nordkurdistan/türkei: delegationsbericht oktober 2010

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Bericht der Menschenrechtsdelegation aus Brüssel, Berlin, NRW und Hamburg Foto M. Knapp: Proteste vor dem Gerichtsgebäude in Amed/Diyarbakır Zeitraum der Reise: 15.10.2010 25.10.2010 Nach Istanbul, Diyarbakir, Van, Hakkari, Semdinli, Yüksekova

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Delegation in die kurdischen Gebiete in der Türkei, zum KCK Prozess, nach Van, Yüksekova, Semdinli und Hakkari

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Page 1: Nordkurdistan/Türkei: Delegationsbericht Oktober 2010

Bericht der Menschenrechtsdelegation aus Brüssel, Berlin, NRW und Hamburg

Foto M. Knapp: Proteste vor dem Gerichtsgebäude in Amed/Diyarbakır

Zeitraum der Reise: 15.10.2010 ‐ 25.10.2010 Nach Istanbul, Diyarbakir, Van, Hakkari, Semdinli, Yüksekova

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Bericht der Menschenrechtsdelegation aus Brüssel, Berlin, NRW undHamburgZeitraumderReise:15.10.2010‐25.10.2010Orte:Istanbul,Diyarbakir,Van,Hakkari,Semdinli,YüksekovaGesprächspartnerInnen:AnwältInnen,VorsitzendevonAnwaltskammern,BürgermeisterInnen,MenschenrechtlerInnen,BDPParlamentsabgeordnete,BDPKommunalpolitikerInnen,Polizeibeamte,AngestelltevonStadtverwaltungen,VereinderVerschwundenen,Gefangenenhilfsverein,FrauenvereineTeilnehmerInnenderReise:ersterTeil;Diyarbakir:AndrejHunkoMdB,JürgenKluteMdEP,IngridRemmersMdB,BärbelBeuermannMdLNRW,MichaelKnapp,Menschenrechtler,DelegierterderMdLBärbelBeuermann,BrittaEder,Rechtsanwältin,DelegiertedesRepublikanischenAnwältinnen‐undAnwältevereins(RAV),SinjeKätsch,Kunsttherapeutin,JulanaBredtmann,Politologiestudentin,YilmazKaba,DieLinkeCelleundMartinDolzerSoziologeundWissenschaftlicherProjektmitarbeiterdesMdBundMdPdesEuroparatsAndrejHunko.zweiterTeil;Van,Hakkari,Semdinli,Yüksekova:MichaelKnapp,Menschenrechtler,DelegierterderMdLBärbelBeuermann,BrittaEder,Rechtsanwältin,DelegiertedesRepublikanischenAnwältinnen‐undAnwältevereins(RAV),SinjeKätsch,Kunsttherapeutin,JulanaBredtmann,YilmazKaba,DieLinkeCelle,PolitologiestudentinundMartinDolzerSoziologeundWissenschaftlicherProjektmitarbeiterdesMdBundMdPdesEuroparatsAndrejHunko. DiemomentaneSituationindenkurdischenProvinzenderTürkeiDieaktuelleLage inden kurdischenProvinzender Türkei istvongravierendenMenschenrechts‐verletzungen,RepressionundKriegsverbrechendurchdastürkischeMilitärundSondereinheitenderJandarmageprägt.Trotz eines einseitigen, nur kurzzeitig aufgrund der andauernden Kriegs‐ und Repressionspolitikdes türkischen Staates unterbrochenen, Waffenstillstands der PKK, finden seit Monaten fasttäglich Militäroperationen und Übergriffe staatlicher Kräfte auf die Zivilbevölkerung statt. ImerstenHalbjahr2010kames indiesemRahmenzumehrals20extralegalenHinrichtungendurchstaatliche und paramilitärische Kräfte und über 650 dokumentierten Fällen von Folter. In denletzten 5 Monaten häufen sich zudem Berichte über den Einsatz chemischer Waffen undpostmortale Verstümmelungen durch das türkische Militär. Auch gelegte Waldbrände und derEinsatzvongiftigenEntlaubungsmittelnwurdengehäuftdokumentiert.PsychologischeKriegsführungwirdalsweiteresMittelderAuseinandersetzunginunterschiedlichstarker Ausprägung genutzt. Die Pressefreiheit wird immer wieder eingeschränkt. Folter undÜbergriffedurchPolizeiundMilitärsindbesondersindenProvinzenHakkari,Sirnak,Dersim,AgriundSiirtander Tagesordnung. Besondersdavonbetroffensind JournalistInnen,Menschenrech‐tlerInnen und politisch Tätige. In Kleinstädten ist zusätzlich die systematische Belästigung undVergewaltigungvonFrauendurchSicherheitskräfteeingroßesProblem.(sieheAnhang2;11.Fall)Die Realität, dass in den kurdischen Provinzen des Landes ein Grossteil der Bevölkerung durch

