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Ramona Lenz Mobilitäten in Europa

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Ramona Lenz

Mobilitäten in Europa

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VS RESEARCH

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Ramona Lenz

Mobilitäten in Europa Migration und Tourismus auf Kreta und Zypern im Kontext des europäischen Grenzregimes

Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Gisela Welz

VS RESEARCH

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Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über<http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Dissertation Universität Frankfurt am Main, 2009

D 30

Diese Arbeit wurde mit dem Förderpreis der Fritz und Helga Exner-Stiftung sowie dem ITB-Wissenschaftspreis der Deutschen Gesellschaft für Tourismuswissenschaft (DGT) aus-gezeichnet und mit einem Druckkostenzuschuss der Geschwister Boehringer IngelheimStiftung für Geisteswissenschaften gefördert.

1. Auflage 2010

Alle Rechte vorbehalten© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010

Lektorat: Verena Metzger | Dr. Tatjana Rollnik-Manke

VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media.www.vs-verlag.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. JedeVerwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes istohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbeson derefür Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspei-cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesemWerk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solcheNamen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachtenwären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, HeidelbergGedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem PapierPrinted in Germany

ISBN 978-3-531-16967-5

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Geleitwort

Die beiden Mittelmeerinseln Kreta und Zypern, die die Forschungsfelder der vorbildlichen Studie von Ramona Lenz sind, gelten seit Jahrzehnten als wichtige Destinationen des internationalen Massentourismus. Sie dienen der Autorin als exemplarischer Gegenstand, um die sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts verän-dernde Beziehung zwischen Tourismus und Migration in Südeuropa aus kultur-anthropologischer Perspektive zu analysieren. Denn Griechenland und die Repu-blik Zypern ziehen nicht nur TouristInnen an, sondern in beiden Ländern hat sich der Tourismussektor zu einem bedeutenden Arbeitsmarkt für MigrantInnen aus Osteuropa sowie aus außereuropäischen Ländern entwickelt.

Den Wechselwirkungen dieser beiden Formen der Mobilität – der Arbeits-migration und des Tourismus –, die – wie die Autorin eindrücklich zeigen kann – sich heute immer stärker verflechten und deren Unterscheidung zunehmen porös wird, gilt das Forschungsinteresse der Untersuchung. Weil die sozial- und kul-turwissenschaftliche Tourismus- und Migrationsforschung bisher in weitgehend separaten „Diskursuniversen“ angesiedelt sind, ist die vorliegende Arbeit beson-ders innovativ und adressiert eine wichtige Forschungslücke.

Die Studie basiert auf eingehender ethnografischer Feldforschung in zwei Untersuchungsregionen, einer Stadt auf Kreta und einer Kleinregion im Westen Zyperns. Ramona Lenz ist es vorzüglich gelungen, ein dichtes Bild der jeweils lokalen Ausformung des Ineinandergreifens von Arbeitsmigration und Touris-musökonomie zu zeichnen. Interessant ist der Vergleich der Fallstudien auch deswegen, weil – während Griechenland schon auf eine lange Phase der EU-Mitgliedschaft zurückblicken kann – die Republik Zypern erst 2004 der Europä-ischen Union beitrat. Die sorgfältigen Interpretationen zeigen, dass trotz der Vereinheitlichung des europäischen Grenzregimes durch die EU in den letzten Jahren die Voraussetzungen, unter denen MigrantInnen in den tourismusökono-mischen Arbeitsmarkt „integriert“ werden, eklatante Unterschiede aufweisen. Diese aus historisch generierten, unterschiedlichen Formen des Umgangs mit Migration zu erklären, ist eine der besonderen Leistungen der vorliegenden Stu-die.

Für die Auswahl der InterviewpartnerInnen in beiden Fallstudien legte die Autorin eine Einteilung in die Akteurskategorien „DienstleisterInnen“, also in der Tourismusökonomie lohnabhängig Beschäftigte, „UnternehmerInnen/Arbeit-

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6 Geleitwort

geberInnen“ sowie „TouristInnen“ zugrunde. Sie unterscheidet nicht nach Natio-nalitäten, sondern nach dem rechtlichen Aufenthaltsstatus der Befragten, die InländerInnen, EU-AusländerInnen oder Drittstaatenangehörige sein können. Diese Kategorien sind forschungsstrategisch hervorragend gewählt, denn so gelingt es nachzuweisen, wie die Handlungsmöglichkeiten und Positionen der Akteurinnen und Akteure durch die europäische Mobilitätsordnung „ko-produ-ziert“ werden. Zugleich wird das Instrumentarium aber so eingesetzt, dass es der Forscherin nicht den Blick darauf verstellt, dass viele der in der Untersuchung angetroffenen AkteurInnen nicht eindeutig als „mobil“ oder „ansässig“, als Noch-Migrantin oder Schon-Einheimische zu bezeichnen sind. Genau dieses Verschwimmen der Kategoriengrenzen bedeutet auch, dass die entstehenden Zonen der Unbestimmtheit von den Menschen aktiv genutzt werden können. Im Ergebnis zeigt sich, dass die sozialen AkteurInnen eigene „transnationale Mobi-litätsprojekte“ verfolgen, die sich nicht eindeutig als migrantisch oder touristisch klassifizieren lassen. Oft wechseln sie – in Abhängigkeit von Gelegenheits-strukturen und rechtlichen Regelungen – taktisch zwischen beiden hin und her.

Die Studie von Ramona Lenz zeigt, warum gerade Kultur- und Sozialanth-ropologInnen besonders kompetent sind, die Auswirkungen der neu entstehenden europäischen Mobilitätsordnung zu untersuchen. Zugleich sind Studien wie die vorliegende in hervorragender Weise geeignet, Impulse für die Forschungs-entwicklung von Kultur- und Sozialanthropologie, aber auch von angrenzenden Disziplinen, zu geben.

Prof. Dr. Gisela Welz

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Vorwort

Viele haben dazu beigetragen, dass dieses Buch entstehen konnte – während meiner Feldforschungsaufenthalte in Griechenland und Zypern, aber auch davor und danach. Für Inspiration, Unterstützung und Begleitung in verschiedenen Phasen meiner Promotion danke ich herzlich Filippo Amato, Julia Bernstein, Christiane Chimarrides, Tassos Costeas, Frank Estelmann, Petra Ilyes, Banu Karaca, Anke Köhler, Rainer Lenz, Stefanie Lenz, Athanasios Marvakis, Raluca Nagy, Dimitris Papadopoulos, Thomas Pauly, Monika Rak, Regina Römhild, Martin Saar, Kirsten Salein, Britta Schneider, Martin Schöb, Mone Spindler, Claudius Terkowsky, Andreas Trepte, Nicos Trimikliniotis, Michael Zinganel sowie der Forschungsgruppe Transit Migration. Mein Dank gilt außerdem den Gutachterinnen Prof. Dr. Kira Kosnick und Prof. Dr. Gisela Welz sowie all mei-nen Gesprächs- und InterviewpartnerInnen in Griechenland und Zypern.

Bei der Südosteuropa-Gesellschaft und der Bundeskulturstiftung (Projekt Migration) bedanke ich mich für die finanzielle Unterstützung meiner Feldfor-schungsaufenthalte. Ebenfalls bedanken möchte ich mich bei der Fritz und Helga Exner-Stiftung für die Verleihung des Förderpreises für herausragende Leistun-gen im Bereich der Südosteuropaforschung, bei der Deutschen Gesellschaft für Tourismuswissenschaft (DGT) für die Verleihung des ITB-Wissenschaftspreises 2010 in der Kategorie „beste wissenschaftlich-theoretische Arbeit“ und bei der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften für die Förderung der Arbeit mit einem Druckkostenzuschuss.

Meinen Eltern, Gerda und Heinrich Lenz, kann ich nicht genug danken. Ih-nen ist diese Arbeit gewidmet.

Ramona Lenz

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Inhaltsverzeichnis

Geleitwort ..................................................... 5 Vorwort ....................................................... 7 Abbildungsverzeichnis .......................................... 13 Einleitung ..................................................... 15 1 Mobilitäten ................................................. 23

1.1 Zum Begriff des Paradigmenwechsels...................... 24 1.2 Zum Begriff des turn.................................... 31 1.3 Denken in Metaphern ................................... 34 1.4 Zur „Metaphysik der Sesshaftigkeit“ ....................... 36 1.5 Zur „Metaphysik der Mobilität“ ........................... 41 1.6 Metaphern der Mobilität – Leitfiguren der (Post-)Moderne? .... 45

Flüsse, Netzwerke, Landschaften: 47 / Wege, Transportmittel, Transiträume: 56 / Menschen in Bewegung: 65

1.7 Zweifel und Kritik am mobility turn........................ 70 1.8 Fazit ................................................. 74 2 Migration und Tourismus..................................... 79

2.1 Künstlerische Projekte zu Migration und Tourismus .......... 81 2.2 Sozial- und kulturwissenschaftliche Studien zu Migration und Tourismus............................................. 88 2.3 Konzepte der Migrations- und Tourismusforschung........... 96

Transnationalisierung: 96 / Raum: 98 / Authentizität:100 / Gastfreundschaft: 104 / Der „touristische Blick“ und die Diffe-renz: 109

2.4 Fazit ................................................. 116

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10 Inhaltsverzeichnis

3 Europa ..................................................... 119

3.1 Kapitelüberblick ......................................... 121 3.2 Historische Situierung statt selektiver Rückgriffe auf die Menschheitsgeschichte .................................... 122

