rogers1980a

4
5 Sechs Vigneen Am meisten lerne ich gewöhn- lich aus kleinen, aber intensiven Erlebnissen, die Licht auf bestimmte Aspekte meines Tuns werfen. Sie veranschaulichen in lebendiger Weise manche der abstrakteren Konzepte des perso- nenzentrierten Ansatzes. Häufig schreibe ich sie nieder, um sie als Erinnerung aufzubewahren oder um sie den Mitbeteiligten zur Verfügung zu stellen. Sechs solche Erlebnisse habe ich hier aufgezeichnet, die zwar untereinander sehr verschieden sind, von denen aberjedes eine bestimmte Idee oder Ideen veranschaulicht. Es sind lauter wahre Geschichten, dennoch haben sie auch märchenhafte Elemente an sich. Jede war und ist für mein eigenes Wachstum bzw. für mein Vertrauen in mein eigenes Tun überaus wertvoll. Im Mittelpunkt der ersten Geschichte, »Ich begann, mich zu verlieren«, steht der Brief einerjungen Frau, die ihre Erhrun- gen in der Therapie beschreibt. Ich kenne weder die junge Frau noch ihren Therapeuten. Aber ihr Bericht enthält in einem einzigen Brief eine ganze Fundgrube von Erkenntnissen über die Einzeltherapie. »Die Höhle« ist ein ungemein persönlicher Bericht darüber, wie sich das Erlebnis der inneren Leere zu einem bereichernden und beglückenden Erlebnis wandeln kann, wenn es angenom- men wird. Dieser ebenfalls in Briefform gehaltene Bericht bezieht sich auch auf eine therapeutische Einzelbeziehung. »Nancy trauert« berichtet über einen Vorfall, der in meinem Gedächtnis immer lebendig bleiben wird und in den meine Tochter und Nancy und mehrere andere Teilnehmer eines großen personenzentrierten Workshops verwickelt waren, der der Förde- rung persönlichen Wachstums und dem Aufbau einer Gemein- schaft dienen sollte. »Zusammen sein« ist ein besonders gut dokumentierter Bericht über die langfristigen Wirkungen einer Encounter- Gruppe. Ich habe kürzlich mit Kollegen über die vielfältigen Belege gesprochen, die wir in Form von persönlichen Briefen und Kontakten besitzen und die ein Licht auf die oft sehr nachhalti- 108 gen Wirkungen selbst von Wochenendgruppen werfen. Hier handelt es sich um einen Fall, bei dem diese Wirkungen anhand einer Reihe von »Schnappschüssen« vorgeführt werden können, beginnend mit der ursprünglichen Erfahrung einer Workshop- Teilnehmerin bis hin zu einem Brief, den ich neun Jahre später von ihr erhielt. »Der Wachmann« ist eines von mehreren faszinierenden Bei- spielen für die Energien, die beim Aufbau einer Gemeinschaft erzeugt werden. Wir beeinflussen Menschen, die gar nicht in unmittelbarem Kontakt zu dem Workshop stehen, in uns noch unbekannter Weise. Die Geschichte »Der Wachmann« ist ein eindeutiges Beispiel dieses Einflusses. »Ein Workshop für Kinder« führt uns in die harte Realität zurück. Abgesehen von dem aufschlußreichen Bericht, wie Kin- der auf ein personenzentriertes Klima reagieren, kommt darin klar der erschreckende Widerstand zum Ausdruck, der sichjeder Lebensform in den Weg stellt, welche die Konventionen und insbesondere die etablierten Machtstrukturen bedroht. Für mich ist dieses Kapitel wie ein frischer Blumenstrauß in verschiedenen Farben und Aromen. Er setzt sich aus all den verschiedenen Bereichen zusammen, die wir in diesem Buch berühren: die Merkmale einer persönlichen Beziehung, das innere Erlebnis der Veränderung, die Auswirkungen einer inten- siven Gruppenerfahrung, die therapeutische Funktion der Gemeinschaft, die Lichtstrahlen, die von einem Workshop ausge- hen und die Dinge auf unerwartete Weise erhellen. Beim Pflük- ken dieses Straußes bin ich durch den ganzen Garten gewandert. Diesen im Laufe vieler Jahre gepflückten Strauß, der mir viel Freude bereitet hat, überreiche ich Ihnen jetzt. 1. » Ich begann, mich zu verlieren« Lieber Herr Dr. Rogers, ich weiß nicht, wie ich Ihnen erklären soll, wer ich bin, oder warum ich Ihnen schreibe. Lassen Sie mich so viel sagen, daß ich gerade Ihr Buch Die Entwicklung der Persönlichkeit gelesen habe und daß es einen großen Eindruck auf mich machte. Ich habe es eines Tages zufällig in die Hand bekommen und begonnen, es zu lesen. Dies ist ein merkwürdiges Zusammentreffen, denn ich 109

