technikverständnis – eine unendliche geschichte?

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Technikverständnis – Eine unendliche Geschichte? Gerhard Banse Wirtschaft, Arbeit, Technik als Beitrag zur Allgemeinbildung im nationalen Kontext Jahrestagung 2015 der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin Potsdam-Griebnitzsee, 24. Februar 2015

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Page 1: Technikverständnis – Eine unendliche Geschichte?

Technikverständnis – Eine unendliche

Geschichte?

Gerhard Banse

Wirtschaft, Arbeit, Technik als Beitrag zur Allgemeinbildung im nationalen Kontext

Jahrestagung 2015 der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin

Potsdam-Griebnitzsee, 24. Februar 2015

Page 2: Technikverständnis – Eine unendliche Geschichte?

Technikverständnis – Eine unendliche Geschichte?

- „Totgesagte leben länger.“

Manche Aussagen leben sehr lange – auch wenn sie falsch sind!

Zu derartigen langlebigen, aber falschen Aussagen gehört auch: „Technik ist angewandte Naturwissenschaft.“

- Denn es gelten sinngemäß auch folgende Aussagen:

- Technik ist angewandte Technikwissenschaft. - Technik ist angewandte Wirtschaftswissenschaft. - Technik ist angewandte Arbeitswissenschaft. - Technik ist angewandte Kulturwissenschaft. [usw.]

Technik ist AUCH angewandte Naturwissenschaft. ⇒ erforderlich: Multiperspektivisches Technikverständnis

24.02.2015 Professor Dr. Gerhard Banse 2

Vorbemerkungen I

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Technikverständnis – Eine unendliche Geschichte?

24.02.2015 Professor Dr. Gerhard Banse 3

Vorbemerkungen II

(Ropohl, Günter: Das neue Technikverständnis. In: Ropohl, Günter (Hg.): Erträge der Interdisziplinären Technikforschung. Eine Bilanz nach 20 Jahren. Berlin 2001, S. 18)

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Technikverständnis – Eine unendliche Geschichte?

(1) Zu berücksichtigen ist die aktuelle (wie historische!) Vielgestaltigkeit von Technik: Nanopartikel, mikromechanische Objekte, einfache Maschinenelemente, Geräte, Bauwerke, technische Anlagen, weltumspannende Informations- und Kommunikationsnetze; Konsumtions- und Produktions-Technik, …

( Gefahr, vorschnell vom Teil auf das Ganze zu schließen.)

(2) Unsere Welt, unsere Kultur, unser Leben sind weitgehend technikbasiert: „technische Zivilisation“, „technische Kultur“, „Technik als materielle Kultur“.

Jeder hat eine bestimmte Vorstellung von Technik (⇒ „Technikbild“ [analog zu „Weltbild“ oder „Menschenbild“])

24.02.2015 Professor Dr. Gerhard Banse 4

Vorbemerkungen III

Page 5: Technikverständnis – Eine unendliche Geschichte?

Technikverständnis – Eine unendliche Geschichte?

Jedoch: Wissen wir, was Technik ist?

- Seit Beginn einer wissenschaftsbasierten technischen Entwicklung (etwa ab Mitte des 19. Jh.s) gab und gibt es unzählige Bemühungen, „Technik“ zu „erkennen“. ⇒ Trotzdem: Noch immer zahlreiche „Engführungen“ bzw.

wissenschaftlich nicht gerechtfertigten „Reduktionismen“ („Reduktionen“) mit bildungstheoretischen und –praktischen Konsequenzen, u.a.

- 06.10.2000 – Pädagogisches Landesinstitut Brandenburg (Ludwigsfelde-Struveshof): Fachgespräch „Technikbilder und Technikkonzepte im Wandel – eine technikphilosophische und allgemeintechnische Analyse“

„Der Prophet gilt nichts im eigenen Land.“

24.02.2015 Professor Dr. Gerhard Banse 5

Grundeinsichten I

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Technikverständnis – Eine unendliche Geschichte?

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Grundeinsichten II

5 Zur Bestimmung des Verhältnisses von Technik und Naturwissenschaft in der Allgemeinbildung Ulrich Schmidt

Rotary Club Hennigsdorf-Oranienburg 2014

Page 7: Technikverständnis – Eine unendliche Geschichte?

Technikverständnis – Eine unendliche Geschichte?

Was bedeutet die Aussage „Technik ist angewandte Naturwissenschaft“?

