    zurück in die russische Heimat. Auf dem Fahrersitz: ihr Vater.

    O-TON VATER

    Ihre Großeltern wohnen in Estland, aber meine Tochter lebt bei meiner Frau,

    drüben, in Russland. Ich selbst lebe auch in Estland. Wie es eben so passiert

    im Leben …

    REPORTERIN

    Russischer Herkunft sind sie beide, russische Staatbürgerin aber ist nur die

    Tochter. Der Vater hat den EU-Pass der Republik Estland – an diesem

    Grenzübergang ist das ein entscheidender Vorteil.

    O-TON VATER

    An keiner anderen Grenze der Welt muss man so lange warten. Ich mit

    meinem Schengener Pass darf die Grenze ohne Wartezeit passieren. Aber

    alle anderen stehen hier drei Tage.

    REPORTERIN

    Verwandtenbesuch – das ist hier das Zauberwort für den Grenzübertritt. Ein

    Abkommen zwischen Russland und Estland gibt den Bewohnern von Narva

    und seiner Zwillingsstadt Iwangorod das Recht auf ein Langzeitvisum für das

    Nachbarland – denen jedenfalls, die am anderen Flussufer Familie haben.

    Tatsächlich aber geht es wohl den wenigsten hier um einen Besuch bei der

    Oma oder bei der Ex-Frau. Das wird schnell klar im Gespräch mit den

    Fahrern, die rauchend am Straßenrand stehen.

    O-TON FAHRER

    Ich fahre zum Tanken rüber. Ich komme aus einer Stadt, die liegt etwa 60

    Kilometer von hier. Aber die Anfahrt lohnt sich. Benzin ist in Russland nur halb

    so teuer wie in Estland.

    O-TON FAHRER

    Nur das Benzin bewegt diese Autoschlange. Entschuldigung, aber das ist so.

    Wir müssen ja auch irgendwie über die Runden kommen. Hätten wir Gehälter

    wie in Europa, würden wir hier nicht stehen.

  • 5

    ATMO AUTOTÜR

    REPORTERIN

    Die Schengener Grenze mag zu den best bewachten der Welt zählen – die

    Bewohner von Narva überschreiten sie für eine Tankfüllung. Wer sich nicht

    selbst drei Tage lang in die Schlange stellen mag, der kann über eine

    spezielle Agentur einen Warteplatz buchen – kostenpflichtig, versteht sich.

    Dann wird er per SMS auf dem Laufenden gehalten, wie schnell es vorangeht,

    und wann der Zeitpunkt für den eigenen Grenzübertritt gekommen ist. Doch

    selbst dieser nützliche Service hebt die Laune der Wartenden kaum.

    O-TON ALEKSANDR

    Hat denn Europa vor irgendwas Angst? Vor Russland vielleicht? Warum setzt

    ihr uns diese Grenze vor die Nase? Russland hat doch auch keine Angst!

    Russland setzt sich für Visa-freien Grenzverkehr ein!

    REPORTERIN

    Der Mann stellt sich als Aleksandr vor. Seine Frau Elena sitzt auf dem

    Beifahrersitz. Sie sind Russen, beide Mitte 50. In Narva wohnen sie fast ihr

    ganzes Leben. Auch sie fahren an diesem Tag zum Tanken nach Russland -

    und für etwas, das sie als „Business“ bezeichnen. Beim stundenlangen

    Schlangestehen haben sie sich in Rage geredet über die verworrenen

    Verhältnisse in diesem seltsamen, neuen Europa: ER hat einen russischen

    Pass, SIE einen estnischen.

    O-TON ELENA

    Zu Sowjetzeiten waren wir alle Russen. Aber ich arbeite ich als

    Krankenschwester in einem staatlichen Krankenhaus. Dort hat man mir mit

    Entlassung gedroht, wenn ich nicht die estnische Staatsbürgerschaft

    annehme. Ich musste estnisch lernen und Sprachprüfungen ablegen. Auf der

    anderen Seite kann man mit der estnischen Staatsbürgerschaft leichter

    Wohnungen kaufen. Auch sonst gibt es Privilegien.

    REPORTERIN

    Elena bekommt ihr Gehalt in Estland, Aleskandr macht kleine Geschäfte mit

    Freunden in Russland – auf diese Weise reicht das Geld gerade eben. In

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    Narva kann nur überleben, wer ein wirtschaftliches Standbein im Ausland hat,

    glaubt das Ehepaar. Viele ihrer Freunde, die wie sie selbst eigentlich kurz vor

    der Rente stehen, haben sich als Putzkräfte in Norwegen oder Irland verdingt.

    Und der Sohn, ein diplomierter Ingenieur, lebt mit seiner Familie in Finnland.

    O-TON ALESKANDR

    Öffnet Deutschland jetzt nicht auch endlich seinen Arbeitsmarkt? Mein Sohn

    wäre gerne mit seiner Familie nach Deutschland gegangen. Aber die

    Entscheidung, wo man leben und arbeiten will, richtet sich eben meistens

    danach, wie gut oder schlecht man sich aufgenommen fühlt.

    REPORTERIN

    Endlich taucht vor der Windschutzscheibe der Schlagbaum auf. Jenseits des

    Flusses, am anderen Ende der Autobrücke, sieht man schon die Flagge der

    Russischen Föderation flattern. Aleskandr gibt Gas. Dann, schon im Rollen,

    steckt er noch einmal den Kopf aus dem Seitenfenster.

    O-TON ALEKSANDR

    Sagen Sie Ihrer Regierung, dass wir hier wieder einen freien Übergang

    brauchen! Die Grenze muss weg! Wir wollen hier so eine Grenze, wie ihr

    Deutschen sie habt - mit Österreich und anderen Staaten.

    MUSIK MODERATOR Es war einmal eine reiche Stadt Narva.

    Doch weil sie reich war – und zudem an der Grenze zwischen dem russischen

    Zarenreich und dem Baltikum lag, in dem zunächst die Dänen, dann der Deutsche

    Orden und ab 1581 die Schweden herrschten, war Narva stets bedroht.

    Und die Bürger mussten sich etwas einfallen lassen, um ihren Reichtum zu schützen.

