rogers1962a

10
Die zwischenmenschliche Beziehung als Zentrum von Beratung und Therapie 1 > Carl R. Rogers In dem folgenden Aufsatz möchte ich eine Überzeugung darlegen, die aus vielen Jahren praktischer Arbeit mit Menschen erwachsen ist und durch empirische Befunde in zunehmendem Maße Bestätigung'fin- det. Sie besagt, daß in den verschiedensten Berufen, bei denen es um die Beziehung zwischen Menschen geht (Psychotherapeuten, Lehrer, Seelsorger, Berater, Sozialarbeiter, Psychologen), die Qualität der zwischenmenschlichen Beziehung zum Klienten als wichtigstes Element den Erfolg bestimmt. Ich will verdeutlichen, auf welchen persönlichen Erfahrungen diese Feststellung gründet. Ich bin vorwiegend als Berater und Psychothera- peut tätig gewesen. Im Laufe meines beruflichen Lebens habe ich an ei- ner Studentenberatungsstelle gearbeitet, mit Erwachsenen, die sich in Schwierigkeiten befanden, mit „normalen" Personen, z.B. leitenden Geschäftsleuten und neuerdings auch mit hospitalisierten psychoti- schen Personen. Ich habe mich bemüht, meine therapeutischen Erfah- rungen in Vorlesungen und Lehrgängen zu benutzen, in der Lehrerbil- dung, in der Leitung von Arbeitsgruppen sowie in der Supervision der therapeutischen Arbeit von Psychologen, Psychiatern und Sozialarbei- tern. Teilweise waren es langandauernde und intensive Beziehungen, wie etwa in der Einzeltherapie; andere waren nur von kurzer Dauer, wie z.B. mit Workshopteilnehmern oder mit Studenten, die prakti- schen Rat suchten. Meine Erfahrungen umfassen also nach ihrer Inten- sität ein breites Spektrum. Dabei bin ich allmählich zu dem Schluß gelangt, daß in all diesen Er- fahrungsbereichen die zwischenmenschliche Beziehung den Ausschlag gibt. Mit einigen dieser Personen komme ich nur kurz in Berührung, bei anderen habe ich Gelegenheit zu näherem Kennenlernen. Doch in beiden Fällen dürfte die Qualität der persönlichen Begegnung auf lange Sicht das Element sein, welches bestimmt. in welchem Maß es zu ei- nem Erleben kommt. das Entwicklungen freisetzt und Wachstum för- 1 ) Erschienen unter <le Titel „The lnterpersonal Relationship: The Core of Gui<lance, in: Harvard Educational Review. Bd. 32. Nr. 4. Herbst 1962. 103

Upload: personzentriert

Post on 12-Aug-2015

97 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

Page 1: Rogers1962a

Die zwischenmenschliche Beziehung als Zentrum von Beratung und Therapie 1 >

Carl R. Rogers

In dem folgenden Aufsatz möchte ich eine Überzeugung darlegen, die aus vielen Jahren praktischer Arbeit mit Menschen erwachsen ist und durch empirische Befunde in zunehmendem Maße Bestätigung'fin­det. Sie besagt, daß in den verschiedensten Berufen, bei denen es um die Beziehung zwischen Menschen geht (Psychotherapeuten, Lehrer, Seelsorger, Berater, Sozialarbeiter, Psychologen), die Qualität der zwischenmenschlichen Beziehung zum Klienten als wichtigstes Element den Erfolg bestimmt.

Ich will verdeutlichen, auf welchen persönlichen Erfahrungen diese Feststellung gründet. Ich bin vorwiegend als Berater und Psychothera­peut tätig gewesen. Im Laufe meines beruflichen Lebens habe ich an ei­ner Studentenberatungsstelle gearbeitet, mit Erwachsenen, die sich in Schwierigkeiten befanden, mit „normalen" Personen, z.B. leitenden Geschäftsleuten und neuerdings auch mit hospitalisierten psychoti­schen Personen. Ich habe mich bemüht, meine therapeutischen Erfah­rungen in Vorlesungen und Lehrgängen zu benutzen, in der Lehrerbil­dung, in der Leitung von Arbeitsgruppen sowie in der Supervision der therapeutischen Arbeit von Psychologen, Psychiatern und Sozialarbei­tern. Teilweise waren es langandauernde und intensive Beziehungen, wie etwa in der Einzeltherapie; andere waren nur von kurzer Dauer, wie z.B. mit Workshopteilnehmern oder mit Studenten, die prakti­schen Rat suchten. Meine Erfahrungen umfassen also nach ihrer Inten­sität ein breites Spektrum.

Dabei bin ich allmählich zu dem Schluß gelangt, daß in all diesen Er­fahrungsbereichen die zwischenmenschliche Beziehung den Ausschlag gibt. Mit einigen dieser Personen komme ich nur kurz in Berührung, bei anderen habe ich Gelegenheit zu näherem Kennenlernen. Doch in beiden Fällen dürfte die Qualität der persönlichen Begegnung auf lange Sicht das Element sein, welches bestimmt. in welchem Maß es zu ei­nem Erleben kommt. das Entwicklungen freisetzt und Wachstum för-

1) Erschienen unter <lern Titel „The lnterpersonal Relationship: The Core of Gui<lance,in: Harvard Educational Review. Bd. 32. Nr. 4. Herbst 1962.

103

Page 2: Rogers1962a

dert. Ich glaube, daß die Qualität meiner Begegnungen auf lange Sicht wichtiger ist als mein sachliches Wissen, meine berufliche Ausbildung, meine therapeutische Orientierung oder die im Gespräch angewandte Technik. In Fortsetzung dieser Gedanken vermute ich, daß auch für den Berater die Beziehung zu jedem einzelnen Studenten - mag sie nun kurz oder längerdauernd sein - wichtiger ist als die Kenntnis von Tests und Meßverfahren, als die Sorgfalt der Aufzeichnungen und als seine Theorien; wichtiger auch als die Treffsicherheit, mit der er den Studienerfolg voraussagt, oder die Schule, in der er seine Ausbildung erhielt.

Ich habe in den letzten Jahren ziemlich viel über diese Fragen nach­gedacht. Ich habe Berater und Therapeuten zu beobachten versucht, deren Ausrichtung stark von der meinigen abweicht, um zu begreifen, worauf ihre und meine Erfolge basieren. Ich habe mir die unterschied­lichsten Gesprächsaufzeichnungen angehört. Schrittweise habe ich so­dann einige theoretische Formulierungen und Hypothesen über die Grundlagen des Erfolges therapeutischer Beziehungen entwickelt. Bei der Frage, die ich mir gestellt hatte, wie nämlich Menschen, die sich in ihrer Persönlichkeitsstruktur. in ihrer Orientierung und Vorgehens­weise beträchtlich voneinander unterscheiden, in einer helfenden Be­ziehung allesamt einiges auszurichten vermögen, alle gleichermaßen bei der Förderung konstruktiven Wandels oder konstruktiver Fortent­wicklung Erfolge erzielen können, bin ich zu der Schlußfolgerung ge­kommen, dies müsse daran liegen, daß sie in die helfende Beziehung bestimmte Elemente ihrer persönlichen Einstellung einbringen. Das ist es, was nach meinem Dafürhalten den Erfolg auslöst, gleichviel. ob wir nun einen Beratungspraktiker im Auge haben, einen klinischen Psy­chologen oder einen Psychiater.