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persönliche Kontakte oder in der langjährigenmilitärischenAuseinandersetzung gefolterte odergetöteteVerwandtemitderPKKverbundenist,lässtsichnichtleugnen.AuchdassdiePKKsowieAbdullah Öcalan demzufolge in der Bevölkerung verankert sind und einen großen Rückhaltgenießen, ist unübersehbar. Jede/r Politiker/in, die oder der sich ernsthaft mit der Situationauseinandersetzt oder versucht Zukunftsperspektiven zu entwickeln, muss mit dieser Realitätumgehen.Folglich istdieForderungderBDPineinenFriedensdialogmitsämtlichenamKonfliktBeteiligteneinzutreten, nur logischund im Sinne eines Friedens zielführend. Zudem kannnicht als StraftatgewertetwerdendieRealitätzubenennen.DenKonfliktoffenzuanalysierenundentsprechendeLösungswegeaufzuzeigen,wirdjedochvomtürkischenStaatkriminalisiert. Diyarbakir/Amed18.‐20.10.2010Nach den Kommunalwahlen im April 2009 starteten die türkischen Behörden eine seit den1990er Jahren einmalige Repressionswelle gegen kurdische PolitikerInnen, Menschenrecht‐lerInnen und JournalistInnen. In diesem Rahmenwurden über 5000Menschen festgenommen,mehrals1700vonihneninhaftiert.AmMontagden18.Oktober2010fandvordem6.Schwurgericht inderkurdischenMetropoleDiyarbakir/Amed der erste Verhandlungstag eines daraus resultierenden Gerichtsverfahrensgegen 151 Personen statt. Der Prozess ist vorerst bis Mitte November 2010 terminiert. DenBeschuldigten wird „Die Mitgliedschaft in einer verbotenen Organisation oder derenUnterstützung,“sowiedie„GefährdungdernationalenEinheit“vorgeworfen.DieAnklageschriftenbasierenhauptsächlich auf nachdenVerhaftungen konstruierten juristischunhaltbaren Konstruktionen, die auf Telefonüberwachungen und dem Aushorchen vonVersammlungen basieren. Vorgeworfen wird den Aktiven konkret der Aufbau vonbasisdemokratischenStrukturen indenKommunenderkurdischenProvinzenoderRedebeiträgevor internationalen Gremien sowie das Empfangen internationaler Delegationen. Das wird alsMitgliedschaft inoderPropagandafürdieKCK(GemeinschaftderGesellschaftenKurdistans)/PKKgewertet, da diese ähnliche Ziele, wie die von den Betroffenen artikulierten oder umgesetztenproklamiere.DieAnklageschriftumfasst7578Seiten.DiegefordertenStrafmaßebetragenzwischen15Jahrenund lebenslanger Haft.Unter den Beschuldigtenbefinden sich u.a. 12 gewählte und ehemaligeBürgermeisterInnen, Murharrem Erbey, der Vorsitzende des Menschenrechtsvereins IHD, derehemalige Parlamentsabgeordnete Hatip Dicle, sowie JournalistInnen (u.a. Hamdiye Ciftci, dieüber Praktiken des „Tiefen Staates“ in Hakkari berichtete), Verwaltungsangestellte undExpertInnenausHilfseinrichtungenfürtraumatisierteFrauen.Insgesamt waren 160 Abgeordnete aus Landes‐ und Regionalparlamenten, zahlreiche Anwält‐InnensowieMitgliedervonMenschenrechtsorganisationenundSolidaritätsgruppenaus EuropazurProzessbeobachtungangereist.Mehrere10000Menschenprotestiertenwährendder erstenProzesswochevordemGerichtsgebäudefürdieFreiheitderpolitischenGefangen.DieUmgebungwarhermetischvonPolizisten inmartialischerAusrüstung,zumTeilmitMaschinengewehrenim

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Anschlag, abgeriegelt. Wasserwerfer, Räumpanzer und Militärfahrzeuge warteten inNebenstraßen. Die Kundgebungen verliefen jedoch trotz mehrfachen Provokationen durch diePolizeifriedlichundkraftvoll.Die Öffentlichkeit wurde während der ersten Prozesstage weitgehend von der Teilnahmeausgeschlossen. Vielen Menschen darunter AnwältInnen aus mehreren Europäischen Ländernwurde der Zutritt zum Prozesssaal verweigert. Der Antrag der Angeklagten sich in kurdischerSprachezuverteidigenwurdeseitensdesGerichtsabgelehnt.Insgesamt ist unübersehbar, dass die türkische Regierung seit den Kommunalwahlen 2009 ineinem besorgniserregenden Ausmaß zu dem Mittel greift funktionierende kommunalpolitischeStrukturen,sowiePolitikerInnenundAktivistInnendie internationaleÖffentlichkeiterreichen,zukriminalisierenundzuinhaftieren‐oderindenvonzunehmendenMilitäroperationenbetroffenenProvinzen (Hakkari, Sirnak, Dersim, Siirt, Agri) das Recht auf Leben zu attackieren (s.u.). DieDemokratische Gesellschaftspartei DTP (nach deren Verbot die Demokratische FriedensparteiBDP)hattebeidenWahlen 99Kommunenstattder vorherigen58 inden kurdischenProvinzender Türkei gewonnen. Der Prozess wird von AnalytikerInnen, dem Beschriebenen zufolge, alspolitische Machtdemonstration gewertet. Der ehemalige Abgeordnete Hatip Dicle erklärte inseinerVerteidigungsschrift:„DieAngeklagtenrepräsentierendasVolk.(...)ZueinemZeitpunkt,andem über eine Niederlegung der Waffen [der PKK] diskutiert und intensiv nach einerdemokratischen Lösung der kurdischen Frage gesucht wird, darf ein solcher Prozess nichtstattfinden.“Die jetzteröffnetenVerfahrenkonterkarieren einemöglichedemokratische Entwicklung.Wennder türkische Staat eine friedliche und demokratische Lösung der kurdischen Frage anstrebt,müssen die ca. 1700 zu Unrecht verhafteten politisch Aktiven sofort frei gelassenwerden. DieKonstruktionder Anklage ist eindeutig politischmotiviert.DasVorgehender Behörden vonderFestnahme, über die Haftbedingungen bis zur Prozessführung ist unter juristischen Gesichts‐punkteninakzeptabel.TürkischesundinternationalesRechtwerdenvielfachverletzt.Der Türkische Staat kann die selbstbewusste politische Arbeit und Vertretung der kurdischenBevölkerunganscheinendnichtakzeptieren.VieleMenschenvordemGerichtssaalbrachtenzumAusdruck, dass die Beschuldigten ihre gewählten VertreterInnen sind. Protestierendemachtenimmerwiederdaraufaufmerksam,dassdiePKKunddieBevölkerungeineEinheitsind,diekeineKraftderWelttrennenkönne.Die rege Beteiligung der internationalen Öffentlichkeit zeigt, dass internationale, humanistischorientierte Kräfte aus unterschiedlichen politischen Spektren nicht gewillt sind einen derartgravierendenEingriffindieOrganisationsfreiheitunddieMenschenrechteseitensdestürkischenStaatsapparates tatenlos hinzunehmen. Die Regierungen in Europa sind dem entsprechendgeforderteinekonstruktivePraxisundAußenpolitikfüreinedemokratischeundfriedlicheLösungderKurdenfragezuentwickeln.Am21.10.2010wurdederBürgermeistervonBatman/Kozlukwegenvermeintlicher„PropagandafüreineverboteneOrganisation“zu7½JahrenHaftverurteilt. InmehrerenkurdischenStädtenkameszeitgleichzuHausdurchsuchungenundFestnahmenkurdischerAktivistInnen.