Upload: personzentriert

Post on 12-Aug-2015

97 views

Category:

Documents


1 download

TRANSCRIPT

Page 1: Rogers1980a

5 Sechs Vignetten

Am meisten lerne ich gewöhn­lich aus kleinen, aber intensiven Erlebnissen, die Licht auf bestimmte Aspekte meines Tuns werfen. Sie veranschaulichen in lebendiger Weise manche der abstrakteren Konzepte des perso­nenzentrierten Ansatzes. Häufig schreibe ich sie nieder, um sie als Erinnerung aufzubewahren oder um sie den Mitbeteiligten zur Verfügung zu stellen. Sechs solche Erlebnisse habe ich hier aufgezeichnet, die zwar untereinander sehr verschieden sind, von denen aber jedes eine bestimmte Idee oder Ideen veranschaulicht. Es sind lauter wahre Geschichten, dennoch haben sie auch märchenhafte Elemente an sich. Jede war und ist für mein eigenes Wachstum bzw. für mein Vertrauen in mein eigenes Tun überaus wertvoll.

Im Mittelpunkt der ersten Geschichte, »Ich begann, mich zu verlieren«, steht der Brief einer jungen Frau, die ihre Erfahrun­gen in der Therapie beschreibt. Ich kenne weder die junge Frau noch ihren Therapeuten. Aber ihr Bericht enthält in einem einzigen Brief eine ganze Fundgrube von Erkenntnissen über die Einzeltherapie.

»Die Höhle« ist ein ungemein persönlicher Bericht darüber,wie sich das Erlebnis der inneren Leere zu einem bereichernden und beglückenden Erlebnis wandeln kann, wenn es angenom­men wird. Dieser ebenfalls in Briefform gehaltene Bericht bezieht sich auch auf eine therapeutische Einzelbeziehung.

»Nancy trauert« berichtet über einen Vorfall, der in meinemGedächtnis immer lebendig bleiben wird und in den meine Tochter und N ancy und mehrere andere Teilnehmer eines großen personenzentrierten Workshops verwickelt waren, der der Förde­rung persönlichen Wachstums und dem Aufbau einer Gemein­schaft dienen sollte.

»Zusammen sein« ist ein besonders gut dokumentierterBericht über die langfristigen Wirkungen einer Encounter­Gruppe. Ich habe kürzlich mit Kollegen über die vielfältigen Belege gesprochen, die wir in Form von persönlichen Briefen und Kontakten besitzen und die ein Licht auf die oft sehr nachhalti-

108

gen Wirkungen selbst von Wochenendgruppen werfen. Hier handelt es sich um einen Fall, bei dem diese Wirkungen anhand einer Reihe von »Schnappschüssen« vorgeführt werden können, beginnend mit der ursprünglichen Erfahrung einer Workshop­Teilnehmerin bis hin zu einem Brief, den ich neun Jahre später von ihr erhielt.

»Der Wachmann« ist eines von mehreren faszinierenden Bei­spielen für die Energien, die beim Aufbau einer Gemeinschaft erzeugt werden. Wir beeinflussen Menschen, die gar nicht in unmittelbarem Kontakt zu dem Workshop stehen, in uns noch unbekannter Weise. Die Geschichte »Der Wachmann« ist ein eindeutiges Beispiel dieses Einflusses.

»Ein Workshop für Kinder« führt uns in die harte Realitätzurück. Abgesehen von dem aufschlußreichen Bericht, wie Kin­der auf ein personenzentriertes Klima reagieren, kommt darin klar der erschreckende Widerstand zum Ausdruck, der sichjeder Lebensform in den Weg stellt, welche die Konventionen und insbesondere die etablierten Machtstrukturen bedroht.

Für mich ist dieses Kapitel wie ein frischer Blumenstrauß in verschiedenen Farben und Aromen. Er setzt sich aus all den verschiedenen Bereichen zusammen, die wir in diesem Buch berühren: die Merkmale einer persönlichen Beziehung, das innere Erlebnis der Veränderung, die Auswirkungen einer inten­siven Gruppenerfahrung, die therapeutische Funktion der Gemeinschaft, die Lichtstrahlen, die von einem Workshop ausge­hen und die Dinge auf unerwartete Weise erhellen. Beim Pflük­ken dieses Straußes bin ich durch den ganzen Garten gewandert. Diesen im Laufe vieler Jahre gepflückten Strauß, der mir viel Freude bereitet hat, überreiche ich Ihnen jetzt.