    Eine Sage erzählt davon, „Wo Narvas früherer Reichtum liegt“.

    MUSIK

    In den Tagen, als Narva noch eine reiche Stadt war, zog einst von Russland

    oder von Polen her der grimmige Feind mit großer Heeresmacht heran, um

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    die Stadt einzunehmen und auszuplündern. Zum Glück erhielten die

    Bewohner einige Tage vorher durch ihre Spione Nachricht, so dass sie noch

    Zeit hatten, den größten Teil ihres Goldes und Silbers zusammenzuraffen und

    in der Mündung des Flusses unweit der See zu versenken. Darauf wurden die

    Tore geschlossen und die Schanzen besetzt. Mit Proviant war die Stadt so

    reichlich versehen, dass eine Hungersnot nicht zu besorgen stand; die festen

    Mauern und Werke rings um die Stadt, der tiefe, breite Fluß einerseits, und

    die mit Wasser gefüllten Wallgräben andrerseits wehrten den Feind ab, so

    dass er nicht eindringen konnte. Er belagerte die Stadt bis zum Herbst, musste

    aber dann unverrichteter Sache abziehen. Nach dem Abzuge des Feindes

    hatten die Bürger der Stadt nichts Eiligeres zu tun, als an die Mündung des

    Flusses zu gehen, um ihren Schatz aus seinem Versteck heraufzuholen.

    Unglücklicherweise aber hatten sie ihn zu nahe am Meere auf den Grund

    gesenkt; die heftigen Stürme hatten oftmals die Tiefe aufgewühlt und die

    Geldfässer gegeneinander geschüttelt und zerbrochen, der vom Meere

    ausgeworfene Sand aber hatte später alles bedeckt und festgelegt, sodaß man

    nur wenig von dem versenkten Gelde wieder erlangte. Der größte Teil dieses

    Schatzes der Vorzeit ruht bis zum heutigen Tage auf dem Grunde des Flusses

    und des Meeres, und niemand weiß, welchem Glückskind er einmal in die

    Hände fallen wird.

    MUSIK MODERATOR Der Handelsplatz Narva ist in sieben Jahrhunderten immer wieder auch

    Kriegsschauplatz gewesen.

    Im Großen Nordischen Krieg erlitten die Heere von Peter I. in der Schlacht von Narva

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    am 30. September 1700 eine verheerende Niederlage. Vier Jahre später war der Zar

    dann erfolgreicher und eroberte Narva.

    Im Zweiten Weltkrieg tobte die erbitterte Schlacht um den Brückenkopf Narva, in der

    sich 1944 die Rote Armee und die Heeresgruppe Nord der Wehrmacht

    gegenüberstanden. Auf deutscher Seite kämpften Freiwillige der Waffen-SS aus ganz

    Europa.

    Als die „Festung Narva“ fiel und die Waffen schwiegen gab es das alte Narva nicht

    mehr.

    Die Geschichte hat Spuren hinterlassen. Und manche, die das Gestern in dieser Stadt

    miterlebten, erinnern sich.

    ATMO FAHRSTUHLMUSIK

    REPORTERIN

    Die alte Hansestadt mit ihrer 700-jährigen Geschichte - die Wellness-Hotels

    am Ostsee-Strand von Narva-Joesuu, dem früheren Hungerburg - die

    aufwändig renovierte und als Museum hergerichtete Hermannsfestung. In den

    Hochglanzprospekten, die stapelweise im Schaufenster ausliegen, locken

    Mittelaltermärkte, Biker-Touren und Kulturevents. Die Stadt Narva, das ist

    offensichtlich, hat den boomenden Baltikum-Tourismus als neues

    wirtschaftliches Standbein entdeckt. Gerade vor ein paar Wochen hat die

    Touristeninformation ihre neuen Geschäftsräume am Peetri Platz bezogen.

    Jetzt steht - inmitten von kunterbunten Auslagen und funkelnden Souvenir-

    Vitrinen - ein alter Herr. Etwas nachdenklich rückt er seine Schlägermütze

    zurecht.

    O-TON REIN ANNIK

    Das ist ein historischer Ort für mich. Genau an dieser Stelle stand vor dem

    Krieg ein Lebensmittelgeschäft. Meine Mutter hat hier als Verkäuferin

    gearbeitet. Hier am Peetri Platz

    ATMO

    REPORTERIN

  • 9

    Rein Annik: Der lebhafte Rentner ist Este, doch sein Russisch ist akzentfrei –

    anders geht es nicht in dieser Stadt der Russen, von denen die wenigsten

    auch nur gebrochen die Landessprache sprechen. Doch mit dem, was er zu

    erzählen hat, klagt Annik, stoße er bei den Russen sowieso auf taube Ohren.

    Schließlich gehört er zu den ganz wenigen Zeitzeugen, die schon in Narva

    gelebt haben, bevor die Deutsche Wehrmacht und die Rote Armee in ihren

    über zwei Jahre währenden Schlachten hier verbrannte Erde hinterließen. Es

    ist die Geschichte vom blutigen Untergang einer estnischen Stadt.

    O-TON REIN ANNIK

    Für die Russen beginnt die Geschichte von Narva nach dem Zweiten

    Weltkrieg, als sie hierherkamen, um die Stadt wieder aufzubauen. Auf eine

    gewisse Weise haben sie damit sogar Recht. Ja: Die Russen haben Narva

    aufgebaut, nicht die Esten. Aber eine Frage sei mir dennoch erlaubt: Wer hat

    Narva denn zerstört? Darüber spricht hier nämlich keiner.

    ATMO

    REPORTERIN

    Hinter dem Schaufenster glänzt regennass der Asphalt des Peetri Platzes,

    den die Russen „Petrovskij“ nennen – nach Peter dem Großen. Früher war

    hier kein Parkplatz, sondern ein quirliger Markt. In den verwinkelten Gassen

    der Hansestadt wohnten Esten und Juden, Deutsche und Tartaren, Ukrainer

    und Schweden, erzählt Annik. Die Erinnerung an dieses alte, das estnische

    Narva wach zu halten – dafür hat er sich viele Jahre lang als Lokalpolitiker in

    verschiedensten Funktionen eingesetzt. Heute lebt der 80-Jährige

    zurückgezogen. Zu einer Zeitreise durch das Narva seiner Kindheit aber lässt

    er sich immer noch gerne überreden. Der Anfang vom Ende kam 1940, erzählt

    Annik. Die estnische Regierung – erschrocken über die näher rückende

    Deutsche Wehrmacht im Westen, und eingeschüchtert durch Stalins

    Gewaltandrohungen aus dem Osten – unterzeichnete damals den

    Beitrittsvertrag zur Sowjetunion.