3.2.1 Räumliche Eingrenzung: Wo hört Europa auf?........... 124 3.2.2 Zeitliche Eingrenzung: Wann beginnt Europa?........... 125

Griechenland als „Wiege der europäischen Zivilisation“: 125 / Die „Geburt Europas“ im Römischen Reich: 126 / Der „Vater Europas“, das mobile Christentum und der Aufstieg der Städte im Mittelalter: 127

3.3 Zur Herausbildung des europäischen Mobilitätsregimes seit dem Ende des Mittelalters unter besonderer Berücksichtigung Südeuropas.............................................. 131 3.3.1 Von der frühen Neuzeit bis zum Zweiten Weltkrieg....... 131

Südeuropa und der Mittelmeerraum am Beginn der frühen Neuzeit: 131 / Die Herausbildung von Nationalstaaten und die Formierung der Disziplinargesellschaft: 133 / Das Zeitalter der Nation und des Massenverkehrs: 136 / Die Herausbildung einer transnationalen Migrationsdy-namik zwischen Südost- und Westeuropa und nach Über-see: 138 / Der Erste Weltkrieg und das „Jahrhundert der Flüchtlinge“: 139 / Der Zweite Weltkrieg und die Produk-tion von „BürgerInnen zweiter Klasse“: 141

3.3.2 Nach 1945 ........................................ 143

Die Nachkriegsjahre: 143 / Die westeuropäischen Migra-tionsregimes, Arbeitsmigration aus Südeuropa und der Ausbau des Massentourismus im Mittelmeerraum nach 1950: 144 / Das Ende der Anwerbung und die Bemühun-gen um Rückkehr: 146 / Die „neue“ Migration: 147

3.4 Migration und Tourismus als Regulationsobjekte des EU- Mobilitätsregimes ........................................ 149 3.4.1 Der EU-Erweiterungsprozess und die Regulation von Migration ......................................... 149

Die europäische Mobilitätsordnung der konzentrischen Kreise: 149 / Die neue „Kunst des Regierens“ im erwei-terten Europa: 151 / Die „prinzipielle Variabilität der Grenzen“ und die „europäische Apartheid“: 152 / Die Ausdifferenzierung der Grenzverläufe und -funktionen: 153 / Die machtvolle Klassifizierung mobiler Personen-gruppen: 156

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Inhaltsverzeichnis 11

3.4.2 Der EU-Erweiterungsprozess und die Konstruktion einer europäischen Identität in Programmen zu Mobilität, Kultur und Tourismus ............................... 160

TouristInnen als Regulationsobjekte des europäischen Grenzregimes: 160 / EU-Kulturpolitik und die Konstruk-tion einer europäischen Identität: 161 / Tourismus als Gegenstand von Kultur- und Identitätspolitiken der EU und des Europarats: 163 / Kritik der Implementierungs-kritik: 166 / Migration im Museum: 168 / Die EU im Mit-telmeerraum: 170

3.5 Fazit ................................................... 172 4 Kreta ...................................................... 175

4.1 Zur Feldforschung ........................................ 175 4.2 Tourismus in Griechenland................................. 179 4.3 Migration in Griechenland ................................. 182 4.4 Tourismus und Migration auf Kreta.......................... 191 4.5 Touristische Blicke auf Kreta: Von authentischen Dörfern und echten GriechInnen ....................................... 198 4.6 Griechische ArbeitgeberInnen und DienstleisterInnen, der touristische Blick und das migrantische Personal ............... 207 4.7 Dauertouristische bzw. arbeitsmigrantische Blicke von WesteuropäerInnen auf GriechInnen und AlbanerInnen ......... 211 4.8 Migrantische DienstleisterInnen und ihre Erfahrungen im Umgang mit dem europäischen Mobilitätsregime, dem alltäglichen Rassismus in Griechenland und den touristischen Blicken ................................................. 216

Erfahrungen mit Behörden: 222 / Erfahrungen mit Arbeitgebe-rInnen: 225 / Erfahrungen mit griechischen Gästen: 226 / Erfah-rungen mit ausländischen TouristInnen: 227 / Strategien: 228 / Zukunftspläne: 229

4.9 Fazit ................................................... 232 5 Zypern ..................................................... 237

5.1 Zur Feldforschung ........................................ 237 5.2 Die Mobilitätsgeschichte Zyperns seit dem Ende britischen Kolonialzeit bis zum EU-Beitritt ............................ 239 5.3 Der EU-Beitritt, die ArbeitnehmerInnenfreizügigkeit und die Direktive 2003/109/EC ............................. 245

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12 Inhaltsverzeichnis

5.4 „Drittstaatenangehörige“ im Hotel-, Restaurant- und Catering-Sektor .......................................... 250 5.5 Die Konstruktion von MigrantInnen als Bedrohung der „typisch zypriotischen Gastfreundschaft“............................. 257 5.6 Migration und Tourismus in Plagia .......................... 259

Illegalität und Schwarzarbeit: 261 / EU-BürgerInnen zuerst: Ausbeutung trotz Arbeitsvertrag: 263 / Illegale Jobvermittlungen und Europäerinnen ohne Arbeitsvertrag: 266 / Zukunftspläne: 268

5.7 Fazit ................................................... 272 6 Zur Multifunktionalität touristischer Infrastruktur im Mittelmeerraum ............................................. 277

6.1 „Hotel Royal“ – Ferienquartier und Abschiebelager............. 277 6.2 Zur Plausibilität der in den Texten zum mobility turn angelegten Dichotomien am Beispiel von „Hotel Royal“ .................. 278

Mobilität versus Immobilität: 279 / Freiwillige versus erzwun-gene Mobilität: 281 / Tourismus versus Migration: 282

6.3 Ausblick ................................................ 284 Schluss ........................................................ 287 Literaturverzeichnis ............................................ 291 Presse .................................................. 318 Bildnachweise ........................................... 319

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Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Lisl Ponger, „Passagen“ (1996), 35 mm, 12 min. ........ 81 Abbildung 2: Yto Barrada, „Bay of Tangier“ (2002), c-print, 80 x 80 cm ....................................... 82 Abbildung 3: andcompany&Co., „europe an alien“, Theater Gasthuis, Amsterdam, 4.11.2005.............................. 85 Abbildung 4: „Polish Plumber“ (2005), Werbeplakat der polnischen Tourismuszentrale ................................. 86 Abbildung 5: Julia Bernstein, „Auf den Spuren der Ausreisenden“ (2006), Collage 100 x 70 cm ......................... 87 Abbildung 6: Ausschnitt aus der „Saisonstadt“. In: Michael Zinganel, Hans Albers, Michael Hieslmair und Maruša Sagadin (2006, 47) ........................................ 93 Abbildung 7: „Hotel Royal“ auf Kreta im September 2004............ 285

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Einleitung

Kreta und Zypern, die beiden flächenmäßig größten Inseln im östlichen Mit-telmeer, stehen im Zentrum dieser Arbeit. Bei der Entscheidung, die Feldfor-schung für die vorliegende Studie über Mobilitäten in Europa auf zwei Mittel-meerinseln anzusiedeln, ging es mir weder darum, über einen systematischen Vergleich, Aussagen zum Mittelmeerraum als einheitlichem Kulturraum zu ma-chen, wie es in der Geschichte der Mittelmeerethnologie häufig versucht wurde (vgl. hierzu Pina-Cabral 1989), noch wollte ich länderspezifische kulturelle Un-terschiede zwischen verschiedenen EU-Ländern herausarbeiten, wie es in aktu-ellen politikwissenschaftlichen Studien geschieht, in denen Kultur als gesonder-ter Bereich begriffen und beispielsweise in Wertorientierungen gesucht wird (vgl. hierzu Gerhards/Hölscher 2006). Auch war es nicht meine Absicht, mit meinem Fokus auf Tourismus und Migration lokalspezifische Effekte äußerer Einflüsse oder zwei bereits im Vorfeld konkret definierte mobile Personengrup-pen systematisch miteinander zu vergleichen.

