verhaltensorientierte beratung bei patienten mit non...
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Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg
Fakultät Wirtschaft und Soziales
Department Pflege & Management
Bachelorstudiengang Pflegeentwicklung & Management
Verhaltensorientierte Beratung bei
Patienten mit Non-Compliance im
Krankenhaus - Eine systematische
Übersichtsarbeit Bachelor-Thesis
Tag der Abgabe: 30.08.2012 Vorgelegt von: Danilo Taubeneck
Betreuender Prüfer: Prof. Dr. Stratmeyer Zweite Prüfende: Prof. Dr. Petersen-Ewert
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Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung ....................................................................................................................... 2
2 Fragestellung .................................................................................................................. 3
3 Theoretischer Hintergrund ............................................................................................. 4
3.1 Verhaltensorientierte Beratung ............................................................................... 4
3.2 Non-Compliance ..................................................................................................... 9
4 Methodik ...................................................................................................................... 12
5 Ergebnisse .................................................................................................................... 13
5.1 Studie 1: Golin et al. (2006) .................................................................................. 14
5.2 Studie 2: Dilorio et al. (2008) ............................................................................... 20
5.3 Studie 3: Brodie, Inoue (2005) ............................................................................. 25
5.4 Studie 4: Knight et al. (2006) ................................................................................ 30
6 Diskussion .................................................................................................................... 35
Literaturverzeichnis ...................................................................................................... 41
Anhang ......................................................................................................................... 43
2
1 Einleitung
Die Pflegediagnose Non-Compliance bzw. „fehlende Kooperationsbereitschaft” (Doen-
ges, Morrhouse 1995, S. 509) wird definiert als die bewusste Entscheidung einer Person,
sich nicht an eine therapeutische Empfehlung zu halten (vgl. Doenges, Morrhouse 1995, S.
509). Krankenhauseinweisungen in den USA, welche mit dem Medikamentenregime in
Verbindung stehen, werden in 33 bis 69% der Fälle auf Non-Compliance zurückgeführt
(vgl. Osterberg, Blaschke 2005, S. 488). Gesundheitliche Folgen von Non-Compliance bei
der ärztlich verordneten Medikamenteneinnahme können eine substanzielle Verschlechte-
rung des Gesundheitszustandes und der Tod des Patienten sein (vgl. Osterberg, Blaschke
2005, S. 488). Bei chronischen Erkrankungen kann diese Pflegediagnose zu medizinischen
und psychosozialen Komplikationen, eine Reduzierung der Lebensqualität (vgl. WHO
2003, S. 11) als auch zu längeren und häufigere Krankenhausaufenthalte führen (vgl. Lub-
kin 2002, S. 35).
Die WHO gibt an, dass in den Industrieländern mangelnde Therapietreue bei ca. 50% aller
Langzeittherapien von chronischen Erkrankungen vorkommt (vgl. WHO 2003, S. 7).
Ebenfalls wird ein weltweites Voranschreiten chronische Erkrankungen beobachtet (siehe
Kapitel 3.2 Non-Compliance): In den Industrieländern betrug ihr Anteil im Jahr 2001 an
allen Erkrankungen 46%, dieser soll bei gleichzeitiger Zunahme der chronischen Erkran-
kungen in absoluten Zahlen bis zum Jahr 2020 auf 56% ansteigen (vgl. WHO 2003, S. 8).
Daher ist mit einer erhöhten Inzidenz von Non-Compliance bei Patienten in Langzeitthera-
pien zu rechnen, wie auch mit einer entsprechenden Zunahme gesundheitlich nachteiliger
Folgen für diese Personen.
Eine Methode, um die Compliance von Patienten zu verbessern, könnte die verhaltensori-
entierte Beratung sein. Inwieweit diese Beratungsform wirksam ist im Vergleich zu übli-
chen Interventionen, die Compliance von erwachsenen, chronisch kranken Patienten im
Krankenhaus zu fördern, soll Gegenstand dieser Übersichtsarbeit sein. Um die hieraus
resultierende und in Kapitel 2 näher dargelegte Fragestellung zu beantworten, wurde zum
Auffinden geeigneter Studien eine systematische Recherche durchgeführt und relevante
Studien ausgewählt. Insgesamt konnten 4 relevante Studien ermittelt werden, eine systema-
tische Übersichtsarbeit und 3 randomisierte Kontrollstudien. In allen 4 Studien wurde die
Intervention motivierende Gesprächsführung auf ihre Wirksamkeit überprüft bzw. diesbe-
züglich Studien ausgewertet. Motivierende Gesprächsführung ist eine Form von verhal-
tensorientierter Beratung (siehe Kapitel 3.1 verhaltensorientierte Beratung). Studien mit
3
weiteren Formen der genannten Beratungsart als Untersuchungsgegenstand konnten in der
Recherche nicht gefunden werden.
Weitere Inhalte dieser Arbeit sind eine Ausführung des theoretische Hintergrundes bzgl.
der Begriffe verhaltensorientierte Beratung und Non-Compliance, ferner die Beschreibung
des methodischen Vorgehens, die Vorstellung der Studienergebnisse sowie eine abschlie-
ßende Diskussion der Ergebnisse. Im Folgenden soll zunächst die zentrale Fragestellung
dargestellt werden.
2 Fragestellung
Das Ziel dieser systematischen Übersichtsarbeit ist, folgende Fragestellung zu beantwor-
ten:
In wie weit ist im klinischen Setting verortete verhaltensorientierte Beratung wirksam,
die Compliance von erwachsenen, chronisch kranken Patienten zu verbessern im
Vergleich zu Standardmethoden?
Für die genannten Begriffe verhaltensorientierte Beratung, Compliance und chronische
Erkrankungen gelten in dieser Arbeit folgende Definitionen:
- Verhaltensorientierte Beratung: Die verhaltensorientierte Beratung ist eine speziel-
le Form von Beratung, welche spezifischen Zielen folgt: Die Unterstützung bei der
Lösung der Probleme des Klienten sowie die Initiierung von Veränderungsprozes-
sen (vgl. Waschburger 2009, S. 29). Die Definition der verhaltensorientierten
Beratung erschließt sich daher aus der Definition der allgemeinen Beratung: Diese
ist eine vielgestaltige, sich ständig verändernde und durch viele interne und externe
Einflussfaktoren bestimmte professionelle Hilfeform, welche in variantenreichen
Formen Unterstützung liefert bei der Bewältigung von Entscheidungsanforderun-
gen, Problemen, Krisen als auch bei der Gestaltung individueller und sozialer
Lebensstile sowie Lebensgeschichten (vgl. Nestmann et al 2004, S. 599). Es exis-
tiert jedoch keine allgemeingültige Definition von Beratung, da sehr unterschiedli-
che Beratungsansätze existieren und der Schwerpunkt einzelner Definitionen auf
den jeweiligen Ansätzen liegen kann (vgl. Waschburger 2009, S. 19ff). Daher soll
verhaltensorientierte Beratung hier in Anlehnung an die eben genannte Definition
und die dargestellten Ziele definiert werden: Als eine sich ständig verändernde und
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durch viele interne und externe Einflussfaktoren bestimmte professionelle Hilfe-
form, welche dem Klienten Unterstützung liefert bei der Bewältigung von Proble-
men und Krisen sowie bei der Initiierung von Veränderungsprozessen.
- Compliance: Die hier verwendete Definition entspricht jener der WHO; demnach
ist Compliance „das Ausmaß, in dem das Verhalten eines Patienten bei der Medi-
kamenteneinnahme, der Befolgung einer Diät und/oder der Durchführung von
Lebensstiländerungen mit den Empfehlungen von Vertretern aus Gesundheits- und
Heilberufen übereinstimmen” (vgl. WHO 2003, S. 3).
- Chronische Erkrankungen: Lubkin zählte im Jahr 1998 neun verschiedene Defini-
tionen für chronische Erkrankungen auf (vgl. Lubkin 2002, S. 24f). Die hier
verwendete Definition ist die von Lubkin vorgeschlagene: „Unter chronischer
Krankheit versteht man das irreversible Vorhandensein bzw. die Akkumulation
oder dauerhafte Latenz von Krankheitszuständen oder Schädigungen, wobei im
Hinblick auf unterstützende Pflege, Förderung der Selbstversorgungskompetenz,
Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit und Prävention weiterer Behinderung das
gesamte Umfeld des Patienten gefordert ist” (Lubkin 2002, S. 26).
3 Theoretischer Hintergrund
Zwei zentrale Begriffe werden in dieser Arbeit verwendet: verhaltensorientierte Beratung
und Non-Compliance. Beiden Begriffe sollen daher im Folgenden näher erläutert werden.
3.1 Verhaltensorientierte Beratung
Professionelle Beratung kann bei verschiedensten Problemfeldern zum Einsatz kommen
(z.B. bei Sucht- oder Beziehungsproblemen, bei Scheidungen oder Entwicklungsauffällig-
keiten) (vgl. Waschburger 2009, S. 5), entsprechend existieren eine Reihe unterschiedlichs-
ter Beratungsansätze, wovon eine Art die verhaltensorientierte Beratung ist. Andere
Beratungsansätze sind z.B. die informationsvermittlungsorientierte und die problemlö-
sungsorientierte Beratung (vgl. Waschburger 2009, S. 29).
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Grundlagen der verhaltensorientierten Beratung
Die verhaltensorientierte bzw. behaviorale Beratung begründet sich ursprünglich auf den
Ergebnissen der Lernpsychologie. Zwei Lernprinzipien, werden, im Sinne des Behavioris-
mus, als entscheidend für eine Verhaltensänderung beim Menschen angesehen: Die klassi-
sche Konditionierung nach Iwan Pawlow (†1936) und die instrumentelle bzw. operante
Konditionierung, wie sie unteranderem von Burrhus E. Skinner (†1990) beschrieben wurde
(vgl. Borg-Laufs 2004, S. 629) (vgl. Reinecker 1999, S. 93).
In der klassischen Konditionierung wird ein neutraler Reiz (z.B. das Erklingen einer
Glocke) gemeinsam mit einem weiteren Reiz, welcher eine Empfindung oder Verhalten
auslöst (z.B. die Präsentation und Futterfreigabe für einen Hund), gesetzt. Durch diese
Kombination zwei Reize erhält der neutrale Reiz ebenfalls eine Auslösefunktion für die
jeweilige Reaktion (z.B. der Speichelfluss des Hundes).
Im Gegensatz zur klassischen Konditionierung, bei welcher die gewünschte Reaktion fast
zwangsweise ausgelöst wird, tritt instrumentell konditioniertes Verhalten weniger regelhaft
auf. Bei der instrumentellen Konditionierung wird das Verhalten durch ihm nachfolgende
Konsequenzen bestimmt. Die Konsequenzen können demnach z.B. als Verhaltensverstär-
ker auftreten, wenn sie als positiv erlebt werden. Je positiver die Verhaltenskonsequenzen
erlebt werden, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Verhalten erneut gezeigt
wird (vgl. Borg-Laufs 2004, 629-631). Andererseits können die Konsequenzen auch erlebt
werden, als:
- negative Verstärker, wenn durch das Verhalten eine negativer Zustand ausgeschal-
tet wird (z.B. die Schmerz lindernde Wirkung als Ergebnis der Medikamentenein-
nahme);
- direkte Bestrafung, wenn eine negativ negative Konsequenz durch das Verhalten
eintritt oder
- als indirekte Bestrafung, wenn durch das Verhalten eine positiver Zustand ausge-
schaltet wird.
Die positive und negative Verstärkung begünstigen damit eine Verhaltenswiederholung,
die direkte und indirekte Bestrafung verringern hingegen die Wahrscheinlichkeit für eine
Wiederholung (vgl. Reinecker 1999, S. 93f).
Die Kombination von der den zwei Lernprinzipien beruhenden Modellen ist das Zwei-
Faktoren-Modell. Dieses Modell geht von der Annahme aus, dass ein bestimmtes Verhal-
ten, wie z.B. die Nicht-Einnahme von Medikamenten, ursächlich durch klassische Kondi-
tionierung bedingt ist (z.B. weil die Medikamenteneinnahme zu Übelkeit geführt hat) und
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die Aufrechterhaltung des Verhaltens durch instrumentelle Konditionierung bestimmt wird
(z.B. das Wegwerfen der Medikamente, um die Übelkeit zu vermeiden) (vgl. Reinecker
1999, S. 95). Das Zwei-Faktoren-Modell erklärt u.a., weshalb Menschen an bestimmten,
für sie schädlichen Verhaltensweisen festhalten, obwohl der eigentliche Auslöser (Übel-
keit) längst nicht mehr vorliegt: Das Verhalten, welches der Vermeidung dient (Medika-
mente Wegwerfen), wird permanent durch das Ausbleiben der negativen Konsequenz
(Übelkeit) verstärkt (vgl. Reinecker 1999, S. 96).
Die behavioralen Grundkonzepte und Modelle wurde in den siebziger und achtziger Jahren
des 20. Jahrhunderts durch die Integration kognitiver Theorien sowie kognitiv orientierter
Interventionsformen erheblich erweitert (vgl. Borg-Laufs 2004, 633). Die Kognitiven
Theorien besagen, dass zwischen dem Entstehen von Reizen und der menschlichen Reakti-
on Begriffsbildungs- und Koordinierungsprozesse ablaufen, welche mit den behavioristi-
schen Modellen nicht zu erklären sind (vgl. Brem-Gräser 1993, S. 205). In den hieraus
resultierten neuen Methoden zur Verhaltensänderung steht im Gegensatz zu behavioralen
Methoden daher nicht die direkte Beeinflussung des gezeigten Verhalten im Vordergrund,
sondern die Arbeit an den kognitiven Vorgängen beim Klienten. Durch spezielle Techni-
ken wird versucht, kognitive Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Problemlösungsprozesse
zu verändern (vgl. Borg-Laufs 2004, 633).