1. » Ich begann, mich zu verlieren«

Lieber Herr Dr. Rogers, ich weiß nicht, wie ich Ihnen erklären soll, wer ich bin, oder warum ich Ihnen schreibe. Lassen Sie mich so viel sagen, daß ich gerade Ihr Buch Die Entwicklung der Persönlichkeit gelesen habe und daß es einen großen Eindruck auf mich machte. Ich habe es eines Tages zufällig in die Hand bekommen und begonnen, es zu lesen. Dies ist ein merkwürdiges Zusammentreffen, denn ich

109

Page 2: Rogers1980a

brauche im Augenblick etwas, das mir hilft, mich selbst zu

finden. Ich habe das Gefühl, daß ich nicht viel für andere tun

kann, solange ich mich nicht gefunden habe.

Ich glaube, daß ich mich zu verlieren begann, als ich noch in der

High School war. Ich wollte immer einen Beruf ergreifen, der mir

Gelegenheit geben würde, Menschen zu helfen, aber meine

Familie sträubte sich dagegen und ich dachte, sie müßten wohl

recht haben. Vier oder fünf Jahre lang ging alles glatt, zumindest

für die anderen, bis vor etwa zwei Jahren. Ich lernte einen jungen

Mann kennen, der mir ideal erschien. Aber vor etwa einem Jahr

sah ich mir unsere Beziehung etwas genauer an und erkannte,

daß ich genau so war, wie er mich haben wollte und nicht so, wie

ich eigentlich bin. Ich bin immer temperamentvoll gewesen und

hatte starke Gefühle. Ich konnte sie nie auseinanderhalten und

identifizieren. Mein Verlobter sagte immer zu mir, ich sei eben

einfach verrückt oder einfach glücklich, und ich stimmte ihm zu

und beließ es dabei. Dann, als ich mir unsere Beziehung einmal

näher anschaute, wurde mir bewußt, daß ich wütend war, weil ich

nicht meinen wahren Gefühlen folgte.

Ich zog mich vorsichtig aus dieser Beziehung zurück und

versuchte herauszufinden, wo all die Stücke geblieben waren, die

ich verloren hatte. Nach einigen Monaten des Suchens wurde mir

klar, daß da viele Stücke waren, mit denen ich nichts anzufangen

wußte und die ich nicht einordnen konnte. Ich begab mich zu

einem Psychologen in Behandlung und gehe auch jetzt noch

dorthin. Er hat mir geholfen, Teile von mir zu entdecken, von

denen ich nichts gewußt hatte. Manche Teile sind nach den

Maßstäben unserer Gesellschaft schlecht, aber ich habe entdeckt,

daß sie für mich sehr gut sind. Seit ich bei ihm in Behandlung bin,

fühle ich mich einerseits bedrohter und verwirrter, andererseits

aber auch erleichtert und selbstsicherer.

Ich erinnere mich insbesondere an einen bestimmten Abend.

Ich hatte an diesem Tag wie üblich meine Sitzung bei dem

Psychologen gehabt und war mit einem Gefühl der Verärgerung

nach Hause gekommen. Ich war ärgerlich, weil ich über etwas

hatte reden wollen, aber nicht daraufkam, was es war. Gegen

acht Uhr abends war ich so erregt, daß ich Angst bekam. Ich rief

ihn an, und er sagte, ich solle so bald wie möglich zu ihm in die

Praxis kommen. Als ich bei ihm war, weinte ich mindestens eine

110

Stunde lang, und dann kamen die Worte. Ich weiß immer noch

nicht, was ich alles sagte. Das einzige, was ich weiß, ist, daß so viel

Schmerz und Zorn aus mir herausbrachen, von deren Existenz ich

gar nichts gewußt hatte. Ich ging nach Hause und es schien mir,

als ob ein Fremder von mir Besitz ergriffen hätte und als ob ich

halluzinierte, wie die Patienten, die ich im psychiatrischen

Krankenhaus gesehen habe. Ich fühlte mich auch weiterhin so,

bis mir eines Abends, als ich so dasaß und nachdachte, klar

wurde, daß dieser Fremde jenes Ich war, nach dem ich gesucht

hatte.