    O-TON REIN ANNIK

  • 10

    Der Peetri Platz hatte damals Kopfsteinpflaster, und alles, was darüber fuhr,

    machte dieses Tik-Tik-Tik-Geräusch. Als die sowjetische Armee in Estland

    einrollte, da schallten die Ketten der Panzer durch die ganze Stadt. Ich war

    damals vier Jahre alt. Mit meinem Großvater zusammen habe ich mir die

    einrückenden Truppen angeschaut.

    ATMO SCHRITTE – TÜR - GURT

    REPORTERIN

    Heute gibt es auf dem Peetri Platz nichts als eine Parkfläche und die

    Autoschlange vor dem Grenzübergang. Annik lässt sich auf den Fahrersitz

    seines Wagens fallen. Die Stadtbesichtigung beginnt im Wohnviertel – dort,

    wo sich in sozialistischer Tristesse Häuserblock an Häuserblock reiht.

    O-TON REIN ANNIK

    Ab 1942 haben die sowjetischen Truppen die Stadt fast jede Nacht aus ihren

    Flugzeugen bombardiert. Ihr wichtigstes Ziel waren die beiden Brücken

    zwischen Narva und Iwangorod - die hölzerne, und die Eisenbahnbrücke.

    Über die versorgte die Deutsche Wehrmacht die Front bei Leningrad – andere

    Versorgungsrouten gab es nicht. Unsere Familie hatte damals einen kleinen

    Hund. Der begann immer schon zehn Minuten vor dem Bombenalarm zu

    bellen. So haben wir es dann rechtzeitig in den Keller geschafft. Was für ein

    Hund!

    ATMO AUTO

    REPORTERIN

    Graue Stichstraßen, zerfallene Hinterhöfe, verrußte Häuserfronten – was

    immer vor der Windschutzscheibe des Wagens auftaucht, bekommt durch die

    Erinnerung des alten Mannes seine eigene Geschichte.

    O-TON REIN ANNIK

    Hier vor uns, diese Parkanlage, die nannten wir damals den „dunklen Wald“.

    Dunkel, weil die Bäume so dicht stehen. Vor dem Krieg sind die jungen Leute

    hier hingegangen, um zu tanzen, um sich zu küssen und zu lieben. .... Ach wie

    schade. Diese Stadt gibt es nicht mehr.

    ATMO

  • 11

    REPORTERIN

    Mehrmals zog die Front über Narva hinweg. Erst geriet die Stadt unter

    deutschen Beschuss. Nachdem die Wehrmacht die Sowjets zurückgeschlagen

    und die Stadt besetzt hatte, gingen die Bomben der Roten Armee auf die

    beiden Brücken nieder. Ein einziges Holzhaus aus der Vorkriegszeit hat

    diesen Dauer-Beschuss überlebt – jetzt lugen seine schiefen Wände zwischen

    den Häuserfronten hervor. Auffallend unbeschadet ist auch eine prächtige

    russisch-orthodoxe Kirche. Für die Sowjets, erzählt Annik, war sie von

    strategischer Bedeutung - als Orientierungspunkt für die Luftwaffe. Nur

    deshalb blieb sie verschont. Von den anderen Gebäuden blieben, wenn

    überhaupt, Ruinen.

    O-TON REIN ANNIK

    Da vorne, dieses rote Backsteingebäude, dort wohnte mein Freund. Wir

    waren damals fünf oder sechs Jahre alt. Als Narva bombardiert wurde, hat er

    sich mit seiner Mutter im Keller versteckt. Sie müssen wohl geglaubt haben,

    dass sie dort sicher sind. Aber das Gebäude hatte damals ein hölzernes Dach,

    die Bombe hat es einfach durchschlagen. Der Vater meines Freundes war zu

    dieser Zeit an der Front. Und das erste, was er fand, als er nach Narva

    zurückkehrte, war die Zeitung mit der Todesanzeige. Sowas muss man sich

    mal vorstellen. Da kommt einer von der Front, und das erste was er liest, ist

    die die Nachricht vom Tod seiner Familie ...

    ATMO ANNIK

    REPORTERIN

    Zu keiner Zeit war das sowjetische Bombardement verheerender als am 6.

    März 1944. Was immer bis zu diesem Tag noch stand, fiel jetzt dem

    Feuerinferno zum Opfer. Das Wasser der Narva, erzählt Annik, war rot vom

    Blut der Soldaten. Die meisten Einwohner aber hatten sich rechtzeitig in

    Sicherheit gebracht. Anniks Vater, der damals als Chauffeur arbeitete, hatte

    ein Auto zur Verfügung. Andere flohen mit Pferdschlitten oder Handkarren –

    jeder wie er konnte. Die meisten kehrten nie nach Narva zurück.

  • 12

    Jetzt taucht vor der Windschutzscheibe eine prächtig verzierte Fassade mit

    Säulenportal auf. Eines der wenigen Gebäude, von denen genug übrig war,

    dass eine Restaurierung sich lohnte. Das Kulturhaus, sagt Annik, und lacht.

    Nach dem Krieg begann hier das Leben neu.

    O-TON REIN ANNIK

    Hier gab es ein Kino, und man konnte tanzen. Die Sitte, dass Mädchen mit

    Mädchen tanzen, die stammt aus Narva – wussten Sie das? Weil es hier so

    lange keine Männer gab.