Verhaltensänderung als Prozess
Verhaltensänderung kann als ein Prozess gesehen werden, in welcher der Klient mehrere
Phasen durchläuft, bis er im Ergebnis ein bestimmtes problematisches Verhalten abgelegt
hat und ein neues Verhalten zeigt. Das Transtheoretische Modell (im Folgenden TTM) von
Prochaska und DiClemente (1983) beschreibt einen solchen Veränderungsprozess in 6
Stufen, wobei sich dieser sowohl zu einer Motivationsänderung als auch zu einer daraus
folgenden Verhaltensänderung führt:
1. Sorglosigkeit/Absichtslosigkeit; es gibt keine Intention, dass problematische
Verhalten in den nächsten 6 Monaten zu ändern,
2. Bewusstwerden/Absichtsbildung; es wird erwogen das problematische Verhalten
innerhalb der nächsten 6 Monate zu ändern, zudem werden positive und negative
Handlungserwartungen reflektiert,
3. Vorbereitung einer Handlung; erste Schritte zur Veränderung werden eingeleitet
und das Zielverhalten soll in 30 Tagen erreicht werden,
4. Handlung; das Zielverhalten wird seit weniger als 6 Monaten gezeigt,
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5. Aufrechterhaltung; das Zielverhalten wird seit länger als 6 Monaten gezeigt und
6. Beendigung; es liegt keine Rückfallgefahr zum Problemverhalten mehr vor (z.B.
bei Suchterkrankungen) (vgl. Waschburger 2009, S. 85).
Wirkfaktoren der Verhaltensänderung
Die Wirkprinzipien, welche in der Beratung zu einer Verhaltensänderung führen, werden
im TTM zwei unterschiedlichen Strategien zugeordnet: Kognitiv-affektiven und verhal-
tensorientierten/behavioristischen Strategien, entsprechend der geschilderten Grundlagen
der verhaltensorientierten Beratung. Kognitiv-affektive Strategien richten sich auf die Stei-
gerung des Problembewusstseins, das emotionale Erleben, die Neubewertung der persönli-
chen Umwelt, die Selbstneubewertung als auch das Wahrnehmen förderlicher Umweltbe-
dingungen des Klienten. Verhaltensorientierte Strategien sollen zu einer Selbstverpflich-
tung, Kontrolle der Umwelt, Gegenkonditionierung, zur Nutzung hilfreicher Beziehungen
und zu einer Selbst-Verstärkung des Klienten führen (vgl. Waschburger 2009, S. 88).
Beratung als Prozess
Der Beratungsprozess im allgemeinen kann in mehreren Phasen beschrieben werden, z.B.
in den folgenden vier:
1. Problemdefinition; durch diagnostische Methoden sollen Problemlagen geklärt und
Entscheidungen über erforderliche Hilfen getroffen werden,
2. Zieldefinition; der Klient soll mit Unterstützung des Beraters ein Beratungsziel
entwickeln,
3. Intervention; notwendige Maßnahmen zur Problemlösung werden geplant und
eingeleitet (z.B. Vermittlung notwendiger Kompetenzen) sowie
4. Evaluation; die eingesetzten Maßnahmen sowie der Erfolg der Beratung werden
von Berater und Klient kritisch reflektiert (vgl. Waschburger 2009, S. 88).
Im Gegensatz hierzu ist der Prozess der verhaltensorientierten Beratung etwas komplexer.
So haben Kanfer et al. (1996) das Selbstmanagementmodell vorgelegt, welches sich in 7
Phasen gliedert. Die verhaltensorientierte Beratung beginnt demnach in Phase 1 mit der
Schaffung günstiger Ausgangsbedingungen für den Beratungsprozess, was durch ein ge-
naues Problemscreening und vertrauensvolle Berater-Patienten-Beziehung erreicht werden
soll. Hierauf basieren die nachfolgenden Phasen:
- der Aufbau von Änderungsmotivationen und die vorläufige Auswahl von Ände-
rungsbereichen (Phase 2),
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- die Verhaltensanalyse (Phase 3),
- die Zielvereinbarung (Phase 4),
- die Planung, Auswahl und Durchführung geeigneter Methoden (Phase 5),
- die Evaluation der Fortschritte (Phase 6) und
- die Erfolgsoptimierung sowie der Abschluss (Phase 7) (vgl. Borg-Laufs 2004, S.
634ff).
Die Besonderheit dieses Modells ist, dass die Methoden zur Verhaltensänderung erst in
Phase 5 eingesetzt werden und dass der Vorbereitung des Beratungsprozesses (z.B. Moti-
vation und Berater-Klienten-Beziehung) ein großes Gewicht eingeräumt wird (vgl. Reine-
cker 1999, S. 112). Die Unterteilung von Beratung in Phasen besagt außerdem, dass zu
verschiedenen Zeitpunkten des Beratungsprozesses unterschiedliche Schwerpunkte gelegt
werden, und zu jeder Phase einzelne Ziele zugeordnet werden können (z.B. die Klärung
der Änderungsmotivation des Klienten in Phase 2 des Selbstmanagementmodells) (vgl.
Borg-Laufs 2004, S. 636).
Motivierende Gesprächsführung
Eine spezielle Variante der verhaltensorientierten Beratung ist die motivierende
Gesprächsführung. Sie wird definiert als eine klientenzentrierte, non-direktive Methode zur
Verbesserung der intrinsischen Motivation für eine Veränderung, durch die Erforschung
und Auflösung von Ambivalenzen (vgl. Miller, Rollnick 2009, S. 47). Die Methode basiert
auf den 3 Grundhaltungen des Beraters:
1. Partnerschaftlichkeit zwischen Berater und Klient, welche die Änderungsbereit-
schaft fördern soll,
2. Evokation, d.h. im Beratungsprozess werden auf die im Klienten vorhandene Moti-
vation und seine Ressourcen aufgebaut und
3. Autonomie des Klienten, welche seine Verantwortung für den Veränderungspro-
zess begründet und den Respekt vor seiner Selbstbestimmung einschließt (vgl. Mil-
ler, Rollnick 2009, S. 47f).
Die kommunikativen Methoden der motivierenden Gesprächsführung sind im Wesentli-
chen das Stellen offener Fragen, aktives Zuhören, Bestätigung, Zusammenfassung und
Change-Talk (vgl. Miller, Rollnick 2009, S. 98-116), und werden eingesetzt, um Motivati-
on zur Veränderung aufzubauen (vgl. Miller, Rollnick 2009, S. 80) sowie eine Selbstver-
pflichtung zur Veränderung zu verstärken (vgl. Miller, Rollnick 2009, S. 174).
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Das Modell legt damit seine Schwerpunkte auf die Aktivierung der gegebenen Ressourcen
sowie der Motivation des Klienten und auf eine non-direktive Berater-Klienten-Beziehung,
gleichwohl der Berater Experte bleibt. Im Beratungsergebnis wird zunächst ein Entschluss
des Klienten zur Verhaltensänderung angestrebt. Die tatsächliche Umsetzung der zuvor
gemeinsam entwickelten Maßnahmen und der Änderung im gezeigten Verhalten können
dann vom Klienten allein oder mit weiterer Unterstützung des Beraters vorgenommen
werden (vgl. Miller, Rollnick 2009, S. 190).
Verhaltensorientierte Beratung und Psychotherapie
Eine Unterscheidung von verhaltensorientierter Beratung und Psychotherapie ist nicht sehr
einfach, aber sinnvoll, da in dieser Übersichtsarbeit nicht die Effekte von Psychotherapie
besprochen werden sollen. Die genannte Beratungsform lässt sich von Psychotherapie
kaum abgrenzen, da beide auf den gleichen Grundlagen aufbauen (primär Lernpsychologie
und kognitive Psychologie) und die gleichen Methoden verwenden (operante und kognitive
Methoden), auch die jeweiligen Ziele und Formen der Beziehungsgestaltung bieten keine
ausreichenden Differenzierungsmöglichkeiten (vgl. Borg-Laufs 2004, S. 636ff). Unter-
schiede finden sich jedoch in den rechtlichen Rahmenbedingungen (Psychotherapeutenge-
setz/ PsychThG), die eine klare Trennung von Psychotherapie und Beratung vornehmen
sowie Regelungen für die Ausübung von Psychotherapie festlegen (vgl. Waschburger
2009, S. 21). Die durch den rechtlichen Rahmen vorgegebenen Settings von Beratung und
Psychotherapie sind im allgemeinen nicht vergleichbar und machen eine Differenzierung
notwendig.
Im Folgenden soll der Begriff Non-Compliance beschrieben werden.
3.2 Non-Compliance
Non-Compliance bezeichnet ein Verhalten von Patienten, das den medizinischen und
gesundheitlichen Ratschlägen und Anordnungen in unterschiedlichem Ausmaß wider-
spricht (vgl. Winkler 2000, S. 247). Der Gegenpart von Non-Compliance ist Compliance.
Der Begriff Compliance bedeutet wörtlich Einwilligung oder Einverständnis (vgl. Winkler
2000, S. 246) und wird auch als Synonym für Therapietreue verwendet (vgl. Simons, Roth,
Jaehde 2007, S. 16). Für Compliance/Non-Compliance werden auch die Begriffe Adheren-
ce/Non-Adherence verwendet, welche mit Therapiebefolgung/fehlende Therapiebefolgung
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und Therapiemotivation/fehlende Therapiemotivation übersetzt werden können (vgl.
Winkler 2000, S. 246).
Ausprägungen von Compliance und Non-Compliance
Da die Therapietreue des Patienten unterschiedlich ausgeprägt sein kann, wird Complian-
ce/Non-Compliance in Grade eingeteilt:
- Compliance liegt vor, wenn der Patient sich zu 80% oder mehr an die ihm empfoh-
lene Therapie hält,
- partielle Compliance bezeichnet eine Therapietreue des Patienten von 20-79% und
- Non-Compliance liegt bei einer Therapietreue von unter 20% vor (vgl. Heuer, Heu-
er 1999, S. 11).
Zudem werden die primäre und sekundäre Non-Compliance unterschieden. Primär non-
compliant ist ein Patient, der ein erhaltenes Arzneimittelrezept nicht beim Apotheker
einlöst und sekundär non-compliant, wenn er das Rezept einlöst, die Einnahme der
Medikamente aber zu weniger als 20% befolgt (vgl. Heuer, Heuer 1999, S. 11).
Prävalenz mangelnder Therapietreue
Laut WHO wird in den Industrieländern Compliance bei ca. 50% der Langzeittherapie von
chronischen Erkrankungen erreicht, dem entsprechend tritt Non-Compliance oder partielle
Compliance bei ca. 50% dieser Langzeittherapien auf. In Schwellen- und Entwicklungs-
ländern, wie China, Gambia oder den Seychellen, wurden bei an Hypertonie leidenden
Patienten Compliance bei der Medikamenteneinnahme in 43%, 27% bzw. 26% der Fälle
festgestellt (vgl. WHO 2003, S. 7). Krankenhauseinweisungen in den USA, welche mit
Medikamenteneinnahme in Verbindung stehen, werden in 33 bis 69% der Fälle auf
Non-Compliance zurückgeführt (vgl. Osterberg, Blaschke 2005, S. 488).
Folgen
Als gesundheitliche Folgen mangelnder Therapietreue bei der Medikamenteneinnahme
werden eine substanzielle Verschlechterung des Gesundheitszustandes und Tod angegeben
(vgl. Osterberg, Blaschke 2005, S. 488). Die Folgen der Non-Compliance bei chronischen
Erkrankungen können medizinische und psychosoziale Krankheitskomplikationen, eine
Reduzierung der Lebensqualität (vgl. WHO 2003, S. 11) als auch längere und häufigere
Krankenhausaufenthalte der Patienten sein (vgl. Lubkin 2002, S. 35) sowie ein erhöhter
Verbrauch von Ressourcen der Gesundheitsfürsorge (vgl. WHO 2003, S. 11).
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Ursachen
Die Ursachen für mangelnde Therapiemotivation können in 4 Bereiche unterteilt werden,
diese sind:
1. Die Merkmale der Therapie (z.B. hohe Anzahl verordneter Medikamente),
2. die Krankheitssymptome (z.B. subjektiv geringe Symptomwahrnehmung),
3. die Qualität der therapeutischen Beziehung (z.B. unverständliche Informationsver-
mittlung durch den Therapeuten/Pflegenden) und
4. die Persönlichkeitsmerkmale des Patienten (z.B. geringe Erfolgserwartung an die
Behandlung) (vgl. Winkler 2000, S.251-255). Persönlichkeitsmerkmale, wie
Geschlecht, Alter, sozio-ökonomischer Status und Religion scheinen jedoch nicht
signifikant zu sein (vgl. Winkler 2000, S. 255).