Ich habe bemerkt, daß mir die Menschen seit jenem Abend

nicht mehr so fremd erscheinen. Es kommt mir so vor, als beginne

das Leben eben erst für mich. Ich bin im Augenblick allein, aber

ich habe keine Angst, und ich muß auch nicht immer etwas tun.

Es gefällt mir, mich kennenzulernen und mich mit meinen

Gedanken und Gefühlen anzufreunden. Und darum habe ich

auch gelernt, mich über andere Menschen zu freuen. Insbeson­

dere ein älterer Mann, der sehr krank ist, gibt mir das Gefühl,

sehr lebendig zu sein. Er akzeptiert jeden. Vor einigen Tagen

sagte er zu mir, ich hätte mich sehr verändert. Er findet, ich hätte

begonnen, mich zu öffnen und zu lieben. Ich glaube, daß ich die

Menschen immer geliebt habe, und ich sagte ihm das. Er antwor­

tete: » Haben sie das gemerkt?« Ich glaube, ich habe meine Liebe

ebensowenig gezeigt wie meinen Zorn und meinen Schmerz.

Unter anderem wird mir jetzt bewußt, daß ich nie allzuviel

Selbstachtung hatte. Und jetzt, da ich lerne, mich wirklich zu

mögen, finde ich endlich Frieden in mir selbst. Ich danke Ihnen

für den Anteil, den Sie daran haben.

Lassen Sie mich em1ge der zentralen Sätze paraphrasieren,

welche die in diesem Brief geäußerten Gefühle und Einstellun­

gen besonders gut zusammenfassen. Anhand dieser Aussagen

werde ich versuchen, eine allgemeine Erklärung des Persönlich­

keitswachstums und psychischer Veränderung zu geben.

Ich habe mich verloren. Die junge Frau leugnete ihre eigenen

Erlebnisse und deren Bedeutung, und sie entwickelte ein Selbst,

das sich von ihrem wahren, erlebten Selbst unterschied; dieses

wurde ihr immer unbekannter.

Meine Erfahrung sagte mir, welchen Beruf ich ergreifen wollte,

111

Page 3: Rogers1980a

aber meine Familie zeigte mir, daß ich meinen eigenen Gefühlen

nicht vertrauen konnte. Dieser Satz macht deutlich, wie ein falsches Selbstkonzept aufgebaut wurde. Weil sie die Deutungen ihrer Eltern als ihre eigene Erfahrung akzeptierte, begann sie schließlich, ihrem eigenen organismischen Erleben zu miß­trauen. Sie wäre kaum imstande gewesen, die Wertvorstellungen ihrer Eltern in diesem Bereich zu introjizieren, wenn sie nicht auf eine lange Erfahrung des Introjizierens der elterlichen Werte hätte zurückgreifen können. Je mehr sie ihren eigenen Erfahrun­gen mißtraute, desto mehr nahm ihr Selbstwertgefühl ab, bis sie schließlich mit ihrem eigenen Erleben wie auch mit sich selbst kaum mehr etwas anfangen konnte.

Alles ging glatt, zumindest für die anderen. Was für eine enthüllende Aussage! Natürlich war für diejenigen, die sie zu erfreuen suchte, alles in bester Ordnung. Dieses Pseudo-Selbst war genau das, was sie wollten. Nur in ihrem eigenen Inneren, in einer tiefen und unbekannten Schicht, blieb ein vages Mißbe­hagen.

Ich war genau so, wie er mich haben wollte. Auch hier ließ sie ihr ganzes eigenes Erleben nicht ins Bewußtsein dringen - bis zu dem Punkt, an dem sie kein eigenes Selbst mehr hatte, sondern ein Selbst zu sein versuchte, das ein anderer sich wünschte.

Schließlich rebellierte mein Organismus, und ich versuchte,

mich wiederzufinden, aber ohne Hilfe schaffte ich es nicht. Warum rebellierte sie schließlich und schaute sich die Beziehung zu ihrem Verlobten näher an? Man kann diese Rebellion nur der Selbstverwirklichungstendenz zuschreiben, die so lange unter­drückt gewesen war, sich aber schließlich doch durchsetzte. Weil sie ihrem eigenen Erleben jedoch so lange Zeit mißtraut hatte und weil das Selbst, nach dem sie lebte, in so krassem Gegensatz zu den Erfahrungen ihres Organismus stand, konnte sie ihr wahres Selbst nicht ohne fremde Hilfe rekonstruieren. In Fällen, wo eine so große Diskrepanz besteht, ist oft Hilfe von außen nötig.