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DasProblemderGeheimhaltungsverfügungen

Sowohl in vielender jetztverhandelten,wie inweiterenFällen (s.u.),arbeitetdieStaatsanwalt‐schaft bei Verhaftungenmit so genannten Geheimhaltungsverfügungenund versucht, auf dieseWeiseeineeffektiveVerteidigungunmöglichzumachen.DieshatzurFolge,dassdenInhaftiertenundihrenVerteidigernerstmitEröffnungdesgerichtlichenHauptverfahrens,kurzvorBeginndermündlichenHauptverhandlungAkteneinsichtgewährtwird.Vorher sindderTatvorwurfunddievermeintlichenBeweisemeistunbekannt.EineeffektiveVerteidigungwirdsounmöglichgemacht.

Dies stellt eine gravierende Verletzung von Art. 5 Abs. 4 der EMRK dar, wonach beiHaftentscheidungen,wieHaftbefehlsverkündungoderHaftprüfung, derVerteidigung jedenfallsdie Aktenteile zur Verfügung stehen müssen, die sie für eine effektive Stellungnahme zu denVorwürfenbenötigt, die Gegenstanddes Haftbefehls und für die Frageder Rechtmäßigkeit derInhaftierungwesentlichsind.

Politische kurdische Gefangene in der Türkei sitzen jedoch aufgrund dieser Geheimhaltungs‐verfügung oft für viele Monate, bis über ein Jahr, in Haft ohne ausreichend Akteneinsicht zuerhalten.Sowirdu.a.eineeffektiveHaftprüfungverhindert.

Auch bei Verfahren wegen Straftaten und Kriegsverbrechen von Sicherheitskräften findet dieseGeheimhaltungsverfügung Anwendung ‐ dort aber meist, um die Geschädigten und ihreAnwältInnenmöglichstbis zumAbschluss (inmehrals99 ProzentbedeutetdasdieEinstellung)desVerfahrensimUnklarenüberdieIdentitätdermöglichenTäterunddieBeweislagezulassen.

DerartigeVerfahrenwerdensooftüberJahreverschleppt.

Van/Wan20.10.2010

Van/WanistdiezweitgrößtekurdischeMetropole,hatknapp1MillionEinwohnerInnenundwirdwie Diyarbakir/Amed von der BDP regiert. Van war eine der Kommunen die die DTP bei denKommunalwahlen2009vonderAKPgewann.DieStadtliegtamVanseeaufeinerHöhevon1.719MeterüberdemMeeresspiegel.DerVanseewirddurchFlüsseundBächeausdenumliegenden,über4.000mhohenBergengespeist.DieFlächedesSeesentsprichtdemsiebenfachenderFlächedesBodensees.HistorischwardieStadtunterdemNamenTuzbaHauptstadtdesReichesUrartu(vonca.900‐600v.Chr.).

In der ProvinzVan/Wanwurde seit den 1990 er Jahren ein großer Teil derDörfer zerstört.DieMenschenflohenfolglichindieMetropoleundweitereGroßstädteindenkurdischenProvinzender Türkei, in dieMetropolen der Türkei oder nach Europa.Die ProvinzVan/Wan ist bis heutesehr stark von Militäroperationen betroffen. Im Rahmen der Repressionswelle seit April 2009wurdenzahlreicheKommunalpolitikerInnenundVerwaltungsangestelltefestgenommen.

Der anhaltende Krieg hat die Landwirtschaft der Provinzweitgehend zum erliegen gebracht, sodass ein Teil der Bevölkerung auf Schmuggel, in den‐ und aus dem Nahe gelegenen Iranangewiesenist.DerSchmuggelu.a.vonBenzin,derkaumfürdenLebensunterhaltausreicht, istallerdings lebensgefährlich. Nach Auskunft von Menschenrechtsorganisationen sterben fastwöchentlichMenschen imGrenzgebietdurchAngriffe türkischeroder iranischerSoldaten.Auchhier werden immer wieder Fälle extralegaler Hinrichtungen dokumentiert. Große Teile der

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Grenzregion sind zudem von Minen und herumliegender Munition verseucht, die regelmäßigTodesopferfordern.