Messung
Zur Messung von Compliance/Non-Compliance werden direkte und indirekte Methoden
verwendet. Direkte Methoden sind: Urin- oder Blutproben zur Überprüfung der Medika-
menteneinnahme. Indirekte Methoden sind: Selbstauskunft, das Ausfüllen von Formblät-
tern, Tablettenzählen als auch Interviews zwischen Arzt/Pflegenden und Patient (vgl. Lub-
kin 2002, S. 361). Nach Simons, Roth und Jaehde sind weitere, indirekte Messungsmetho-
den die Verwendung von Patiententagebüchern, Medikationsprofilen und elektronischen
Beobachtungssystemen (Simons, Roth, Jaehde 2007, S. 16).
Kritik an der Pflegediagnose Non-Compliance
Die Pflegediagnose Non-Compliance ist umstritten, da sie ein Beziehungsgefälle zwischen
Therapeut/Pflegendem und Patient implizieren kann, in welcher der Patient den Anord-
nungen des Therapeuten/Pflegenden passiv zu folgen hat und jede Abweichung des Patien-
ten als Fehlverhalten verstanden wird (vgl. Winkler 2000, S. 248). Auch ist es schwer von
Non-Compliance zu sprechen, wenn z.B. ein Patient seine Therapie an persönliche
Lebensumstände oder Bedürfnisse anpasst, damit also vom Therapieplan abweicht, und
dennoch zu dem geplanten Therapieziel gelangt. Gleichwohl ist die Beziehung von Thera-
peuten/Pflegendem und Patienten so bestimmt, dass ihre Interaktion fast immer zu Verhal-
tensempfehlungen oder Hinweisen für den Patienten führen. Dementsprechend ist der
Erfolg einer Therapie oder pflegerischen Intervention nicht zuletzt von der Therapiemoti-
vation bzw. Therapietreue des Patienten abhängig (vgl. Winkler 2000, S. 249).
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Im Weiteren soll das methodische Vorgehen dieser Arbeit beschrieben werden.
4 Methodik
Um relevante Studien für diese Übersichtsarbeit zu finden, wurde eine systematische
Recherche in der elektronischen Datenbank Medline durchgeführt. Die Entscheidung für
diese Datenbank wurde getroffen, da eine Vielzahl von medizinischen Artikeln und
Studien auf Pubmed hinterlegt sind. Die Stichwörter der Recherche waren: compliance,
noncompliance, adherence, nonadherence, consultation, consulting, counselling, counsel-
ing, motivational interviewing, behavioral Intervention, hospital und clinic. Als Schlag-
wörter bzw. Medical Subject Headings (MeSH) wurden verwendet: Study Characteristics,
Counseling, Patient Compliance, Medication Adherence, Behavior Therapy, Adaptation
Psychological sowie Chronic Disease. Zudem wurde mit Kombinationen aus diesen Stich-
und Schlagwörtern gesucht, unter der Verwendung der logischen Operatoren AND und
OR. Limits wurden für das Alter der Studien gesetzte (maximal 10 Jahre). Weitere
Beschränkungen wurden nicht verwendet. Die Anzahl der Recherchetreffer betrug max.
6935 und min. 4 gefundene Abstracts.
Einschlusskriterien
Für die Studienauswahl wurden folgende Einschlusskriterien festgelegt:
- Die Intervention ist eine Form verhaltensorientierter Beratung,
- den Teilnehmern wurde eine gemeinsame chronischer Erkrankung diagnostiziert -
bei systematischen Übersichtsarbeiten können es verschiedene chronische Erkran-
kungen der eingeschlossenen Studien sein -
- die Teilnehmer sind erwachsen,
- die Intervention wurde in einer Klinik oder unter klinischen Bedingungen durchge-
führt,
- die Studien wurden nicht vor mehr als 10 Jahre erstveröffentlicht,
- das Studiendesign ist eine systematische Übersichtsarbeit mit oder ohne Meta-
Analyse, eine randomisierte Kontrollstudie oder eine nicht-randomisierte Kontroll-
studie und
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- als primärer Endpunkt wird (u.a.) die Compliance der Teilnehmer erfasst bzgl. der
zugrunde gelegten medizinischen Therapie oder eine solche Compliance unmittel-
bar mit einbezogen.
Ausschlusskriterium
Wenn die untersuchte Intervention der Studie keine Form von Verhaltens- oder Psychothe-
rapie ist, führt dies zum Ausschluss der Studie
Identifizierte Studien
Insgesamt wurden 43 relevante Abstracts gefunden. Nach deren inhaltlichen Überprüfung
auf Grundlage der genannten Ein- und Ausschlusskriterien konnten 4 Studien für eine
genaue Analyse, Ergebnisdarstellung und Bewertung ausgewählt werden. Drei dieser
Studien sind randomisierte Kontrollstudien (im Folgenden RCT) und die vierte eine syste-
matische Übersichtsarbeit.
Die Form von verhaltensorientierter Beratung, welche in diesen Studien untersucht wurde,
ist die motivierende Gesprächsführung (engl. motivational interviewing (siehe Kapitel 3.2
verhaltensorientierte Beratung)). Studien mit einer anderen Form dieses Beratungsansatzes
konnten während der Recherche nicht gefunden werden.
5 Ergebnisse
Die vier ausgewählten Studien untersuchten die Wirksamkeit von motivierender
Gesprächsführung bei chronisch kranken Patienten, entweder direkt bezogen auf deren
Compliance (Studie 1 und 2) oder bzgl. sonstiger Outcomes, welche die Compliance der
Probanden unmittelbar mit einschloss (Studie 3 und 4). Die eingeschlossenen chronischen
Erkrankungen der Teilnehmer waren: HIV und Herzinsuffizienz in den 3 RCTs sowie
Diabetes mellitus Typ 1 und 2, Asthma, Hyperlipidämie als auch Hypertonie und koronare
Herzkrankheit in der systematischen Übersichtsarbeit. Die Studien werden im Folgenden
einzeln vorgestellt.
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5.1 Studie 1: Golin et al. (2006)
„A 2-arm, randomized, controlled Trial of a motivational interviewing-based Inter-
vention to improve adherence to antiretroviral Therapy (ART) among Patients failing
or initiating ART”
Die von Golin et al. im Jahr 2006 veröffentlichte RCT verfolgte das Ziel, zu ermitteln, ob
motivational interviewing (im Folgenden MI) die Compliance von Patienten mit HIV
(n=155) bei der antiretroviralen Therapie (im Folgenden ART) verbessern kann im
Vergleich zu einer reinen Wissensvermittlung (vgl. Golin et al. 2006, S. 42). Die Interven-
tion wurde in einer u.a. auf Infektionskrankheiten spezialisierten Klinik in North Carolina
getestet, über einen Zeitraum von 12 Wochen (unterteilt in drei 4-Wochen-Blöcke) (vgl.
Golin et al. 2006, S. 42f).
Begriffsdefinition und Qualität der MI-Beratung
Die Studie liefert knappe Angaben zu MI und der MI-Ausbildung der Berater. Ohne
Vorkenntnisse wird aus diesen Informationen jedoch kaum klar, worum es sich bei MI
konkret handelt. Eine detaillierte Definition zur Intervention fehlt. Die Angaben bezüglich
der MI-Ausbildung verweisen auf die externe Kompetenz der Ausbilder und lassen vermu-
ten, dass die Berater hinreichend qualifiziert waren (vgl. Golin et al. 2006, S. 43), detail-
lierte Angaben über Ablauf und Inhalte der Ausbildung fehlen jedoch.
Die MI wurden von drei Gesundheitserziehern mit Master-Abschluss und einer
3-monatigen MI-Ausbildung (insgesamt 3 Ausbildungstage) durchgeführt. Alle MI-
Sitzungen wurden auf Tonband aufgenommen und von einem Mitglied des Motivational
Interviewing Network of Trainers kontrolliert. Die Ergebnisse dieser Bewertung wurden
alle 14 Tage auf Schulungen von den Trainern und Beratern reflektiert. Außerdem haben
die Berater im Anschluss an jede Sitzung Protokolle angelegt (validiert mit 86% der
Tonbänder und zu 20% von einem unabhängigen Gutachter überprüft). Nach Angaben der
Studie erreichten die meisten Sitzungen die notwendigen Qualitätsstandards (vgl. Golin et
al. 2006, S. 43), genaue Angaben darüber, wie viele Sitzungen in welchem Ausmaß diese
erreichten oder nicht, fehlen allerdings.
Stichprobe
Insgesamt wurden 155 Teilnehmer aufgenommen, wovon 15 Patienten von ihren Ärzten
für die antiretrovirale Therapie als nicht geeignet befunden und daraufhin von der Studie
15
ausgeschlossen wurden. Vierundsiebzig Teilnehmer wurden in die Interventionsgruppe
aufgenommen und 66 in die Kontrollgruppe und erhielten jeweils die ART. Die Teilneh-
mer, welche die Studie abschlossen, waren überwiegend männlich (72% in der Experimen-
tell- und 65% in der Kontrollgruppe) und hatten einen Altersdurchschnitt von 68 Jahren in
der Interventions- und 66 Jahren in der Kontrollgruppe (vgl. Golin et al. 2006, S. 46).
Die Einschlusskriterien für die Probanden waren:
1. Diagnostizierte HIV-Infektion,
2. klinische Behandlung innerhalb der Jahre 2001 bis 2003 in der Infection Diseases
Clinic in North Carolina,
3. älter als 18 Jahre,
4. Einwilligung zur Studienteilnahme,
5. die ART wurde neu begonnen oder a) eine starke Erhöhung der Viruslast in den
letzten 6 Monaten wurde nachgewiesen oder b) die Viruslast war höher als 200
Viruskopien/ml oder c) ein ausbleibender Viruslast-Abfall 60 Tage nach Beginn
der ART wurde festgestellt oder d) aus den medizinischen Dokumenten ging
hervor, dass der Patient langsam den Entschluss fasste mit der ART zu beginnen
(vgl. Golin et al. 2006, S. 43).
Insgesamt haben 117 Probanden die Studie beendet (59 in der Interventions- und 58 in der
Kontrollgruppe) (vgl. Golin et al. 2006, S. 46). Damit konnten allerdings nur von 75,5%
der Teilnehmer Outcome-Daten ausgewertet werden, was die Teststärke der Studie ein-
schränkt und ihre Validität schmälert. Hinzu kommt, dass keine Angaben darüber getroffen
wurden, wie hoch die Stichprobengröße hätte sein müssen, um eine repräsentative Test-
stärke zu erreichen. Die Berechnungsgrundlagen der Stichprobengröße bleiben unklar.
Gründe für das Aussteigen der Teilnehmer wurden von den Autoren genannt, z.B. Krank-
heit (n=2), Tod (n=1) und Kontaktverlust (N=8). Eine Intention-to-treat-Analyse wurde
durchgeführt (vgl. Golin et al. 2006, S. 46). Kritisch anzumerken ist, dass die Autoren eine
Stichprobengröße von n=140 angeben, aber einräumen müssen, dass ursprünglich 155
Teilnehmer auf zwei Gruppen randomisiert verteilt wurden, von denen danach, auf Grund
ärztlicher Entscheidungen, 15 ausgeschlossen werden mussten (vgl. Golin et al. 2006, S.
46). Die Aussteigerquote erhöht sich damit entsprechend und reduziert die Teststärke in
einem größeren Ausmaß, als aus den Informationen der Autoren unmittelbar hervor geht.
Außerdem sind hier deutlich mehr Teilnehmer aus der Kontrollgruppe gefallen (n=12), als
aus der Interventionsgruppe (n=3) (vgl. Golin et al. 2006, S. 46), dies könnte die
Vergleichbarkeit der Gruppen im Follow-up beeinträchtigt haben. Es wäre vermutlich
16
sinnvoller gewesen, den tatsächlichen Beginn der ART für alle Teilnehmer abzuwarten,
und anschließend die Randomisierung durchzuführen.
Randomisierung und Verblindung
Angaben bezüglich des Radomisierungsverfahrens fehlen gänzlich und die Informationen
bezüglich der Verblindung sind nicht vollständig.
In dieser Art von Studie ist eine vollständige Verblindung (der Probanden, Behandler und
Untersucher) sicherlich nicht herzustellen, da zumindest die Berater immer wissen
werden, welche der Probanden in der experimentellen Gruppe sind und welche nicht.
Allerdings ist eine Verblindung der Teilnehmer und Auswerter durchaus möglich sowie
eine räumliche Trennung der Teilnehmer, die einen Austausch von Informationen und
persönlichen Wahrnehmungen zwischen den Gruppen verhindern könnte.
Das medizinische Personal in der Klinik wurde nicht darüber informiert, welche Patienten
zu welcher Gruppe gehören und eine Verblindung hat bei den Untersuchern stattgefunden,
welche die Baseline- und Abschlussdaten auswerteten. Das Bias in dieser Studie aufgetre-
ten sind, kann letztlich aber nicht ausgeschlossen werden (vgl. Golin et al. 2006, S. 42f).
Intervention
Insgesamt haben die Teilnehmer der Interventionsgruppe 2 face-to-face MI-Sitzungen im
Laufe der 12 Wochen erhalten (in Woche 4 und 8) (vgl. Golin et al. 2006, S. 42). Die
Mitglieder der Kontrollgruppe haben Informationskurse besucht, in denen Wissen über
HIV vermittelt wurde und die in der Länge mit den MI-Sitzungen vergleichbar waren (vgl.
Golin et al. 2006, S. 42) .