Jetzt entdecke ich meine Erfahrungen - von denen manche in

den Augen der Gesellschaft, meiner Eltern und meines Freundes

schlecht sind, während ich sie für mich alle gut finde. Den Ort der Bewertung, der früher in ihren Eltern, ihrem Freund und ande­ren gelegen hatte, verlegt sie jetzt wieder in sich zurück. Sie ist jetzt die Instanz, die über den Wert ihrer Erfahrungen entschei-

112

det. Sie ist das Zentrum des Bewertungsprozesses, und das Beweismaterial wird von ihren eigenen Sinnen geliefert. Die Gesellschaft mag eine bestimmte Erfahrung als schlecht bezeich­nen, aber wenn sie ihrer eigenen Bewertung vertraut, stellt sie fest, daß sie für sie selbst lohnend und bedeutsam ist.

Ein entscheidender Wendepunkt trat ein, als eine Flut von

Erfahrungen, die ich aus dem Bewußtsein verbannt hatte, an die

Oberfläche drängten. Ich war verwirrt und hatte Angst. Wenn sich verleugnete Erlebnisse und Empfindungen der Bewußtseins­schwelle nähern, löst dies immer Angst aus, weil diese bisher uneingestandenen Erfahrungen Bedeutungen haben, die die Struktur des Selbst verändern, nach dem man gelebt hat. Jede drastische Veränderung des Selbstkonzepts ist ein bedrohliches und erschreckendes Erlebnis. Dieser Bedrohung war sich die junge Frau vage bewußt, obwohl sie noch nicht wußte, was dabei herauskommen würde.

Als die verleugneten Erlebnisse und Gefühle den Damm durch­

brachen, entpuppten sie sich als Verletzungen und Aggressionen,

die mir überhaupt nicht bewußt gewesen waren. Für die meisten Menschen ist es völlig unvorstellbar, wie total ein Erlebnis aus dem Bewußtsein verdrängt werden kann, bis es schließlich ins Bewußtsein durchbricht. Jeder Mensch ist imstande, diejenigen Erlebnisse und Gefühle zu verdrängen und zu leugnen, die sein Selbstkonzept gefährden würden.

Ich dachte, ich sei wahnsinnig geworden, weil eine fremde

Person von mir Besitz ergriffen hatte. Wenn sich das Selbstkon­zept so drastisch verändert, daß Teile davon völlig zerstört werden, dann ist dies eine sehr erschreckende Erfahrung; die Beschreibung des Gefühls, daß eine Fremde die Führung über­nommen hätte, ist deshalb überaus zutreffend.

Nur allmählich erkannte ich, daß diese Fremde mein wahres

Ich ist. Was die junge Frau entdeckte, war, daß das unterwürfige, fügsame Selbst, nach dem sie gelebt hatte, das Selbst, das sich von den Äußerungen, Einstellungen und Erwartungen anderer lenken ließ, nicht mehr das ihre war. Ihr neues Selbst, das ihr zunächst so fremd erschien, war ein Selbst, das Kränkungen und Wut erlebte und das Gefühle empfand, die die Gesellschaft als schlecht verteufelt, das wilde Halluzinationen erlebte - und Liebe. Wenn sie ihre Selbsterforschung fortsetzt, wird sie wahr-

113

Page 4: Rogers1980a

scheinlich entdecken, daß sich ein Teil ihrer Wut gegen ihre

Eltern richtet. Die Verletzungen werden verschiedene Ursprün­

ge haben; manche der Gefühle und Erlebnisse, welche die Gesell­

schaft als schlecht abtut, die sie aber als gut und befriedigend

empfindet, haben vermutlich mit Sexualität zu tun. Auf jeden

Fall wurzelt ihr Selbst jetzt tiefer in Erfahrungen auf der

Körperebene. Jemand hat folgende Formulierung dafür gefun­

den: » Ich fange an, mir von meinem Erleben sagen zu lassen, was

es bedeutet, statt wie bisher zu versuchen, ihm eine Bedeutung

aufzupfropfen. « Je fester das Selbstkonzept des Individuums in

den spontan empfundenen Bedeutungen seines Erlebens verwur­

zelt ist, um so integrierter ist es als Person.