    REPORTERIN

    Annik selbst kehrte erst im Jahr 1957 in die Stadt seiner Kindheit zurück. Doch

    er erkannte sie kaum wieder: Narva war jung, weiblich und russisch

    geworden. Stalin hatte angeordnet, die Ruinenwüste mit Bulldozern

    einzuebnen, und dann als Industriezentrum wieder aufzubauen. Tausende

    junger Frauen fanden Arbeit in der Textilfabrik Kreenholm. Später zogen

    Ingenieure und Bauarbeiter aus dem ganzen Sowjetreich nach Narva, sie

    bauten Elektrizitätswerke. Auch Annik fand eine Anstellung als

    Elektroingenieur, fast vierzig Jahre überwachte er die Stromnetze der Stadt.

    ATMO KRÄHEN

    Das Ufer der Narva – das ist für ihn bis heute der schönste Platz. Auf einem

    Parkplatz, unter alten Bäumen, stellt er seinen Wagen ab. Hinter der

    historischen Stein-Balustrade, die das Steilufer säumt, nimmt der Rentner

    seine Schlägermütze ab. Ein schneidender Wind zaust sein weißes Haar: Von

    hier oben eröffnet sich der Blick auf ein halbes Jahrtausend Weltgeschichte.

    Ein Fluss, zwei Brücken, zwei Burgen – zwei Weltreiche, eine Grenze.

    O-TON REIN ANNIK

    Was für ein Anblick! Die Hermannsfeste! Und da drüben die Iwangoroder

    Festung. Wenn es die Altstadt noch gäbe - Narva wäre mit Touristen

    überflutet.

    ATMO KRÄHEN

  • 13

    REPORTERIN

    1991, als die Esten ihre Unabhängigkeit von Russland erklärten, ging Annik in

    die Politik. Estnisch wurde zur Staatssprache erklärt - allein Narva blieb ein

    russische Stadt: Im Stadtrat waren damals gerade acht von 31 Sitzen von

    gebürtigen Esten besetzt. Und von denen, sagt Annik bitter, ist heute noch ein

    einziger übrig. Langsam hebt er seine Hand, und weist mit dem Finger auf die

    Außenmauer der Hermannsfeste – dorthin, wo hoch über dem Fluss die

    estnische Flagge weht.

    O-TON REIN ANNIK

    Sehen Sie die estnische Flagge? Aufgestellt haben wir sie im Jahr 2001 –

    ohne Aufsehen zu erregen. Damals war der Innenhof für die Öffentlichkeit

    geschlossen, er wurde von zwei Hunden bewacht. Am anderen Morgen eilten

    die Stadtvertreter der kommunistischen Fraktion zu der Festung, um sich das

    Malheur anzuschauen: Die estnische Flagge - au weia! Sofort haben sie den

    leitenden Polizeichef herbeikommandiert. Er sollte die Hunde erschießen, und

    die estnische Flagge wieder herunterlassen. Der Polizeichef aber war selbst

    ein Este, und er antwortete ihnen: „Erschießen Sie die Hunde doch selbst!“.

    So haben sie gestritten und gestritten, bis endlich jemand auf die Idee kam, in

    der Hauptstadt Tallinn anzurufen. Und da bekamen sie zu hören: „Jawohl, das

    hat so seine Richtigkeit. Ab jetzt werden in Estland nur noch estnische

    Flaggen wehen.“

    MUSIK MODERATOR Estland heute – das ist NATO-Land, EU-Land und seit dem 1. Januar 2011 auch

    EURO-Land.

    Etwa zeitgleich mit der EURO-Einführung schloss das traditionsreichste Unternehmen

    Narvas seine Tore – die 1857 gegründete Textilfabrik Kreenholm, einst die größte

    Baumwollspinnerei des Russischen Reiches. Zu Sowjetzeiten waren hier nach dem

    Zweiten Weltkrieg einmal 12.000 Näherinnen beschäftigt.

    Heute liegt die Arbeitslosenquote in Narva bei 16 Prozent.

    Viele, die jung und ungebunden sind, machen sich auf der Suche nach Arbeit auf in

    Richtung Westen – und manche in Richtung Osten. Längst locken auch Unternehmen

  • 14

    jenseits der Grenze in Russland mit ansehnlichen Gehältern und guten

    Karrieremöglichkeiten.

    Ab 1. Mai 2011 steht Bürgern Estlands der Arbeitsmarkt von ganz EU-Europa offen.

    Der Haken bei der Sache: Es reicht nicht in Estland zu leben – man muss einen

    estnischen Pass besitzen.

    ATMO ARBEITSAMT

    REPORTERIN

    Die Frau hinter dem Schreibtisch macht ein ernstes Gesicht. Dann fährt sie mit

    verlegener Geste ihre Hand durchs Haar.

    O-TON BERATERIN

    In unserer städtischen Internet-Stellenbörse gab es gestern genau null

    Stellenanzeigen. Kein einziges. Letzte Woche waren es immerhin noch fünf.

    Auf der anderen Seite weist unsere Statistik 6000 Arbeitslose auf. Tut mir leid

    – das sieht nicht gut aus. Es gibt hier jetzt nur wenige Stellen. Sehr wenige.

    ATMO BERATUNGSZIMMER

    REPORTERIN

    Sergej und Ivan schauen sich an. Die Situation auf dem Arbeitsmarkt von

    Narva, so scheint es, wird immer hoffungsloser. Die jungen Russen sind

    Anfang 20, beide haben eine Berufsausbildung. Sergej, ein sportlicher Typ in

    abgewetzter Lederjacke, ist ausgebildeter Schweißer. Bis vor kurzem hat er

    sich mit Gelegenheitsjobs in Russland durchgeschlagen. Jetzt wünscht er sich

    nichts sehnlicher als eine gesicherte Existenz in seiner Heimatstadt. Sein

    Freund Ivan, der seine Sweatshirt-Kapuze ins Gesicht gezogen trägt wie ein

    HipHopper, hat in Narva erst Programmierer gelernt, wurde dann auf

    Arbeitsamts-Kosten zum Ventilationstechniker umgeschult. Freie Stellen aber

    gibt es in beiden Berufen nicht. Und so steht er jetzt schon wieder hier und

    sucht Arbeit.

    O-TON IVAN

    Irgendwas eben, mit sozialer Absicherung oder wenigstens mit

    Krankenversicherung. Da habe ich nun schon zwei Berufsabschlüsse, und

    trotzdem will mich niemand. Inzwischen bin ich soweit, dass ich überall hin

  • 15

    gehen würde. Hier hält mich nichts. Hier bin ich den Arbeitgebern zu jung, und

    ich habe keine Berufserfahrung. Das ist natürlich ein Hindernis.