Endpunkte
Der primären Endpunkt war der durchschnittliche Compliance-Grad der Medikamenten-
einnahme in Prozent nach der 12. Woche. Sekundäre Endpunkte waren:
- Die Veränderung der durchschnittlichen Compliance vom ersten 4-Wochen-Block
zum letzten 4-Wochen-Block,
- der Prozentsatz der Patienten, die im letzten 4-Wochen-Block eine durchschnittli-
che Compliance von über 95% aufwiesen,
- die Veränderungen der HIV-Viruslast zwischen Baseline und dem Ende der
Follow-up-Phase und
17
- die Veränderungen der durchschnittlichen, wöchentlichen Compliance von Beginn
bis Ende der Datenerhebung (vgl. Golin et al. 2006, S. 43).
Zudem wurde eine Reihe von psychosozialen und sozioökonomischen Variablen gemes-
sen, u.a. soziale Unterstützung, Selbstwirksamkeit, Verständnis der ART, Zufriedenheit
mit der medizinischen Therapie, Vertrauen in die medizinischen Therapeuten sowie
Coping, Schulabschluss und Arbeitsstatus. Hinzukamen abhängige Variablen der Verhal-
tensänderung, u.a. Anzahl der gesetzten Ziele in der Beratung; Anzahl der gesetzten
Strategien; Anzahl der Strategien, die geholfen haben als auch der Prozentsatz der Proban-
den, die fühlten, dass ihnen nichts geholfen hat (vgl. Golin et al. 2006, S. 44-49).
Messinstrumente
Zur Messung der Medikamenten-Compliance wurde das Electronic Drug Event Monito-
ring System verwendet (im Folgenden eDEMS). Dieses System zählt jedes Öffnen der
Verschlusskappe der Medikamentenflasche und den entsprechenden Zeitpunkt (vgl. Golin
et al. 2006, S. 43). Zudem wurden, um weitere Informationen über die Compliance zu
erhalten, Umfragen durchgeführt und die Medikamente der Teilnehmer von wissenschaft-
lichen Mitarbeitern gezählt (vgl. Golin et al. 2006, S. 43ff).
Zur Messung der abhängigen psychosozialen Variablen wurden unterschiedliche Skalen
verwendet, die namentlich nicht genannt werden, aber nach Angaben der Autoren validiert
sind bzw. von den Autoren in früheren Studien entwickelt und überprüft wurden (vgl.
Golin et al. 2006, S. 45). Eindeutige Informationen fehlen auch hier, die Namen der Skalen
lassen sich lediglich über die Studienbelege aus anderen Publikationen heraussuchen. Eine
Blutuntersuchung mit dem COBAS AMPLICOR HIV-1 MONITOR (Version 1.0 und 1.5)
wurde ferner durchgeführt, um die Viruslast zu bestimmen (vgl. Golin et al. 2006, S. 45).
Da das eDEMS durchaus fehleranfällig ist (Probanden können die Kappen öffnen ohne
eine Tablette zu entnehmen oder Tabletten werden entnommen, aber nicht eingenommen
usw.) wurden die Teilnehmer über die Verwendung des Systems instruiert und konnten
Tablettendispenser verwenden, wenn sie dies wollten (vgl. Golin et al. 2006, S. 45). Unge-
nauigkeiten des Systems wurden durch Einzelfallbesprechung im Konsens von 4 Forschern
und auf Grundlage aller verfügbarer Informationen geklärt (vgl. Golin et al. 2006, S. 45).
Nichts desto trotz bleiben bei der Compliance-Messung durch elektronische Medikamen-
tenflaschen-Verschlusszähler immer Risiken für fehlerhafte und/oder fehlende Daten
bestehen. Die Verwendung von Fragebögen/Umfragen zur Einschätzung der Compliance
ist zudem ebenfalls kein absolut sicheres Verfahren, da Teilnehmer natürlich gewünschte
18
Antworten geben oder, wegen mangelnder Motivation, wichtige Angaben auslassen
können. Ob die Verwendung beider Methoden die jeweiligen Mängel der anderen ausge-
glichen hat ist unklar.
Datenerhebung und -analyse
Die Messung mit eDEMS wurde fortlaufend durchgeführt. In den Wochen 4, 8 und 12 sind
jeweils für alle Teilnehmer Follow-up-Umfragen durchgeführt, die Tabletten in den
Flaschen gezählt sowie die eDEMS-Daten herunter geladen worden (vgl. Golin et al. 2006,
S. 42-45). Laboruntersuchungen wurden zu Beginn und Ende der Studie durchgeführt (vgl.
Golin et al. 2006, S. 45). Die statistische Analyse der Daten erfolgte mit SPSS 8.2 (vgl.
Golin et al. 2006, S. 46).
Studienergebnisse
Zu Beginn betrug die durchschnittliche Compliance bei den Patienten, welche die ART
neu begonnen hatten, 75,3% und bei den Patienten, welche vor Studienbeginn bereits in
der Therapie waren, 73,6%. Insgesamt waren in beiden Gruppen weniger Teilnehmer,
welche die Therapie neu begonnen hatten, als Teilnehmer, welche bereits in laufender
Therapie waren (97% in der Interventions- und 88% in der Kontrollgruppe) (vgl. Golin et
al. 2006, S. 47f).
Von der 4. bis zur 12. Woche hatte sich die durchschnittliche Compliance in der Interven-
tionsgruppe um 4,5% verbessert, während sie in der Kontrollgruppe um 3,83% abnahm
(p=0,10). Eine Compliance über 95% zeigten nach 12. Wochen 29% der Teilnehmer in der
Interventions- und 17% in der Kontrollgruppe (p=0,13). In der Intention-to-treat-Analyse
betrug die durchschnittliche Compliance nach Abschluss in der Interventionsgruppe 76%
(SD=27%) und 71% (SD=27%) in der Kontrollgruppe (p=0,62) (vgl. Golin et al. 2006, S.
48). Sämtliche Unterschiede der Compliance-Werte zwischen den Gruppen sind statistisch
nicht signifikant.
Die Veränderungen der Viruslast zeigten ebenfalls keine statistisch signifikanten Unter-
schiede zwischen den Gruppen. 52% in der Interventions- und 44% in der Kontrollgruppe
erreichten eine nicht nachweisbare Viruslast (vgl. Golin et al. 2006, S. 48).
In den Ergebnissen der psychosozialen und psychoökonomischen Werte gab es gleichfalls
keine statistisch signifikanten Unterschiede (vgl. Golin et al. 2006, S. 48).
Bei 7 von 9 Variablen der Verhaltensänderung wurde hingegen statistisch signifikante
Unterschiede zwischen den Gruppen festgestellt (z.B. Anzahl der gesetzten Ziele
19
(p=0.0149) und Anzahl der entwickelten Strategien (p=0,0085)) (vgl. Golin et al. 2006, S.
48f).
Konfidenzintervalle wurden mit Ausnahme der Ergebnisse bezüglich der Viruslast-
Veränderungen nicht angegeben, daher lassen sich die mehrheitlich statistisch signifikan-
ten Ergebnisse bei den Variablen der Verhaltensänderung auf eine vergleichbare Bevölke-
rungsgruppe nicht übertragen (vgl. Golin et al. 2006, S. 46ff).
Kritisch anzumerken ist weiter, dass nur von 81 Teilnehmern verwertbare eDEMS-Daten
ausgewertet werden konnten (vgl. Golin et al. 2006, S. 46). Da dieses Instrument eine von
drei Methoden war, um die Medikamenten-Compliance zu messen (vgl. Golin et al. 2006,
S. 45), erscheint die Validität der Ergebnisse weiterhin fraglich.
Diskussion der Autoren
Golin et al. kommen zu dem Ergebnis, dass für die Wirksamkeit der MI im Vergleich zu
der Kontrollintervention keine Belege, allenfalls nur Indizien vorliegen. Sie geben an, dass
die meisten Teilnehmer vor der Studie mindestens eine ART abgebrochen haben, was
generell Interventionen zur Compliance-Steigerung zusätzlich erschweren kann. Dieser
Umstand lag allerdings bei beiden Gruppen vor und relativiert die überwiegend statistisch
nicht-signifikanten Ergebnisse daher nicht (vgl. Golin et al. 2006, S. 48f).
Als Limitierung ihrer Studie geben sie an, dass die Studiendauer zu kurz angelegt sein
könnte. Eine weitere Schwäche sehen sie in der geringen Teilnehmerzahl und verweisen
darauf, dass 33% der in Frage kommenden Patienten eine Teilnahme abgelehnt haben.
Außerdem geben sie an, dass die eingesetzten Messinstrumente, insbesondere der eDEMS
zu Fehlern führen kann - dieses Risiko habe allerdings für beide Gruppen bestanden. Das
Bias-Risiko schätzen die Autoren sehr gering ein (vgl. Golin et al. 2006, S. 49f).
Für neue Studien empfehlen sie einen längeren Zeitraum als 12 Wochen, eine höhere
Intensität der MI-Intervention und eine größere Studienpopulation (vgl. Golin et al. 2006,
S. 50).
Kritik zur Studie
Die Studie weist insgesamt einige methodische Schwächen auf: es fehlt eine detaillierte
Definition von MI. Die Stichprobengröße war zu gering und ihre Berechnungsgrundlage
fraglich. Angaben zum Radomisierungsverfahren fehlen und ob eine Verblindung der
Teilnehme erfolgte ist unklar. Die Aussteigerquote von 26,5% war relativ hoch, zudem
können Bias nicht ausgeschlossen werden. Der Umfang von allein 2 MI-Sitzungen in 12
20
Wochen ist aus Sicht einer zielorientierten Beratung schwer nachvollziehbar ferner bleibt
die durchschnittliche Dauer der Sitzungen unklar. Genaue Angaben über die Inhalte der
MI-Beratungen sowie über jene der Standardbehandlung in der Kontrollgruppe fehlen. Die
Genauigkeit von eDEMS ist fraglich, allerdings wurden verschiedene Messinstrumente
eingesetzt, um diesen Mangel auszugleichen. Nur von 81 der Teilnehmer konnten außer-
dem eDEMS-Daten ausgewertet werden. Die Studiendauer war wohl zu kurz angelegt und
die Autoren scheinen die Limitierungen ihrer Studie nicht vollständig angegeben zu haben.
Die Validität der Studie ist fraglich. Positiv zu werten ist, dass die Gruppen in der Baseline
offenbar gut vergleichbar waren.
5.2 Studie 2: Dilorio et al. (2008)
„Using motivational interviewing to promote adherence to antiretroviral medica-
tions: A randomized controlled study”
Dilorio et al. legten im Jahr 2008 eine RCT vor in welcher untersucht wurde, ob MI die
Compliance bei Medikamenteneinnahme von einkommensschwachen, HIV infizierten
Erwachsenen (n=247) verbessern kann. Alle Teilnehmer erhielten eine Behandlung mit
einer ART. Die Intervention wurde in einer AIDS-Klinik in Atlanta, Georgia, im Vergleich
zu der dort üblichen Versorgung getestet. Die erste Rekrutierung begann im Jahr 2001, und
2005 wurde die Studie abgeschlossen. Der Interventionszeitraum betrug 3 Monate und die
Beobachtungsphase endete 12 Monate nach der Baseline (vgl. Dilorio et al. 2008, S. 273f).
Begriffsdefinition und Qualität der MI-Beratung
Die MI wird von den Autoren umrissen, wobei auf ihre Ziele und den Beratungsstil nur in
knappen Worten eingegangen wird (vgl. Dilorio et al. 2008, S. 273f). Eine detaillierte
Definition fehlt allerdings, daher sind Vorkenntnisse notwendig, um die Grundlagen und
Merkmale dieser Intervention zu verstehen.
Elf Pflegekräfte erhielten eine MI-Schulung mit einem Workload von 24 Stunden, in wel-
cher Theorien und Methoden vermittelt sowie Beratungs-Trainings durchgeführt wurden.
Als Ausbilder fungierten zwei der Studien-Autoren, ausgebildete Psychologen, welche
selbst in MI geschult waren. Die Trainings wurden auf Tonband aufgenommen und von
einem Psychologen und einem Doktoranden auf ihre Qualität hin überprüft. Feedback-
Gespräche zwischen den Ausbildern und den Pflegeberatern wurden durchgeführt und
zusätzliche individuelle Schulungen für die Pflegeberater bei Bedarf angeboten (vgl. Dilo-
21
rio et al. 2008, S. 275). Der Ablauf der Ausbildung ist ausführlich beschrieben, die Quali-
fikation der Ausbilder kann allerdings nicht eingeschätzt werden.
Stichprobe
Zu Beginn wurden 247 Teilnehmer rekrutiert, von denen 125 Personen die Interventions-
und 122 in die Kontrollgruppe aufgenommen wurden. Die Teilnehmer hatten erstmalig die
ART erhalten oder ihre Medikamente wurden in der laufenden Therapie geändert. In
beiden Fällen erhielten sie die an dieser Klinik üblichen Schulungen, zur Förderung der
Compliance bei ärztlich verordneter ART (vgl. Dilorio et al. 2008, S. 274). Das Durch-
schnittsalter aller Probanden, welche die Studie abschlossen, betrug 41 Jahre, 65% waren
männlich, 88% hatten eine Einkommen von monatlich <1.200 $ und 83% der Teilnehmer
waren arbeitslos (vgl. Dilorio et al. 2008, S. 277).