Welches sind nun diese einstellungs- oder erlebnismäßigen Elemente beim Therapeuten, die in der Beziehung ein wachstumsförderndes Kli­ma schaffen? Ich will sie so sorgfältig und so genau wie möglich schil­dern, wobei ich mir allerdings sehr wohl darüber im klaren bin, daß sich mit Worten die Qualität einer persönlichen Begegnung kaum er­fassen oder vermitteln läßt.

Kongruenz

Meine erste Hypothese besagt, daß persönliches Wachstum dann be­günstigt wird, wenn der Therapeut lebt, was er wirklich ist, wenn er in seiner Beziehung mit dem Klienten echt und ohne Fassade bleibt, also ganz offen Gefühle und Einstellungen lebt, die ihn im Augenblick be­wegen. Bei dem Versuch, diesen Zustand zu beschreiben, sind wir auf

104

den Begriff der „Kongruenz" (Übereinstimmung mit sich selbst) ge­kommen. Wir meinen damit, daß die vom Therapeuten erlebten Ge­fühle seiner bewußten Wahrnehmung zugänglich sind, daß er diese Gefühle leben und sein kann und sie - wenn angemessen - mitzutei­len vermag. Das heißt, er begibt sich in eine unmittelbare persönliche Begegnung mit seinem Klienten, indem er ihm von Mensch zu Mensch gegenübertritt. Es bedeutet, daß er gänzlich er selbst ist und sich nicht verleugnet. Niemand erreicht diesen Zustand ganz und gar, aber je mehr der Therapeut imstande ist, akzeptierend auf das zu achten, was in ihm selbst vor sich geht, und je besser er es fertigbringt, ohne Angst das zu sein, was die Vielschichtigkeit seiner Gefühle ausmacht, um so größer ist seine Konkruenz.

Meines Erachtens spüren wir diese Qualität bereits in unserem All­tagsleben. Jeder von uns hat Bekannte, die anscheinend stets aus der Deckung heraus handeln, die uns und sich selbst eine Rolle vorspielen, die dazu neigen, Dinge zu äußern. die sie gar nicht so empfinden. Was sie an den Tag legen, das ist Inkongruenz. Solchen Leuten gegenüber sind wir eher zurückhaltend. Andererseits kennt jeder von uns Men­schen, denen wir irgendwie vertrauen, weil wir spüren, daß sie stets gerade so sind, wie sie sind, und wir daher mit der Person selbst und nicht mit einer höflichen oder beruflichen Fassade zu tun haben. Von genau dieser Qualität reden wir, und die Hypothese lautet, daß die Wahrscheinlichkeit für eine Veränderung innerhalb der Persönlichkeit des Klienten um so eher besteht, je echter der Therapeut in der Bezie­hung ist und je stärker er mit sich selbst übereinstimmt.

Für diese Hypothese habe ich innerhalb der letzten Jahre bei der Ar­beit mit zufällig ausgewählten, hospitalisierten schizophrenen Patien­ten umfangreiche klinische Bestätigung gefunden. Allem Anschein nach sind jene Therapeuten in unserem Forschungsprogramm am er­folgreichsten im Umgang mit diesen unmotivierten, wenig geschulten, widerstrebenden und langfristig hospitalisierten Menschen, die in er­ster Linie „wirklich" sind, die auf eine echte menschliche Art und Wei­se als Person handeln und ihre Echtheit in der therapeutischen Bezie­hung an den Tag legen.

Man muß sich jedoch fragen, ob es stets nützlich ist, echt zu sein. Was tun, wenn man negative Gefühle hat? Wie soll sich der Therapeut verhalten, wenn er gegenüber dem Klienten Ärger. Langeweile oder Ablehnung verspürt? Meine vorläufige Antwort lautet, daß es für den Therapeuten besser ist, auch bei solchen Gefühlen, die wir ja alle hin und wieder haben, real (im Sinne von echt) zu bleiben. statt eine Fassa­de aus Interesse, Anteilnahme und Zuwendung aufzurichten, während er in Wirklichkeit gar nicht so empfindet.

105

Page 3: Rogers1962a

Ein derartiges „ Wirklichsein" zu erreichen, ist jedoch nicht einfach. Ich will damit nicht sagen, man solle mit jedem vorübergehenden Ge­fühl und jedem Vorwurf unter dem bequemen Eindruck, das sei echt. unbesonnen herausplatzen. Wirklich zu sein, schließt die für den The­rapeuten schwierige Aufgabe mit ein, mit dem Fließen des eigenen Er­lebens vertraut zu sein, diesem Fließen, das besonders durch seine Viel­schichtigkeit und seinen ständigen Wandel gekennzeichnet ist. Wenn ich daher in mir das Gefühl verspüre, daß mich mein Kontakt mit ei­nem Studenten langweilt, und diese Empfindung andauert. so bin ich es meiner Meinung nach ihm und unserer Beziehung schuldig, ihn an diesem Gefühl teilhaben zu lassen. Aber auch hier werde ich wiederum darauf aus sein, ständig Fühlung mit dem zu behalten, was in mir vor sich geht. Wenn ich das tue, werde ich erkennen, daß ich mein Gefühl der Langeweile ausdrücke, nicht aber eine Sachaussage über ihn mache (daß er etwa ein langweiliger Mensch sei). Wenn ich das als meine eige­ne Reaktion ausspreche, so liegt darin die Möglichkeit einer tieferen Beziehung. Nun steht das Gefühl in Zusammenhang mit einem kom­plexen und wechselnden Fließen. und dies muß gleichfalls vermittelt werden. Ich möchte dann auch mitteilen, wie unglücklich ich mich mit meiner Langweile fühle, und auch, wie unwohl mir dabei ist. diesen Aspekt von mir kundzutun. Wenn ich diese Einstellungen mitteile, dann finde ich, daß meine Langeweile aus einem Gefühl der Distanz zu diesem Klienten entspringt, und daß ich in engeren Kontakt mit ihm kommen will. Und gerade wenn ich diese Gefühle ausdrücke, dann än­dern sie sich. Ich langweile mich gewiß nicht, wenn ich mich ihm auf solche Weise mitzuteilen versuche, und ich bin fern von Langeweile, wenn ich aufmerksam und vielleicht ein wenig bange auf seine Ant­wort warte. Ich verspüre ihm gegenüber eine neue Sensibilität. da ich nun dieses Gefühl, das wie eine Barriere zwischen uns stand, mit ihm geteilt habe. So bin ich denn auch weitaus eher imstande, die Überra­schung oder vielleicht auch die Betroffenheit in seiner Stimme zu ent­decken, wenn er nun merkt, wie er selbst mit größerer Echtheit von sich redet. weil ich es gewagt habe, ihm gegenüber wirklich zu sein. Ich habe es zugelassen, in der Beziehung mit ihm ein Mensch zu sein -wirklich und unvollkommen.