DieSituationderpolitischenGefangenen

DieSituationindenGefängnissenderTürkeiistvonMenschenrechtsverletzungengeprägt.ImmerwiederwirdvonFolterundTodesfällenberichtet.VieleGefängnissesindüberbelegt.Angehörigewerden bei Besuchen gezielt erniedrigt. Oft müssen sie sich nackt ausziehen und werden alsTerroristen beschimpft. Nach einer Gesetzesreform vor einigen Jahren wurde AngehörigenverbotenNahrung indieGefängnissezuschickenodermitzubringen.SeitdemhabenGefangenekeineMöglichkeitangemesseneErnährungzuerhalten.MangelerscheinungenundKrankheitsinddieFolge.DieGefängnissesindüberfüllt,dieRäumeoftverschimmelt,sowieimSommerzuwarmundimWinterzukalt.ZudemsinddieGefängnissemeistnichtmitöffentlichenVerkehrsmittelnzu erreichen. Mandantengespräche von AnwältInnen werden in den überwiegenden Fällenabgehört. Am 19.10.2010 starb der seit 1993 inhaftierte und schwer kranke politische Gefangene RasımGençer(40Jahre),derwegenMitgliedschaft inderPKKverurteiltewurde,aneinemHerzinfarkt.DerVatervon5Kindern,war1993festgenommenundzulebenslänglicherHaftverurteiltworden.Er blieb trotz eindeutiger Gutachten bezüglich seines lebensbedrohlichen Gesundheitszustandsinhaftiert.Landesweitsindzurzeitmindestens51kurdischepolitischeGefangenetödlicherkrankt.PolitischenGefangenenwirdgrundsätzlicheineadäquatemedizinischeVersorgungverweigert.InvielenStädtenfindenzurzeitKampagnenfürdieFreilassungderkrankenGefangenenstatt. InVan/Wan demonstrierten nach dem Tod Rasim Gencers mehrere tausend Menschen. DieDemonstrationwurdevonderPolizeiangegriffen.EskamzumehrerenbeliebigenFestnahmen.IndergesamtenStadtsahenwir indenSeitenstraßengepanzertePolizeieinheiten,diezumTeilmitMaschinenpistolenausgestattetwaren.Im Vorort Van/Bostanıcı formierten sich mehrere hundert Menschen zu einem Trauerzug. DieBeteiligtendemonstrierten fürFriedenund eineDemokratisierungderTürkeiundbrachten ihreTrauerumdenTotenzumAusdruck.SieskandiertenParolenfürdiePKKundAbdullahÖcalan.DerZug endete in einem Trauerzelt, in dem Redebeiträge gehalten wurden, in denen deutlich derWunschnachFriedensowiederAnerkennungderRechtederkurdischenBevölkerungzurSprachekam.InsgesamtwardieStimmungvollerTrauerundKraft.MütterberichtetenderDelegationvonihren im Krieg gefallenen Kindern sowie ihrer Enttäuschung über die Rolle der RegierungenEuropas, die den in Europa kaum öffentlich wahrgenommenen Vernichtungskrieg gegen diekurdische Bevölkerung und die Guerilla unterstützen. Immer wieder wurde gefragt ob dieVerantwortlichendasLeid der Bevölkerungnichtwahrnehmenoder„lediglich“ ignorantagierenwürden.

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ProvinzHakkari/Colemerg21.‐23.10.2005

Zurzeit praktizierenMilitär, Paramilitärs und staatliche Kräfte in der Provinz Hakkari/Colemerg,ähnlich wie auch in den Provinzen Sirnak, Dersim, Siirt und Agri Taktiken der psychologischenKriegsführung und physischen Vernichtung im Rahmen von Militäroperation, extralegalenHinrichtungenundBombenanschlägen. Zusätzlichkommtes täglichzuBedrohungenundFolter.Die Herstellung internationaler Öffentlichkeit wird in der gesamten Provinz Hakkari mitSanktionenvonRepressionbishinzulebensbedrohendenVorgehensweisenquittiert.BesondershervorhebenmöchtenwirfolgendeEreignisse:

1.AnschlagaufeinenReisebusinHakkariAmMorgendes16.09.explodierteumca.9.00UhrMorgenseineferngezündeteAntipanzerminein der Nähe des Dorfes Geçitli/Peyanis unter einem Reisebus. 9 Insassen, sämtlich Dorfbe‐wohnerInnen, wurden getötet. Die Mine stammte aus deutscher Produktion. StaatlicherseitswurdederAnschlagzunächstderPKKzugeschrieben,diesichsofortdistanzierteundeinsolchesVorgehengegendieZivilbevölkerungverurteilte. RecherchenvonMenschenrechtsorganisationenzufolgeergebensichfolgendeFakten:

DieBewohnerInnenvonGeçitli/Peyanis,vormalsDorfschützer,habenvoreinigerZeitihreWaffenniedergelegt und sich der BDP angeschlossen. Beim Verfassungsreferendum hatten 99% derDorfbewohnerInnendenseitensderBDPausgerufenenBoykottunterstützt.

Die Art des verwendeten Sprengsatzes, sowie am Tatort zurückgelassene Rucksäcke vonSpezialeinheiten der Türkischen Armee, welche Sprengsätze, Kabel und Anleitungen ausMilitärbesitzenthielten,diedieBevölkerungsicherstellte, legendieVermutungnahe,dasKräfteausdemMilitärdenAnschlagbegingen.

Der Tatort befindet sich auf einer übersichtlichen Ebene, die in sämtlichen Richtungen vonMilitärstützpunkten umgeben ist. In der Entfernung vonwenigen hundert Metern des TatortesbefindensichDorfschützerstationen,diedirektenBlickaufdenTatortzulassen.

NachderDetonationwurdeeinFunkspruchdertürkischenArmeeabgehört, indemthematisiertwurde, dass die Täter ihre Ausrüstung am Tatort zurückgelassen hätten und sofort abholenmüssten, bevor sie jemand fände. Die BevölkerungdesDorfeswar jedoch zuvor anden Tatortgeströmt und hatte die o.g. Beweise sichergestellt. 40 Minuten später kamen Soldaten zumTatort, schossen mehrfach in die Luft und versuchten die Taschen in Besitz zu nehmen. DieBevölkerung übergab die Taschen jedoch erst nach eingehender Dokumentation durchMenschenrechtlerInnen,direktderStaatsanwaltschaft.