Davon ausgehend, dass die Stärke ethnografischer Forschung darin besteht, nicht ein vorab entworfenes Analyseraster auf von Anfang an klar umrissene Untersuchungsfelder zu stülpen und so Vergleichbarkeit zu konstruieren, habe ich sowohl für meine Forschung auf Kreta als auch für die auf Zypern dem Prin-zip der Offenheit folgend erst im Verlauf des Forschungsprozesses relevante Kategorien erarbeitet. Die Auswahl der beiden Forschungsgebiete auf Kreta und Zypern hängt zunächst unter anderem mit meiner Wahrnehmung der Art und Weise zusammen, wie die beiden Inseln „im Westen“ – beispielsweise in Reise-führern oder in ethnografischen Texten – dargestellt werden, bzw. mit meiner Rezeption der anthropologischen Literatur zur Repräsentation des Mittelmeer-raums „im Westen“ (insbes. Argyrou 1996 und Herzfeld 2004). Im Sinne der von George E. Marcus und Michael M. J. Fischer (1986) geforderten „kulturver-gleichenden“ Gegenüberstellung von Repräsentationen lässt sich feststellen, dass in Griechenland, und hier insbesondere auf Kreta, aber auch auf Zypern häufig Ursprünge „westlicher Zivilisation“ oder die „Wiege Europas“ verortet werden, während den beiden Ländern gleichzeitig Rückständigkeit und defizitäre Moder-nisierung im Vergleich zu westeuropäischen Industrienationen nachgesagt wird. Eine Bewegung im selben Raum und in derselben Zeit wird den heutigen Be-wohnerInnen damit abgesprochen. Die „glorreiche Vergangenheit“ werde so

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16 Einleitung

ebenso zu einer Bürde wie zu einem Distinktionsmerkmal, das „machtvolleren Ländern“ dazu diene, die GriechInnen einerseits für ihr großartiges Erbe zu rüh-men und ihnen andererseits zu unterstellen, sie seien nie den Kinderschuhen der Zivilisation entwachsen, die sie angeblich gegründet haben, meint Michael Herz-feld (2004, 31):

„The Greeks’ marginal status in the ‘Western civilization’ of which they are sup-posed founders, and yet in important respects also the victims, rudely batters their everyday lives at every turn: internationally embarrassed by successive government scandals and acutely aware of their dependency on the European Union, of which Greece is a member state enjoying nominally fully equality with the others, they find themselves derided for an obsession with whether or not they are ‘really European’ that is itself the product of a ‘crypto-colonial’ set of aesthetic and ethical norms.“ (Ebd., 6)

In ähnlicher Weise beschreibt Vassos Argyrou (1996) das Verhältnis der griechi-schen ZypriotInnen zu „Europa“. In ihrem Versuch, „europäisch“ zu werden, reproduzierten sie die Hegemonie „des Westens“:

„Cypriot modernity is denied either as an imitation of the original, or as a loss of lo-cal character, or both. Ironically, resistance to Western hegemony by the dominated has the same subjugating results. And even though the mechanism is different, it is equally effective. By embracing the local ‘authentic’ tradition, the dominated em-brace their inferior position in the world. By rejecting modernity, they willingly re-linquish any claims to the advantages it confers.“ (Ebd., 13)

Unabhängig davon, ob „Verwestlichung“ als Zivilisierungsprozess begrüßt oder als Homogenisierungsprozess gefürchtet werde, werde eine hierarchische Diffe-renz zwischen zwei scheinbar grundverschiedenen Kulturräumen konstruiert, meint Argyrou (ebd., 153ff.). Der Prozess der Essentialisierung der „Anderen“, sei es in Form von „orientalism“ (Said 1979) oder in Form von „me-diterraneanism“ (Herzfeld 1987), werde damit vervollständigt, denn mit der Idee der „Verwestlichung“ werde auch „der Westen“ als kulturelle Einheit konstruiert und von „anderen Kulturräumen“ abgrenzbar gemacht. An dieser Konstellation seien westliche EthnologInnen mit ihren Studien über einen als homogen und rückständig imaginierten mediterranen Kulturraum maßgeblich beteiligt.1

Folgt man Herzfeld und Argyrou scheint es für GriechInnen und ZypriotIn-nen unmöglich, sich aus der unterlegenen Position gegenüber „dem Westen“ zu

1 Auch andere Disziplinen wie z.B. Geografie und Geschichtswissenschaft sind in dieser Beziehung nicht „unschuldig“. Zur Kritik an der Konstruktion der Geschichtsregion „Süden Europas“ vgl. Schenk/Winkler (2007).

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Einleitung 17

befreien.2 Beide Autoren begreifen „den Westen“ und „Europa“ als machtvolle Konstrukte, mit denen die kulturelle Gleichwertigkeit mediterraner Länder bestritten wird und zu denen sich GriechInnen wie ZypriotInnen verhalten müs-sen. Dabei beschränken sich ihre Forschungen allerdings weitgehend auf die kretische bzw. zypriotische Lokalbevölkerung, während „der Westen“ nicht differenzierter untersucht wird. Häufig stehen TouristInnen stellvertretend für den „Westen“ oder „Europa“ (vgl. z.B. Herzfeld 1991, 25, oder 2004, 28). MigrantInnen spielen fast keine Rolle. In meiner Arbeit soll Tourismus weder auf äußere Einflüsse reduziert noch stellvertretend für „Verwestlichung“ oder „Europäisierung“ eingesetzt oder als Verkörperung hegemonialer Mächte darge-stellt werden. Sowohl Tourismus als auch Migration werden vielmehr als konsti-tutiv für die untersuchten Orte verstanden. „Europa“ wird dabei nicht nur als machtvolle Konstruktion in den Blick genommen, über die diskursiv Ein- und Ausschlüsse stattfinden, sondern vor allem auch in Form von konkreten Zu-gangsmöglichkeiten und -beschränkungen zur Europäischen Union, der sowohl Griechenland als auch Zypern angehören.

Aufgrund ihrer Lage an der südöstlichen EU-Außengrenze sind Griechen-land und Zypern für das europäische Grenzregime von großer Bedeutung. Beide Länder verfügen über lange Küstenabschnitte, die sich zum Strandurlaub wie zur illegalen Einreise in die EU eignen. In Griechenland gibt es zudem einige abge-legene Grenzregionen in den Bergen, über die Menschen aus Nachbarländern legal oder illegal ein- und ausreisen. In Zypern ist es neben Flug- und Schiffs-routen die sogenannte Green Line3, die für Einreisen in die EU genutzt wird. Zudem sind beide Länder seit einigen Jahrzehnten stark vom Tourismus geprägt, der in verschiedener Hinsicht mit Migration korreliert, wie ich zeigen möchte. Während Griechenland bereits seit 1981 Mitglied der Europäischen Union ist, trat Zypern erst im Jahr 2004 bei, so dass in Zypern die Umsetzung der europä-ischen Mobilitätsordnung und ihre Konsequenzen für dort lebende AusländerIn-nen zum Zeitpunkt meiner Forschung sehr aktuell war.

Sowohl Herzfeld als auch Argyrou haben sich für ihre jeweiligen Forschun-gen auf Kreta und Zypern Gegenden ausgesucht, die – wie sie selbst schreiben –

2 In Abgrenzung dazu und auf der Basis ihrer eigenen Forschung auf Kreta schreibt Regina Römhild (2002, 183f.) hingegen: „Within the discourse of power relations, the imposition of imaginations cannot be simply rejected since all reactions have to refer to and, thus, reconstruct that same imagi-nary cosmos […]. In that dialogue, however, the former division between the ‘north/west’ as the productive subject and the ‘south/east’ as the reluctant object of that imagination, becomes blurred. Replies from the addressees include counter- and, moreover, co-imagination, thus either being made to fit or actively adopting and transforming imposed ideas according to their own interests.“ 3 Die sogenannte Green Line teilt die Insel seit der Invasion der Türkei 1974 in einen griechisch-zypriotischen und einen türkisch-zypriotischen Teil. Seit dem EU-Beitritt der Republik Zypern im Jahr 2004 ist der Status dieser Grenze umstritten.

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18 Einleitung

innerhalb der jeweiligen Inseln nochmals marginalisiert sind: Herzfeld forschte in Rethymno auf Kreta und Argyrou in Paphos auf Zypern. Diese beiden Gegen-den habe auch ich für meine Forschung ausgewählt, allerdings weniger aufgrund der Marginalität, die Herzfelds und Argyrous Forschungsinteresse weckte, son-dern eher weil sie zu Zentren touristischer und migrantischer Mobilitäten gewor-den sind. Es handelt sich in beiden Fällen um Gegenden, die reich an „kulturel-lem Erbe“ und stark touristisch geprägt sind, wobei die Tourismusindustrie hier wie dort zu einem großen Teil auf legal oder auch illegal beschäftigtem ausländi-schem Personal beruht. Während meine Feldforschung in Paphos vorwiegend in einer massentouristisch weniger erschlossenen Gegend außerhalb der Bezirks-hauptstadt stattfand, habe ich mich in Rethymno meist in der Altstadt oder in der unmittelbaren Umgebung bewegt, die stark touristisch geprägt sind.

In Tourismus- oder Migrationsforschungen zu Kreta und Zypern spielt meist nur die eine oder andere Mobilitätsform eine Rolle. Es wird kaum nach den Beziehungsgeflechten zwischen verschiedenen Personengruppen und den durch sie entstehenden transnationalen Räumen gefragt als vielmehr nach den Auswirkungen äußerer Einflüsse auf die Lokalbevölkerung. Dementsprechend zieht Vasiliki Galani-Moutafi (2004, 174) in ihrem Überblick über den For-schungsstand zu Tourismus in Griechenland folgende Bilanz:

„Most of the published works on tourism in Greece concentrate on its planning and economic dimensions. Despite the general postulate that the industry affects pro-cesses of social change, very few studies examine the conceptualizations of various types of social relations that fall under the category of ‘tourism interactions’. When scholars orient their interest to the issue of sociocultural change, they tend to restrict their focus to the host society. Often, they define the category of ‘tourist’ on the ba-sis of an etic approach and subsume under it different identities; they overlook the local presence of additional categories of ‘foreigner’ or Other – such as entrepre-neurs, economic migrants, refugees, and permanent or semi-permanent foreign resi-dents – which unquestionably comprise an important parameter of the local context. These ‘foreigners’ constitute an Otherness in relation to which both tourists and lo-cal residents identify themselves and define Others. In this case, an emic approach focusing on the negotiation of self-Other relationships can shed light on the con-struction of stereotypes […] and on the ideologies that justify different ways of en-countering and treating Others. Such an approach can also facilitate the conceptuali-zation of the destination place not simply as a space where recreational activity takes place, but also as a place of work for immigrants, foreign entrepreneurs, and em-ployees, as well as for those former vacationers who have chosen to establish their home in it. The presence of all these Others emphasizes the special qualities of the ‘local’ under conditions of globalization.“