    REPORTERIN

    Ob er denn die estnische Staatsbürgerschaft besitze, fragt die

    Arbeitsamtberaterin. Ivan nickt. Mit einem EU-Pass, erklärt sie weiter, könne

    man sich bald ohne jeden bürokratischen Aufwand in der gesamten

    Europäischen Union bewerben. Das biete vielfältige Möglichkeiten für

    qualifizierte junge Leute – und das Arbeitsamt unterstützt diese Abwanderung.

    O-TON BERATERIN

    Wir tun ja alles, um unseren Klienten aus der Arbeitslosigkeit herauszuhelfen.

    Und wenn jemand für sich Chancen im Ausland sieht, dann halten wir ihn nicht

    zurück. Wir unterstützen ihn nach Kräften, damit er dort Arbeit findet. Zum

    Beispiel veranstalten wir Infotage über Berufsmöglichkeiten im Ausland. ....

    ATMO PAPIERRASCHELN

    REPORTERIN

    Die Beraterin reicht Ivan einige Handzettel herüber. Eine Einladung zu einer

    Infoveranstaltung übe die EU-weite Arbeitnehmerfreizügigkeit ist dabei, und

    Informationen über Stellenvermittlungsprogramme verschiedener EU-Länder -

    darunter auch eine Ausschreibung der deutschen Bundesanstalt für Arbeit, die

    in Estland um Ärztenachwuchs wirbt. Ivans Miene hellt sich auf.

    O-TON IVAN

    Ich würde gerne nach Finnland gehen. Dort ist es schön, dort habe ich schon

    mal gejobbt. Deutschland fände ich auch gut. Da lässt es sich bestimmt gut

    leben, und Deutsch war meine erste Fremdsprache in der Schule. Über

    Deutschland habe ich sogar schon mal ein Referat gehalten.

    ATMO PAPIERRASCHELN

    REPORTERIN

    Interessiert blättert Ivan in den Flyern. Sein Freund Sergej hat dem Gespräch

    wortlos gelauscht. Ob der EU-Markt denn auch für Menschen mit russischem

    Pass geöffnet sei, fragt er seine Beraterin. Diese schüttelt bedauernd den

    Kopf. Sergej ist russischer Staatsbürger, ihm ist der Weg nach Europa

  • 16

    versperrt. Immerhin, sagt die Beraterin, könne er als Einwohner von Narva die

    estnische Staatsbürgerschaft beantragen. Voraussetzung sei allerdings eine

    Prüfung in der Landessprache Estnisch – und diese mit dem Finnischen

    verwandte Sprache auf hohem Niveau zu erlernen, sei nicht ganz einfach.

    Genervt verdreht Sergej die Augen. Ohne estnische Sprachekenntnisse kann

    er sich nur in Russland bewerben – aber von dort ist er ja gerade

    zurückgekehrt. Nun ist er ratlos.

    O-TON SERGEJ

    Im Prinzip bin ich ja für alles Mögliche offen. Iwangorod etwa liegt nahe, dort

    kann man zu Fuß hingehen. Aber bei dem Hyundai-Werk, das dort im

    vergangenen Jahr aufgemacht hat, gibt es schon jetzt eine Warteliste. Man

    muss einen Antrag ausfüllen, und wenn einer kündigt, dann rückt man einen

    Platz auf. Ich könnte natürlich auch nach St. Petersburg zurückgehen. Da sind

    die Einkommen jetzt deutlich höher als hier. Das Problem ist nur, dass das

    Gehalt dort in Rubel ausgezahlt wird, und der Kursverlust ist riesig. Sogar

    jetzt, wo es in Estland den Euro gibt. Trotzdem bliebe mehr übrig, als ich hier

    je verdienen könnte – wenigstens in Narva.

    ATMO TÜRKLAPPEN , EMPFANGSRAUM

    REPORTERIN

    Als die Freunde das Arbeitsamt verlassen, ist ihre Stimmung gedrückt. Sergej

    und Ivan sind schon zusammen zur Schule gegangen. Eigentlich sind beide

    Russen mit ständigem Wohnsitz in Estland. Und doch werden sie wohl bald

    getrennte Wege gehen – ob sie es nun wollen oder nicht. Denn Iwans

    berufliche Zukunft liegt in Europa, Sergejs in Russland. Den Unterschied

    macht nur die Staatsbürgerschaft – und die haben sie selbst gewählt,

    beiläufig, irgendwann vor ein paar Jahren. Die Tragweite dieser Entscheidung

    begreift Ivan erst jetzt.

    O-TON IVAN

    Ich hatte die Wahl zwischen dem europäischen und dem russischen Pass.

    Und mich hat Europa mehr gereizt. Da gibt es bessere Perspektiven.

    Außerdem habe ich eine estnische Oma, darum fiel mir der Sprachtest nicht

    so schwer. Aber ehrlich gesagt: Damals war ich gerade sieben. Es war wohl

  • 17

    mehr die Entscheidung meiner Eltern. Die haben mir gesagt: Was willst du mit

    einem russischen Pass – nimm den europäischen!

    MUSIK MODERATION Narva – das war einmal ein Kleinod im fernen Osten Europas. Eine prächtige Stadt mit

    vielen Gesichtern. Ein Reisender aus Deutschland namens Hermann Kassebaum, der

    sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufmachte das deutsche Narva zu entdecken, war

    nicht wenig überrascht über das, was sich seinem Auge bot.