Ich habe dieses erste Element ausführlich zu beschreiben versucht, weil ich es als eine äußerst wichtige, ja möglicherweise als die entschei­dende unter den weiterhin zu schildernden Bedingungen ansehe, aber auch, weil es weder leicht zu erfassen noch zu erreichen ist. Was dieses Konzept des Erlebens sowie sein Verhältnis zu Beratung und Therapie bedeutet. hat H. Gendlin aufs vorzüglichste zu erklären verstanden, und seine Abhandlung soll ergänzen, was ich hier zu sagen versucht habe.

106

Hoffentlich ist klar, daß die Echtheit des Beraters, die ich meine, tief und aufrichtig ist und nicht an der Oberfläche bleibt. Mitunter dachte ich, das Wort „Transparenz" könne dieses Element persönlicher Kon­gruenz beschreiben. Wenn all das, was sich in mir abspielt. und was für die Beziehung maßgeblich ist, von meinem Klienten deutlich gese­hen werden kann, er mich also »klar durchschauen« kann, und wenn ich willens bin, diese Echtheit in der Beziehung durchscheinen zu las­sen, dann kann ich mir nahezu sicher sein, daß daraus eine Begegnung wird, die tatsächlich etwas bedeutet und in der wir beide hinzulernen und uns weiterentwickeln.

Mitunter habe ich mich gefragt, ob dies wohl die einzige maßgebli­che Qualität einer therapeutischen Beziehung darstellt. Augenschein­lich sind auch andere Qualitäten von wesentlicher Bedeutung, und sie sind möglicherweise leichter zu erreichen. Aber ich möchte folgendes betonen: Wenn sie im gegebenen Augenblick der Beziehung nicht ge­nuiner Bestandteil im Erleben des Therapeuten sind, dann ist es besser, so glaube ich, daß er echt lebt, was er ist. als daß er diese anderen Qualitäten vortäuscht.

Empathie

Die zweite wesentliche Bedingung der therapeutischen Beziehung be­steht nach meiner Ansicht darin, daß der Therapeut ein präzises ein­fühlendes Verstehen für die persönliche Welt des Klienten entwickelt und daß er fähig ist. von den Fragmenten des so Verstandenen einiges Wesentliche mitzuteilen. Die innere Welt des Klienten mit ihren ganz persönlichen Bedeutungen so zu verspüren, als wäre sie die eigene (doch ohne die Qualität des „als ob" zu verlieren), das ist Empathie, und das scheint mir das Wesentliche für eine wachstumsfördernde Be­ziehung zu sein. Die Verwirrung des Klienten, seine Ängstlichkeit, sei­ne Wut oder sein Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, so zu spü­ren, als seien es die eigenen Gefühle, und sie nicht mit der eigenen Un­sicherheit. Angst oder Wut zu vermischen - das ist der Zustand, um dessen Darstellung ich mich bemühe. Wenn die Welt des Klienten dem Therapeuten klar geworden ist und er sich darin frei bewegen kann, dann ist es ihm möglich, dem Klienten sein Verständnis von dem, was diesem erst vage bewußt ist. zu vermitteln. Dann kann er auch Bedeu­tungsgehalte im Erleben des Klienten ansprechen, deren sich dieser kaum bewußt ist. Diese höchst sensible Einfühlung ist wichtig, um ei­nem Menschen zu ermöglichen, daß er sich selbst nahe kommt. daß er lernt. daß er sich verändert und entwickelt.

Ich vermute, jeder von uns hat schon die Entdeckung gemacht. wie selten diese Art von Verstehen ist. wie selten wir selbst ihm begegnen

107

Page 4: Rogers1962a

oder es anderen gegenüber aufbringen. Statt dessen zeigen wir eine an­dere Art von Verständnis, die sich von der obigen allerdings beträcht­lich unterscheidet, wie z.B.: ,,Ich sehe schon, was mit dir nicht stimmt". oder: ,,Ich begreife sehr wohL was dich dazu veranlaßt, so und so zu handeln." Das ist es, was unsereins normalerweise vorfindet und selber an den Tag legt - ein bewertendes Verstehen, das von au­ßen kommt.

Daß wir vor dem wahren Verstehen zurückscheuen, ist nicht weiter überraschend. Wenn ich für das Erleben eines anderen Menschen wirk­lich offen bin - wenn ich seine Welt in die meine aufnehmen kann-. dann laufe ich Gefahr. das Leben auf seine Weise zu sehen, selber ver­ändert zu werden, und wir alle widerstreben Veränderungen. Daher neigen wir dazu, die Welt des Anderen ausschließlich mit unseren Au­gen zu betrachten und nicht gemäß seiner Sichtweise; wir analysieren und bewerten sie, aber wir verstehen sie nicht. Doch wenn jemand ver­steht. was für ein Gefühl es ist, ich zu sein. ohne mich zu analysieren oder zu beurteilen, dann kann ich in einer solchen Atmosphäre aufblü­hen und wachsen. Mit dieser Ansicht stehe ich sicher nicht allein. Ich glaube, daß man Veränderung mit großer Wahrscheinlichkeit erwar­ten kann. wenn der Therapeut das Erleben erfassen kann. das in der in­neren Welt des Klienten von Augenblick zu Augenblick abläuft; wenn er es sieht und fühlt wie der Klient. ohne aber die Eigenständigkeit sei­ner Identität in diesem empathischen Prozeß zu verlieren.

Die Genauigkeit dieses Verstehens ist zwar sehr wichtig, jedoch ist es auch schon nützlich, wenn man die Bereitschaft zu verstehen mitteilt. Auch wenn ich mit einem verwirrten, ausdrucksunfähigen oder bizar­ren Menschen zu tun habe, nutzt es doch, wenn er mein Bemühen wahrnimmt. zu verstehen, was ihn bewegt. Hierdurch teilt sich ihm die Wertschätzung mit, die ich ihm als Menschen entgegenbringe, und es vermittelt ihm das Gefühl, daß ich seine Empfindungen und Ansichten als etwas ansehe, das wert ist. verstanden zu werden.