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Einleitung 19

Das Fokussieren diverser mehr oder weniger mobiler Personengruppen und ihre vielfältigen Beziehungen zueinander, das Galani-Moutafi hier einfordert und das auch diese Arbeit anstrebt, ist eine Herausforderung. Wenngleich nationalstaatli-che Migrations- und Tourismuspolitiken eine wesentliche Rolle spielen und auch regionale Besonderheiten herausgearbeitet werden müssen, werden territoriale Vergleichseinheiten angesichts der vielfältigen Verbindungslinien gesprengt, die über die jeweiligen Untersuchungsorte hinausweisen. Im ersten Kapitel der Ar-beit möchte ich meine Forschung daher kritisch in den Kontext des mobility turn stellen, von dem seit einigen Jahren vor allem in der Soziologie die Rede ist. Wie ich in diesem Kapitel herausarbeiten werde, kann als Ausdruck des mobility turn begriffen werden, dass – in Abkehr von der Norm der Sesshaftigkeit, die dem Vergleich territorial gebundener Kulturräume zugrunde liegt – zunehmend ver-schiedene Formen der Mobilität zueinander in Beziehung gesetzt werden. Da es in dieser Arbeit um das Verhältnis von Migration und Tourismus geht, kann sie in den theoretischen Kontext dieses „neuen Mobilitätsparadigmas“ gestellt wer-den. Mein Beitrag ist vor allem darin zu sehen, Mobilitätsmetaphern und Ver-gleiche zwischen verschiedenen Mobilitätsformen, die häufig vereinfacht auf einer abstrakten Ebene bleiben, aufzuarbeiten und empirisch auszudifferenzieren.

Im zweiten Kapitel stelle ich dann zunächst einige künstlerische und wis-senschaftliche Arbeiten vor, die Beziehungen zwischen Migration und Tou-rismus zum Gegenstand haben, bevor ich verschiedene zentrale Konzepte aus der Migrations- und Tourismusforschung zusammenfasse und aufeinander beziehe. Wie in diesem Kapitel besonders hervorgehoben wird, geht es mir in der vorlie-genden Arbeit nicht darum, analog zu einem quantitativ oder auch qualitativ angelegten, mit einem bestimmten Raster arbeitenden Vergleich territorial be-grenzter Kulturräume, ein allgemein gültiges, kontextfreies Raster zum Ver-gleich verschiedener Mobilitätsformen zu entwickeln und auf einer abstrakten Ebene eindeutige Unterschiede zwischen Tourismus und Migration herauszuar-beiten. Wenngleich ich die Begriffe Migration und Tourismus durchgehend ver-wende, nehme ich die Vielfalt von Praktiken zur Kenntnis, die darunter jeweils subsumiert werden, sowie die zahlreichen Überschneidungen, die eine klare Abgrenzung zwischen diesen beiden Mobilitätsformen unmöglich machen. Vor diesem Hintergrund geht es mir auch darum zu verdeutlichen, dass eine Zu-schreibung zu bestimmten Mobilitätskategorien oftmals interessegeleitet vorge-nommen wird.

Nachdem ich dargestellt habe, inwiefern Zusammenhänge zwischen Migra-tion und Tourismus in den letzten Jahren zum Gegenstand künstlerischer und wissenschaftlicher Arbeiten geworden sind, und Konzepte aus der Migrations-forschung einerseits und der Tourismusforschung andererseits aufeinander bezo-gen habe, zeige ich im dritten Kapitel, inwiefern die beiden Mobilitätsformen als

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20 Einleitung

machtvolle Kategorien des europäischen Grenzregimes betrachtet werden müs-sen. Der Begriff Regime wird seit den 1990er Jahren häufig verwendet, weil er der veränderten Bedeutung nationalstaatlicher Souveränitäten Rechnung trägt, die in den Sozial- und Kulturwissenschaften seither konstatiert wird. Für die vorliegende Arbeit ist er hilfreich, weil er „die Einbeziehung einer Vielzahl von Akteuren [ermöglicht], deren Praktiken zwar aufeinander bezogen, nicht aber in Gestalt einer zentralen (systemischen) Logik geordnet, sondern vielfach überde-terminiert sind“ (Karakayal� 2008, 47). Mit diesem Begriff wird zum einen der Vorstellung entgegengewirkt, der Staat sei der „erste Beweger“, zum anderen ist damit aber auch eine Abkehr von Ansätzen verbunden, „die individuelle Takti-ken oder die ‚Kunst des Handelns’ (de Certeau 1988) auf der subjektiven Ebene lokalisieren und dies dann machtvollen Apparaten der Regierung gegenüberstel-len“ (ebd., 48). Bezogen auf das europäische Migrationsregime schreibt Serhat Karakayal� (ebd.):

„Ohne Zweifel sind dabei jene Akteure, die Grenzpolizei, Schengener Informations-system und Ausländergesetze durchsetzen, in Begriffen einer Macht-Ökonometrie überlegen. Diese Asymmetrie zu konstatieren, reicht jedoch nicht aus. Entscheidend ist das Produkt dieser Asymmetrie, die keineswegs die von den mächtigen Akteuren proklamierte Immobilität ist. Die Produktivität des Grenzregimes besteht in der Re-gulation der grenzüberschreitenden Arbeitsmobilität, in der Verwaltung und Bear-beitung des Überschusses, der sich in den Reibungen, Konflikten und Kämpfen er-gibt.“

Neben der Regulation verschiedener Formen der Migration wird im Folgenden auch die Regulation anderer Mobilitäten wie binneneuropäischer Arbeitsmobili-tät und Tourismus als Teil des europäischen Grenzregimes begriffen. Daher verwende ich neben Grenzregime auch häufig den Begriff Mobilitätsregime. Im dritten Kapitel zeige ich, wie durch selektive Rückgriffe auf die Geschichte be-stimmte Formen der Mobilität als konstitutiv für die europäische Identitätsbil-dung konstruiert und andere ausgeblendet oder abgewertet werden. Insofern in Identitätsdiskursen Zugehörigkeiten und Ausschlüsse verhandelt werden, be-trachte ich auch sie als Bestandteil des europäischen Grenzregimes. In welcher Weise unterschiedliche Mobilitäten in ihrem Verhältnis zueinander die europä-ische Geschichte bis zur Herausbildung des gegenwärtigen EU-europäischen Grenzregimes kennzeichnen, wird im weiteren Verlauf des Kapitels gezeigt. Dabei geht es mir darum, Europa und die Europäische Union mit ihren umstrit-tenen materiellen und diskursiven Grenzen, über die verschiedene Mobilitäten in ein hierarchisches Verhältnis zueinander gesetzt werden, als gewordene und umstrittene Formationen kenntlich zu machen. Schließlich zeige ich in diesem Kapitel anhand von migrations- und tourismuspolitischen Maßnahmen beispiel-

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Einleitung 21

haft, inwiefern sowohl Migration als auch Tourismus Regulationsobjekte des EU-Mobilitätsregimes sind und sich arbeitsmarkt- und kulturpolitisch ergänzen.

Konkret wird die „Produktivität des Grenzregimes“ schließlich in den Ka-piteln 4 und 5 in Bezug auf ArbeitsmigrantInnen und andere AkteurInnen im Tourismussektor auf Kreta und Zypern untersucht. Wie bereits erwähnt, geht es mir nicht darum, den Einfluss von Tourismus und Migration auf die beiden In-seln herauszuarbeiten und systematisch zu vergleichen. Vielmehr möchte ich untersuchen, in welcher Weise sich das europäische Grenzregime an konkreten Orten manifestiert. Dazu konzentriere ich mich auf Begegnungen zwischen ver-schiedenen zeitweilig oder dauerhaft Anwesenden sowie auf Entscheidungsträ-gerInnen in den jeweiligen Hauptstädten Athen und Nicosia. Die konkreten Ak-teurInnen und Konfliktkonstellationen, mit denen ich mich in dieser Arbeit be-fasse, kristallisierten sich erst im Laufe der jeweiligen Feldforschungsaufenthalte heraus. Auch für die mobilen Personengruppen wurden nicht vorab Kategorien festgelegt, die einen systematischen Vergleich – beispielsweise zwischen eindeu-tig zugeordneten TouristInnen und MigrantInnen – erlauben würden. Aufgrund spezifischer Bedingungen an den jeweiligen Orten stehen unterschiedliche Ak-teursgruppen und verschiedene Problemkonstellationen im Zentrum.