AussagenzufolgegingeineWoche vor derTat einBefehldesMilitärsandieDorfschützer, eineGruppediesich inderRegionbewegenwürde,nichtzubehelligen.ObwohlderTatort innerhalbvondreiMinutenperHubschrauberausHakkari/Colemergerreichbar istundbisdahinbei jederSichtbarkeit von Unbekannten das türkische Militär mit Luftunterstützung sofort vor Ort war,bliebenMaßnahmendieserArtamTagdesAnschlagsaus.DerGouverneurvonHakkarierklärtedazu: „Ich verstehe auchnichtwarumdie Armee sich so verhielt.“Die in der Nähedes Tatorts

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stationiertenDorfschützerwaren Augenzeugenberichten zufolge, außergewöhnlicherWeise seiteinerWochevorderTatnichtmehrinderNähedesTatortsgesehenworden.

NachdemAnschlag erörtertdie BevölkerungdesDorfesmittlerweilegeschlossendieRegionzuverlassen,daihreSicherheitnichtmehrgarantiertist.

2.ÜbergriffeinHakkari/Semdinli

1.Fall

Am 15.09.10 umstellten Spezialeinheiten des Militärs und der Polizei das Haus des BDPBürgermeistersderStadtHakkari/Semdinli,SedatTöreunderöffnetendasFeuer.DasHauswurdevonKugelndurchsiebt.„Sicherheitskräfte“ausdenReihendesMilitärsverhaftetenundfoltertengleichzeitigeinenVerwandtendesBürgermeisters.Soldatenverhöhntenihn:„DuhastSedatTöreunterstützt, jetzt soll er kommen und dir helfen.“ Dabei stiegen sie auf seinen Kopf undquetschtendiesen.

2.Fall

EinTaxifahrerwurdewillkürlichwegeneinervermeintlichenStraftatimRahmeneinerBeerdigungvon Guerillas am 21.08.2010 in Semdinli festgenommen. Erwurde so schwer gefoltert, dass ervier Tage stationär im Krankenhaus behandelt werden musste. Trotz seiner, durch einÜberwachungsvideo erwiesenen Unschuld, das ihn in seinem Taxi zum Tatzeitpunkt an einemanderenOrt zeigte, ist erbisHeute inhaftiert.Wie invielenweiterenFällenwurdeüberdiesenFall von der Staatsanwaltschaft eine Geheimhaltungsverfügung verhängt. Eine effektiveVerteidigungwirdaufdieseWeiseverhindert.

3.Fall

Am21.OktoberbeschossenMilitäreinheitenbeieinerRazziaimDorfOrtaklarnaheSemdinliausSkorpion‐PanzerfahrzeugenDorfbewohnerundHäuser.Sieverletztendabeiden16JährigenIzzetDemirschweramKopf.

4.Fall

Am 08.09.2010 schoss ein Offizier des türkischen Militärs bei Protesten dem 15 jährigenJugendlichen Enver Turan gezielt in den Kopf. Der Junge verstarb wenige Wochen später. DerGouverneur von Hakkari verteidigte die Tat des Offiziers: „Ein Unteroffizier, der Opfer einesAngriffesmitSteinengewordenwar,stiegausseinemAutoausundverteidigtesichmitSchüssenindieLuft.AufgrunddessenwurdeeinePersondurcheineKugelamKopfverletzt.“Augenzeugenberichten dagegen, dass der Offizier ohne wirkliche Not aus dem Auto ausstieg, beliebig eineZielpersonwählteundschoss.DieErmittlungengegendenOffizierwerdenverschleppt.Aufgrundeiner Geheimhaltungsanordnung (s.o.) werden keine Informationen über das Verfahrenherausgegeben.

3.FestnahmenvonPolitikerInnen

In Hakkari Stadt wurden in den letzten drei Monaten zahlreiche PolitikerInnen undGewerkschafterInnen und JournalistInnen festgenommen. Darunter der ehemalige stellver‐

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tretende Bürgermeister, Bülent Armut und die engagierteMenschenrechtsjournalistin HamdiyeCiftci. Im Fall Bülent Armut wurde ebenfalls eine Geheimhaltungsverfügung verhängt, diebeinhaltet,dassihmderGrundseinerInhaftierungbishernichtmitgeteiltwird.

4.BombenanschlagaufdasParteibüroderBDPinYüksekova/Gever

Einen Tag nachdem TeilnehmerInnen der Delegation ein Büro der BDP in Yüksekova/Geverbesuchten verübten unbekannte Täter am 22.10.2010 einen Bombenanschlag auf dieses Büro.AllemAnscheinnachhandeltessichdabeiumeinenRacheaktaufgrundinternationalerKontakte.Ein Fahrzeug wurde zwischen einer verlassenenMoschee und dem BDP Gebäude geparkt. AufähnlicheWeisewar 2005 ein Anschlag auf eineMoschee in Semdinli/Semzinan verübtworden,dendieDelegationamselbenTagvorOrtdokumentierthatte.Es entstanden bei dem jetzigen Anschlag glücklicherweise lediglich Sachschaden und eineMassenpanik.DieserBombenangriff istalsTeileinernichthinnehmbarenpsychologischenKriegsführunggegendie‐undeinemausgedehntenAngriffaufdieZivilbevölkerungzusehen.