Keiner von uns kann ständig ein derartiges Einfühlungsvermögen aufrechterhalten, wie ich es hier zu schildern versucht habe, genauso, wie wir kaum jemals eine umfassende Kongruenz mit uns selbst errei­chen; aber man kann sich zweifellos in diese Richtung entwickeln. Dementsprechende Übungen kommen folglich auch bei der Berater­ausbildung sowie beim Sensitivitäts-Training von betrieblichem Füh­rungspersonal zum Einsatz. Solche Erfahrungen befähigen zu feinfühli­gerem Zuhören, dazu, mehr von dem unterschwelligen Sinngehalt zu erfassen, den der andere mit Worten, Gebärden und Körperhaltung

108

ausdrückt. und dazu, von innen heraus intensiver und auch freier auf die Bedeutung des jeweils Geäußerten zu reagieren.2l

Positive Wertschätzung

Nun zur dritten Bedingung. Meine Hypothese lautet hier, daß um so eher eine Weiterentwicklung eintritt. je ausgeprägter der Therapeut ei­ne warmherzige, positive und akzeptierende Haltung den Vorgängen im Klienten gegenüber einnimmt. Dies bedeutet, daß er den Klienten als Persönlichkeit schätzt. und zwar etwa mit jener Gefühlsqualität, die Eltern für ihr eigenes Kind empfinden, wenn sie es als Persönlich­keit. ungeachtet seines augenblicklichen Verhaltens, anerkennen. Es bedeutet. daß er seinen Klienten in einer nicht besitzergreifenden Wei­se, als einen Menschen voller Möglichkeiten mag. Es schließt eine offe­ne Bereitschaft für den Klienten ein, die ihm alle Gefühle gestattet. die im Augenblick in ihm vorhanden sind: Feindseligkeit und Zärtlichkeit, Auflehnung und Fügsamkeit, Selbstvertrauen und Selbstentwertung. Es bedeutet eine Art Liebe zu dem Klienten, so wie er ist; vorausge­setzt. daß wir das Wort Liebe entsprechend dem theologischen Begriff Agape verstehen und nicht in seiner romantischen oder besitzergreifen­den Bedeutung. Das Gefühl, das ich beschreibe, ist weder patriarcha­lisch noch sentimental. auch ist es nicht von einer oberflächlich-lie­benswürdigen Zuwendung. Es achtet den anderen Menschen als eigen­ständiges Individuum und ergreift nicht Besitz von ihm. Es ist eine Art der Zuneigung, die Kraft hat und die nicht fordert. Wir haben dafür den Ausdruck „positive Wertschätzung' gewählt.

Bedingungsfreie Wertschätzung

Bei dieser Einstellung gibt es einen Gesichtspunkt, dessen ich mir nicht ganz so sicher bin. Die Hypothese, die ich versuchsweise vor­bringe, lautet: Je bedingungsfreier die positive Wertschätzung, um so erfolgreicher bzw. wirkungsvoller die Beziehung. Ich meine damit, der Berater müsse den Klienten total schätzen und nicht lediglich unter be­stimmten Voraussetzungen. Er darf also beim Klienten nicht gewisse Empfindungen akzeptieren und andere wiederum ablehnen, sondern soll diesem Menschen mit einer bedingungsfreien positiven Wertschät-

2) Ich kann nur hoffen. daß die obige Darstellung der Empathie als therapeutischer Hal­tung endlich ausreichend meinen Standpunkt verdeutlicht. wonach ich keineswegs ei­

ne hölzerne Technik des Pseudoverstehens befürworte. bei welcher der Berater ledig­lich „widerspiegelt, was sein Klient soeben gesagt hat." - Ich war nicht wenig ent­

setzt über die Interpretation meines Ansatzes. wie sie sich mitunter in die Ausbildungund Fortbildung von Beratern eingeschlichen hat.

109

Page 5: Rogers1962a

zung begegnen. Dies ist ein Gefühl ohne irgendwelche Einschränkun­gen und Bewertungen und bedeutet somit, daß keinerlei Urteil über den Klienten gefällt wird. Nach meiner Überzeugung steigert das Vor­handensein einer derartigen, sich jeglichen Urteils enthaltenden Wert­schätzung in der Begegnung zwischen Therapeut bzw. Berater und Klient die Wahrscheinlichkeit konstruktiver Veränderung und Weiter­entwicklung im Klienten.

Sicher muß man kein Fachmann sein. um eine solche Einstellung zu verwirklichen. Die besten Eltern tun es im Überfluß, während es ande­re nicht tun. Ein mit mir befreundeter Therapeut, der an der Ostküste eine Privatpraxis betreibt, veranschaulicht diesen Umstand besonders gut in einem Brief über seine Erfahrungen mit Eltern:

Ich beginne zu spüren. daß der Schlüssel zum Menschen in den Einstellungen zu su­chen ist. die seine Eltern ihm gegenüber zeigten. Falls er als Kind das Glück hatte. er­wünscht zu sein von Eltern, die ihn voller Stolz so haben wollten. wie er ist. und nicht anders. dann wächst er mit entsprechendem Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen in sein Erwachsenendasein hinein, er geht selbstbewußt durchs Leben. fühlt sich stark und imstande. alles zu überwinden. was sich ihm entgegenstellt. Frmildi11 Dr. Roosevelt ist ein Beispiel dafür - wenn er zu den Leuten sprach. so tat er dies mit den Worten: .. Mei­ne Freunde ... "; er konnte sich gar nicht vorstellen. daß irgend jemand diesbezüglich hät­

te anders denken können. Beide Eltern liebten und bewunderten ihn. Er war wie jene verhätschelten Hunde. die schwanzwedelnd auf einen zugelaufen kommen, und ihre Lie­be zeigen. da solche Hunde keine Ablehnung oder Barschheit kennen - selbst wenn man ihnen einen Tritt versetzt. kommen sie. noch eifriger mit dem Schwanz wedelnd. prompt zurück. in dem Glauben, dies sei ein Spiel. von dem man noch nicht genug habe. Für solch ein Geschöpf ist es unvorstellbar. daß es jemandes Mißfallen erregen oder auf Abneigung stoßen könnte. In demselben Maße, mit dem es von bedingungsloser Wert­schätzung überhäuft wurde. vermag es nun selbst ebensoviel zu verströmen. Ein Kind. welches das Glück hat, in einer dermaßen bedingungslos akzeptierenden Atmosphäre auf­zuwachsen. wird daraus stark und selbstsicher hervorgehen und kann beherzt und zuver­sichtlich. lustvoll und in freudiger Erwartung den Wechselfällen des Lebens entgegen treten.