    „Narwa! Es liegt an der baltischen Nordbahn, die von Petersburg über Gatschina hierher

    und weiter nach Reval führt. Wer die Stadt vom Bahnhofe her betritt, erlebt zunächst eine

    herbe Enttäuschung. Man hat ihm von einer alten deutschen Ordensstadt erzählt, die

    gleich anderen Baltenorten das Gepräge ihrer deutschen Herkunft an der Stirn trage, und

    was ihn hier umfängt, ist die Langeweile einer russischen Kleinstadt. Bis auf das

    Straßenpflaster erscheint alles echt russisch. Die Stöße und Püffe, welche dieses bis zur

    Unwahrscheinlichkeit schlechte Pflaster dem Reisenden versetzt, werden auch durch die

    Federn und Gummireifen des Wagens, der auch jetzt noch diese kostbare und seltene

    Bereifung trägt, nur halbwegs gemildert. Aber die Sprünge des leichten Wägelchens

    verhindern wenigstens ein allzu trübseliges Sinnen. So nimmt uns nach geraumer Zeit ein

    weiter Platz auf, wie er den östlichen Städten eigen ist. Was ihn einfasst an nüchternen,

    kahlen Häusern, befreit uns nicht von dem bedrückenden Gefühl des Versinkens in die

    trostlose, russische Einförmigkeit. Auch der buntschillernde Obelisk in der Mitte, der dort,

    wie in vielen Städten, auch des Baltenlandes, als erzwungener Ausdruck einer nie

    gekannten und nicht geschuldeten Dankbarkeit für irgend einen der russischen Herrscher

    seit Peter dem Großen aufragt, bringt keine Erlösung. Aber vor uns wölbt sich’s zur Höhe,

    und dort ragen weiße Häuser und Mauern und schlanke Türme gen Himmel. Das muß das

    Narwa sein, das wir suchten. Und zur Rechten, das ist gewisslich die Burg, die des

    Deutschtums Ostwacht hielt seit ungezählten Jahrhunderten!“

    MUSIK MODERATOR Die Stadt jenseits des Stromes ist viel kleiner als Narva. Und sie ist so gut wie völlig

    unbekannt in der Welt.

  • 18

    Oder kennen Sie vielleicht Iwangorod?

    Und doch: Auch Iwangorod – Narvas kleine russische Schwester mit 11.000 Einwohnern

    – möchte Touristen anlocken. Und sie möchte Brücken schlagen über die Brücke zu

    jenen, die schon in EU-Europa angekommen sind. Was für russische Patrioten aber

    keinesfalls bedeutet: Abkehr von Russland.

    ATMO FRAUENKLACKERSCHRITTE

    REPORTERIN

    Es ist neun Uhr in der Früh. Schräg fällt die Morgensonne durch die Fenster,

    bildet Schattenspiele auf dem welligen PVC-Boden.

    ATMO HANDYTELEFONAT

    REPORTERIN

    Noch ist das Gebäude der Stadtverwaltung von Iwangorod so gut wie

    menschenleer. Tatjana Scharova aber nimmt bereits die ersten Telefonate

    entgegen. Hellwach sitzt sie im Konferenzsaal, ein Aktenordner mit der

    Aufschrift „Tourismus“ liegt bereit: der gehört gerade zu den

    vielversprechendsten Zukunftsbranchen. Die junge Frau spricht mit

    vorgelehntem Oberkörper, um jedem ihrer Worte Nachdruck zu verleihen.

    O-TON TATJANA SCHAROVA

    Nicht einmal die Reisebusse, die unseren Grenzübergang ohnehin passieren,

    machen hier einen Halt für eine Burgbesichtigung – nicht die russischen

    Touristen auf dem Weg nach Tallinn, und auch die europäischen Touristen auf

    dem Weg nach St. Petersburg. Zur Sowjetzeit war eine Besichtigung Festung

    Iwangorod Standard. Jetzt müssen wir alles neu aufbauen. Unsere Burg ist

    groß und schön – aber sie braucht dringend Investitionen.

    ATMO STADTVERWALTUNG

    REPORTERIN

    Tatjana Scharova: 36 Jahre, dunkler Pagenkopf, dezent geschminkte Lippen:

    Die Russin ist das neue Gesicht des Stadtrats von Iwangorod. Gerade Anfang

    des Jahres hat sie ihr Amt als Leiterin angetreten. Davor hatte sie zehn Jahre

    für die städtische Visastelle gearbeitet, regelmäßig fuhr sie mit Stapeln von

    Pässen ins Konsulat nach St. Petersburg, um für die Antragsteller aus

  • 19

    Iwangorod Visa und Staatsbürgerschaftspapiere zu besorgen. Das hat ihr

    politisches Profil geprägt.

    O-TON TATJANA SCHAROVA

    Ich glaube, Iwangorod und Narva haben eine gemeinsame Zukunft –

    Schengener Grenze hin oder her. Welche politischen Entscheidungen auch

    immer getroffen werden: Die Einwohner verbindet eine enge Geschichte.

    Natürlich wäre es besser, wenn es diese Grenze gar nicht erst gäbe. Aber da

    sie nun einmal da ist, da wir auf diese Tatsache keinen Einfluss haben, wollen

    wir wenigstens alles tun, um für unsere Bürgern die Grenz-Bürokratie zu

    minimieren.

    ATMO

    REPORTERIN

    Durch hartnäckigen Papierkrieg, das ist ihre Erfahrung, lässt sich sogar die

    Schengener Grenze überwinden. Zwar haben die Stadtverwaltungen von

    Narva und Iwangorod längst einen Sonderstatus für die Einwohner der

    Zwillingsstädte erstritten – die Konditionen aber mussten mit jeder Phase des

    Europäischen Einigungsprozesses neu verhandelt werden. Erst war der

    papierlose Grenzübertritt allen erlaubt, dann nur noch denjenigen, die drüben

    Verwandte nachweisen können. Inzwischen ist das Chaos perfekt: In beiden

    Zwillingsstädten gibt es russisch-stämmige Einwohner mit estnischem EU-

    Pass und mit russischer Staatsbürgerschaft, solche mit und ohne

    Langzeitvisum für den Nachbarstaat. Darüber hinaus gibt es die Staatenlosen.

    Das sind diejenigen, die sich bis heute nicht für eine Staatsbürgerschaft

    entschieden haben, weil sie gerne einen EU-Pass hätten, aber den

    obligatorischen Sprachtest im Estnischen scheuen. Und dann sind da noch

    diejenigen mit doppelter Staatsbürgerschaft - und dieses Rechtsphänomen

    kann nicht einmal die Leiterin des Stadtrats richtig erklären.