HintergründezurSituation

Inder ProvinzHakkari/ColemergbesuchtenwirdieStädteŞemdinli/Şemzinan,Yüksekova/Geverund Hakkari/Colemerg. In der Provinz Hakkari/Colemerg finden seit Monaten ausgeweiteteMilitäroperationen statt. In den letzten Wochen stationiert das türkische Militär großeTruppenkontingente an der irakischen und iranischen Grenze. Es wird eine Offensive vor demWinterbefürchtet.

DervonderBDPproklamierteBoykottdesReferendumszurVerfassungsänderung,wurdeinderProvinzHakkarivonüber90%derBevölkerunggetragen.MinisterpräsidentErdoganbezeichneteHakkari darauf hin als feindliches Gebiet, das „befreit“ werden müsse. Der türkische StaatversuchthierallemAnscheinnach,u.a.aufgrunddeseinseitigenWaffenstillstandsderPKK,eineVernichtungspolitik gegenüber der Guerilla umzusetzen und die Bevölkerung durch gezieltesystematischeÜbergriffeinAngstundSchreckenzuversetzenoderausbestimmtenRegionenzuvertreiben. Entlang der Grenze werden 141 neue Militärstützpunkte errichtet. Die Anzahl derStraßen‐ Kontrollpunkte wurde erhöht. Fälle Erniedrigender Behandlung durch Soldatengegenüber der Bevölkerung haben dort ebenso zugenommen wie insgesamt oft tödlicheÜbergriffe durch „Sicherheitskräfte“ (s.o). Besonders hoch und besorgniserregend ist in derProvinzHakkaridieAnzahlderinhaftiertenundgefoltertenKinderundJugendlichen.

So wird versucht ein Klima der Einschüchterung und Repression in der gesamten Region zuerzeugen. Inden letzten2Monatenverließenmehrals87FamilienausdiesemGrunddieStadtHakkari/Colemerg.

1.Hakkari/ColemergStadt

NachColemerg/HakkariführtnureineStraße.UmdieStadtzuerreichenmusseinKontrollpunktpassiertwerdenandemJandarma, PolizeiundGeheimdienst stationiert sindundwenn gewollt

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martialischundrabiatauftreten.DerKontrollpunktistfürseineanhaltendeFolterpraxisbekannt.

Die Stadtwird von der BDP regiert. Bürgermeister ist Dr. Fadil Bedirhanoglu. Gegen ihn laufenderzeit fünf Gerichtsverfahren. Seine Vorgänger wurden ebenfalls kriminalisiert, zum Teil desAmtes enthoben und zu Haftstrafen verurteilt. Bedirhanoglu wurde mit 80% der Stimmengewählt. Hakkari hat 90000 EinwohnerInnen und lediglich einen Jahreshaushalt von 10‐11Millionen YTL. Das entspricht in etwa 5 Millionen Euro. Das Geld für ein im Bau befindlichesKrankenhaus wurde staatlicherseits gestoppt. Eine zivilgesellschaftliche Organisation ausFrankreichwolltedenWeiterbaudesKrankenhausesfinanzieren.Auchdaswurdestaatlicherseitsverhindert. Der Ausbau der Kanalisation wird auf finanzieller Ebene blockiert. Ein besonderesProblemistdabeidieBerglagederStadt,diediesenverteuert.

Projekte desMenschenrechtsvereins IHD,wie zum Beispiel eines zur Errichtung eines ZentrumsfürTraumaaufarbeitung,werdenvomGouverneurfinanziellgeblockt.

Inder gesamtenProvinzwerdenLandwirtInnen inunzähligenFällendieWeiderechteundsomitdieExistenzgrundlageentzogen.

Semdinli/Semzinan

Auch Semdinli ist eine Stadt, die von Repression, extralegalen Hinrichtungen undMilitäroperationengezeichnet ist.Nebendeno.g.EreignissenerfuhrenwirvonmehrerenFällenvon schwer Verletzten Opfern von Minenexplosionen, durch vom türkischen Militär verlegteMinen.

SemdinliistderSchauplatzvondurchTodesschwadronenbegangenenVerbrechen.Beispieldafürist,nebendeno.g.AnschlagaufeineMoscheeimJahr2005,derAnschlagaufdieUmutBücherei,deram9.11.2005vonAgentendesGeheimdienstsJitem,derdem“tiefenStaat”zuzurechnenist,alsHandgranatenanschlag durchgeführtwurde. Als die zwei Handgranaten explodierten, warendrei anwesende Mitarbeiter gerade beim Essen. Einer wurde durch Schrapnelle tödlich, einanderer schwer verletzt. Der Mitarbeiter Seferi Yilmaz konnte fliehen. Die Bevölkerung vonSemdinli stellte die Täter in couragierter Art, die gerade ihr Fluchtfahrzeug bestiegen hatten.Dabei stellten sie eine große Menge an Dokumenten, wie Todeslisten, Attentatspläne,HandgranatenausdeutscherProduktionundeinegroßeMengeandererWaffensicher.DieTäterwurden so gestellt und der Polizei übergeben. Als Folge dieses Ereignisses blockierten dieBewohnerInnen15TagedieStadt.

DieTäterwurdenzunächstvoreinZivilgerichtgestelltundzu15JahrenHaftverurteilt.Daraufhinwurde der Prozess einem Militärgericht übergeben. Generalstabschef Yasar Büyükanit gab dieLinie des Verfahrens vor, indem er die Mörder als “gute Jungs” lobte. Das Verfahren wurdeverschleppt, die Mörder freigelassen. Sie haben, bei einem solchen Prozedere wahrscheinlichkeineVerurteilungoderKonsequenzihrerterroristischenAktivitätenzubefürchten.