In Rethymno stellte sich die Situation von AlbanerInnen, die vorwiegend in den 1990er Jahren einwanderten und inzwischen die mit Abstand größte Migran-tInnengruppe in Griechenland darstellen, als zentral heraus, während es in Paphos eher um den veränderten Status von verschiedenen ausländischen Ar-beitskräften nach dem EU-Beitritt Zyperns in 2004 und insbesondere um die Rolle von „Drittstaatenangehörigen“4 im Verhältnis zu neuen und alten EU-Bür-gerInnen ging. Die Tourismusindustrie als Arbeitsmarkt für MigrantInnen und EU-BürgerInnen sowie die Mobilitätsbedingungen innerhalb der Europäischen Union und über ihre Grenzen hinweg bilden den gemeinsamen Rahmen. An beiden Orten begegneten sich AkteurInnen, deren Mobilitätsoptionen und -beschränkungen durch verschiedene Faktoren, vor allem durch das EU-Grenz-regime mit seinen abgestuften Mobilitätskategorien, bestimmt wurden, und die darüber in einem hierarchischen Verhältnis zueinander standen. Jenseits der von Herzfeld und Argyrou fokussierten hierarchischen Differenz zwischen „dem Westen“ und der südlichen Peripherie Europas kamen dabei eine Reihe weiterer machtvoller Differenzen zwischen verschiedenen mehr oder weniger mobilen Personengruppen zum Tragen. Herkömmliche Konzepte der Migrations- und

4 Als „DrittstaatenangehörigeR“ gilt, wer weder EU- oder EWR-BürgerIn noch freizügigkeitsbe-rechtigteR AngehörigeR freizügigkeitsberechtigter EU-/EWR-BürgerInnen oder SchweizerIn ist. Meist wird die Bezeichnung euphemistisch für Menschen aus der sogenannten „Dritten Welt“ ver-wendet, was sich unter anderem darin zeigt, dass US-BürgerInnen in der Regel nicht angesprochen sind.

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22 Einleitung

Tourismusforschung wie „Authentizität“ oder „Gastfreundschaft“, die meist auf einer dichotomen Gegenüberstellung von „Sesshaften“ und „Mobilen“ beruhen und entweder touristische oder migrantische Mobilität fokussieren, gilt es im Hinblick auf den migrantisch-touristischen Ereignisraum am Mittelmeer kritisch zu überdenken.

Um die Reflexion von Dichotomien, die nicht nur in der klassischen Migra-tions- und Tourismusforschung, sondern auch in den aktuellen Debatten zum mobility turn angelegt sind, geht es schließlich noch einmal in Kapitel 6. Am Beispiel eines zum Flüchtlingslager umfunktionierten Hotels auf Kreta, das wie viele andere Lager des europäischen Grenzregimes der Entschleunigung von Mobilität zur Regulierung des Arbeitsmarktes zu dienen scheint, wird die Plausi-bilität der Gegenüberstellung von Mobilität und Immobilität, von freiwilliger und erzwungener Mobilität sowie von Tourismus und Migration diskutiert. Hier wie in der gesamten Arbeit geht es darum, das teils widersprüchliche Verhältnis zwischen erstens Konzepten und Metaphern der Mobilität, zweitens wissen-schaftlichen und künstlerischen Repräsentationen von Tourismus und Migration, drittens behördlichen Mobilitätskategorien und viertens empirisch beobachtbaren mobilen Praktiken kenntlich zu machen.

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1 Mobilitäten

In dem Maße wie Globalisierungsprozesse in den 1990er Jahren zu einem pro-minenten Forschungsthema in der Kultur- und Sozialanthropologie wurden, wuchs auch das Interesse für Mobilität und die verschiedenen sozialen Gruppen, die sie produziert: Flüchtlinge, TouristInnen, MigrantInnen (vgl. Welz 2004, 410). Der Anthropologe Arjun Appadurai (1996) betont, dass mit den Menschen immer auch Artefakte und Konzepte unterwegs waren, mit der Globalisierung habe die Mobilität von Technologien, Geld, Bildern und Ideen aber eine neue Qualität erhalten. Neben den von verschiedenen mobilen Personengruppen auf-gespannten ethnoscapes benennt Appadurai mediascapes, technoscapes, fi-nancescapes und ideoscapes als Landschaften, um die bewegte Welt der Gegen-wart zu kartografieren. Diese neue Aufmerksamkeit für Mobilität geht allerdings über den historischen Moment und die Disziplin der Anthropologie hinaus, wenn Menschen nun als „prinzipiell geografisch mobil“ (Düvell 2006, 94) gefasst und sämtliche Äußerungen des Lebens als Ausdruck von Mobilität interpretiert wer-den, wie es beispielsweise der Geograf Tim Cresswell (2006, 1) tut, wenn er schreibt: „From the first kicks of a newborn baby to the travels of international business people, mobility is everywhere.“1 Auch in den Geschichtswissenschaf-ten lässt sich inzwischen ein verstärktes Interesse für Mobilität feststellen, und die jahrzehntealte Forderung, Geschichte als Geschichte der Mobilität zu schrei-ben, wird in den letzten Jahren vermehrt aufgegriffen.2

Angesichts solcher Entwicklungen sprechen VertreterInnen verschiedener Disziplinen – vor allem im Umfeld des Soziologen John Urry – seit kurzem von einem „mobility turn“ (Hannam/Sheller/Urry 2006, Urry 2007, Urry 2008).3 Im

1 Zur aktuellen Mobilitätsdebatte in der Geografie vgl. auch Peter Adey (2010). 2 Vgl. hierzu Klaus Bade (2000, 13) und (2002, 35) sowie ausführlicher Kapitel 3. Zu Bemühungen in der Anthropologie, Weltgeschichte als Geschichte kultureller Interaktionen und damit von Mobi-litäten zu beschreiben vgl. z.B. Eric R. Wolf (1997) sowie dessen Verweise auf frühere Ansätze (ebd., 395). 3 Tim Cresswell (2006, ixf.) datiert die Entstehung einer transdisziplinären Forschungsagenda, die als mobility turn oder new mobilities paradigm bezeichnet wird, auf das Jahr 1996 zurück. Derartige konkrete Datierungen sind jedoch problematisch. So sprechen beispielsweise Mirjana Morokvasic und Hedwig Rudolph bereits 1994 (22ff.) unter Berufung auf Alain Tarrius, der den Begriff des Zirkulationsterritoriums prägte, von einem Mobilitäts-Paradigma. Wenn sie auch nicht unbedingt eine transdisziplinäre Forschungsagenda entwickeln, werfen Morokvasic und Rudolph bereits einige

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Editorial zu ihrer 2006 erstmalig erschienen Zeitschrift mit dem programmati-schen Titel „Mobilities“ betonen Kevin Hannam, Mimi Sheller und John Urry (2006, 5), dass ein Großteil sozialwissenschaftlicher Forschung bis vor kurzem relativ a-mobilen Leitsätzen gehorchte, und konstatieren für das 21. Jahrhundert ein „neues Mobilitätsparadigma“. Ebenso wie Appadurai und andere beziehen sie sich dabei nicht nur auf die Mobilität von Menschen, sondern auch auf die Bewegung von Objekten, Kapital und Information; ihr Konzept von Mobilität umfasst gleichermaßen weltumspannende Bewegungen wie eher lokale Prozesse des täglichen Transports, der Bewegung durch den öffentlichen Raum und der Reise von materiellen Dingen im Alltag. Anknüpfend an dieses Konzept kritisie-ren Weert Canzler, Vincent Kaufmann und Sven Kesselring (2008, 2f.) Mobili-tätsvorstellungen, die nur „reale“ oder „virtuelle“ geografische Bewegungen von Menschen, Artefakten und Ideen erfassen. Im Unterschied zur Fokussierung rein geografischer Bewegung (movement), plädieren sie für ein Mobilitätsparadigma, das auch soziale Mobilität einbezieht. Zudem soll nicht erst tatsächliche („reale“ oder „virtuelle“) Mobilität, sondern auch bereits das Potenzial zu sozialer und räumlicher Mobilität (motility)4 berücksichtigt werden. Gegenstand des Mobili-tätsparadigmas sind dabei immer sowohl bewegliche als auch statische Momen-te. Immobilität wird als konstitutiv für Mobilität gefasst.

In diesem Kapitel möchte ich nun der Frage nachgehen, inwiefern es sich bei der verstärkten Aufmerksamkeit für Mobilität um ein „neues Mobilitätspara-digma“ bzw. einen „mobility turn“ handelt und welcher analytische Nutzen sich für meine eigene Forschung aus diesen Überlegungen ziehen lässt. Dazu werde ich mich insbesondere mit der Metaphorisierung analytischer Begriffe beschäfti-gen, die als Indizien für eine begriffliche Wende verstanden werden können. Vorab sollen jedoch die Begriffe „Paradigmenwechsel“ und „turn“ im Hinblick auf die wissenschaftliche Beschäftigung mit Mobilität näher betrachtet werden.

1.1 Zum Begriff des Paradigmenwechsels Um die These einer begrifflichen Wende von Territorialität oder Sesshaftigkeit hin zu Mobilität zu prüfen, soll hier zunächst auf Thomas S. Kuhns Überlegun-gen zu wissenschaftlichen Paradigmen zurückgegriffen werden. In Abgrenzung zu Kuhns Thesen lassen sich einige Merkmale begrifflicher Neuorientierungen im kultur- und sozialwissenschaftlichen Zusammenhang im Allgemeinen und im Hinblick auf „das neue Mobilitätsparadigma“ im Besonderen herausarbeiten. Zu zentrale Forschungsfragen auf, die Urry und andere später ähnlich formulierten. (Vgl. hierzu auch Tsing 1993) 4 Zum Verständnis von motility als sozialem Kapital vgl. auch Vincent Kaufmann (2002).

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1.1 Zum Begriff des Paradigmenwechsels 25

den folgenden drei Aspekten möchte ich Argumente Kuhns und Einsprüche anderer AutorInnen kurz anreißen: (1) Transformation versus Revolution, (2) Reichweite begrifflicher Umorientierungen, (3) Wettstreit unterschiedlicher Theorien versus Paradigmenwechsel.

