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5 Sechs Vignetten
Am meisten lerne ich gewöhnlich aus kleinen, aber intensiven Erlebnissen, die Licht auf bestimmte Aspekte meines Tuns werfen. Sie veranschaulichen in lebendiger Weise manche der abstrakteren Konzepte des personenzentrierten Ansatzes. Häufig schreibe ich sie nieder, um sie als Erinnerung aufzubewahren oder um sie den Mitbeteiligten zur Verfügung zu stellen. Sechs solche Erlebnisse habe ich hier aufgezeichnet, die zwar untereinander sehr verschieden sind, von denen aber jedes eine bestimmte Idee oder Ideen veranschaulicht. Es sind lauter wahre Geschichten, dennoch haben sie auch märchenhafte Elemente an sich. Jede war und ist für mein eigenes Wachstum bzw. für mein Vertrauen in mein eigenes Tun überaus wertvoll.
Im Mittelpunkt der ersten Geschichte, »Ich begann, mich zu verlieren«, steht der Brief einer jungen Frau, die ihre Erfahrungen in der Therapie beschreibt. Ich kenne weder die junge Frau noch ihren Therapeuten. Aber ihr Bericht enthält in einem einzigen Brief eine ganze Fundgrube von Erkenntnissen über die Einzeltherapie.
»Die Höhle« ist ein ungemein persönlicher Bericht darüber,wie sich das Erlebnis der inneren Leere zu einem bereichernden und beglückenden Erlebnis wandeln kann, wenn es angenommen wird. Dieser ebenfalls in Briefform gehaltene Bericht bezieht sich auch auf eine therapeutische Einzelbeziehung.
»Nancy trauert« berichtet über einen Vorfall, der in meinemGedächtnis immer lebendig bleiben wird und in den meine Tochter und N ancy und mehrere andere Teilnehmer eines großen personenzentrierten Workshops verwickelt waren, der der Förderung persönlichen Wachstums und dem Aufbau einer Gemeinschaft dienen sollte.
»Zusammen sein« ist ein besonders gut dokumentierterBericht über die langfristigen Wirkungen einer EncounterGruppe. Ich habe kürzlich mit Kollegen über die vielfältigen Belege gesprochen, die wir in Form von persönlichen Briefen und Kontakten besitzen und die ein Licht auf die oft sehr nachhalti-
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gen Wirkungen selbst von Wochenendgruppen werfen. Hier handelt es sich um einen Fall, bei dem diese Wirkungen anhand einer Reihe von »Schnappschüssen« vorgeführt werden können, beginnend mit der ursprünglichen Erfahrung einer WorkshopTeilnehmerin bis hin zu einem Brief, den ich neun Jahre später von ihr erhielt.
»Der Wachmann« ist eines von mehreren faszinierenden Beispielen für die Energien, die beim Aufbau einer Gemeinschaft erzeugt werden. Wir beeinflussen Menschen, die gar nicht in unmittelbarem Kontakt zu dem Workshop stehen, in uns noch unbekannter Weise. Die Geschichte »Der Wachmann« ist ein eindeutiges Beispiel dieses Einflusses.
»Ein Workshop für Kinder« führt uns in die harte Realitätzurück. Abgesehen von dem aufschlußreichen Bericht, wie Kinder auf ein personenzentriertes Klima reagieren, kommt darin klar der erschreckende Widerstand zum Ausdruck, der sichjeder Lebensform in den Weg stellt, welche die Konventionen und insbesondere die etablierten Machtstrukturen bedroht.
Für mich ist dieses Kapitel wie ein frischer Blumenstrauß in verschiedenen Farben und Aromen. Er setzt sich aus all den verschiedenen Bereichen zusammen, die wir in diesem Buch berühren: die Merkmale einer persönlichen Beziehung, das innere Erlebnis der Veränderung, die Auswirkungen einer intensiven Gruppenerfahrung, die therapeutische Funktion der Gemeinschaft, die Lichtstrahlen, die von einem Workshop ausgehen und die Dinge auf unerwartete Weise erhellen. Beim Pflükken dieses Straußes bin ich durch den ganzen Garten gewandert. Diesen im Laufe vieler Jahre gepflückten Strauß, der mir viel Freude bereitet hat, überreiche ich Ihnen jetzt.