Der Anschlag galt dem Buchladen wahrscheinlich, weil Seferi Yilmaz, der bei der erstenGuerillaaktionderPKKam15.08.1984teilgenommenhatte‐unddafürbereitseine15JahrelangeHaftstrafeverbüßte‐auchweiterhinalswiderständigerMenschgesehenwurde.SeinNamestandaufeinerTodesliste,diedieBevölkerungimAutoderTätersicherstellte.

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Die Buchhandlung, deren Decke und Boden durch Explosionskrater bzw. SchrapnelleinschlägeimmernochdieSpurendesAnschlags trägt, istauchheutenoch ZielvonRepression.SowurdeSeferiYilmaznachdemAnschlagselbstmitKlagenkonfrontiert,häufigbedroht,dieBuchhandlungobserviertundseineWohnungnahezumonatlichdurchsuchtundverwüstet.

Zynisch zeigte sich die türkische Justiz ebenfalls, als sie das neue Schild der Bücherei, in der inTrauer um den Anschlag ein Fragezeichen mit Handgranate abgebildet ist, zum Anlass für einStrafverfahrenmitdemVorwurf“DesLobensvonStraftätern”gegenSeferiYilmazeröffnete.

Yüksekova/Gever

Yüksekova/GeverhatmitdenumliegendenDörfernca.200000EinwohnerInnen.DieStadtistwieHakkari/Colemerg und Semdinli/Semzinan BDP regiert und hat die gleichen Probleme derBenachteiligung BDP regierter Kommunen. Sämtliche Finanzentscheidungen müssen vomGouverneur genehmigtwerden. Hier ist die kurdische Bewegungmomentan sehr stark. Seitensder BDPwird ein gezielter infrastrukturellerAufbauderStadt, sowie Traumaaufarbeitungs‐undBildungsarbeit betrieben. Die Menschen setzen sich entschlossen für einen gleichberechtigtenFriedensdialogein.

Ein ehemaliges Foltergefängniswurde in eine Bibliothekumgewandelt, umein Zeichen für eineKonfliktheilungaufgeistigerEbenezusetzen.

Aus Kasernen im Stadtgebiet starten häufig Hubschrauber zu Militäroperationen. Nahezu jedeFamilie beklagt getötete GuerillakämpferInnen und gefolterte, extralegal hingerichtete oderverschwundene Familienmitglieder. Entsprechend hoch ist das Widerstandspotential. NachÜbergriffenderPolizeioderdesMilitärskommtesregelmäßigzuStraßenschlachtenzwischenderorganisierten Jugend und der Polizei. Die Polizei, die in anderen Städten der Provinz dieBevölkerungtyrannisiert,trautsichdashiernichtineinemderartgroßenAusmaß.

Istanbul23.‐25.10.2010

Auch in Istanbul wurden im Rahmen der Repressionswelle seit April 2009 mehrere hundertpolitisch TätigeMenschen festgenommen. Besonders davonbetroffenwar hier die Jugend.AusdennahederStadt gelegenenGefängnissenwird immerwiedervonMißhandlungenundFolterberichtet.

DieBarisAnnerle/Friedensmütter

DieFriedensmüttersetzensichnichtnurfürFriedenein,siestehenexemplarischfüreinständigesdialogisches Engagement für die Demokratisierung der Türkei. Im Grunde zeigen sie dieEinfachheiteinesAuswegesausder„festgefahrenen“Konfliktsituationauf.

Die Initiative der Friedensmütter setzt sich für eine Beendigung der kriegerischen und blutigenAuseinandersetzungen in der Türkei ein. Ein Wahlspruch der Mütter von im Bürgerkrieggefallenen Soldaten und Guerillas ist: „Mütter kommt, lasst unsMütter uns gegenseitig an der

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Hand nehmen, lasst uns verhindern, dass unsere Kinderweiter sterben, sodass wir nicht mehrweinenmüssen. Lasst uns dafürwirken, das Töten zu beenden.“ Der Aufruf richtet sich an alleMütter,auchdiedertürkischenSoldaten.

Die Einsicht der Friedensmütter ist, dass nur friedliche und demokratische Prozesse eineGesellschaft verändern können. Aus der Erfahrung der meisten kurdischen Familien mit derVertreibungausdeneigenenDörfernunddemTod vielerFamilienangehörigerbegrüßensiedieimmerwiederausgerufeneneinseitigenWaffenstillständederPKK.DurchzahlreicheAktionenwieBesuchebeipolitischenVerantwortlicheninderTürkeiunddergesamtenWeltsowieGesprächemitIntellektuellen,SchriftstellerInnenundKünstlerInnen,sowiedenKontaktmitFrauenvereinenin der Türkei und die Herausgabe der Zeitschrift „Peace“ machen sie auf ihr Anliegen und die„kurdischeTragödie“,wiesiedieSituationselbstnennen,aufmerksam.

Über Jahrehinweg versammelten sich die Friedensmütter auf einem zentralenPlatz in Istanbulunddemonstrierendort.Siewurdensowohldabei,wieauchbeidenVersuchen,mit türkischenPolitikerInnen oder Armeeangehörigen zu sprechen, des Öfteren brutal von Polizistenzusammengeschlagen oder verhaftet und gefoltert. Das hindert die Mitglieder der GruppeallerdingsnichtanderFortsetzungihrerFriedensinitiativen.