(1) Nach Kuhn geschehen Paradigmenwechsel dann, wenn die „normale Wissenschaft“ Krisen und Anomalien bei der Anwendung ihres herkömmlichen Begriffsnetzes erkennt.

„Und diese werden nicht durch Überlegung und Interpretation, sondern durch ein re-lativ plötzliches und ungegliedertes Ereignis gleich einem Gestaltwandel beendet. Die Wissenschaftler sprechen dann oft von den ‚Schuppen, die ihnen von den Augen fallen’ oder dem ‚Blitzstrahl’, der ein vorher dunkles Rätsel ‚erhellt’, wodurch seine Bestandteile in einem neuen Licht gesehen werden können, das zum ersten Mal sei-ne Lösung gestattet. Bei anderen Gelegenheiten kommt die betreffende Erleuchtung im Schlaf.“ (Kuhn 1976, 134f.)

Kuhn entwickelte seine Theorie wissenschaftlicher Revolutionen für die Na-turwissenschaften und hatte beispielsweise wissenschaftliche Entwicklungen aus der Geschichte der Physik vor Augen, die mit Namen wie Kopernikus, Newton oder Einstein verbunden sind. Seine Überlegungen sind nicht ohne Weiteres auf die Kultur- und Sozialwissenschaften übertragbar, da das Entstehen von neuen wissenschaftlichen Konzepten hier nicht ursächlich mit plötzlichen Eingebungen erklärt werden kann, die alle vorherigen Konzepte komplett ablösen.5

Kuhns Konzept von Paradigma und Paradigmenwechsel kann mit Pierre Bourdieus Begriff der doxa verglichen werden. Bourdieu zufolge besteht der soziale Raum aus verschiedenen, sich aber durchaus überkreuzenden Feldern. Er unterscheidet beispielsweise das Feld der Religion, das Feld der Kunst oder das Feld der Wissenschaft. Jedes Feld hat eigene Spielregeln, die doxa. Sie sind die „Grundvoraussetzungen des Felds“, denen „unbestrittene, unreflektierte, naive, eingeborene Anerkennung“ gezollt wird, weswegen die doxa als „Urglauben“ definiert werden können (Bourdieu 1993a, 125). Die doxa sind allerdings nicht unumstößlich, wobei diejenigen, die im Feld über Macht und Autorität verfügen, eher Erhaltungsstrategien verfolgen, während andere – häufig die Neuen und Jüngeren – eher zu Umsturzstrategien neigen. Doch selbst wenn Einzelne darauf aus sind, die Kräfteverhältnisse in einem Feld zu verändern, ist doch allen das

5 Auch für die Naturwissenschaften ist Kuhns Konzept von Paradigmen und plötzlichen Paradigmen-wechseln fraglich, vgl. hierzu z.B. Knorr Cetina (1991). Michel Foucault (1974, 12) hingegen betont übereinstimmend mit Kuhn „die Plötzlichkeit und die Gründlichkeit, mit der bestimmte Wissen-schaften manchmal reorganisiert wurden“, was ihm zufolge über die Wissenschaft hinaus dazu führen kann, „daß die Dinge plötzlich nicht mehr auf die gleiche Weise perzipiert, beschrieben, genannt, charakterisiert, klassifiziert und gelernt werden“ (ebd., 269).

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Grundinteresse am Erhalt des Feldes gemein: „Wer sich am Kampf beteiligt, trägt zur Reproduktion des Spiels bei“ (Bourdieu 1993b, 109). Ständig stattfin-dende „Teilrevolutionen“ seien „die Grundlage des Spiels selbst“ (ebd., 109f.; vgl. hierzu auch Bourdieu 1998, 142).

Vor diesem Hintergrund ist es plausibel, dass Andreas Reckwitz (2006) in seiner Studie zum Wandel des theoretischen Feldes der Kulturtheorien im 20. Jahrhundert nicht von „Revolutionen“ spricht, mit denen ein veraltetes Begriffs-netz komplett durch ein neues ersetzt wird, sondern von „Transformationen“, die in Auseinandersetzung mit anderen Theorien zu „konzeptuellen Verschiebun-gen“ oder „Konvergenzbewegungen“ führen. Und Doris Bachmann-Medick (2006, 27) vertritt die These, dass es „die theoriebildenden Mikroereignisse [sind], die eine Wendung überhaupt erst vorbereiten und die dann aktiv verstärkt oder auch ausgeblendet werden“. Dies gilt auch für das Mobilitätsparadigma, das nicht von heute auf morgen über einen Wissenschaftler und seine Disziplin kam, sondern eher das Ergebnis diverser Entwicklungen darstellt, wie weiter unten am Beispiel der verbreiteten Verwendung von Mobilitätsmetaphern gezeigt werden soll. Die – nicht unerhebliche – Leistung Einzelner besteht allenfalls darin, diese Entwicklungen unter eine gemeinsame Überschrift – „mobilities“ – gestellt und sie systematisiert zu haben.

(2) Wenngleich Kuhn einerseits die Bedeutung plötzlicher Eingebungen, die Einzelnen einen neuen Blick auf die Welt ermöglichen, für den Austausch von Begriffsnetzen hervorhebt, so wird andererseits auch deutlich, dass diese „Er-leuchtungen“ nur dann zu Paradigmenwechseln werden können, wenn die wis-senschaftliche Gemeinschaft dafür bereit ist. In dieser Beziehung werden Kuhns Thesen für die Kultur- und Sozialwissenschaften eingeschränkt wieder an-schlussfähig. Eine weit reichende begriffliche Neuausrichtung ist hier eben nicht auf einen einsamen Geistesblitz zurückzuführen, sondern wird durch verschie-dene Ansätze in verschiedenen Forschungszusammenhängen vorbereitet, was es überhaupt erst ermöglicht, den Wandel eines Begriffsnetzes zu beobachten. Al-lerdings stellt Kuhn sich wissenschaftliche Gemeinschaften als disziplinär be-grenzt vor.6 Es lässt sich jedoch beobachten, „daß zur gleichen Zeit ähnliche Veränderungen in offensichtlich sehr verschiedenen Disziplinen auftraten“ (Fou-cault 1994, 12).

Wie Kuhn ging es auch John Urry zunächst nur um den begrifflichen Wan-del innerhalb einer Disziplin. In seinem 2000 erschienenen Buch „Sociology beyond Societies“ versucht er, relevante Kategorien für eine Soziologie des 21. Jahrhunderts zu entwickeln. Seiner Ansicht nach muss die Soziologie in Zukunft verstärkt der Tatsache Rechnung tragen, dass globale Netzwerke und Flüsse das

6 Zur Definition einer wissenschaftlichen Gemeinschaft vgl. Kuhn (1977, 390ff.).

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1.1 Zum Begriff des Paradigmenwechsels 27

Soziale in seiner nationalgesellschaftlichen Form untergraben. Seinen Beitrag versteht er daher als Manifest für eine Soziologie, die verschiedene, teilweise miteinander verschränkte Mobilitäten von „Menschen, Objekten, Images, Infor-mationen und Abfällen“ (ebd., 1) untersucht und ihre Konsequenzen für das Soziale analysiert. Urry begreift die Disziplin der Soziologie als prädestiniert für die Erforschung von Mobilitäten, da Mobilität – wenn auch in Form von verti-kaler, also sozialer, beispielsweise auf Möglichkeiten der Überschreitung von Bildungs- oder Einkommensgrenzen bezogener Mobilität – schon immer zu den Kernaufgaben der Soziologie gehört habe. Eine gleichzeitige Erforschung von geografischer wie sozialer, von vertikaler wie horizontaler Mobilität stellt in seinen Augen eine logische und sinnvolle Erweiterung des soziologischen For-schungsprogramms dar. Im Gegensatz zu den meisten anderen Sozialwissen-schaften sei die Soziologie zudem weniger Prozessen diskursiver Normalisierung und Kontrolle unterworfen und auch deshalb besser für die Erforschung von Mobilität geeignet. (Vgl. ebd., 2f.)

Urrys Fokus auf die Soziologie bleibt plausibel, so lange er sich mit den verschiedenen Begriffen von „Gesellschaft“ innerhalb der Soziologie befasst und ihre Herausforderungen durch Globalisierungsprozesse diskutiert. Mit seiner generellen Privilegierung der Soziologie als Leitdisziplin in der Erforschung von Mobilität vernachlässigt er allerdings Beiträge aus anderen Disziplinen, die seit geraumer Zeit einen Perspektivwechsel auf Mobilität befördern, wie beispiels-weise die Kultur- und Sozialanthropologie, die ihre Konzepte von „Ethnos“ (vgl. Welz 1994) und „Kultur“ (vgl. Welz 2004) unter dem Eindruck von quantitativ und qualitativ neuen Mobilitätsphänomenen ebenso überarbeitet hat wie die Geografie ihre Raumbegriffe (vgl. z.B. Harvey 1989, Soja 1989, Massey 1994).7 Erst eine Berücksichtigung der Reise von Konzepten der Mobilität durch eine Vielzahl von Disziplinen und Denkrichtungen kann dem Ausmaß der begriffli-chen Neuorientierung daher gerecht werden.