Folgende Einschlusskriterien zur Studienteilnahme mussten erfüllt sein:
1. Eine diagnostizierte HIV-Infektion,
2. dass die Patienten von kompetenten Pflegekräften der üblichen Compliance-
Schulung zu gewiesen wurden,
3. dass die Patienten eine ART erstmalig aufgenommen oder ihre Medikamente bei
laufender Therapie verändert wurden,
4. ein Alter von mindestens 18 Jahren,
5. der englischen Sprache mächtig zu sein und
6. bereit zu sein, mit einem Studienmitarbeiter zu sprechen (vgl. Dilorio et al. 2008, S.
274).
Insgesamt haben 213 Probanden die Studie abgeschlossen (107 Personen in der Experi-
mentell- und 106 in der Kontrollgruppe) (vgl. Dilorio et al. 2008, S. 275). Damit konnten
von 87% der Teilnehmer Daten ausgewertet werden, was die Teststärke der Studie nicht
sehr beeinträchtigte. Als Ausstiegsgründe nennen die Autoren Zeitdruck und Verlust des
Interesses. Die meisten Aussteiger waren jedoch im Studienverlauf verstorben (70%) (vgl.
Dilorio et al. 2008, S. 277). Die Berechnungsgrundlagen der Stichprobengröße werden
allerdings nicht erläutert, was die Repräsentativität der Studie fraglich erscheinen lässt.
Randomisierung und Verblindung
Die Teilnehmer wurden mit computergenerierten Codes zufällig den Gruppen zugeteilt
(vgl. Dilorio et al. 2008, S. 274). Statistisch signifikante Unterschiede gab es an der Base-
line zwischen den Gruppen nicht (vgl. Dilorio et al. 2008, S. 277). Ob die Teilnehmer und
22
die Untersucher der Studiendaten verblindet wurden bleibt unklar. Bias können daher nicht
ausgeschlossen werden.
Intervention
Während des dreimonatigen Interventionszeitraumes haben die Mitglieder der Interventi-
onsgruppe 5 MI-Sitzungen erhalten mit einem durchschnittlichen Beratungszeitraum von
20 bis 90 Minuten. Den Beratungen wurden folgende Ziele zugrunde gelegt: 1. den
Probanden das Verständnis über die Bedeutung des Medikamenten-Einnahmeverhaltens zu
vermitteln ,und 2. die Medikamenten-Compliance der Teilnehmer auf einem hohen Level
aufrechtzuerhalten (vgl. Dilorio et al. 2008, S. 274f). Kritisch anzumerken ist jedoch, dass
die Teilnehmer dadurch vermutlich in einer eigenständigen, freien Entwicklung von Bera-
tungszielen eingeschränkt wurden. Ein Abweichen vom ursprünglichen MI-Konzept hat
hier offenbar stattgefunden (siehe Kapitel 2.1).
Die Berater nutzten ein semi-strukturiertes Beratungsskript, um, nach Angaben der Auto-
ren, die Standardisierung und Vergleichbarkeit der Sitzungen zu erhöhen (vgl. Dilorio et
al. 2008, S. 274). 80% aller Beratungen wurde im direkten Einzelgespräch durchgeführt,
die restlichen 20% durch telefonischen Kontakt. Als Grund für die telefonische Beratung
wird angegeben, dass einige Teilnehmer nicht in der Lage waren, die Klinik aufzusuchen
(vgl. Dilorio et al. 2008, S. 275). Ob die telefonische Beratung zwangsläufig zu den
gleichen Ergebnissen führt, wie Face-to-Face-Sitzungen ist unklar. Eine gleichbleibende
Qualität der Intervention ist hierdurch jedoch in Zweifel zu ziehen. Alle Sitzungen wurden
auf Tonband aufgenommen, um ihre Qualität zu überprüfen (vgl. Dilorio et al. 2008, S.
275). Angaben bezüglich dieser Überprüfungsergebnisse bleiben die Autoren schuldig,
Reporting-Bias liegen somit vor.
Die Mitglieder der Kontrollgruppe haben als Vergleichsintervention die an der Klinik übli-
che Patientenschulung zur Förderung der Medikamenten-Compliance bei ART erhalten
(vgl. Dilorio et al. 2008, S. 276). Detaillierte Angaben über die Inhalte dieser Standard-
schulung geben Dilorio et al. nicht.
Endpunkte
Die primären Endpunkte waren die durchschnittlichen Compliance-Quoten der Gruppen
bei Medikamenteneinnahme in Prozent (vgl. Dilorio et al. 2008, S. 276). Die Compliance-
Werte wurde für zwei Faktoren bestimmt: 1. für die tägliche Anzahl der eingenommen
Medikamentendosen im Verhältnis zu der ärztlich verordneten Anzahl und 2. für die tägli-
23
chen Zeitpunkten der Medikamenteneinnahmen im Verhältnis zu den ärztlich verordneten
Einnahmezeitpunkten (vgl. Dilorio et al. 2008, S. 276). Sekundären Endpunkte waren
Veränderungen: der HIV-Viruslast, der Immunzellen mit CD4-Rezeptoren - diese werden
von HIV-Viren befallen - sowie des Drogenkonsums als auch des Depressions-Scores der
Teilnehmer im Vergleich zwischen Baseline und dem Ende der Follow-up-Phase (vgl. Di-
lorio et al. 2008, S. 276ff). Verhaltensbezogene oder sonstige abhängige Variablen wurden
nicht erhoben.
Messinstrumente
Die Forscher haben das Medication Event Monitoring System (im Folgenden MEMS)
eingesetzt, um die Compliance bei Medikamenteneinnahme zu messen. MEMS misst
elektronisch jedes Öffnen der Medikamentenflasche (Anzahl und Zeitpunkte) (vgl. Dilorio
et al. 2008, S. 276). Es funktioniert nach dem gleichen Prinzip, wie das eDEMS in der
zuvor vorgestellten Studie von Golin et al. und weist die gleichen Mängel auf: Jedes
Öffnen wird grundsätzlich als Medikamenteneinnahme gewertet, obgleich Letzteres nicht
zutreffen muss, auch könnten die Patienten mehrere Medikamentendosen auf einmal
entnehmen, diese deponieren und zu den korrekten Zeitpunkten in der korrekten Anzahl
einnehmen - das System könnte dies ebenfalls nicht erfassen.
Des Weiteren wurden Fragenbögen eingesetzt (vgl. Dilorio et al. 2008, S. 274), um zusätz-
liche Informationen über die Compliance als auch Daten bezüglich des Drogenkonsums zu
gewinnen (vgl. Dilorio et al. 2008, S. 276ff). Zur Bestimmung der Viruslast und der
Immunzellen mit CD4-Rezeptoren haben Dilorio et al. Blutuntersuchungen durchführen
lassen. Die validierte CES-D-Skala wurde zur Bestimmung des Depressions-Scores
verwendet (vgl. Dilorio et al. 2008, S. 276f).
Datenerhebung und -analyse
Der MEMS wurde bei den Teilnehmern bis zu drei Wochen vor Bestimmung der Baseline
und anschließend weitere 12 Monate bis zum Abschluss des Follow-up eingesetzt. Der
Datenupload erfolgte monatlich in der Studienklinik. Umfragen mit den Fragebögen
wurden in beiden Gruppen drei mal nach der Baseline durchgeführt (vgl. Dilorio et al.
2008, S. 274). Die genauen Zeitpunkte der Blutuntersuchungen werden von Dilorio et al.
nicht genannt. Die Analyse der Daten erfolgte mit SPSS 15.0 (vgl. Dilorio et al. 2008, S.
276).
24
Studienergebnisse
Die durchschnittliche Compliance bei Einnahme der verordneten Anzahl von Medikamen-
tendosen nahm in beiden Gruppen im Verlauf der 12 Monate ab, von anfangs 79% auf
64% in der Interventions- und von 80% auf 55% in der Kontrollgruppe. Statistisch signifi-
kante Unterschiede gab es hier zwischen den Gruppen nicht (p=0,9). Ebenfalls hat die
durchschnittliche Compliance bei Medikamenteneinnahme zum angeordneten Zeitpunkt
im selben Zeitraum abgenommen, zunächst von 58% auf 41% in der Interventions- und
von 57% auf 24% in der Kontrollgruppe. Statistisch signifikante war damit die bessere
Compliance bei Medikamenteneinnahme zum angeordneten Zeitpunkt zu Gunsten der mit
MI beratenen Probanden (p=0,004). Die Berechnung der Werte erfolgte nach dem Intenti-
on-to-treat-Prinzip (vgl. Dilorio et al. 2008, S. 279f).
Die Werte der Viruslast wurden in zwei Bereiche unterteilt: für eine nachweisbare und für
eine nicht nachweisbare Viruslast. Die durchschnittlich nachweisbare Viruslast hat in der
Interventionsgruppe etwas nachgelassen, von 3,29 log auf 3,05 log, und in der Kontroll-
gruppe leicht zugenommen, von 3,35log auf 3,39log, jeweils in 12 Monaten. Die
durchschnittliche Viruslast unterhalb der Nachweisbarkeitsgrenze (<0,40log) hat in beiden
Gruppen innerhalb der 12 Monate zugenommen, von 27% auf 58% in der Interventions-
und von 20% auf 47% in der Kontrollgruppe. Statistisch signifikante Unterschiede
zwischen den Gruppen gab es bei diesen Werten nicht (vgl. Dilorio et al. 2008, S. 279f).
Die durchschnittliche Anzahl der Immunzellen mit CD4-Rezeptoren hat in der Interventi-
onsgruppe leicht zu- und in der Kontroll-Gruppe leicht abgenommen. Einen statistisch
signifikanten Unterschied gab es hier ebenso nicht (vgl. Dilorio et al. 2008, S. 279f).
Konfidenzintervalle wurden für alle Outcome-Daten angegeben und sprechen für eine
Übertragbarkeit der Ergebnisse auf eine entsprechende Grundgesamtheit (vgl. Dilorio et al.
2008, S. 280).
Diskussion der Autoren
Dilorio et al. kommen zu dem Schluss, dass MI die Compliance positiv beeinflussen kann.
Nach ihren Angaben haben auch andere Studien gezeigt, dass die Compliance der jeweili-
gen Probanden mit der Zeit nachlässt (vgl. Dilorio et al. 2008, S. 279).
Als Limitierung ihre Studie geben sie an, dass die Ergebnisse der Stichprobe (aus einkom-
mensschwachen HIV-Patienten) schlecht auf alle an HIV erkrankten Personen mit ART
übertragen werden können, ferner die Anwendung von MEMS einigen Teilnehmern
schwer gefallen ist, Teilnehmer, von denen eine mangelnde Compliance bekannt war, von
25
der Studie nicht ausgeschlossen wurden und dass sich die Art und Dosierung der Medika-
mente im Studienverlauf bei einigen Teilnehmern änderte, was Einfluss auf deren Comp-
liance gehabt haben könnte (vgl. Dilorio et al. 2008, S. 281f).
Kritik zur Studie
Die Methode der Randomisierung wurde angegeben, Informationen zur Verblindung der
Teilnehmer und Untersucher fehlen jedoch. Entsprechende Bias können nicht ausgeschlos-
sen werden. Die Definition von MI hätte detaillierter ausfallen können. Dass die MI-
Ausbildung von Studienautoren durchgeführt wurde, ist vermutlich keine Musterlösung,
allerdings sind hieraus keine direkten Schwächen abzuleiten. Die Untersucher wurden al-
lerdings offenbar nicht verblindet. Die Gruppen scheinen gut vergleichbar zu sein. Der
Umfang von 5 MI-Sitzungen in 3 Monaten erscheint angemessen gewählt und spricht für
eine adäquate Nachkontrolle. Die Validität der Compliance-Messung mit MEMS ist
fraglich, allerdings wurden Umfragen durchgeführt, welche diesen Mangel vermutlich
ausgeglichen haben. Psychosoziale und Verhaltensbezogene Outcomes (abgesehen von
Compliance) wurden nicht gemessen, was im Sinne eines Beratungskonzeptes, welches
zunächst auf die Förderung der intrinsischen Klienten-Motivation abzielt, kritisch zu sehen
ist. Detaillierte Angaben über die Inhalte der Kontrollinterventionen fehlen. Ebenso ist die
Berechnungsgrundlagen der Stichprobengröße nicht angegeben. Eine hinreichende Test-
stärke der Studie ist daher zweifelhaft. Konfidenzintervalle wurden zu den Outcome-Daten
angegeben und liegen eng beieinander (vgl. Dilorio et al. 2008, S. 280). Insgesamt weist
die Studie einige, aber keine gravierenden Mängel auf.
5.3 Studie 3: Brodie, Inoue (2005)
„Motivational interviewing to promote physical activity for people with chronic heart
failure”
Brodie und Inoue wollten mit ihrer im Jahr 2005 veröffentlichten RCT überprüfen, ob MI
die körperliche Aktivität bei Patienten mit chronischer Herzinsuffizienz (n=92) verbessern
kann. Die Studie war dreiarmig angelegt: Die MI als alleinige Intervention wurde im
Vergleich zu einer alleinigen Standardschulung sowie im Vergleich zu dieser Schulung
inklusive MI getestet. Der Beobachtungszeitraum erstreckte sich über 5 Monate (vgl. Bro-
die, Inoue 2005, S. 518).
26
Begriffsdefinitionen und Qualität der MI-Beratung
Die Autoren gehen auf die Vorteile von körperlicher Aktivität für an chronischer Herzin-
suffizienz erkrankte Patienten ein und benennen hierfür u.a. die Verbesserungen der
Lebensqualität (vgl. Brodie, Inoue 2005, S. 518f). Das MI-Beratungskonzept wird in der
Studie verständlich umrissen (vgl. Brodie, Inoue 2005, S. 519), eine detaillierte Definition
fehlt jedoch.