    O-TON TATJANA SCHAROVA

    Die russische Gesetzgebung erlaubt die doppelte Staatsbürgerschaft – die

    estnische nicht. Aber es gibt da einen Paragrafen – so hat man es mir

    wenigstens erklärt – dass nach estnischem Recht im Fall von

    verwandtschaftlichen Beziehungen Ausnahmen zulässig sind. … So nach dem

  • 20

    Motto: „Nun ja, eigentlich ist es verboten, aber irgendwie geht es doch.“ Tja.

    Solche Eigentümlichkeiten gibt’s bei uns auch.

    REPORTERIN

    Tatjana selbst hat ein Langzeitvisum für die EU in ihrem russischen Pass: Ihr

    Bruder lebt in Narva.

    O-TON TATJANA SCHAROVA

    Das Überschreiten der Grenze ist ja für uns inzwischen kein Problem mehr.

    Eigentlich braucht man dazu nur den Wunsch und das richtige Wetter. Bei

    Regen mag ich ja nicht über die Brücke gehen ...

    ATMO GEMURMEL AUF DEN FLUREN DER STADTVERWALTUNG

    REPORTERIN

    Inzwischen ist es Mittag geworden, und die Flure der Stadtverwaltung sind

    voller Menschen: In Gruppen drängen sie von der Straße herein, warten vor

    Bürotüren, tauschen sich aus, falten Formulare. Ob unter ihnen wohl auch

    solche sind, die ihr Verwandtschaftsvisum nach Narva als Ticket in den EU-

    Arbeitsmarkt benutzen? Tatjana Scharova lächelt verbindlich. Dann schwärmt

    sie von den Karrieremöglichkeiten, die sich heute in Russland böten -

    Iwangorod eingeschlossen. Hier habe gerade im vergangenen Jahr ein

    Hyundai-Werk aufgemacht hat, und es gebe gut bezahlte Arbeit genug. Nein,

    eine Massenflucht aus Russland in die EU fürchtet sie nicht.

    O-TON TATJANA SCHAROVA

    Viele meiner Bekannten aus Narva sind damals zum Arbeiten nach Finnland

    oder England gegangen. Doch während der Finanzkrise sind alle

    zurückgekehrt, weil es da auch keine Arbeit mehr gab. Ob jetzt wieder jemand

    in die EU will ... ich schließe es nicht aus, aber konkret habe ich noch von

    keinem gehört.

    REPORTERIN

    Und sie selbst – als Akademikerin mit Führungserfahrung, familiär

    ungebunden? Hat sie das europäische Ausland nie gelockt? Tatjana schüttelt

    den Kopf.

  • 21

    O-TON TATJANA SCHAROVA

    Ich wollte die estnische Staatsbürgerschaft nie haben, und ich will sie bis

    heute nicht. Was habe ich in Estland verloren, oder in Europa? Ich bin Russin,

    und mit gefällt das Leben in Russland. Ich bin Patriotin.

    MUSIK O-TON VIKTOR KIRILLOV

    Viktor Kirillov

    Zwei Festungen

    Als wären zwei zornige Helden

    Zusammengekommen zum tödlichen Duell …

    Und plötzlich, wie durch Zauberhand,

    zu Stein erstarrt.

    Ihre Gesichter sind voller Runzeln und Schrammen,

    die bewegte Zeiten hinterlassen haben.

    Nun sind sie einander ewig Feind -

    Welch törichte Bürde!

    Seit langem haben die Ufer Frieden geschlossen

    Doch starr der mürrische Blick,

    grausam und unversöhnlich,

    belauern einander die Festungskolosse.

    Und doch – mag ich mich auch irren –

    So scheint mir, in schlaflosen Nächten

    träumen sie insgeheim,

    einander die Hände zu reichen.

    Unbeweglich sind die steinernen Hände,

    die dunklen Seelen von Unruhe befallen,

    so ahnen sie doch die Notwendigkeit

    die Jahrhunderte währende Feindschaft zu begraben.

  • 22

    Wie sehr braucht die Welt Versöhnung!

    Wie stark sind Zwietracht und Zank!

    Möge es geschehen, dass irgendwann nicht Streit zum Augenblick erstarrt,

    sondern Liebe und Verbrüderung!

    O-TON VIKTOR KIRILLOV

    MUSIK MODERATOR Deutlicher lässt sich eine Welten-Grenze nicht markieren als hier am Ufer der Narva.

    Auf westlicher Seite die Hermannsfeste, eine Burg des Deutschen Ordens aus dem 13.

    Jahrhundert. Auf östlicher Seite die Festung Iwangorod, erbaut von Iwan III. im Jahre

    1492.

    Zwei wuchtige Monumente, die Herrschaftsansprüche dokumentieren.

    Kurzzeitig wehte in den Zwischenkriegsjahren über beiden Burgen die estnische Flagge,

    dann für Jahrzehnte die sowjetische.

    Heute markieren sie wieder eine Grenze. Das heißt für die Festung Iwangorod: Hier

    beginnt, hier endet ein Imperium, das sich von der Ostsee bis zum Pazifik erstreckt.

    Iwangorod ist das Tor nach Russland.

    ATMO SCHRITTE, SCHWERE TÜR, GEPLAPPER

    REPORTERIN

    Das Mauerwerk ist Meter dick, die Steine herausgehauen aus grobem Fels.

    Wer sich beim Erklimmen der Festungsmauer daran abstützt, der kann die

    nasse Kälte des Vorfrühlings spüren.

    O-TON STADTFÜHRERIN

    Gleich kommen sieben Stufen – auf geht’s! … Wir befinden uns im dritten

    Wachturm, er wird der „Schießpulver-Turm “ genannt. Alle Namen der zehn

    Türme beziehen sich auf ihre Form oder Funktion: Es gibt den Proviantturm,

    den Wasserturm, die „Sturmglocke“. Und einer heißt: „Langer Hals“. Das

    haben sich die italienischen Architekten ausgedacht, die die Festung erbaut

    haben.