Doch dann gibt es die Eltern. die ihre Kinder eigentlich auch mögen - aber nur ei­gentlich, sofern diese nämlich ein bißchen anders wären. also etwas netter oder braver oder was auch immer. Sprößlinge solcher Eltern haben stets Schwierigkeiten. weil sie niemals das Gefühl des Akzeptiertseins kennenlernen konnten; und derartige Eltern lie­ben ihre Kinder nicht wirklich. das täten sie nur. wenn diese so wären wie irgend jemand anderer. Geht man der Sache auf den Grund. so steckt dahinter das Gefühl: .. Also, die­

ses Kind mag ich nicht. jedenfalls nicht so. wie es nun einmal ist und vor mir steht" -nur wird das nicht ausgesprochen. Ich glaube allmählich. es wäre für alle Beteiligten bes­

ser. wenn die Eltern dies dennoch täten. Das würde keine so derartig entsetzliche Verwü­stungen in diesen nicht akzeptierten Kindern hinterlassen. Dabei geschieht dies keines­wegs mit so ungeschminkter Grobheit wie: .. Wenn du ein lieber Junge wärst und dich so und so verhieltest. dann würden wir dich alle lieb haben!" Ich glaube mittlerweile. daß Kinder. die von Eltern erzogen werden. deren Liebe von einem „wenn" abhängt. immer schlecht dran sind. Sie wachsen in der Annahme heran. ihre Eltern seien stets im Recht und sie selbst im Unrecht und daß auf die eine oder andere Art die Schuld stets bei ihnen selbst liege. Und was noch schlimmer ist: sie haben sehr häufig das Gefühl. dumm. unzu­länglich und minderwertig zu sein.

110

Dies zeigt vorzüglich den Gegensatz zwischen bedingungsfreier posi­tiver und an Bedingungen geknüpfter Wertschätzung. Ich glaube, daß das für Berater ebenso zutrifft wie für Eltern.

Die Wahrnehmung des Klienten

Bisher haben sich meine Hypothese über die Möglichkeit konstrukti­ven Wachsens an das Erlebnis dieser Elemente auf der Seite des Bera­ters gehalten. Nun gibt es jedoch eine Bedingung, die auf seiten des Klienten gegeben sein muß. Solange die von mir beschriebenen Bedin­gungen nicht in gewissem Maße auch dem Klienten mitgeteilt und von ihm aufgenommern werden, fehlen sie in seiner Wahrnehmungswelt und können daher auch nicht zur Wirkung gelangen. Daher muß man eine weitere Größe in die Gleichung einführen, die ich hinsichtlich des persönlichen Fortschrittes in der Therapie aufgestellt habe. Sie besagt. daß sich ein persönliches Wachstum des Klienten vorhersagen läßt. wenn dieser wenigstens ein Mindestmaß von der Echtheit des Beraters und der von ihm erlebten. akzeptierenden Empathie wahrnimmt.

Das hat Implikationen für mich als Berater. Ich muß nicht nur sensi­bel sein für das, was in mir vor sich geht. und ein Gespür für die Ge­fühlsströme meines Klienten haben, sondern auch dafür, wie er meine Mitteilungen aufnimmt. Ich habe vor allem bei der Arbeit mit stärker gestörten Menschen gelernt, daß meine Einfühlung als mangelnde An­teilnahme aufgefaßt. meine bedingungsfreie Wertschätzung als Gleich­gültigkeit verstanden, Warmherzigkeit als bedrohliches Naherücken erlebt und meine wirklichen Gefühle als unecht wahrgenommen wer­den können. Mein Bestreben ist es, mich so zu verhalten und mich in einer Weise mitzuteilen, die für den Menschen, welchen ich gerade vor mir habe, klar durchschaubar ist, damit er alles, was ich in der Bezie­hung mit ihm erlebe, unzweideutig begreifen kann. Ähnlich den übri­gen von mir dargelegten Bedingungen ist auch hier das Grundsätzliche daran leicht faßlich, jedoch bleibt es eine schwierige und komplizierte Angelegenheit. auch tatsächlich so weit zu kommen.

Einige Einschränkungen

Ich möchte nochmals betonen, daß dies alles Hypothesen sind: in ei­nem späteren Abschnitt werde ich darauf zu sprechen kommen, wie weit sie einer empirischer Überprüfung standhalten. Es handelt sich um Anfangshypothesen, und das letzte Wort ist darüber noch nicht ge­sprochen.

Ich halte es für durchaus möglich, daß es darüber hinaus noch an­derweitige, von mir noch nicht genannte Bedingungen gibt. die ebenso

111

Page 6: Rogers1962a

wesentlich sind. Erst kürzlich hatte ich Gelegenheit, mir e1mge Ge­sprächsaufzeichnungen einer jungen Beraterin von Grundschulkindern anzuhören. In ihrer Haltung gegenüber den Klienten war sie sehr warmherzig und aufgeschlossen. und trotzdem blieb sie eindeutig ohne jeglichen Erfolg. Es schien. als bliebe ihr warmherziges Reagieren an den oberflächlichen Aspekten eines jeden Kindes hängen, so daß die Kontakte in einem umgänglichen und freundschaftlichen Plauderton abliefen, aber es war deutlich, daß sie dabei an die wirkliche Person des Kindes nicht herankam. Dennoch schnitt sie in vieler Hinsicht. was die von mir aufgeführten Bedingungen angeht, verhältnismäßig gut ab. Es fehlen also vielleicht noch Elemente. die ich mit meinen Ausfüh­rungen nicht erfaßt habe.

Desgleichen ist mir bewußt. daß bei unterschiedlichen Personen auch unterschiedliche Arten des Helfens zum Erfolg führen können. Ei­nige unserer Therapeuten arbeiten mit Schizophrenen dann sehr wir­kungsvoll, wenn es so aussieht, als sei ihre Wertschätzung durchaus an Bedingungen geknüpft. wenn sie etwa einiges am wunderlichen Ver­halten eines Psychotikers nicht akzeptieren. Man kann dies auf zweier­lei Weise deuten. Entweder ist es für solche Menschen grundsätzlich dienlicher, wenn ihnen gewisse Bedingungen für die positive Wert­schätzung gestellt werden, oder aber - und dies scheint mir den Tatsa­chen eher zu entsprechen - solche psychotischen Menschen fassen ei­ne Haltung, bei der bestimmte Bedingungen gestellt werden, als Zei­chen dafür auf. daß der Therapeut wirklich besorgt um sie ist, und würden eine nicht an irgendwelche Bedingungen geknüpfte Einstellung als Gleichgültigkeit deuten. Wie immer dem auch sein mag, ich möchte klarstellen, daß ich hier lediglich vorläufige Formulierungen vorge­nommen habe. die anhand weitergehender Erfahrungen sicherlich noch abgewandelt werden dürfen.