1. » Ich begann, mich zu verlieren«
Lieber Herr Dr. Rogers, ich weiß nicht, wie ich Ihnen erklären soll, wer ich bin, oder warum ich Ihnen schreibe. Lassen Sie mich so viel sagen, daß ich gerade Ihr Buch Die Entwicklung der Persönlichkeit gelesen habe und daß es einen großen Eindruck auf mich machte. Ich habe es eines Tages zufällig in die Hand bekommen und begonnen, es zu lesen. Dies ist ein merkwürdiges Zusammentreffen, denn ich
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brauche im Augenblick etwas, das mir hilft, mich selbst zu
finden. Ich habe das Gefühl, daß ich nicht viel für andere tun
kann, solange ich mich nicht gefunden habe.
Ich glaube, daß ich mich zu verlieren begann, als ich noch in der
High School war. Ich wollte immer einen Beruf ergreifen, der mir
Gelegenheit geben würde, Menschen zu helfen, aber meine
Familie sträubte sich dagegen und ich dachte, sie müßten wohl
recht haben. Vier oder fünf Jahre lang ging alles glatt, zumindest
für die anderen, bis vor etwa zwei Jahren. Ich lernte einen jungen
Mann kennen, der mir ideal erschien. Aber vor etwa einem Jahr
sah ich mir unsere Beziehung etwas genauer an und erkannte,
daß ich genau so war, wie er mich haben wollte und nicht so, wie
ich eigentlich bin. Ich bin immer temperamentvoll gewesen und
hatte starke Gefühle. Ich konnte sie nie auseinanderhalten und
identifizieren. Mein Verlobter sagte immer zu mir, ich sei eben
einfach verrückt oder einfach glücklich, und ich stimmte ihm zu
und beließ es dabei. Dann, als ich mir unsere Beziehung einmal
näher anschaute, wurde mir bewußt, daß ich wütend war, weil ich
nicht meinen wahren Gefühlen folgte.
Ich zog mich vorsichtig aus dieser Beziehung zurück und
versuchte herauszufinden, wo all die Stücke geblieben waren, die
ich verloren hatte. Nach einigen Monaten des Suchens wurde mir
klar, daß da viele Stücke waren, mit denen ich nichts anzufangen
wußte und die ich nicht einordnen konnte. Ich begab mich zu
einem Psychologen in Behandlung und gehe auch jetzt noch
dorthin. Er hat mir geholfen, Teile von mir zu entdecken, von
denen ich nichts gewußt hatte. Manche Teile sind nach den
Maßstäben unserer Gesellschaft schlecht, aber ich habe entdeckt,
daß sie für mich sehr gut sind. Seit ich bei ihm in Behandlung bin,
fühle ich mich einerseits bedrohter und verwirrter, andererseits
aber auch erleichtert und selbstsicherer.
Ich erinnere mich insbesondere an einen bestimmten Abend.
Ich hatte an diesem Tag wie üblich meine Sitzung bei dem
Psychologen gehabt und war mit einem Gefühl der Verärgerung
nach Hause gekommen. Ich war ärgerlich, weil ich über etwas
hatte reden wollen, aber nicht daraufkam, was es war. Gegen
acht Uhr abends war ich so erregt, daß ich Angst bekam. Ich rief
ihn an, und er sagte, ich solle so bald wie möglich zu ihm in die
Praxis kommen. Als ich bei ihm war, weinte ich mindestens eine
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Stunde lang, und dann kamen die Worte. Ich weiß immer noch
nicht, was ich alles sagte. Das einzige, was ich weiß, ist, daß so viel
Schmerz und Zorn aus mir herausbrachen, von deren Existenz ich
gar nichts gewußt hatte. Ich ging nach Hause und es schien mir,
als ob ein Fremder von mir Besitz ergriffen hätte und als ob ich
halluzinierte, wie die Patienten, die ich im psychiatrischen
Krankenhaus gesehen habe. Ich fühlte mich auch weiterhin so,
bis mir eines Abends, als ich so dasaß und nachdachte, klar
wurde, daß dieser Fremde jenes Ich war, nach dem ich gesucht
hatte.
Ich habe bemerkt, daß mir die Menschen seit jenem Abend
nicht mehr so fremd erscheinen. Es kommt mir so vor, als beginne
das Leben eben erst für mich. Ich bin im Augenblick allein, aber
ich habe keine Angst, und ich muß auch nicht immer etwas tun.