    ATMO SCHRITTE

  • 23

    REPORTERIN

    Die steinernen Treppenstufen haben eine unbequeme Höhe, und sie sind

    rutschig. Doch mit geübtem Schritt strebt die Stadtführerin voran. Der Weg

    führt an der Innenseite der alten Stadtmauer entlang – eine gewaltige,

    zinnenbewehrte Ruine, die früher einmal das gesamte mittelalterliche

    Iwangorod umfasste. Und dann herauf, in Richtung „Schießpulver-Turm“.

    ATMO STADTFÜHRERIN

    Irina Arefego, eine zierliche 50-Jährige, redet, als sei jeder einzelne Tourist,

    den es an diesen äußersten Zipfel des russischen Riesenreiches verschlägt,

    ein Fest für sie – es ist eine Litanei von Tragödien, Intrigen und Legenden, die

    sich in diesem über 500 Jahre alten Gemäuer abgespielt haben sollen. Es

    sind die Geschichten von Ivan III., der die Festung einst erbaute als Bollwerk

    gegen den Deutschen Orden. Vom Livländischen und vom Großen

    Nordischen Krieg. Von der Zeit unter schwedischer, russischer, estnischer und

    schließlich sowjetischer Herrschaft. Durch die Schießscharten dringt ein

    eisiger Wind.

    O-TON STADTFÜHRERIN

    Dieses Loch, hier im Boden, ist eine Falltür. Hier geht es zwei Meter runter.

    Insgesamt gibt es vier Falltüren. Aber die Kinder sind immer enttäuscht, wenn

    sie hören, dass nicht ein einziger litauischer Ritter hier je hineingefallen ist.

    Diese Burg ist nie im Sturm genommen worden.

    ATMO KRÄHEN

    REPORTERIN

    Dann auf einmal - als man schon wähnte, der steinerne Gang nehme kein

    Ende mehr – ist das Plateau des Wachtturms erreicht. Der Wind zerrt an den

    Mänteln, und in allen Himmelsrichtungen ist der Blick frei bis zum Horizont.

    Weit unten, am Fuße der historischen Stadtmauer, fließt die Narva. Und am

    anderen Ufer, nicht mehr als einen Pfeilschuss entfernt: Der „Lange

    Hermann“, der berühmte Wachtturm der Festung von Narva - mit der Flagge

    der Republik Estland.

  • 24

    O-TON STADTFÜHRERIN

    Die Grenzlinie zwischen der EU und der Russischen Föderation verläuft in der

    Mitte des Flusses. Hier fahren die Grenzbeamten Patrouille. Das Baden ist

    hier verboten, einen Strand gibt es weiter dahinten. Aber Fischen ist erlaubt.

    Da unten ist die Akustik ist sehr gut, man kann bis zum anderen Ufer

    herüberreden. Ich kenne zwei alte Damen, die nicht mehr hinter

    irgendwelchen Visa herlaufen wollen. Also verabreden sie sich an den

    Flussufern und rufen herüber. Naja, sie müssen schreien, weil die Strömung

    der Narva wild ist. Aber das andere Ufer ist wirklich nahe.

    ATMO KRÄHEN

    REPORTERIN

    Wie tote Augen glotzen die Fenster der beiden Burgen sich an. Die

    Iwangoroder Festung ist eine imposante Ruine, weitläufig wie eine

    Mittelalterstadt – im Innenhof jedoch leer, wenn man von zwei verfallenen

    Kapellen absieht. Die Hermannsfeste dagegen wirkt fast zierlich und elegant.

    Kein Wunder, sagt Stadtführerin Irina mit betretenem Gesichtsausdruck. Die

    sei ja auch aufs Professionellste restauriert, und innen zum mehrstöckigen

    Museum ausgebaut.

    O-TON STADTFÜHRERIN

    Der Lange Hermann war bereits im Jahr 1968 vollständig restauriert. Estland

    war damals eine Sowjetrepublik, darum hat man dort begonnen. Immer schon

    sind die Reisegruppen dort heraufgestiegen, und haben von oben in unsere

    zerstörte Festung hineingeschaut – die ist ja fast fünf Hektar groß. Bei uns

    haben sie kaum angefangen, da kam die Perestrojka – und die

    Restaurierungspläne waren dahin.

    ATMO WIND/KRÄHEN

    REPORTERIN

    Die Russische Föderation und die Europäische Union – die Machtblöcke des

    neuen Europa. Man muss auf den „Schießpulver-Turm“ steigen, um zu

    begreifen, wie unvermittelt sie an den Ufern der Narva aufeinanderstoßen.

    Hier kann man lange stehen, und seinen Blick schweifen lassen über beide

    Ufer – über die Wohnblocks und Industriegebäude, zwischen denen vereinzelt

  • 25

    ein Kirchendach oder die historische Fassade eines Bürgerhauses hervorlugt.

    Über die Narva-Brücke mit ihren Schlagbäumen, über die Zollhäuschen und

    die wartenden Autoschlangen. Und selbst Irina, die diesen Anblick in ihrem

    Leben schon tausende Male genossen hat, hält einen Moment lang inne.

    O-TON STADTFÜHRERIN

    Was für ein einzigartiger Platz: In alten Schriften steht geschrieben, dass

    Iwangorod auf dem Stein erbaut ist, den Narva vom anderen Ufer

    herübergeworden hat. Da hinten, an der schmalsten Stelle des Flusses, sind

    es gerade 150 Meter bis Estland. Wo sonst auf der Erde stehen sich zwei

    feindliche Burgen so dicht gegenüber? Zu Sowjetzeiten gab es ein Gedicht.

    Darin hieß es, Narva sei die Braut, Iwangorod der Bräutigam. Doch zwischen

    ihnen fließt eine Fluss. Sie können einfach nicht zusammenkommen.

    MUSIK MODERATOR Im Deutschlandfunk hörten Sie die Sendung Gesichter Europas: Getrennt durch die

    Schengen-Grenze – Die Zwillingsstädte Narva in Estland und Iwangorod in Russland.

    Mit Reportagen von Andrea Rehmsmeier.

    Musik & Regie: Babette Michel.

    Die Sage „Wo Narvas früherer Reichtum liegt“, die historische Stadtbeschreibung von

    Hermann Kassebaum und die Lyrik aus der Feder von Viktor Kirillov wu rden gelesen

    von Volker Risch.

    Am Mikrophon war Henning von Löwis.

    MUSIK