Die zugrundeliegende Lebensauffassung

Es liegt auf der Hand, daß die von mir geschilderte Art von Einstel­lungen wohl kaum von einem Berater erlebt werden kann, der nicht auch selbst in seiner Grundhaltung Menschen gegenüber einen geistes­verwandten Standpunkt vertritt. Die von mir veranschaulichten Ein­stellungen bleiben sinnlos, solange sie nicht mit einer hohen Achtung vor dem Menschen überhaupt und seinen in ihm schlummernden Mög­lichkeiten verbunden sind. Wenn der Wert des Einzelmenschen für den Therapeuten nicht an erster Stelle steht, wird er nicht in der Lage sein, wirkliche Anteilnahme zu erleben oder den Wunsch, den Klienten zu verstehen; und vielleicht wird er sich selbst nicht genügend respektie-

112

ren, um aufrichtig sein zu können. Sicher wird ein Berufspraktiker mit der Ansicht, Menschen seien im Grunde genommen Objekte, die es zum Wohle des Staatswesens oder gemäß den Zielsetzungen der Erzie­hungs- bzw. Bildungsinstitutionen (und das „nur zu ihrem Besten") oder aber zur Befriedigung des eigenen Bedürfnisses nach Macht und Herrschaft zu manipulieren gelte, kaum je die Grundeinstellungen ver­wirklichen, die ich als konstituierende Elemente einer wachstumsför­dernden Beziehung dargestellt habe. Daher gehören diese Bedingungen in den Rahmen bestimmter philosophischer Zusammenhänge und sind anderen Weltanschauungen durchaus wesensfremd.

Empirische Untersuchungen

Hieraus ergeben sich für mich einige Fragen, die sich auch der Leser stellen wird. Handelt es sich bei diesen Merkmalen, die ich als entschei­dend für eine helfende Beziehung ansehe, lediglich um meine persönli­che Meinung oder Voreingenommenheit, sind sie einfach das Ergebnis einer demokratischen Lebensauffassung oder fördern diese Merkmale tatsächlich konstruktive Veränderung und Entwicklung?

Vor einigen Jahren hätte ich diese Fragen kaum beantworten kön­nen. Nun liegen mittlerweile mindestens ein Dutzend gut ausgearbeite­ter Forschungsprojekte mit unterschiedlichen Ansätzen vor, die Licht auf diese Frage werfen. Allerdings würde es nur Verwirrung stiften und wenig nützen. von jeder einzelnen Untersuchung eigens zu berichten. Ich versuche daher ganz allgemein deren jeweilige Vorgehensweise zu schildern. um sodann die entsprechenden Ergebnisse darzulegen.

Die Untersuchungen befassen sich mit zwei ziemlich unterschied­lichen Klientengruppen: auf der einen Seite die freiwillig beim Berater um Hilfe nachsuchenden Studenten und Gemeindeangehörigen und auf der anderen die schizophrenen Personen, die seit Monaten oder Jahren in stationärer Behandlung sind. Die eine Gruppe befindet sich oberhalb. die andere unterhalb des sozialen und bildungsmäßigen Durchschnitts; die erste Gruppe ist zur Inanspruchnahme von Hilfe motiviert. die zweite ist nicht nur ohne entsprechende Motivation, sondern sträubt sich gegen die Therapie. Die Skala der sozialen Ein­ordnung reicht von lebenstüchtigen Personen über verschiedene Grade der Verhaltensstörung bis hin zu den Menschen. die der Auseinander­setzung mit dem Leben in keiner Weise gewachsen sind und die Bezie­hung zur Wirklichkeit verloren haben.

In den verschiedenen Studien sind bei der Messung der von mir an­geführten Einstellungselemente drei verschiedene Methoden benutzt worden. Die erste fußt auf zufällig ausgewählten, ca. vier Minuten Jan-

113

Page 7: Rogers1962a

gen Ausschnitten von auf Tonband aufgezeichneten Gesprächen. Die mit der Auswertung betrauten Personen beurteilen beim Abhören die­ser Ausschnitte, in welchem Maße der Berater beispielsweise Empathie erkennen läßt, und stufen diese auf einer sorgfältig ausgearbeiteten Skala ein. Die Auswerter wissen nicht, ob der Ausschnitt der Anfangs­phase oder einem späteren Interview entnommen worden ist oder ob es sich um einen mehr oder weniger erfolgreichen Fall handelt. Bei den meisten Studien wurden von mehreren Auswertern Einstufungen zu je­der der fraglichen Qualitäten vorgenommen.

Ein zweites Meßverfahren bestand in einem Beziehungs-Fragebogen, der vom Klienten zu verschiedenen Zeitpunkten ausgefüllt wurde. Die­ser Fragebogen enthält Feststellungen, in welchem Ausmaß der Berater als akzeptierend, einfühlsam und echt erlebt wird, und die Antwort des Klienten sieht so aus, daß er die jeweilige Feststellung auf einer

Sechs-Punkte-Skala einordnet. welche von „ völlig zutreffend" bis „ völlig unzutreffend" reicht. Beispiele von Aussagen zum einfühlenden Verstehen sind etwa: ,,Im großen und ganzen spürt oder bemerkt er. wie ich mich fühle", oder: ,,Er versteht zwar, was ich sage. aber merkt nicht. wie mir zumute ist!" In bezug auf Kongruenz lauten einige Fest­stellungen z.B.: ,,Er verhält sich in unserer Beziehung genauso. wie es seiner Person entspricht", oder: ,,Er tut so, als ob er mehr an mir inter­essiert sei und mich mehr verstünde, als es tatsächlich der Fall ist." Der Fragebogen wird nach jedem der vier Einstellungselemente ausgewer­tet. zudem erfolgt eine Gesamtauswertung.

Die dritte Methode beruht gleichfalls auf dem Beziehungs-Fragebo­gen, der in diesem Fall jedoch vom Therapeuten bzw. vom Berater aus­gefüllt wird. Die einzelnen Punkte sind identisch, abgesehen von den entsprechend veränderten Pronomina.

In den verschiedenen Untersuchungen werden unterschiedliche Kri­terien angewandt. um das Ausmaß an konstruktiver Persönlichkeits­veränderung zu bestimmen, die im Laufe der Gespräche stattgefunden hat. In sämtlichen Fällen sind die Veränderungskriterien von der Mes­sung der einstellungsbezogenen Bedingungen in der Beziehung unab­hängig. Einige der Meßgrößen für Veränderung sind Änderungen bei verschiedenartigen MMPI-Skalen (Minnesota Multiphasic Personality Inventory) und entsprechenden Indizes, sodann Veränderungen im Rahmen projektiver Tests, die von Klinikern ohne Kenntnis des For­schungsvorhabens im Blindverfahren analysiert werden, Veränderun­gen bei der Anpassungsauswertung gemäß dem Q-Sort. Veränderun­gen bei der Messung von Angst und schließlich von Therapeuten durchgeführte Einstufungen von Persönlichkeits- und Anpassungsver­änderungen.

114

Ergebnisse

Nun möchte ich einige allgemeine Ergebnisse aus diesen Untersu­chungen darlegen:

Wenn es darum geht, die Bedingungen der Beziehung zu konstituie­ren, stellt der Berater den bedeutsamsten Faktor dar, obgleich auch der Klient einigen Einfluß auf die Beschaffenheit der Beziehung hat.

Klienten, die später weiterreichende Veränderungen an den Tag le­gen, nehmen in der Beziehung mit ihrem Berater oder Therapeuten mehr von diesen einstellungsbezogenen Bedingungen wahr.