Es gefällt mir, mich kennenzulernen und mich mit meinen
Gedanken und Gefühlen anzufreunden. Und darum habe ich
auch gelernt, mich über andere Menschen zu freuen. Insbeson
dere ein älterer Mann, der sehr krank ist, gibt mir das Gefühl,
sehr lebendig zu sein. Er akzeptiert jeden. Vor einigen Tagen
sagte er zu mir, ich hätte mich sehr verändert. Er findet, ich hätte
begonnen, mich zu öffnen und zu lieben. Ich glaube, daß ich die
Menschen immer geliebt habe, und ich sagte ihm das. Er antwor
tete: » Haben sie das gemerkt?« Ich glaube, ich habe meine Liebe
ebensowenig gezeigt wie meinen Zorn und meinen Schmerz.
Unter anderem wird mir jetzt bewußt, daß ich nie allzuviel
Selbstachtung hatte. Und jetzt, da ich lerne, mich wirklich zu
mögen, finde ich endlich Frieden in mir selbst. Ich danke Ihnen
für den Anteil, den Sie daran haben.
Lassen Sie mich em1ge der zentralen Sätze paraphrasieren,
welche die in diesem Brief geäußerten Gefühle und Einstellun
gen besonders gut zusammenfassen. Anhand dieser Aussagen
werde ich versuchen, eine allgemeine Erklärung des Persönlich
keitswachstums und psychischer Veränderung zu geben.
Ich habe mich verloren. Die junge Frau leugnete ihre eigenen
Erlebnisse und deren Bedeutung, und sie entwickelte ein Selbst,
das sich von ihrem wahren, erlebten Selbst unterschied; dieses
wurde ihr immer unbekannter.
Meine Erfahrung sagte mir, welchen Beruf ich ergreifen wollte,
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aber meine Familie zeigte mir, daß ich meinen eigenen Gefühlen
nicht vertrauen konnte. Dieser Satz macht deutlich, wie ein falsches Selbstkonzept aufgebaut wurde. Weil sie die Deutungen ihrer Eltern als ihre eigene Erfahrung akzeptierte, begann sie schließlich, ihrem eigenen organismischen Erleben zu mißtrauen. Sie wäre kaum imstande gewesen, die Wertvorstellungen ihrer Eltern in diesem Bereich zu introjizieren, wenn sie nicht auf eine lange Erfahrung des Introjizierens der elterlichen Werte hätte zurückgreifen können. Je mehr sie ihren eigenen Erfahrungen mißtraute, desto mehr nahm ihr Selbstwertgefühl ab, bis sie schließlich mit ihrem eigenen Erleben wie auch mit sich selbst kaum mehr etwas anfangen konnte.
Alles ging glatt, zumindest für die anderen. Was für eine enthüllende Aussage! Natürlich war für diejenigen, die sie zu erfreuen suchte, alles in bester Ordnung. Dieses Pseudo-Selbst war genau das, was sie wollten. Nur in ihrem eigenen Inneren, in einer tiefen und unbekannten Schicht, blieb ein vages Mißbehagen.
Ich war genau so, wie er mich haben wollte. Auch hier ließ sie ihr ganzes eigenes Erleben nicht ins Bewußtsein dringen - bis zu dem Punkt, an dem sie kein eigenes Selbst mehr hatte, sondern ein Selbst zu sein versuchte, das ein anderer sich wünschte.
Schließlich rebellierte mein Organismus, und ich versuchte,
mich wiederzufinden, aber ohne Hilfe schaffte ich es nicht. Warum rebellierte sie schließlich und schaute sich die Beziehung zu ihrem Verlobten näher an? Man kann diese Rebellion nur der Selbstverwirklichungstendenz zuschreiben, die so lange unterdrückt gewesen war, sich aber schließlich doch durchsetzte. Weil sie ihrem eigenen Erleben jedoch so lange Zeit mißtraut hatte und weil das Selbst, nach dem sie lebte, in so krassem Gegensatz zu den Erfahrungen ihres Organismus stand, konnte sie ihr wahres Selbst nicht ohne fremde Hilfe rekonstruieren. In Fällen, wo eine so große Diskrepanz besteht, ist oft Hilfe von außen nötig.