Die MI-Sitzungen wurden von den Forschern durchgeführt (vgl. Brodie, Inoue 2005, S.
519f). Die Qualifikation der Berater wurde nicht angegeben. Inwieweit Brodie und Inoue
die Qualität der Beratung sicher stellen konnten ist daher unklar.
Stichprobe
Zweiundneunzig Probanden wurden randomisiert in drei Gruppen verteilt. In Gruppe eins
(n=30) bestand die Intervention aus der MI und der Standardversorgung, in Gruppe zwei
(n=32) allein aus der Standardversorgung und in Gruppe drei (n=30) nur aus der MI (vgl.
Brodie, Inoue 2005, S. 519ff).
Die Einschlusskriterien zur Studienteilnahme waren:
1. eine diagnostizierte chronische Herzinsuffizienz,
2. ein Alter von mindestens 65 Jahren,
3. Gehfähigkeit mit oder ohne Mobilitätshilfe und
4. die Fähigkeit eine schriftliche Einverständniserklärung geben zu können.
Als Ausschlusskriterien wurden festgelegt:
1. eine diagnostizierte, normale systolische Herzfunktion,
2. das Wohnen in einem Pflegeheim oder der geplante Einzug in eine solches,
3. wohnhaft außerhalb des Einzugsgebietes des örtlichen Krankenhauses (vermutlich
in England),
4. ein Myokardinfarkt oder eine instabile Angina Pectoris in den letzten 3 Monaten,
5. eine operationspflichtige Herzklappenerkrankung,
6. eine chronisch obstruktive Lungenerkrankung,
7. Krankenhausaufnahme zur Sterbebegleitung oder eine Lebenserwartung von unter
5 Monaten,
8. ein Wert von ≤6 auf dem Mini-Mental-Status Fragebogen oder
9. die Unfähigkeit, einen schriftliche Einverständniserklärung zu geben (vgl. Brodie,
Inoue 2005, S. 520).
27
Insgesamt sind 32 Teilnehmer nach dem Studienstart aus der Studie ausgeschieden, 21
waren verstorben, 11 Probanden wurden ausgeschlossen, da sie jede Interventionsteilnah-
me verweigerten (n=7) oder in ein Pflegeheim zogen (n=4). Die Aussteigerquote betrug
damit 34,8%, was die Teststärke der Studie herabsetzt. Eine Intention-to-treat-Analyse
wurde offenbar nicht durchgeführt. Die 60 Probanden, welche die Studie beendeten, hatten
ein Durchschnittsalter von 79 Jahren (Range 68-94 Jahre). Die Unterschiede in der
Geschlechtsverteilung in den Gruppen soll nach Brodie und Inoue statistisch nicht signifi-
kant gewesen sein, allerdings waren doppelt so viele Männer in Gruppe 2, wie in Gruppe 1
(vgl. Brodie, Inoue 2005, S. 521f). Der entsprechende P-Wert wurde nicht angegeben.
Randomisierung und Verblindung
Die Randomisierung wurde durch eine zufällige Verteilung von Umschlägen an die Teil-
nehmern durchgeführt (vgl. Brodie, Inoue 2005, S. 521). Ob diese Methode eine Einfluss-
nahme der Forscher ausschließen konnte bleibt unklar. Eine Selektionsbias kann daher
nicht ausgeschlossen werden. Inwieweit eine Verblindung der Teilnehmer stattgefunden
hat, wird von den Autoren nicht angegeben. Eine Verblindung der Untersucher wurde
durch eine unabhängige Datenauswertung erreicht (vgl. Brodie, Inoue 2005, S. 523).
Intervention
Die Mitglieder der Gruppen 1 und 3 haben 8 MI-Sitzungen mit einer durchschnittlichen
Dauer von einer Stunde erhalten. Zu Beginn des Beratungsprozesses wurden in Face-to-
Face-Sitzungen mit den Probanden, deren geleisteten körperlichen Aktivitäten innerhalb
eines Wochenzeitraumes untersucht sowie der zeitliche Umfang, welchen sie im Sitzen
verbrachten. Ferner wurden mit ihnen u.a. Verhaltensänderungsstrategien besprochen und
geübt (vgl. Brodie, Inoue 2005, S. 519f). In Gruppe 2 bestand die Standardintervention
aus einer am Krankenhaus üblichen Schulung in der den Mitgliedern Informationen und
Empfehlungen bzgl. körperlicher Aktivitäten vermittelt wurden. Die Schulung wurde von
kardiologischen Fachpflegekräften durchgeführt (vgl. Brodie, Inoue 2005, S. 518).
Endpunkte
Der primäre Endpunkt war die tägliche, körperliche Aktivität der Teilnehmer, gemessen
als täglicher Energieumsatz (kcal/kg/Tag). Der sekundäre Endpunkte war die Veränderung
der körperlichen Belastbarkeit der Probanden zwischen Baseline und Abschluss der Fol-
low-up (vgl. Brodie, Inoue 2005, S. 520).
28
Messinstrumente
Die Messung des täglichen Energieumsatzes erfolgte mittels eines Fragebogens über die
körperliche Aktivität in der Freizeit, in welchem mehrere Übungen angegeben werden
konnten: Sitzen, Gehen und Treppensteigen. Ebenfalls zur Messung des tägl. Energieum-
satzes wurde ein von den Probanden auszufüllendes Tagebuch über die körperliche Aktivi-
tät innerhalb von 3 Tagen verwendet. Die körperliche Belastbarkeit wurde mit einem 6-
Minuten-Gehtest gemessen (vgl. Brodie, Inoue 2005, S. 520). Angaben über die Validität
dieser Instrumente fehlen.
Datenerhebung und -analyse
Genaue Zeitpunkte der Datenerhebung nennen Brodie und Inoue nicht, es scheint jedoch
logisch, dass Daten vor bzw. an der Baseline und zum Ende des 5-monatigen Untersu-
chungszeitraumes erhoben wurden (vgl. Brodie, Inoue 2005, S. 522f). Die Analyse der
Daten erfolgte mit SPSS 10.0 (vgl. Brodie, Inoue 2005, S. 521).
Studienergebnisse
In den aufgezeichneten, körperlichen Aktivitäten Sitzen, Gehen und Treppensteigen gab es
keine statistisch signifikanten Unterschiede zwischen den Gruppen (vgl. Brodie, Inoue
2005, S. 522). P-Werte zu diesen Ergebnisse nennen die Autoren nicht. Der durchschnittli-
che tägliche Energieumsatz betrug an der Baseline bei den Teilnehmern, welche die Studie
beendeten, 8,2 kcal/kg/Tag. Die Mitglieder der Gruppe 1 (Schulung + MI) und 3 (MI) stei-
gerten diesen Wert nach 5 Monaten um 2,3 kcal/kg/Tag in Gruppe 1 und um 2,4
kcal/kg/Tag in Gruppe 3. Der Energieumsatz in Gruppe 2 (Schulung) fiel im gleichen Zeit-
raum um -0,1 kcal/kg/Tag. Die Veränderungen dieser Werte zwischen den Gruppen waren
statistisch nicht signifikant (vgl. Brodie, Inoue 2005, S. 522). Die P-Werte wurden nicht
genannt.
Die durchschnittliche Gehstrecke aller, die Studie abschließenden Probanden, betrug im 6-
Minuten-Gehtest in der Baseline 115 m. Alle Gruppen steigerten ihre durchschnittliche
Gehstrecke (p=<0,0001): Gruppe 1 auf 109,3 m, Gruppe 2 auf 181 m und Gruppe 3 auf
119,3 m (vgl. Brodie, Inoue 2005, S. 522f). Es ist allerdings anzumerken, dass die mittlere
Gehstrecke in Gruppe 2 in der Baseline aus unbekannten Gründen bereits deutlich länger
war (157 m), als in den beiden anderen (Gruppe 1: 89,5 m; und Gruppe 3: 97,2 m). Den-
noch haben die Mitglieder in Gruppe 2 ihre durchschnittliche Gehstrecke am stärksten ver-
29
bessert (vgl. Brodie, Inoue 2005, S. 522). Diese Resultate sollen im Gruppenvergleich sta-
tistisch nicht signifikant gewesen sein (vgl. Brodie, Inoue 2005, S. 524f), die Autoren nen-
nen hier jedoch ebenfalls keinen P-Wert. Die Konfidenzintervalle zu den Outcome-Daten
fehlen ebenso.
Diskussion der Autoren
Limitierungen ihrer Studie sehen die Autoren in der Beteiligung der Forscher an der Inter-
vention und schließen hierbei Bias nicht aus. Außerdem wurden Ergebnisse des Energie-
umsatzes und der körperlichen Aktivität der Teilnehmer aus Informationen der Fragebögen
abgeleitet. Dieses Messinstrument sei aber von der Korrektheit der Teilnehmerangaben
abhängig und damit nicht absolut zuverlässig, wie z.B. die direkte Beobachtung körperli-
cher Aktivitäten. Die Autoren räumen ein, dass Daten bzgl. psychosozialer und soziöko-
nomischer Variablen nicht umfassend erhoben wurden, mit Ausnahme des Sprachver-
ständnisses und des sozialen Netzwerkes der Probanden (vgl. Brodie, Inoue 2005, S. 523).
Brodie und Inoue kommen zu dem Schluss, dass weitere Forschung notwendig ist, um die
Wirkung von MI zu erforschen, und empfehlen hierfür eine größere Stichprobe (vgl. Bro-
die, Inoue 2005, S. 525).
Kritik zur Studie
Die Studie hat einige methodische Mängel: Eine Verblindung der Teilnehmer hat womög-
lich nicht stattgefunden. Die Gruppen waren an der Baseline zwar gut vergleichbar, den-
noch konnten die Mitglieder der Gruppe 2 aus ungeklärten Gründen im Mittel deutlich
weiter gehen als die restlichen Probanden. Bias können nicht ausgeschlossen werden. Die
Stichprobengröße war gering und offenbar nicht auf Grundlage einer Powerkalkulation
berechnet worden. Des Weiteren haben nur 65,2% aller Teilnehmer die Studie abgeschlos-
sen, was die Teststärke weiter einschränkt. Eine Intention-to-treat-Analyse wurde offenbar
nicht durchgeführt (Angaben fehlen). In welcher Frequenz die MI-Beratungen durchge-
führt wurden, bleibt ebenso unklar. Außerdem fehlt eine detaillierte Definition der MI-
Beratung. Angaben bzgl. des Ablaufes und der genauen Inhalte der Standardschulung wur-
den gleichfalls ausgelassen. Bezüglich des Endes der Interventions- und der Länge der
Follow-Up-Phase geben die Autoren gleichsam keine Informationen. Die Qualifikation der
Forscher, welche die MI-Beratung durchführten, ist nicht bekannt und die Qualität der Be-
ratungen damit fraglich. Abhängige Variablen bzgl. der Lebensqualität oder anderer für die
Teilnehmer relevante Outcomes (z.B. positive Beratungseffekte) wurden nicht erhoben.
30
Die Validität der Messinstrumente ist zudem fraglich und die Konfidenzintervalle zu den
Outcome-Daten sind nicht angegeben. Außerdem fehlen die P-Werte bei den Ergebnissen
im Gruppenvergleich. Die Validität der Studie ist insgesamt in Zweifel zu ziehen.
5.4 Studie 4: Knight et al. (2006)
„A systematic review of motivational interviewing in physical health care settings”
Knight et al. haben mit dieser im Jahr 2006 veröffentlichen systematischen Übersichtsar-
beit untersucht: in welchem Umfang MI in unterschiedlichen Gesundheitssettings verwen-
det wird, wie wirksam MI ist und zu welchen Effekten es führt, wenn MI bei Patienten mit
physischen Gesundheitsproblemen eingesetzt wird. Ferner waren die Autoren bestrebt ei-
nen Überblick über die Qualität der diesbezüglichen, damaligen Forschung zu geben und
weiteren Forschungsbedarf zu identifizieren (vgl. Knight et al. 2006, S. 319). Insgesamt
haben Knight et al. 8 relevante Studien (darunter 4 RCTs) identifiziert, beschrieben und
beurteilt (vgl. Knight et al. 2006, S. 323). Die Recherche wurde im August 2002 durchge-
führt und im September 2003 sowie im April 2004 aktualisiert (vgl. Knight et al. 2006, S.
321).
Methodik
Die Recherche wurde in den elektronischen Datenbanken Amed, Cinahl, Embase, Medline,
Psych Info, ISI Web of Science und SIGLE durchgeführt und umfasste einen Publikations-
zeitraum vom Jahr 1966 bis 2004 (vgl. Knight et al. 2006, S. 319ff).
Suchbegriffe waren: motivational interviewing, stages of change, transtheoretical model,
behavior change und client centred couselling. Umfangreiche Suchbegrifflisten wurden für
chronische Erkrankungen zusammengestellt als auch mit Medical Subject Headings
(MeSH) für chronic illness in die Recherche einbezogen (vgl. Knight et al. 2006, S. 321).