In späteren, von Urry mitverfassten Texten zu Mobilität ist dann auch von einem disziplinenübergreifenden „Paradigmenwechsel“ oder „turn“ die Rede. So wird in dem gemeinsam mit Mimi Sheller (2006) verfassten Zeitschriftenartikel „The new mobilities paradigm“ etwa betont, dass dem neuen Paradigma Arbei-ten aus Anthropologie, Cultural Studies, Geografie, Migrationsforschung, Scien-ce and Technology Studies, Tourismus- und Transportforschung sowie Soziolo-gie zugrunde liegen. Und im Editorial zur ersten Ausgabe ihrer Zeitschrift „Mo-

7 Stephen Greenblatt (2010, 3) weist darauf hin, dass bei aller Anerkennung von Mobilität in den letzten Jahren, die Vorstellung der „rootedness“ von Kultur innerhalb und außerhalb der Wissen-schaft nach wie vor weit verbreitet ist und zum Teil durch die neue Aufmerksamkeit für Globalisie-rungsprozesse sogar noch bestärkt wurde. Er fordert, diese „sensation of rootedness“ (ebd., 252) zum zentralen Gegenstand der mobility studies zu machen.

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bilities“8 sprechen Kevin Hannam, Mimi Sheller und John Urry von den Sozial-wissenschaften und von der Überschreitung disziplinärer Grenzen:

„[A] ‘mobility turn’ is spreading into and transforming the social sciences, not only placing new issues on the table, but also transcending disciplinary boundaries and putting into question the fundamental ‘territorial’ and ‘sedentary’ precepts of twenti-eth-century social science“ (Hannam, Sheller, Urry 2006, 1f.).

In seinem 2007 erschienen Buch „Mobilities“ räumt Urry darüber hinaus Ver-bindungen und Überschneidungen sowohl mit der Physik als auch mit den Lite-ratur- und Geschichtswissenschaften eine besondere Bedeutung für die Mobili-tätsforschung ein. Angesichts des disziplinenübergreifenden oder post-dis-ziplinären (Urry 2007, 18) Charakters des mobility turn komme es darauf an, die „paradigmatischen Fragmente“ aus den „Festungen“ von Einzeldisziplinen zu befreien.9 Bildreich formuliert Urry (ebd.):

„I use the term mobilities to refer to the broader project of establishing a movement-driven social science. And in making the subterranean visible it redraws many ways in which social science has been practised, especially as organized within distinct ‘regions’ or ‘fortresses’ of policed, bounded and antagonistic ‘disciplines’. I use the term subterranean to indicate how this paradigm is not being generated de novo. There are various paradigmatic fragments found in multiple archives that rest unea-

8 Kuhn (1976, 34) führt in seiner Theorie wissenschaftlicher Revolutionen aus, dass unter anderem die Entwicklung von Fachzeitschriften der Durchsetzung eines Paradigmas zuträglich ist, während Bücher „gewöhnlich Lehrbücher oder rückblickende Betrachtungen über diesen oder jenen Aspekt des wissenschaftlichen Lebens“ seien. Vergleicht man Urrys rückblickende Auseinandersetzung mit dem Begriff der „Gesellschaft“ in der Soziologie, mit der er sich in „Sociology beyond Societies“ in die Fachgeschichte einschreibt, mit dem Editorial von „Mobilities“, so fällt auf, dass letzteres sich nicht lange mit Begriffsgeschichte aufhält, sondern direkt eine begriffliche Neuausrichtung auf Mobilität hin behauptet. Das unterschiedliche Publikationsformat und die entsprechend unterschied-lichen Argumentationsweisen können daher als Indiz für einen von Urry strategisch mit beförderten oder zumindest diagnostizierten Paradigmenwechsel gesehen werden, der zugleich den Charakter einer „selbsterfüllenden Prophezeiung“ hat. 9 Urry widmet sich in „Mobilities“ der Befreiung entsprechender Fragmente bei Georg Simmel. Simmel sei der erste Sozialwissenschaftler gewesen, der versucht habe, ein Mobilitätsparadigma zu entwickeln, behauptet Urry (2007, 20ff.). In der Tat spricht Simmel (1992, 761) bereits von „fließen-den Vergesellschaftungen“ und formuliert soziologische Fragestellungen wie: „welche Formen der Vergesellschaftung stellen sich bei einer wandernden Gruppe im Unterschied gegen eine räumlich fixierte ein? und: welche Formen ergeben sich, wenn zwar nicht eine Gruppe als ganze, aber gewisse Elemente ihrer wandern, für die Gruppe selbst und für die wandernden Personen?“ (ebd., 748) In den folgenden hundert Jahren seien diese Einsichten jedoch kaum weiterverfolgt wurden, meint Urry. Er möchte nun wieder an Simmel anknüpfen, vor allem an dessen Entwürfe einer „system-ness of mobility“ (Urry 2007, 23) zur Konzeptualisierung des komplexen Zusammenspiels verschiedener Mobilitäten und Immobilitäten.

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1.1 Zum Begriff des Paradigmenwechsels 29

sily within their current disciplinary fortresses […]. The new paradigm will seek to release these fragments from their cage and enable them to fly.“

Die disziplinär begrenzte wissenschaftliche Gemeinschaft, die Kuhn vor Augen hatte und an die auch Urry sich zunächst richtete, wird Theorie-Transformatio-nen in kultur- und sozialwissenschaftlichen Forschungszusammenhängen also nicht gerecht. In Bezug auf das „Mobilitätsparadigma“ umfasst die betreffende Gemeinschaft, innerhalb derer begriffliche Verschiebungen stattfinden, weit mehr als die Disziplin der Soziologie. Sie kann nicht einmal auf die Kultur- und Sozialwissenschaften beschränkt werden, sondern beinhaltet ebenso naturwis-senschaftliche Forschungen10. Da auch nicht-wissenschaftliche Diskurse und Praktiken Eingang in wissenschaftliche Konzepte finden und die Paradigmen der Wissenschaft nicht auf Diskussionen in dezidiert wissenschaftlichen Zirkeln beschränkt bleiben, umfasst aber selbst eine disziplinenübergreifende wissen-schaftliche Gemeinschaft noch nicht alle an einer begrifflichen Neuorientierung Beteiligten. In Anbetracht von Wissensgesellschaften, in denen ExpertInnenwis-sen alle Bereiche des sozialen Lebens durchdringt, spricht Karin Knorr-Cetina (2002) daher von „Wissenskulturen“ in Abgrenzung zu „Disziplinen“ oder „Spe-zialgebieten“, und Sabine Maasen (1995, 26ff.) betont, dass Konzepte zwischen allen Diskurstypen – wissenschaftlichen wie nicht-wissenschaftlichen – zirkulie-ren. Beide beziehen sich dabei auf Michel Foucault, dem es mit seinem Begriff der episteme ganz grundlegend um die Bedingungen der Möglichkeit des Den-kens zu bestimmten Zeiten geht und damit um „das Unbewußte in der Wissen-schaft“ (Foucault 1974, 11).11

(3) Marylin Strathern kritisiert, dass Kuhns wissenschaftliche Gemein-schaften „geschlossenen Systemen“ entsprächen und konzeptuelle Richtungs-wechsel als Ablösung veralteter Paradigmen innerhalb dieser Gemeinschaften begriffen würden, wobei Wettstreit zwischen verschiedenen Ansätzen auf ein Übergangsphänomen reduziert werde:

10 So stand beispielsweise der Deutsche Ingenieurtag 2007 in Mannheim unter dem Motto „Welt in Bewegung – Mobilität verbindet“. Versammelt waren hier sowohl ExpertInnen aus dem Verkehrswe-sen, dem Bauwesen, der Energietechnik und der Logistik als auch aus den Bereichen Nanotechnik, Brennstoffzellen, Kommunikationstechnick, Bionik, Umwelttechnik, Medizintechnik und Volkswirt-schaft. (Vgl. Verein Deutscher Ingenieure 2007) Von Seiten der ingenieurwissenschaftlich-technisch dominierten Planungswissenschaft ist im Hinblick auf die Erforschung von Mobilität zunehmend eine Öffnung für sozialwissenschaftliche Fragestellungen erkennbar (vgl. hierzu z.B. Freudendal-Petersen 2009). Auch in der Psychologie wurde „Mobilität“ kürzlich als interdisziplinär anschlussfä-higes Forschungsthema entdeckt (vgl. hierzu Dick 2009). 11 Zu einer kritischen Diskussion von Foucaults Konzept der episteme im Vergleich zu Kuhns Para-digmata vgl. Piaget (1973, 123ff.).