Gemeint ist damit oftmals eigentlich wohl zunächst „angewandtes Naturwissen“ (als Anwendung von Wissen über reproduzierbare Zusammenhänge in der Natur) im Unterschied zu „naturwissenschaftlichem Wissen“ (mit/von einer anderen Qualität!) Denn: Allein die Kenntnis reproduzierbarer Effekte stellte und stellt häufig die Grundlage für technische Neuerungen dar. Nur: Auf Dauer und effektiv jedoch kann Technik nur auf der Basis (technik-)wissenschaftlicher Grundlagenforschung, die explizit erkenntnisorientiert ist, entwickelt oder wesentlich verbessert werden.

24.02.2015 Professor Dr. Gerhard Banse 7

Reduktion von T auf angewandte NW I

Page 8: Technikverständnis – Eine unendliche Geschichte?

Technikverständnis – Eine unendliche Geschichte?

zwei Probleme / Fragestellungen (1) Warum (eigentlich nur) „Naturwissen“? (2) Was bedeutet („meint“) Anwendung?

Technik-relevante Wissensformen: - (wahre) Aussagen/Behauptungen; - Bewertungen (Werturteile); - Handlungsanweisungen (z.B. Aufforderungen); - Normen (z.B. Verfahrensregeln). - theoretisches oder gesetzesartiges Wissen („Wenn A, so B.“); - operationales, Projekt- oder Regelwissen („Wenn A hergestellt wird, dann

tritt B ein.“); - Erfahrungswissen („know-how“). 24.02.2015 Professor Dr. Gerhard Banse 8

Reduktion von T auf angewandte NW III

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Technikverständnis – Eine unendliche Geschichte?

24.02.2015 Professor Dr. Gerhard Banse 9

Zeit!! Geld!!

1

Vom (abstrakten) naturwissenschaftlichen Wirkprinzip zu technischen Prinziplösungen und (konkreten) Lösungen: Vielfalt

Natureffekt (naturwissenschaftlich beschreibbar)

Wirkprinzip

Prinziplösung

(nach: Wolfgang Meck: Vom naturwissenschaftlichen Wirkprinzip zur Prinziplösung –ein Schritt beim technischen Entwickeln. In: Die Technik. Heft 11/1979, S. 566)

technische Lösung

KonkretisierungZunahme von Lösungsmöglich-keiten⇒ Bewertung

(1) Warum (eigentlich nur) „Naturwissen“? (Ia)

Page 10: Technikverständnis – Eine unendliche Geschichte?

1

Vom (abstrakten) naturwissenschaftlichen Wirkprinzip zur technischen Prinziplösung und (konkreten) Lösung: Singularität

Natureffekt (naturwissenschaftlich beschreibbar)

Wirkprinzip

Prinziplösung

technische Lösung

KonkretisierungSpezifizierung

Ausschluss von Lösungsmöglich-keiten⇒ Bewertung

Technikverständnis – Eine unendliche Geschichte?

24.02.2015 Professor Dr. Gerhard Banse 10

Zeit!! Geld!!

(1) Warum (eigentlich nur) „Naturwissen“? (Ib)

Page 11: Technikverständnis – Eine unendliche Geschichte?

Technikverständnis – Eine unendliche Geschichte?

24.02.2015 Professor Dr. Gerhard Banse 11

(1) Warum (eigentlich nur) „Naturwissen“? (IIa)

„Allein, wer nur mit allgemeinen Prinzipien ausgerüstet die praktische Arena betritt, gleicht einem Schiffe, das zwar mit einem Steuerruder, aber weder mit Segelwerk noch mit einer treibenden Maschine versehen ist. Der Erfolg der Fahrt ist nicht zweifelhaft. Mit den Prinzipien der Mechanik erfindet man keine Maschine, denn dazu gehört, nebst dem Erfindungstalent, eine genaue Kenntnis des mechanischen Prozesses, welchem die Maschine dienen soll. Mit den Prinzipien der Mechanik bringt man [aber] keinen Entwurf einer Maschine zu Stande, denn dazu gehört [zusätzlich] Zusammensetzungssinn, Anordnungssinn und Formensinn. Mit den Prinzipien der Mechanik kann man keine Maschine wirklich ausführen, denn dazu gehören praktische Kenntnisse der zu verarbeitenden Materialien und eine Gewandtheit in der Handhabung der Werkzeuge und Behandlung der Hülfsmaschinen. Mit den Prinzipien der Mechanik betreibt man kein industrielles Geschäft, denn dazu gehört eine charakterkräftige Persönlichkeit und gehören commercielle Geschäftskenntnisse.“ (Redtenbacher, Ferdinand: Resultate für den Maschinenbau [1848]. 3., erw. Aufl. Vorrede zur ersten Auflage. Mannheim 1856, S. Vf.; H.d.V. – GB)

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Technikverständnis – Eine unendliche Geschichte?