Ebenfalls wurde die Webseiten der Cochrane Libary, des National Research Registers
sowie drei weitere wissenschaftliche Internetseiten nach Studien mit dem Suchwort moti-
vational interviewing durchsucht. Zudem wurden Experten und Personen, welche zu
diesem Thema in aktuellen Forschungsprojekten arbeiteten, nach unveröffentlichtem Mate-
rial und weiteren Informationen gebeten. Graue Literatur wurde mit Hilfe der Datenbank
Sigle durchsucht. Ferner erstreckte sich die Recherche über 7 wissenschaftliche Fachzeit-
schriften (u.a. American Journal of Preventative Medicine) (vgl. Knight et al. 2006, S.
321). Die Einschlusskriterien waren:
31
- Im Bereich Zielgruppe, dass die Studienpatienten ein Risiko aufwiesen, eine
gemeinsame körperliche Krankheit zu entwickeln und
- im Bereich Intervention, dass MI in der Studie als Methode der Verhaltensänderung
verwendet wurden (vgl. Knight et al. 2006, S. 321).
In Bezug auf das Studiendesign lagen keine Kriterien vor, da nur eine geringe Anzahl von
RCTs gefunden und daher auch Nicht-RCTs einbezogen wurden. Gleichfalls gab es für
gemessene Outcomes keine spezifischen Kriterien. Knight et al. begründen dies damit,
dass alle Studien mit wirksamen Ergebnissen identifiziert werden sollten (vgl. Knight et al.
2006, S. 321).
Studienabruf und -analyse
Einundfünfzig relevante Abstracts wurden gefunden. Insgesamt konnten 43 Abstracts
ausgeschlossen werden, da sie die Einschlusskriterien nicht erfüllten und z.B. Fragen der
Berufsausbildung thematisierten oder MI und/oder körperliche Erkrankungen nicht einbe-
zogen. Insgesamt konnten 8 Studien für eine beschreibende Analyse ausgewählt werden
(vgl. Knight et al. 2006, S. 321f).
Um Verzerrungen zu vermeiden, erfolgte das Auswahlverfahren durch zwei Forscher,
welche Unstimmigkeiten in Diskussionen klärten (vgl. Knight et al. 2006, S. 322).
Auf eine Metaanalyse haben Knight et al. verzichtet, aufgrund der Heterogenität der Studi-
en in den gemessenen Endpunkten bzgl. des Interventionszeitraumes, im definierten Prob-
lemverhalten der Probanden, in den Studien-Settings sowie hinsichtlich der Qualifikation
und Erfahrung der MI-Berater (vgl. Knight et al. 2006, S. 322).
Identifizierte Studien
Unter den ausgewählten Studien waren vier RCTs, drei Pilotstudien und eine nicht-
randomisierte Kontrollstudie (vgl. Knight et al. 2006, S. 323) (siehe Tabelle 1). Die einge-
schlossenen Erkrankungen bzw. Therapien dieser Studien waren: Diabetes mellitus Typ 1
und 2, Asthma, Hyperlipidämie als auch Hypertonie, koronare Bypass-Chirurgie und kar-
diologische Rehabilitation. Mit allen 8 Studien sollte herausgefunden werden, ob MI zu
besseren Behandlungsergebnissen führt, als die jeweilige Standardversorgung in den
Bereichen: Compliance, Gesundheitsverhalten und Ergebnisverbesserungen der verschie-
denen medizinischen Therapien (vgl. Knight et al. 2006, S. 323).
32
Nr. Autoren und
Population
Studiendesign Stichprobengröße
(n), Follow-up-
Periode (FU) und
Durchschnittsalter
Intervention
1 Channon et al. (2003), Kinder mit Diabetes Typ 1
Pilotstudie n=22; FU 6 Mona-te; Ø 15,8 Lebens-jahre
Interventionsgruppe: individuelle MI-Beratung (Ø 4,7 Sitzungen); keine Kontrollgruppe
2 Clark und Hampson (2001), übergewichtige Erwachsene mit Diabetes Typ 1
RCT (nur mit Base-
line-Daten)
n=100; FU 1 Jahr; Ø 59,4 Lebensjahre
Interventionsgruppe: Kurz-MI-Beratung plus drei 10-minütige Telefongespräche in der Follow-Up; Kontrollgruppe: Standardbehand-lung
3 Smith et al. (1997), überge-wichtige Frauen mit Diabetes Typ 2
randomisierte Pilotstudie
n=16; FU 4 Mona-te; Ø 62,4 Lebensjahre
Interventionsgruppe: 3 MI-Sitzungen plus 16-wöchige verhaltensbeinflussende Ge-wichtskontrolle; Kontrollgruppe: nur besagte Gewichtskontrolle
4 Schmaling et al (2001), Patien-ten mit Asthma
Randomisierte, kontrollierte Pilotstudie
n=25; FU 2 Wo-chen; Ø 39,32 Le-bensjahre
Interventionsgruppe: einmalige Kurz-Schulung und eine MI-Sitzung; Kontrollgruppe: einmalige Kurz-Schulung
5 Mhurchu et al. (1998) Patienten mit Hyperlipi-dämie
RCT (Teststärke nur
61%)
n=97; FU 6 Mona-te; Durchschnittsal-ter unbekannt
Interventionsgruppe: 3 MI-Beratungen; Kontrollgruppe: Standardtipps für Cholesterin arme Ernährung
6 Woollard et al. (1995), Patien-ten mit Hyper-tonie
Nicht-randomisierte Kontrollstudie
n=146; FU 18 Wo-chen; Ø 58 Lebens-jahre
Interventionsgruppe 1: vier 15-minütige Telefonberatungen; Experimentellgruppe 2: vier 45-minütige MI-Beratungen; Kontrollgruppe: Standardbe-handlung
7 McHugh et al. (2001), Patien-ten, die eine arterielle By-pass-OP erwar-ten
RCT N=98; FU 15 Mo-nate; Ø 62 Lebens-jahre
Interventionsgruppe: MI-Beratung plus monatliche Gesundheitsschulung; Kontrollgruppe: Standardbehand-lung
8 Scales (1998) Patienten mit Koronarer Herzkrankheit, die eine Rehabi-litation erwarten
RCT n=61; FU 12 Wo-chen; Ø 59,6 Le-bensjahre
Interventionsgruppe: 1 bis 4 MI-Beratungen plus übli-ches Rehabilitationsprogramm; Kontrollgruppe: übliches Rehabi-litationsprogramm mit Gruppen-diskussion plus optionale Inter-vention zur Lebensstiländerung
Tabelle 1: Übersicht der von Knight et al. bewerteten Studien (vgl. Knight et al. 2006, S. 324ff)
33
Qualitätsbewertung
Die Qualitätsbewertung der Studien basierte auf den Informationen, welche die Studien
lieferten. Als Richtlinie zur Beurteilung der Qualität nutzten Knight et al. das CONSORT
Statement von Moher, Schulz und Altma (2001), welches Empfehlungen zur Qualitätsver-
besserungen der Reports randomisierter Studien gibt (vgl. Knight et al. 2006, S. 322).
Studienergebnis
Die Mehrheit der Studien kommet zu dem Ergebnis, dass MI zu positiven Effekten führt
bei der Mehrzahl der untersuchten psychologischen und physiologischen Variablen sowie
bei verhaltensbezogenen Variablen bei der Änderung von Lebensstilen (vgl. Knight et al.
2006, S. 323) (siehe Tabelle 2).
Variablen N (Variablen) MI ist effektiv MI ist nicht
Effektiv
Angaben
fehlen
Psychologisch-kognitiv (z.B. Be-reitschaft zur Ver-haltensänderung)
15 6 3 6
Psychologisch-emotional (z.B. Le-bensqualität)
7 3 1 3
Lebensstilwandel 24 11 2 11 Physiologische (z.B. Gewicht)
11 10 0 1
Insgesamt 57 30 6 21
Tabelle 2: Übersicht der gemessenen Effektivität von MI in den von Knight et al. untersuchten Studien
(vgl. Knight et al. 2006, S. 327)
Die Ergebnisse zweier der RCTs sind wenig aussagekräftig bzw. nicht vorhanden, da
entweder keine Outcome-Daten vorlagen (Studie 2) oder die Teststärke aufgrund einer zu
geringen Stichprobengröße (80% der Vorgabe) erheblich abfiel (Studie 5). Die beiden
anderen RCTs (Studie 7 & 8) kommen zu dem Resultat, dass MI eine effektive Methode
ist, Patienten dabei zu helfen, gesündere Lebensstile umzusetzen im Vergleich zu den üb-
lichen Methoden (vgl. Knight et al. 2006, S. 323). Im Gegensatz dazu haben eine oder
mehrere der Studien gezeigt, dass MI nicht wirksam ist, das Wissen der Patienten zu erhö-
hen oder ihnen dabei zu helfen Familienprozesse zu verstehen, ihre Medikamenten-
Compliance zu erhöhen, ihren Alkoholkonsum zu reduzieren, oder ihr Gefühl von Wohlbe-
finden zu steigern (vgl. Knight et al. 2006, S. 323). Zudem wurden bei ca. 37% aller
gemessenen Variablen der Studien keine Ergebnisse genannt, was nach Ansicht von
34
Knight et al. das Vorliegen negativer Resultate bedeuten kann (vgl. Knight et al. 2006, S.
323).
Kritik der Autoren
Knight et al. kommen zu folgender Kritik an den Studien:
- Berichterstattung: alle drei abgeschlossenen RCTs (Studie 5, 7 & 8) berichten
Einschluss- und Ausschlusskriterien. Von den restlichen Studien berichteten alle
von Einschluss-, aber nur drei von Ausschlusskriterien (Studie 1, 3 & 4). Drei der
RCTs haben die Randomisierungsmethode beschrieben (Studie 2, 5 & 8).
- Teststärke und Stichprobenumfang: Nur eine RCT berechnete ihre Stichprobengrö-
ße nach einer festgelegtenTeststärke (Studie 5). Diese Studie lag mit 20% jedoch
unter ihrer geforderten Stichprobengröße, was die Teststärke auf 61% herabsetzte.
- Vorgehensweise und Intervention: Das Interventionsverfahren wurde in allen
Studien hinreichend beschrieben, genaue Informationen über den Inhalt der
MI-Sitzungen wurden aber nur in zwei RCTs (Studie 2 & 8) sowie in zwei der
nicht-randomisierten Studien gegeben (Studie 1 & 4). In einer der RCTs und zwei
der anderen Studien war unklar beschrieben, ob MI als vollwertige Beratung oder
Kurz-Intervention eingesetzt wurde (Studie 4, 6 & 7). Die durchschnittliche Dauer
der MI-Beratungen wurde lediglich in zwei der RCTs und in einer der anderen
Studien angegeben (Studie 4, 5 & 6). Dreiviertel der RCTs und anderen Studien
enthalten detaillierte Angaben der Hauptkomponenten, wie auch der Prinzipien von
MI (Studie 1, 2, 3, 4, 5 & 8).
- MI-Ausbildung: Zwei nicht-randomisierte Studien beschreiben die Länge und Art
der MI-Ausbildung (Studie 1 &/ 4). Nur eine der Studien eine RCT benutzte ein
Assessment zur Einschätzung der Beratungsfähigkeiten der Berater nach Ausbil-
dung, um die MI-Qualität während des Interventionszeitraumes zu kontrollieren
(Studie 5).
- Messung: Die Studien maßen im Durchschnitt 7,5 verschiedene Outcomes (Spann-
weite 4 bis 11), mit großen Unterschieden zwischen psychologischen, physiologi-
schen oder Lebensstil bezogenen Outcomes. Nur 6 Studien (davon 3 RCTs)
beschrieben den Einsatz von spezifischen, validierten Messinstrumenten (Studie 1,
2, 4, 6, 7, & 8) (vgl. Knight et al. 2006, S. 323-328).
35
Diskussion der Autoren
Knight et al. vertreten die Ansicht, dass die niedrige Qualität und mangelhafte Validität der
Studien eine eindeutige Schlussfolgerung über die Wirksamkeit von MI bei Patienten mit
chronischen und physischen Erkrankungen nicht zulässt (vgl. Knight et al. 2006, S. 329).
Die Hauptmängel der ausgewählten Studien seine: eine zu kleine Fallzahl, mangelnde
Teststärke, die Verwendung von grundverschiedenen Outcomes, welche zu einem
unreflektierten Einsatz von validierten Fragebögen führt, und eine oft schlechte Definition
von MI-Beratungen sowie der MI-Ausbildung (vgl. Knight et al. 2006, S. 329).
Für zukünftige Forschung empfehlen die Autoren qualitativ hochwertige Studiendesigns,
in denen größere Stichproben rekrutiert, die erforderliche Teststärke berechnet, validierte,
standardisierte und verallgemeinerbare Messinstrumente eingesetzt als auch detaillierte
Beschreibungen der MI-Intervention und -Ausbildung sowie der Inhalte der Sitzungen
vorgenommen werden (vgl. Knight et al. 2006, S. 329f).
Die Limitierung ihrer systematischen Übersichtsarbeit sehen die Autoren in dem
Ausschluss von nicht-englisch-sprachigen Studien, was zu Bias geführt haben könnte. Dass
viele negative Studien nicht veröffentlicht wurden, mag zu der geringen Anzahl identifi-
zierter Studien geführt haben, vermuten Knight et al. (vgl. Knight et al. 2006, S. 330).
Kritik dieser Studie
Die Übersichtsarbeit von Knight et al. hat mehrere Studien untersucht, deren unterschiedli-
che Designs und Gestaltung einen statistischen Vergleich der Ergebnisse nicht ermöglich-
ten. Zudem wurden nur engschlich-sprachige Studien beachtet, was die Autoren auch
selbst einräumen. Abgesehen von diesen Punkten weist die Übersichtsarbeit von Knight et
al. keine erkennbaren methodischen Mängel auf.