Je gestörter der Klient. um so geringer die Wahrscheinlichkeit (oder vielleicht auch Fähigkeit), diese Einstellungen beim Berater wahrzu­nehmen.

Hinsichtlich der einstellungsbezogenen Bedingungen, die sie den Klienten gegenüber erfüllen, neigen Berater oder Therapeuten zu be­merkenswerter Beständigkeit.

Das wichtigste Ergebnis aller Untersuchungen liegt darin, daß Klien­ten, deren Beziehungen sich durch ein hohes Ausmaß an Kongruenz, Empathie und bedingungsloser positiver Wertschätzung seitens des Be­raters oder Therapeuten auszeichnen, konstruktive Persönlichkeitsver­änderungen und Wachstum erkennen lassen. Die starke Ausprägung dieser Bedingungen ist mit positiven Veränderungen auf MMPI-Skalen und den entsprechenden Indizes sowie hinsichtlich der Ich-Stärke verknüpft und mit positiven Veränderungen zwischen Vor- und Nach­test-Batterien, die von Klinikern im Blindverfahren ausgewertet wur­den, geringen Angst- und Befangenheitswerten, besseren Ergebnissen bei Skalen zur Messung von Therapiefortschritten und positiven Ver­änderungen bei Auswertungen von seiten der Berater. Klienten, deren Beziehungen durch eine niedrigere Ebene der einstellungsbezogenen Bedingungen gekennzeichnet sind, zeigen signifikant geringe Verände­rungen innerhalb der gleichen Indizes.

In den Untersuchungen, die mit ambulanten Klienten angestellt wor­den waren, fiel die Korrelation zwischen der Art. wie der Klient die in der Anfangsphase vorgefundenen Bedingungen wahrnimmt. und dem Ausmaß der Veränderungen beim Abschluß der Interviews um einiges höher aus als zwischen den diesbezüglichen Wahrnehmungen des Bera­ters und den entsprechenden Veränderungen, was mit anderen Worten heißt.daß die Wahrnehmungen des Klienten eine bessere Vorhersage der Veränderungen gestatten.

Dieses Ergebnis gilt nicht bei schizophrenen Klienten, denen es auf­grund ihrer inneren Gestörtheit schwerer fällt. die von unseren gewis­senhaften und erfahrenen Therapeuten dargebotenen Bedingungen

115

Page 8: Rogers1962a

richtig aufzufassen. Somit sind die von unvoreingenommenen Aus­wertern erstellten Einschätzungen der jeweiligen Bedingungen die bes­seren Vorhersagequellen.

Ein bei den Schizophrenen unerwartetes Ergebnis besteht darin, daß weniger günstige Bedingungen in der Beziehung in etlicher Hinsicht mit negativen Veränderungen verknüpft sind. Bei solchen Klienten bleiben nicht nur die konstruktiven Veränderungen aus, sondern es kommt zu Verschlechterungen, wie die Beurteilung der Testergebnisse vor und nach der Therapie ergibt. Diese Klienten zeigen eine Zunahme der Angst und schneiden insgesamt schlechter ab als die Klienten aus den Kontrollgruppen, die keine Therapie erhalten. Ob dieser Befund auch für ambulante Klienten zutrifft. die von selbst um Hilfe nachsuchen, ließ sich noch nicht näher bestimmen.

Ein Resultat, durch das die Untersuchungen offensichtlich erhärtet werden, besagt, daß (wie erwartet) die erfahreneren Berater im Ver­gleich mit den unerfahrenen ein höheres Niveau in diesen Bedingungen aufweisen und sie ihren Klienten erfolgreicher mitzuteilen vermögen. So wird bei ihnen erkennbar, daß sie günstigere Bedingungen anbieten und ihre Klienten im Verlauf der Gesprächsreihe stärkere Veränderun­gen aufweisen.

Folgerungen

Welches sind nun einige der Implikationen, die jene Hypothesen und Forschungsergebnisse für den Bereich der klinischen Psychologie mit sich bringen? Ich möchte an dieser Stelle vier nennen, die mir aufgefal­len sind.

Zunächst einmal zeigen diese Untersuchungen, daß es vielleicht möglich ist. Ursachen und Wirkungen bei Beratung und Psychothera­pie zu u�tersuchen. Soweit mir bekannt ist, sind dies die ersten For­schungsarbeiten, die sich bemühen, jene ausschlaggebenden Einflüsse zu isolieren und zu messen, die in der Therapie eine Veränderung her­beiführen. Ob sie nun durch spätere Forschungsergebnisse bestätigt werden oder zukünftige Untersuchungen ihnen widersprechen bzw. ih­re Abwandlung erfordern werden, sie sind jedenfalls bahnbrechend in bezug auf die Frage, auf welche Faktoren es in Beratung und Psycho­therapie ankommt. Sie geben die Antwort, daß es die Einstellungen sind, die der Therapeut anbietet. das therapeutische Klima, das vor al­lem von ihm geschaffen wird. Dies sind die entscheidenden Faktoren, die tatsächlich Veränderung einleiten.

Diesen Untersuchungen kommt eine weitere höchst praktische Be­deutung zu. Sie lassen deutlich erkennen, daß man durch Einschätzung

116

gleich zu Beginn die Wahrscheinlichkeit einigermaßen vorhersagen kann, mit der eine solche Beziehung wachstumsfördernd ist. Es scheint durchaus im Bereich des Möglichen zu liegen, daß wir in nicht allzu ferner Zukunft zunehmend genauere Kenntnisse der Elemente erwer­ben, die eine konstruktive psychische Entwicklung begünstigen, wie wir ja auch auf dem Gebiet der Ernährung ein zunehmend exakteres Wissen über die Elemente erworben haben, die körperliches Wachstum fördern. Mit steigendem Umfang solcher Kenntnisse und weiterer Ver­vollkommnung unseres Handwerkszeugs bietet sich die bestechende Möglichkeit, zu einem verhältnismäßig frühen Zeitpunkt unserer Be­mühungen vorherzusagen, ob eine Beziehung tatsächlich individuelle psychische Weiterentwicklung voranbringt oder hemmt, so wie wir durch Bewertung einer bestimmten Kindernahrung das Ausmaß vor­herbestimmen können, in welchem diese Nahrungszusammenstellung körperliches Wachstum fördert oder behindert.

Es ist eine beunruhigende Entdeckung, daß eine unangemessene zwi­schenmenschliche Beziehung sich - zumindest bei ernstlich gestörten Klienten - auf die persönliche Entwicklung nachteilig auswirken kann. Dies läßt eine solche frühzeitige Beurteilung der Beziehung zu ei­ner noch größeren Herausforderung und Verantwortung werden.