24.02.2015 Professor Dr. Gerhard Banse 12

(1) Warum (eigentlich nur) „Naturwissen“? (IIb)

„Unter Technik werden wir die historisch bestimmte Gesamtheit der Naturdinge und -prozesse verstehen, die die Menschen auf einer bestimmten Stufe ihrer Entwicklung auf der Grundlage objektiv gegebener Möglichkeiten in einer solchen Kombination, Bemessung, Gestalt bzw. Form setzen und ständig reproduzieren, daß die Eigenschaften dieser Dinge und Prozesse den menschlichen Zwecken gemäß wirken.“ (Müller, Johannes: Über das Wesen konstruktiver Aufgaben in der Technik. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, H. 9/1965, S. 1095; H.d.V. – G.B.) Technik ist stets Einheit von naturalen, humanen und sozialen

Komponenten

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Technikverständnis – Eine unendliche Geschichte?

24.02.2015 Professor Dr. Gerhard Banse 13

(1) Warum (eigentlich nur) „Naturwissen“? (IIc)

Dimension der Technik Typische Probleme

Natural naturgesetzliche Grundlagen technischer Sachsysteme Aufbau („Bemessung, Gestalt bzw. Form“) und „Verhalten“ technischer Sachsysteme Verhältnis zwischen technischem Sachsystem und natürlicher Umwelt

Human technische Sachsysteme als Ergebnisse und Mittel der Arbeit bzw. des Handelns Interaktion zwischen technischem Sachsystem und menschlichem Organismus (mental/physisch, psychisch) Akzeptanz/Akzeptabilität kulturelle „Anschlussfähigkeit“ „Schönheit“ der technischen Sachsysteme

Sozial Technik als Produktivkraft und als Mittel der Bedürfnisbefriedigung („embedded systems“) gesellschaftliche Zusammenhänge der Technik-Herstellung und –Verwendung (Technisierung) „Verstaatlichung“ der Technik und „Technisierung“ des Staates Technikvisionen und „Technikzukünfte“ Technik im Wandel der Zeit (technischer Wandel)

(verändert/ergänzt nach Ropohl, Günter: Eine Systemtheorie der Technik. Zur Grundlegung der Allgemeinen Technologie. München/Wien 1979, S. 32)

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Technikverständnis – Eine unendliche Geschichte?

Die Verwendung des Wortes „Anwendung“ verdeckt die Tatsache, dass das „Nutzen“ von (natur-, sozial-, wirtschafts- u.a. -wissenschaftlichen) Wissen für das Lösen technikrelevanter Probleme kein trivialer, sondern ein kreativer Prozess ist. Belege:

1. Geschichte der Technik z.B. Dieselmotor 2. Innovationsprozesse

- „Europäisches Paradoxon“; - Kernfusion – Deuterium-Tritium-Fusionsreaktor

(Forschungszentrum Cadarache im Süden Frankreichs): Baubeginn 2008, Betriebsaufnahme nicht vor 2018, erstes reguläres

Fusionskraftwerk evtl. nach 2060.

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(2) Was bedeutet („meint“) Anwendung? (I)

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Technikverständnis – Eine unendliche Geschichte?

3. Hemmnisse - ethisch-soziologische, ökonomische und Ressourcen-Schwelle (Reichel, Rudolf: Zu einigen Entstehungsbedingungen und Gesetzmäßigkeiten

der Ausbreitung komplexer Neuerungsprozesse in der Volkswirtschaft. In: Mitteilungen zu wissenschaftsökonomischen Untersuchungen der Hochschule für Ökonomie Berlin, Heft 1/1981)

- Wissens-, Methoden-, Kommunikations- und Machtbarriere (Schade, Diethard: Technikbewertung und Produktfolgenabschätzung.