Es gefällt mir, mich kennenzulernen und mich mit meinen

Gedanken und Gefühlen anzufreunden. Jetzt erwacht die Selbst­

achtung der jungen Frau, und sie kann sich selbst annehmen,

etwas, das ihr so lange versagt geblieben war. Sie empfindet

sogar Zuneigung für sich selbst. Eine der kuriosen aber häufig zu

beobachtenden Nebenwirkungen einer solchen Veränderung ist,

daß sie nunmehr fähig sein wird, anderen mehr von sich zu geben,

sich mehr über andere zu freuen und echtes Interesse für sie zu

entwickeln.

Ich habe begonnen, mich zu öffnen und zu lieben. Sie wird

feststellen, daß sie, je offener sie ihre Liebe zeigt, um so offener

auch ihre Wut und ihre Verletzungen, ihre Vorlieben, ihre

Abneigungen und ihre »wilden« Gedanken und Gefühle (die sich

als schöpferische Impulse erweisen werden) äußern kann. Sie

befindet sich in einem Prozeß der Veränderung von einem

Zustand psychischer Fehlanpassung in eine viel gesündere

Beziehung zu anderen und zur Realität überhaupt.

Endlich finde ich Frieden in mir selbst. Es gibt einem ein

Gefühl friedlicher Harmonie, ein ganzer Mensch zu sein, aber es

wäre ein Irrtum anzunehmen, daß diese Reaktion unverändert

fortdauern wird. Statt dessen wird die junge Frau, wenn sie für

ihr Erleben wirklich offen ist, noch andere verborgene Aspekte

ihres Selbst entdecken, die sie bisher aus dem Bewußtsein

verdrängt hat, und jede solche Entdeckung wird ihr Augenblicke

oder Tage des Mißbehagens und der Angst bescheren, bis sie sie

einem revidierten und sich wandelnden Bild von sich selbst

assimiliert hat. Sie wird entdecken, daß der Wachstumsprozeß,

114

der zu immer größerer Kongruenz zwischen ihrem erlebenden

Organismus und ihrem Selbstkonzept führt, ein erregendes,

manchmal verstörendes, aber niemals endendes Abenteuer ist.

2. Die Höhle. Eine therapeutische Erfahrung

Lieber Herr Dr. Rogers,

als ich diesen Briefentwurf vor dem Abtippen nochmals durchlas,

wurde mir bewußt, daß ich eine Art Monographie verfaßt habe,

deren Ton darauf hindeutet, daß ich zu einem Freund spreche.

Während ich zunächst über meine Kühnheit staunte, wird mir

bei einigem Nachdenken klar, daß es dafür gute Gründe gibt.

Was in den vergangenen drei Jahren und insbesondere im letzten

Monat mit mir passierte, ist in vieler Hinsicht Ihnen zuzuschrei­

ben. Kein Wunder, daß ich in Ihnen einen Freund sehe-und so

oft sie meine Geschichte auch schon gehört haben mögen, Sie

werden wissen, daß sie für mich etwas Einmaliges ist. Mir ist

auch klar, daß ich Ihnen eigentlich nicht viel über mich selbst

gesagt habe - über mein äußeres Selbst, sollte ich vielleicht

sagen. Das hat Zeit. Wichtig ist nur das Ereignis.

Vor etwa einem Monat, in einer Periode ziemlich starker

Feindseligkeit gegenüber meinem Therapeuten (Joe M., er hat in

Chicago bei Ihnen studiert), suchte ich mir einige Ihrer Schriften

zusammen. Ich wollte Munition für eine Breitseite gegen Joe

sammeln - nach dem Motto: »Aha! Schauen Sie her, was Ihr

Rogers sagt -wie können Sie das erklären bei meinem Zustand,

Doktor! Ihr mit eurer großartigen Normalität solltet einmal eine

Zeitlang das Leben auf der anderen Seite ausprobieren. « Es war

so etwas wie eine letzte Hoffnung in einem verlorenen Kampf -

ich fühlte, wenn ich Joe nicht durch Sie zu Fall bringen oder

bloßstellen konnte, da Sie doch sein Ausgangspunkt für alles

sind, dann könnte ich gleich aufgeben -jede andere Form des

Angriffs war an ihm abgeprallt.

Das also war meine Absicht. Aber in meinem generell ziemlich

verworrenen Leben ist nie etwas so völlig gegen meine Erwartun­

gen verlaufen, Dr. Rogers. Was ich damals empfand und immer

noch empfinde, je mehr ich von Ihrer Philosophie aufnehme, muß

jenem Erlebnis nahekommen, das man gemeinhin als Offenba­

rung bezeichnet. Statt Munition zu finden, die sich gegen Joe

115