Für das Gebiet der Therapie ist weiter von Bedeutung, daß wir nun, unterstützt von einigen empirischen Fakten, spezifischen Elemente ei­ner zwischenmenschlichen Beziehung verfügen, die positive Verände­rungen fördern. So können wir mit einiger Sicherheit und gestützt auf Fakten aussagen, daß eine Beziehung, die mit hoher Wahrscheinlich­keit erfolgreich und entwicklungsfördernd sein soll, von seiten des Therapeuten folgende Merkmale aufweisen muß: ein hoher Grad von Kongruenz und Echtheit, sensible und genaue Empathie, ein hoher Grad von Wertschätzung, Achtung und Sympathie für den Klienten. der aber von Bedingungen unabhängig sein soll. Diese Feststellung trifft zu. ob wir nun von Menschen mit Anpassungsschwierigkeiten re­den, die aus eigenem Antrieb zu uns kommen und Hilfe suchen, oder ob wir chronisch schizophrene Menschen im Auge haben. die kein be­wußtes Bedürfnis nach Hilfe haben. Diese Feststellung behält auch ihre Gültigkeit. gleich ob die genannten Einstellungen von unparteiischen Beobachtern anhand von Gesprächsausschnitten beurteilt werden oder ob sie an der Wahrnehmung gemessen werden, die der Therapeut oder aber der Klient von der Beziehung und den darin angebotenen Bedin­gungen hat. Dies gilt zumindest im Fall des nicht hospitalisierten Klien­ten. Für mich hat es den Anschein, als sei es ein beträchtlicher Schritt vorwärts, wenn man jetzt derartige Feststellungen in einem so kom-

117

Page 9: Rogers1962a

plexen und schwierigen Bereich wie dem der helfenden Beziehungen treffe� kann.

Schließlich hätten diese Untersuchungen, falls sie durch weitere Ar­beiten bestätigt werden, wichtige Konsequenzen für die Ausbildung von Beratern und Therapeuten. Soweit man davon ausgeht, daß der Berater in zwischenmenschlichen Beziehungen engagiert ist und das Ziel einer solchen Beziehung darin besteht, eine gesunde Entwicklung in Gang zu setzen, dann ergeben sich daraus bestimmte Folgerungen. Wir müßten uns bemühen, für eine solche Ausbildung Menschen aus­zuwählen, die bereits in ihren gewöhnlichen Beziehungen mit anderen ein hohes Maß jener von mir genannten Qualitäten aufweisen. Wir bräuchten Menschen. die warmherzig, spontan, echt und verständnis­voll sind und sich von Urteilen fernhalten. Auch müßten wir uns für diese Personen um ein solches Ausbildungsprogramm bemühen. das ihnen zunehmend das Erlebnis von Empathie und von Sympathie ver­mittelt und das es ihnen immer mehr erleichtert, sie selbst zu sein, wirklich zu sein. Wenn sie sich mit ihren Lernerfahrungen verstanden und akzeptiert fühlen, wenn sie bei ihren Ausbildern Echtheit und Frei­heit von Fassaden vor Augen haben, dann werden sie sich mehr und mehr zu kompetenten Therapeuten entwickeln. Bei einer solchen Aus­bildung stünde das zwischenmenschliche Erleben ebensosehr im Mit­telpunkt wie das intellektuelle Lernen. Man würde erkennen, daß auch noch so viel Kenntnisse über Tests und Meßverfahren, psychothera­peutische Theorien oder diagnostische Vorgehensweisen dem Auszu­bildenden in seiner persönlichen Begegnung mit den Klienten nicht zu größerem Erfolg verhelfen. Es würde großes Gewicht auf die tatsäch­lichen Erfahrungen bei der Arbeit mit Klienten sowie auf die durch­dachte und selbstkritische Einschätzung der therapeutischen Beziehung gelegt werden.

Bei der Frage, inwieweit die mir bekannten Ausbildungsprogramme für Beratungspraktiker, klinische Psychologen oder Psychiater an die­se Zielsetzungen herankommen, stoße ich nur auf äußerst negative Antworten. Mir scheint, die meisten unserer beruflichen Ausbildungs­programme erschweren es dem einzelnen, er selbst zu sein, und brin­gen ihn eher dazu, irgendeine professionalisierte Rolle zu übernehmen. Häufig wird er mit theoretischem und diagnostischem Ballast derma­ßen überfrachtet, daß er weniger gut imstande ist, die Innenwelt eines anderen zu begreifen, als es für ihn selbst den Anschein hat. Zudem ge­schieht es im weiteren Verlauf seiner beruflichen Weiterbildung nur allzuoft, daß seine anfängliche warmherzige Zuneigung für andere Menschen in einem Meer diagnostischer und psychodynamischer Be­wertungen untergeht.

118

Würde man daher die Forschungsergebnisse all dieser Studien ernst nehmen, so hieße dies, daß gerade im Wesen der beruflichen Ausbil­dung und auch in der Lehrplangestaltung einschneidende Veränderun­gen erfolgen müßten.

Zusammenfassung

Ich möchte mit einer Reihe von Feststellungen schließen, die für mich logisch aufeinander folgen:

Das Ziel der meisten helfenden Berufe einschließlich der Psychothe­rapie besteht in einer Förderung der persönlichen Entwicklung und des psychischen Wachstums des Klienten in Richtung auf eine sozial orien­tierte Reife.

Bei Angehörigen dieser Berufe läßt sich ihr Erfolg am angemessen­sten durch das Ausmaß bestimmen, in dem sie in ihrer Arbeit mit den Klienten das genannte Ziel erreichen.

Unser Wissen über die Elemente konstruktiver Persönlichkeitsent­wicklung steht noch ganz in den Anfängen.

Unsere gegenwärtigen Kenntnisse weisen darauf hin, daß eine Ände­rung beim Klienten besonders dadurch bewirkt wird. daß er in der Beziehung zu seinem Therapeuten bestimmte Qualitäten erlebt.

Die Untersuchungen wurden bei den verschiedenartigsten Klienten (gesunden, verhaltensgestörten, psychischen) und mit vielen verschie­denen Beratern und Therapeuten durchgeführt. Gleich ob die Beurtei­lung vom Standpunkt des Klienten, des Therapeuten oder eines unbe­teiligten Beobachters vorgenommen wurde, waren bestimmte Merk­male der Beziehung konstant einer persönlichen Entwicklung und Veränderung zugeordnet.

Bei diesen Elementen handelt es sich nicht um technische Kenntnisse oder ideologische Spitzfindigkeiten, sondern um persönliche menschli­che Qualitäten - um etwas, das der Berater erfährt, nicht aber weiß.

Konstruktives Wachstum der Persönlichkeit ist verbunden mit der Aufrichtigkeit des Therapeuten, mit seiner echten, nicht an Bedingun­gen gebundenen Wertschätzung seines Klienten, mit einem einfühlen­den Verstehen von dessen persönlicher Welt und endlich mit der Fähig­keit, diese Einstellungen dem Klienten mitzuteilen.

Diese Ergebnisse haben weitreichende Folgen für Theorie und Praxis von Beratung und Psychotherapie wie auch für die Ausbildung in die­sem Bereich.

119

Page 10: Rogers1962a