Jetzt entdecke ich meine Erfahrungen - von denen manche in
den Augen der Gesellschaft, meiner Eltern und meines Freundes
schlecht sind, während ich sie für mich alle gut finde. Den Ort der Bewertung, der früher in ihren Eltern, ihrem Freund und anderen gelegen hatte, verlegt sie jetzt wieder in sich zurück. Sie ist jetzt die Instanz, die über den Wert ihrer Erfahrungen entschei-
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det. Sie ist das Zentrum des Bewertungsprozesses, und das Beweismaterial wird von ihren eigenen Sinnen geliefert. Die Gesellschaft mag eine bestimmte Erfahrung als schlecht bezeichnen, aber wenn sie ihrer eigenen Bewertung vertraut, stellt sie fest, daß sie für sie selbst lohnend und bedeutsam ist.
Ein entscheidender Wendepunkt trat ein, als eine Flut von
Erfahrungen, die ich aus dem Bewußtsein verbannt hatte, an die
Oberfläche drängten. Ich war verwirrt und hatte Angst. Wenn sich verleugnete Erlebnisse und Empfindungen der Bewußtseinsschwelle nähern, löst dies immer Angst aus, weil diese bisher uneingestandenen Erfahrungen Bedeutungen haben, die die Struktur des Selbst verändern, nach dem man gelebt hat. Jede drastische Veränderung des Selbstkonzepts ist ein bedrohliches und erschreckendes Erlebnis. Dieser Bedrohung war sich die junge Frau vage bewußt, obwohl sie noch nicht wußte, was dabei herauskommen würde.
Als die verleugneten Erlebnisse und Gefühle den Damm durch
brachen, entpuppten sie sich als Verletzungen und Aggressionen,
die mir überhaupt nicht bewußt gewesen waren. Für die meisten Menschen ist es völlig unvorstellbar, wie total ein Erlebnis aus dem Bewußtsein verdrängt werden kann, bis es schließlich ins Bewußtsein durchbricht. Jeder Mensch ist imstande, diejenigen Erlebnisse und Gefühle zu verdrängen und zu leugnen, die sein Selbstkonzept gefährden würden.
Ich dachte, ich sei wahnsinnig geworden, weil eine fremde
Person von mir Besitz ergriffen hatte. Wenn sich das Selbstkonzept so drastisch verändert, daß Teile davon völlig zerstört werden, dann ist dies eine sehr erschreckende Erfahrung; die Beschreibung des Gefühls, daß eine Fremde die Führung übernommen hätte, ist deshalb überaus zutreffend.
Nur allmählich erkannte ich, daß diese Fremde mein wahres
Ich ist. Was die junge Frau entdeckte, war, daß das unterwürfige, fügsame Selbst, nach dem sie gelebt hatte, das Selbst, das sich von den Äußerungen, Einstellungen und Erwartungen anderer lenken ließ, nicht mehr das ihre war. Ihr neues Selbst, das ihr zunächst so fremd erschien, war ein Selbst, das Kränkungen und Wut erlebte und das Gefühle empfand, die die Gesellschaft als schlecht verteufelt, das wilde Halluzinationen erlebte - und Liebe. Wenn sie ihre Selbsterforschung fortsetzt, wird sie wahr-
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scheinlich entdecken, daß sich ein Teil ihrer Wut gegen ihre
Eltern richtet. Die Verletzungen werden verschiedene Ursprün
ge haben; manche der Gefühle und Erlebnisse, welche die Gesell
schaft als schlecht abtut, die sie aber als gut und befriedigend
empfindet, haben vermutlich mit Sexualität zu tun. Auf jeden
Fall wurzelt ihr Selbst jetzt tiefer in Erfahrungen auf der
Körperebene. Jemand hat folgende Formulierung dafür gefun
den: » Ich fange an, mir von meinem Erleben sagen zu lassen, was
es bedeutet, statt wie bisher zu versuchen, ihm eine Bedeutung
aufzupfropfen. « Je fester das Selbstkonzept des Individuums in
den spontan empfundenen Bedeutungen seines Erlebens verwur
zelt ist, um so integrierter ist es als Person.
Es gefällt mir, mich kennenzulernen und mich mit meinen
Gedanken und Gefühlen anzufreunden. Jetzt erwacht die Selbst
achtung der jungen Frau, und sie kann sich selbst annehmen,
etwas, das ihr so lange versagt geblieben war. Sie empfindet
sogar Zuneigung für sich selbst. Eine der kuriosen aber häufig zu
beobachtenden Nebenwirkungen einer solchen Veränderung ist,
daß sie nunmehr fähig sein wird, anderen mehr von sich zu geben,
sich mehr über andere zu freuen und echtes Interesse für sie zu
entwickeln.