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30 1 Mobilitäten

„Eine Revolution dient nur dazu, das System erneut zu schließen: aufeinanderfol-gende Paradigmen verdrängen einander oder substituieren sich. Offener Wettstreit unter Paradigmen ist kurzlebig, weil die BefürworterInnen des neuen Paradigmas behaupten, die Probleme, die die BefürworterInnen des alten Paradigmas in Schwie-rigkeiten brachten, gelöst zu haben.“ (Strathern 1993, 183)

In den Kultur- und Sozialwissenschaften gehe es jedoch nicht um „Problemlö-sen“, und unterschiedliche theoretische Positionen, verbunden mit unterschiedli-chen sozialen Interessen, könnten nicht in einer „Homogenisierung oder Versöh-nung aller Standpunkte“ (ebd., 185) zusammengeführt werden, sondern seien in ihrer Heterogenität und Widersprüchlichkeit konstitutiv für die wissenschaftliche Praxis in diesen Disziplinen.12 Sie kommt daher zu dem Schluss, dass Kuhns Konzept des Paradigmas hierfür nicht anwendbar ist,

„erstens weil die verschiedenen theoretischen Positionen, die in den Sozialwissen-schaften eingenommen werden, nicht analog zu den Paradigmen der Kuhnschen Wissenschaft sind. Sie beruhen auf offenem Konflikt zwischen wettstreitenden The-orien, die nicht auf eine einzelne Position reduziert werden können. Und zweitens, weil theoretische Positionen, zumindest in der Anthropologie, tatsächlich sehr leicht umgeworfen und ersetzt werden können“ (ebd., 186).13

In ähnlicher Weise betont auch Marshall Sahlins, dass man Paradigmen und Paradigmenwechsel in den Sozialwissenschaften häufig kaum von Modeerschei-nungen unterscheiden könne. Während Strathern auf die konstitutive Bedeutung konfligierender Theorien verweist, problematisiert Sahlins (2002, 73) allerdings die Gefahren von zu weitreichenden Erklärungsansätzen:

„In the social sciences, paradigms are not outmoded because they explain less and less, but rather because they explain more and more – until, all too soon, they are explaining just about everything. There is an inflation effect in social paradigms, which quickly cheapens them.“14

12 Auch wenn Strathern nicht explizit darauf verweist, deutet sie hier eine Grundkonstellation des sogenannten Positivismusstreits an, der im Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht weiter ausgeführt werden kann, vgl. hierzu z.B. Dahms (1994). 13 Strathern (1993, 192) lehnt den Begriff des Paradigmas zwar ab, betont jedoch, dass es ein „’Set’ von Ansichten“ gebe, das in der Anthropologie – aber nicht nur dort – als so grundlegend erachtet werde, dass man ohne es nicht weiterkommen könne. 14 Als Beispiel führt Sahlins das „theoretische Regime“ an, das die Analyse der Effekte von Macht-beziehungen überbetone. Konkret auf Foucaults Theorie der Macht bezogen, veranschaulicht Edward Said (1997, 287ff.), wie der Theorie-Transport aus Frankreich in die Vereinigten Staaten zu starken Verallgemeinerungen und Vereinfachungen führte, und stellt fest, „wie blaß dieser Machtbegriff werden kann, wenn er zu weit wandert“ (ebd., 289). Eine ähnlich kritische Perspektive wirft Gudrun-Axeli Knapp (2005a+b) auf die die transatlantische Reise der viel zitierten Triade von race, class und gender, die seit Ende der 1970er Jahre zu einer paradigmatischen Neuorientierung der Geschlechter-

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1.2 Zum Begriff des turn 31

Ob sich „das neue Mobilitätsparadigma“ abnutzt, bleibt abzuwarten und kann im Rahmen dieser Arbeit nicht geklärt werden. Es zeichnet sich jedoch ab, dass das konfligierende „Paradigma der Sesshaftigkeit“ oder „Immobilität“ nicht voll-kommen an Bedeutung verloren hat, sondern vielmehr konstitutiv für den Dis-kurs um Mobilität bleibt. Die fehlende Berücksichtigung konfligierender Ansätze ebenso wie die These von der revolutionären Umwälzung innerhalb klar defi-nierbarer wissenschaftlicher Disziplinen machen Kuhns Konzept des Paradig-menwechsels für begriffliche Neuorientierungen in den Kultur- und Sozialwis-senschaften und speziell im Hinblick auf ein „neues Mobilitätsparadigma“ in jedem Fall problematisch. Der Bedeutungszuwachs von Mobilität und verwand-ter Konzepte als Analysegrundlage soll daher im Folgenden eher im Sinne eines turn15 verstanden werden.

1.2 Zum Begriff des turn Doris Bachmann-Medick (2006, 17f.) definiert einen turn in Abgrenzung zu ei-nem Paradigmenwechsel folgendermaßen:

„Auch wenn diese Richtungswechsel keineswegs vage in ihrer Genese, doch noch viel entschiedener in ihrer Wirkung sind, zeigen die ‚Wenden’ in der gegenwärtigen Forschungslandschaft der Kulturwissenschaften jedenfalls keine Unumkehrbarkeit. Niemals handelt es sich um vollständige und umfassende Kehrtwenden eines ganzen Faches, sondern eher um die Ausbildung und Profilierung einzelner Wendungen und Neufokussierungen, mit denen sich ein Fach oder ein Forschungsansatz interdiszi-plinär anschlussfähig machen kann. Es kommt zum Methodenpluralismus, zu Grenzüberschreitungen, eklektizistischen Methodenübernahmen – nicht jedoch zur Herausbildung eines Paradigmas, das ein anderes, vorhergehendes vollständig er-setzt. So redet man etwa von der anthropologischen Wende in der Literaturwissen-schaft, nicht aber der Literaturwissenschaft.“

Ungefähr seit Ende der 1970er Jahre haben sich anknüpfend an den linguistic turn (vgl. hierzu Rorty 1967) eine Reihe von begrifflichen Neuorientierungen herausgebildet, die als turns bezeichnet werden, einige davon – wie der inter-pretative turn, der performative turn und der reflexive turn – wurden Bachmann-Medick (2006, 7f.) zufolge im Feld der Kulturanthropologie angestoßen. Bei anderen von Bachmann-Medick untersuchten turns wie dem postcolonial turn,

forschung führte. Inzwischen ersetzt das „schnellreisende ‚Mantra’“ raceclassgenderetc. häufig komplexe intersektionelle Analysen. 15 Zur Begründung der Wahl des englischen Begriffs turn anstelle des deutschen „Wende“ und zu den Grenzen der Übertragbarkeit auf anderssprachige Kontexte vgl. Bachmann-Medick (2006, 32f.).

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dem spatial turn, dem iconic turn und dem translational turn hätten andere Fä-cher die Rolle der Leitdisziplin übernommen. Angestoßen worden seien alle diese turns durch eine grundsätzliche Umorientierung auf Kultur (cultural turn) in den Kultur- und Sozialwissenschaften, die „eine Neubewertung von Symbo-lisierung, Sprache und Repräsentation auf den Weg gebracht“ (ebd., 13) hätten, wobei der cultural turn aufgrund seiner Ausdifferenzierung in vielen verschie-denen turns nicht als neue „Meistererzählung“ zu verstehen sei. Auch „das Wie-deraufleben der materiell-ökonomischen und sozialen ‚Kehrseite’ mitten im kulturwissenschaftlichen Diskurs“ und die „facettenreichen kulturwissenschaftli-chen Neuorientierungen“ (ebd., 14) sprächen gegen die „große Erzählung“ vom cultural turn.

Insofern mit turns nicht ein komplettes Begriffsnetz durch ein anderes aus-getauscht wird, folgen turns auch nicht chronologisch aufeinander, sondern exis-tieren neben- und ineinander.16 Sie können sich sowohl zeitlich parallel entwi-ckeln als auch starke inhaltliche Parallelen aufweisen. (Vgl. ebd., 45) Der mo-bility turn ist beispielsweise eng mit dem spatial turn verbunden, der auf einer zunehmenden Bedeutung des Raumbegriffs in den Kultur- und Sozialwissen-schaften seit Mitte der 1980er Jahre beruht. Sein Bedeutungszuwachs wurde begünstigt durch die politischen Umbrüche der späten 1980er Jahre. Nach dem Ende der Blockkonfrontation wurden Grenzen, die vorher undurchdringlich schienen, für Kapital, Güter und Menschen geöffnet. Gleichzeitig entstanden neue Grenzziehungen und Raumansprüche. Die Welt musste neu kartiert werden. (Vgl. ebd., 286f.) Kennzeichnend für den spatial turn ist die Beschäftigung mit dem „Spannungsverhältnis zwischen Auflösung und Wiederkehr des Raumes“ (ebd., 288), das sich im mobility turn in der Reflexion des Verhältnisses von Mobilität und Immobilität wieder finden lässt. Da in beiden turns Fragen nach Machtverhältnissen eine zentrale Rolle spielen – Wer kann wirkmächtige Gren-zen ziehen? Unter welchen Bedingungen können Grenzen von wem überwunden werden und von wem nicht? –, wie sie insbesondere durch den postcolonial turn angestoßen wurden, gibt es auch zu letzterem bedeutsame Parallelen.

Ebenso wie sich der Raumbegriff vom konkreten historischen Rahmen sei-ner Wiederentdeckung sowie seiner begrenzten Funktion zur Beschreibung phy-sisch-territorialer Gegebenheiten gelöst hat und Raum nun als „gesellschaftlicher Produktionsprozess“ (ebd., 292) verstanden wird, wandelte sich der Terminus „postkolonial“ von einem historischen Epochenbegriff zu einem politisch-pro-

16 Zur Abgrenzung der turns von „kohärenten Konzepten“ wie Kulturrelativismus, Funktionalismus, Strukturalismus oder Poststrukturalismus vgl. Bachmann-Medick (2006, 18). Zur Einordnung des cultural turn in „philosophische Innovationen“ des 20. Jahrhunderts wie Phänomenologie und Her-meneutik, Strukturalismus, Semiotik und Neo- oder Poststrukturalismus, die Handlungs- und Sprach-philosophie Wittgensteins und den amerikanischen Pragmatismus vgl. Reckwitz (2006).