6 Diskussion
In den Ergebnisse der drei RCTs fällt zunächst auf, dass sich mit einer Ausnahme bei
Dilorio et al. (siehe unten) keine statistisch signifikanten Effekte der MI im Vergleich zu
der jeweiligen Kontrollintervention gezeigt haben. Zwei der RCTs haben eine leichte
Verbesserung der primären Endpunkte bei MI-Intervention festgestellt: Golin et al. (Kapi-
tel 5.1) konnten eine Compliance-Steigerung in der Interventions- und ein Compliance-
Abfall in der Kontrollgruppe nachweisen, und Brodie und Inoue (Kapitel 5.3) eine Verbes-
36
serung des Energieumsatzes in beiden Studiengruppen. Bei Dilorio et al. (Kapitel 5.2)
zeigte sich hingegen ein Abfall der Compliance sowohl in der Interventions-, als auch in
der Kontrollgruppe, welcher jedoch in der Interventionsgruppe weniger ausgeprägt war.
Damit haben alle drei RCTs positive Effekte von MI in Bezug auf die Compliance gemes-
sen.
Statistisch signifikante Unterschiede zwischen den Studiengruppen zeigten sich in zwei der
RCTs: bei Golin et al. (Kapitel 5.1) führte MI u.a. dazu, dass die Probanden öfter eigene
Verhaltensziele und -Strategien entwickelten, als dies die Standardbehandlung vermochte;
und Dilorio et al. (Kapitel 5.2) stellten fest, dass die mit MI beratenen Teilnehmer eine
statistisch signifikant höhere Compliance bei der Medikamenteneinnahme zum verordne-
ten Zeitpunkt hatten als die Mitglieder der Kontrollgruppe.
Die systematische Übersichtsarbeit von Knight et al. zeigte in den untersuchten Studien
ebenfalls positive Effekte von MI bei der Mehrzahl der gemessenen psychologischen und
physiologischen Variablen. Keine Wirksamkeit von MI bescheinigten eine oder mehrere
dieser Studien bei Wissenssteigerung, dem erhöhten Verstehen von Familienprozessen, der
Compliance-Steigerung bei medikamentöser Therapie, der Reduzierung des Alkoholkon-
sums und der Verbesserung des Wohlbefindens der jeweiligen Probanden.
Die Ergebnisse besagter Studien sind, nach Ansicht von Knight et al., jedoch nicht geeig-
net konkrete Schlussfolgerungen über die Wirksamkeit von MI bei chronisch und physisch
erkrankten Patienten zu treffen, da die Studien insgesamt erhebliche qualitative Mängel
sowie eine geringe Validität aufwiesen. Die Zusammenfassung der Ergebnisse ist in Tabel-
le 3 dargestellt:
Nr. Autoren, Stu-
diendesign
(Intervention
jeweils MI)
Stichprobengröße
(n);
Population
Endpunkte Outcomes
1 Golin et al. (2006), RCT
n=117 (2 Gruppen); erwachsene HIV-Patienten mit ART
Primär: durchschnittlicher Compliance-Grad, Virus-lastveränderung; Sekundär: psychosoziale, psychoökonomische und auf Verhaltensänderung bezogene Variablen
keine statistisch signi-fikanten Unterschiede zwischen den Gruppe, mit Ausnahme bei den Variablen der Verhal-tensänderung
2 Dilorio et al. (2008), RCT
n=213 (2 Gruppen); einkommens-schwache, erwach-sene HIV-Patienten mit ART
Primär: durchschnittlicher Compliance-Grad bei An-zahl der tägl. eingenomme-nen Medikamentendosen und Zeitpunkten der
statistisch signifikant bessere Compliance bei Medikamenten-einnahme zum verordneten Zeitpunkt
37
Einnahme; Sekundär: Veränderungen bei HIV-Viruslast, CD4-Immunzellen, Drogenkon-sum und Depressions-Score
nach MI-Beratung, sonst keine statistisch signifikanten Unter-schiede zwischen den Gruppen
3 Brodie, Inoue (2004), RCT
n=60 (3 Gruppen); erwachsene Patien-ten mit chronischer Herzinsuffizienz
Primär: täglicher Energie-umsatz bei körperlicher Aktivität; Sekundär: Veränderungen der körperlichen Belastbar-keit auf einer Gehstrecke
keine statistisch signi-fikanten Unterschiede zwischen den Gruppen
4 Knight et al. (2006), sys-temtische Übersichtsar-beit
siehe Tabelle 1 57 gemessene, abhängige Variablen der eingeschlos-senen Studien
mangelnde Qualität und Validität der ein-geschlossenen Studien lassen keine Rück-schlüsse auf Wirk-samkeit der MI zu
Tabelle 3: Zusammenfassung der Studienergebnisse
Qualitätsbewertung
Die Qualität der vorgestellten Studien ergibt sich auf Grundlage der in Kapitel 5 zusam-
mengefassten Informationen und festgestellten Stärken und Schwächen dieser Arbeiten.
Als Instrument der Qualitätseinschätzung werden hier die Levels of Evidence 2001 und die
Empfehlungsgrade aus dem Oxford Centre for Evidence-based Medicine für Interventions-
studien aus dem Jahre 2009 verwendet (vgl. Oxford Centre for Evidence-based Medicine
2009, Levels of Evidence 2001). Die Qualitätsbewertung ist in Tabelle 4 dargestellt:
Nr. Autoren, Studiendesgin Evidenzlevel Empfehlungsgrad
1 Golin et al. (2006), RCT 2b C 2 Dilorio et al. (2008), RCT 1b B 3 Brodie, Inoue (2004), RCT 2b C 4 Knight et al. (2006), systematische Über-
sichtarbeit 1a B
Tabelle 4: Evidenzlevel und Empfehlungsgrade der untersuchten Studien
Die systematische Übersichtsarbeit von Knight et al. (Kapitel 5.4) beinhaltet soweit homo-
gene Studien, welche einen Ergebnisvergleich zulassen, wenn auch keine statistische Ana-
lyse, und die RCT von Dilorio et al. (Kapitel 5.2) liefert überwiegend methodisch fehler-
freie Ergebnisse mit engen Konfidenzintervallen. Beide Studien, in denen insgesamt wenig
Mängel festgestellt wurden (siehe Kapitel 5 Ergebnisse), erfüllen somit die für ihre Studi-
endesigns notwendigen Qualitätsanforderungen und erreichen damit die jeweils höchst
möglichen Evidenzlevel. Ihre Empfehlungsgrade wurden jeweils mit B bewertet, da die
38
von ihnen eingeschlossenen Zielgruppen mit verschiedenen chronischen und/oder physika-
lischen Erkrankungen sowie weiteren Merkmalen, eine Übertragung der Studienergebnisse
auf alle erwachsenen Patienten mit chronischen Erkrankungen nur mit Unsicherheit
zulässt.
In den beiden RCTs von Golin et al. (Kapitel 5.1) und Brodie und Inoue (Kapitel 5.3) sind
erhebliche qualitative Mängel und eine geringe Validität der Ergebnisse festzustellen
(siehe Kapitel 5 Ergebnisse), daher wurden ihre Evidenzlevel jeweils mit 2b eingestuft.
Der Empfehlungsgrad dieser Studien liegt in beiden Fällen bei C, entsprechend ihres
Evidenzlevels und da ihre Ergebnisse aufgrund der spezifischen Zielgruppe nicht auf alle
erwachsenen Patienten mit chronischen Erkrankungen ohne Extrapolationen übertragen
werden können. Damit können Empfehlungen aus diesen beiden Studien praktisch nicht
gegeben werden.
Schlussfolgerung
Die MI kann vermutlich die Compliance von erwachsenen, chronisch kranken Patienten im
Krankenhaus beeinflussen. Ein statistisch signifikanter Unterschied in der Compliance-
Steigerung im Vergleich zu herkömmlichen Methoden ist jedoch wenig wahrscheinlich.
Konkrete Aussagen über die Wirksamkeit von MI bzgl. der Compliance bei Erwachsenen
mit spezifischen chronischen Erkrankungen und Therapien lassen sich außer bei einkom-
mensschwachen, an HIV erkrankten, erwachsenen Patienten mit ART (siehe Kapitel 5.2)
nicht treffen. Bei der besagten Patientengruppe zeigte MI im Interventionsvergleich eine
statistisch signifikante Wirkung auf die Compliance-Förderung bei der Medikamentenein-
nahme zu einem angeordneten Zeitpunkt. Aussagen über die Wirkung von anderen Formen
verhaltensorientierter Beratung auf die Compliance bei erwachsenen, chronisch-kranken
Patienten können nicht getroffen werden. Inwieweit MI oder eine andere Form verhaltens-
orientierter Beratung die Compliance bei der genannten Population steigern kann im Ver-
gleich zu einer fehlenden Intervention ist ebenso unklar.
Limitierung
Für diese systematische Übersichtsarbeit bestehen einige Limitierungen:
- die Recherche erfolgte nur in einer elektronischen Datenbank und schloss
ausschließlich englisch- und deutschsprachige Studien ein, daher könnten relevante
Forschungsergebnisse unbeachtet geblieben sein;
39
- Bias können nicht ausgeschlossen werden, da die Studienauswahl und -bewertung
nur von einer Person durchgeführt wurde; und
- die in den ausgewählten Studien verwendete Intervention bezieht nur eine spezifi-
sche Form verhaltensorientierter Beratung ein, daher kann die gestellte Forschungs-
frage (siehe Kapitel 2 Fragestellung) nicht hinreichend beantwortet werden.
Forschungsbedarf
Wie wirksam verhaltensorientierte Beratung bei der Verbesserung der Compliance von
erwachsenen, chronisch erkrankten Patienten im Krankenhaus oder in Bezug auf Patienten
mit einer konkreten chronischen Erkrankung ist, bleibt weiterhin unklar und sollte Gegen-
stand zukünftiger Forschung sein. Studien, welche sich diesem Vorhaben annehmen,
sollten über ein qualitativ hochwertiges Design sowie eine hinreichend hohe Stichproben-
größe verfügen, ausreichend Teststärke vorweisen können, die Beratungsform genau
definieren, valide Messinstrumente einsetzen und eine hohe Qualität der Beratung
nachweisen können.
In Hinblick auf Compliance als primäre, abhängige Variable ist anzumerken, dass
Beratung hier als Instrument zur Förderung der Therapietreue zusätzliche Effekte erzielt,
welche als sekundäre, abhängige Variablen in Frage kommen, wie z.B. mit den Klienten
entwickelte Beratungsziele und Verhaltensstrategien. Motivationen, Ziele, Problemlö-
sungsstrategien usw. sind Outcomes, die vermutlich für jeden verhaltensorientierten
Beratungsprozess relevant sind (siehe Kapitel 3.1 verhaltensorientierte Beratung) und die
wahrscheinlich für Patienten, welche ihr Verhalten langsam und langfristig ändern, wichti-
ge Meilensteine zu einer erfolgreichen Verhaltensänderung darstellen können. Daher soll-
ten sie ebenfalls als Beratungsergebnisse in Form von sekundären Endpunkten gemessen
werden.
40
Literaturverzeichnis
Anhang:
A.1 Tabellenverzeichnis
A.2 Abkürzungsverzeichnis
A.3 Eidesstattliche Erklärung
41
Literaturverzeichnis
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Non-Compliance zu pharmazeutischer und medizinischer Kooperation. Stuttgart: Wissen-
schaftliche Verlagsgesellschaft
Knight, K.M. et al. (2006): A systematic review of motivational interviewing in physical
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Lubkin, I. (2002): Chronisch Kranksein. Implikationen für Pflege- und Gesundheitsberufe.
Bern: Hans Huber
Miller, R.; Rollnick, S. (2009): Motivierende Gesprächsführung. 3. unveränderte Auflage.
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Nestmann, F. (2004): Das Handbuch der Beratung. Band 2 Ansätze, Methoden und Felder.
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Phänomene im Erleben von Krankheit und Umfeld Band 3. Bern: Hans Huber, S. 245-269
43
Anhang
A.1 Tabellenverzeichnis
Tabelle 1 Übersicht der von Knight et al. bewerteten Studien S. 32
Tabelle 2 Übersicht der gemessenen Effektivität von MI in den von Knight et
al. untersuchten Studien S. 33
Tabelle 3 Zusammenfassung der Studienergebnisse S. 36
Tabelle 4 Evidenzlevel und Empfehlungsgrade der untersuchten Studien S. 37
44
A.2 Abkürzungsverzeichnis
Ø Durchschnitt
ART antiretrovirale Therapie
eDEMS Electronic Drug Event Monitoring System
log logarithmierte Zahl der Viruslast (Menge an Viren, die in einem bestimmten
Volumen des Blutes vorkommt (normalerweise ein Milliliter))
max maximal
MEMS Medication Event Monitoring System
MI motivational Interviewing
min minimal
n Stichprobengröße
SD Standardabweichung
45
A.3 Eidesstattliche Erklärung
Ich versichere hiermit, dass ich vorliegende Arbeit ohne fremde Hilfe selbständig verfasst und
nur die angegebenen Hilfsmittel benutzt habe. Wörtlich oder dem Sinn nach aus anderen
Werken entnommene Stellen sind unter Angabe der Quelle kenntlich gemacht.
Hamburg, den 30.08.2012
Danilo Taubeneck