Ich habe begonnen, mich zu öffnen und zu lieben. Sie wird
feststellen, daß sie, je offener sie ihre Liebe zeigt, um so offener
auch ihre Wut und ihre Verletzungen, ihre Vorlieben, ihre
Abneigungen und ihre »wilden« Gedanken und Gefühle (die sich
als schöpferische Impulse erweisen werden) äußern kann. Sie
befindet sich in einem Prozeß der Veränderung von einem
Zustand psychischer Fehlanpassung in eine viel gesündere
Beziehung zu anderen und zur Realität überhaupt.
Endlich finde ich Frieden in mir selbst. Es gibt einem ein
Gefühl friedlicher Harmonie, ein ganzer Mensch zu sein, aber es
wäre ein Irrtum anzunehmen, daß diese Reaktion unverändert
fortdauern wird. Statt dessen wird die junge Frau, wenn sie für
ihr Erleben wirklich offen ist, noch andere verborgene Aspekte
ihres Selbst entdecken, die sie bisher aus dem Bewußtsein
verdrängt hat, und jede solche Entdeckung wird ihr Augenblicke
oder Tage des Mißbehagens und der Angst bescheren, bis sie sie
einem revidierten und sich wandelnden Bild von sich selbst
assimiliert hat. Sie wird entdecken, daß der Wachstumsprozeß,
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der zu immer größerer Kongruenz zwischen ihrem erlebenden
Organismus und ihrem Selbstkonzept führt, ein erregendes,
manchmal verstörendes, aber niemals endendes Abenteuer ist.
2. Die Höhle. Eine therapeutische Erfahrung
Lieber Herr Dr. Rogers,
als ich diesen Briefentwurf vor dem Abtippen nochmals durchlas,
wurde mir bewußt, daß ich eine Art Monographie verfaßt habe,
deren Ton darauf hindeutet, daß ich zu einem Freund spreche.
Während ich zunächst über meine Kühnheit staunte, wird mir
bei einigem Nachdenken klar, daß es dafür gute Gründe gibt.
Was in den vergangenen drei Jahren und insbesondere im letzten
Monat mit mir passierte, ist in vieler Hinsicht Ihnen zuzuschrei
ben. Kein Wunder, daß ich in Ihnen einen Freund sehe-und so
oft sie meine Geschichte auch schon gehört haben mögen, Sie
werden wissen, daß sie für mich etwas Einmaliges ist. Mir ist
auch klar, daß ich Ihnen eigentlich nicht viel über mich selbst
gesagt habe - über mein äußeres Selbst, sollte ich vielleicht
sagen. Das hat Zeit. Wichtig ist nur das Ereignis.
Vor etwa einem Monat, in einer Periode ziemlich starker
Feindseligkeit gegenüber meinem Therapeuten (Joe M., er hat in
Chicago bei Ihnen studiert), suchte ich mir einige Ihrer Schriften
zusammen. Ich wollte Munition für eine Breitseite gegen Joe
sammeln - nach dem Motto: »Aha! Schauen Sie her, was Ihr
Rogers sagt -wie können Sie das erklären bei meinem Zustand,
Doktor! Ihr mit eurer großartigen Normalität solltet einmal eine
Zeitlang das Leben auf der anderen Seite ausprobieren. « Es war
so etwas wie eine letzte Hoffnung in einem verlorenen Kampf -
ich fühlte, wenn ich Joe nicht durch Sie zu Fall bringen oder
bloßstellen konnte, da Sie doch sein Ausgangspunkt für alles
sind, dann könnte ich gleich aufgeben -jede andere Form des
Angriffs war an ihm abgeprallt.
Das also war meine Absicht. Aber in meinem generell ziemlich
verworrenen Leben ist nie etwas so völlig gegen meine Erwartun
gen verlaufen, Dr. Rogers. Was ich damals empfand und immer
noch empfinde, je mehr ich von Ihrer Philosophie aufnehme, muß
jenem Erlebnis nahekommen, das man gemeinhin als Offenba
rung bezeichnet. Statt Munition zu finden, die sich gegen Joe
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