Möglichkeiten und Grenzen. In: VDI (Hg.): Integrierter Umweltschutz. Ingenieurkonzepte für eine umweltverträgliche Technikgestaltung. Düsseldorf 1991, S. 25ff.)

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(2) Was bedeutet („meint“) Anwendung? (II)

Page 16: Technikverständnis – Eine unendliche Geschichte?

Technikverständnis – Eine unendliche Geschichte?

4. (zielbezogene) Wissensintegration / Wissenssynthese - „Zusammenführung“ heterogener Wissensbestände (etwa hinsichtlich

Gewinnung, Begründung und Darstellung) - Es werden „vor allem solche Bestandteile externen Wissens integriert

[…], die dem Grundkonzept der technischen Realisierbarkeit gedanklicher Entwürfe größeren Erfolg verheißen.“

(Jobst, Eberhard: Technikwissenschaften – Wissensintegration – Interdisziplinäre Technikforschung. Frankfurt am Main 1995)

- „Herstellung und Einsatz von Technik ist stets ein Ordnungsprozeß, in dem der Mensch durch wohlüberlegtes, zielstrebiges Handeln aus den vielfältigen Möglichkeiten der von ihm vorgefundenen Situation eine Möglichkeit realisiert.“

(Müller, Johannes: Arbeitsmethoden der Technikwissenschaften. Systematik, Heuristik, Kreativität. Berlin u.a. 1990, S. 5)

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(2) Was bedeutet („meint“) Anwendung? (III)

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Technikverständnis – Eine unendliche Geschichte?

5. Technikbewertung Ausgangspunkt: Technik muss/soll „zweckmäßig“ und „optimal“ sein!

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Bedeutsamkeit von 1. Wert-Päferenzen bzw. Wert-Hierarchien 2. Konkurrenzbeziehungen 3. Operationalisierung /

Operationalisierbarkeit von Werten

(aus: VDI-Richtlinie 3780 „Technikbewertung – Begriffe und Grundlagen“. Düsseldorf 1991)

(2) Was bedeutet („meint“) Anwendung? (IV)

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Technikverständnis – Eine unendliche Geschichte?

6. wissenschaftstheoretische Erörterungen [(Wie) Lassen sich pragmatische Statements aus einer deduktiv-nomologischen Erklärung als „Übergang“ vom Wissen zum Handeln ableiten?] - praktischer Syllogismus (Georg Henrik von Wright); - methodische Regel / operationale Voraussagen (Mario Bunge); - „praktische Idee“ (Helge Wendt); - technologische Regel (Klaus Kornwachs; Armin Grunwald;

niederländische „Schule“); - Abduktion (Christoph Hubig). - Bedingungen der Möglichkeit von Kreativität.

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(2) Was bedeutet („meint“) Anwendung? (V)

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Technikverständnis – Eine unendliche Geschichte…

1. Technik ist nicht auf „angewandte Naturwissenschaft“ reduzierbar! 2. Technik basiert (kognitiv) auf technischem Wissen (Erfahrung) sowie

Wissenselementen vor allem der Technikwissenschaften, aber auch der Natur-, Wirtschafts-, Sozial- und Geisteswissenschaften.

3. Vereinseitigende, verabsolutierende, idealisierende oder „reduktionistische“ Auffassungen (auch „wohlgemeinte“!) werden weder

- der Vielgestaltigkeit / Differenziertheit der Technik noch - ihrem Platz in der „Lebenswelt“ gerecht.

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Fazit (I)

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Technikverständnis – Eine unendliche Geschichte…

4. „Das szientifische Paradigma reduziert Technik […] auf angewandte Naturwissenschaft […]. Diesem Technikverständnis […] erschienen die Naturwissenschaften als die verbindende Grundlage, die gewissermaßen die Rolle der allgemeinen Disziplin spielte […]

Das technologische Paradigma [hatte] Beckmann als eigenständige, fachübergreifende Wissenschaft von Arbeit und Technik in Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft begründet“.

(Ropohl, Günter: Allgemeine Technologie als Grundlage für ein umfassendes Technikverständnis. In: Banse, Gerhard (Hg.): Allgemeine Technologie zwischen Aufklärung und Metatheorie. Berlin 1997, S. 112)

5. Eine zeitgemäße technische Allgemeinbildung kann nur in einem eigenständigen Unterrichtsfach mit einer klaren begrifflich-konzep-tionellen Grundlage (Grundlegung) erfolgen.

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Fazit (II)