DieForderungenderFriedensmüttersind:

• dersofortigeStoppallermilitärischenAktionen,umdasLebenderKinderzuschützen,

• dieGewährungundUmsetzungdesRechtesaufLernenundNutzenderMuttersprachenallerBevölkerungsgruppen,

• dieUmsetzungderPresse‐undMeinungsfreiheitalsBasisfürDemokratieundToleranz,

• dieAusweitungdeseinseitigenWaffenstillstandsangebotsdurchdiekurdischeBewegungineinenauchvomtürkischenStaatzuproklamierenden,beidseitigenWaffenstillstand,

• eine Generalamnestie für alle politischen Gefangenen und die noch in den BergenbefindlichenEinheitenderGuerillaalsVoraussetzungfürFrieden,

• dieAufhebungdesDorfschützersystems,

• einRückkehrrechtfürVertriebeneinihreDörfer,

• die Beendigung der Repressionen gegen zivilgesellschaftliche Organisationen alsVoraussetzungfürDemokratisierungsprozesse,

• diejuristischeAufarbeitungvonFolter,VergewaltigungenundMorden,

• dieAufklärungderFällevonVerschwindenlassen

• unddieBeendigungderWaffenlieferungenausEuropa

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YakayDer

YakayDer istderVereinzurUnterstützungderAngehörigenderVerschwundenen.Besonders inden neunziger Jahren verschleppten und töteten Einheiten des Geheimdienstes Jitemmehr als10000Menschen,diegrößtenteilsbisHeuteVerschwundenblieben.

IndenletztenJahrenwerdenindenkurdischenProvinzenderTürkeiimmerwiederMassengräberentdeckt. In den letzten zwei Jahrennahmen Praktikendie denender neunziger Jahren ähnlichsinderneutzu.DazugehörenauchextralegaleHinrichtungenundVertreibungenausDörfern.

YakayDerhatmehreretausendderüber10000FällevonVerschwindenlassendokumentiertundstrebteineAufarbeitungdesGeschehenenundgesellschaftlicheKonfliktheilungsprozessean.

Fazit

WenndieBundesrepublik,dieEUunddieUNaneinerfriedlichenLösungdestürkisch‐kurdischenKonflikts ernsthaft interessiert sind, müssen sie sich aktiv für einen Friedensdialog und dieAufarbeitung geschehenen Unrechts einsetzen. Nicht hinnehmbar ist, dass im ersten Halbjahr2010 mehr als 20 extralegale Hinrichtungen, über 650 Fälle von Folter, sowie diverseBombenanschläge durch Sicherheitskräfte und Militär verübt wurden, 1700 legal arbeitendePolitikerInnenundAktive inhaftiertundmiteinemProzess konfrontiert sindundsich Kriegsver‐brechen,wiederEinsatzchemischerWaffenunddieVerstümmelung vonToten,häufen. IndenProvinzen Hakkari, Dersim, Sirnak, Siirt und Agri wenden Militär und Staat zudem illegalePraktikendes„SchmutzigenKrieges“an.Auchdasistnichthinnehmbar.DieStraflosigkeitderTäterausstaatlichenKreisen(sieheauch:DieStudie„ClosingRanksagainstaccountabilitybarrierstotacklingpoliceviolenceinTurkey“,vonHumanRightsWatch),sowiedieRechtlosigkeitdervonMenschenrechtsverletzungenundJustizwillkürbetroffenenPersonen,z.b.durch Geheimhaltungsverordnungen der Staatsanwaltschaft und die Verschleppung oder dasAblehnenderEröffnungvonVerfahren,sindebenfallseinweitverbreitetesProblem.ZielderimtürkischenParlamentmit20AbgeordnetenvertretenenBDPistseitgeraumerZeitderAufbau von föderalenund regionalen Selbstbestimmungsstrukturen.Die Rechteder kurdischenBevölkerungsgruppeundsämtlicher,regionaler,ethnischerundreligiöserMinderheitensollenindiesemModellgestärktwerden.DieTürkeikönntedurcheinesolcheVielfalteinenneuenZugangzu kulturellem Reichtumbekommen. Statt Separatismuswird seitens der KurdInnenund derenpolitischenVertreterInnenaufdieDemokratisierungdesLandesgesetzt.DaswurdeinsämtlichengeführtenGesprächendeutlich.

DererneuteeinseitigeWaffenstillstandderPKKsollte seitensder türkischenRegierungunddenRegierungen in Europa als Chance begriffen werden. Ein erster unabdingbarer Schritt ist, dassauchdietürkischeSeitesichdemWaffenstillstandanschließt.DiefriedlichenEntwicklungenz.B.in Südafrika und südamerikanischen Ländern haben gezeigt, dass zunächst die Logik derBekämpfung von oppositionellen Bewegungen auch im internationalen Rahmen überwundenwerdenmuss,umpositiveSchrittezuermöglichen.EineBedingungdafüristdieEinbeziehungderPKKundAbdullahÖcalansineinenDialog.

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WennMenschendieSituationvorOrtnichterlebthaben,istdasseitensderKurdInnenerfahreneLeid nicht leicht vermittelbar. Wir hoffen, dass dies mit unserem Bericht zumindest teilweisegelungen ist.DieMehrheit der türkischenwie auch der kurdischen Bevölkerunghat eine großeSehnsucht nach Frieden. Verantwortungsbewusste PolitikerInnen sind dazu aufgerufen,dementsprechendzuhandeln.

Trotz der ungeheuren Repression und Verbrechen seitens des türkischen Staates, sowie derstaatlichenBenachteiligungderseitensderBDPregiertenKommunen,hatsichdaskulturelleundpolitischeSelbstbewusstseineinesgroßenTeilsderkurdischenBevölkerungindenletztenJahrenderart entwickelt, dass die selbstbestimmten Schritte der Demokratisierung und sinnvollerKommunalpolitiknichtmehrzurückzudrängenseinwerden.AssimilationundVerleugnung vonRealitätensindkeinevernünftigenLösungswege.

Wichtige,notwendigeSchrittesinddeshalb:

• DieFreilassungdermehr1700Inhaftierten,darunterzumTeilgewähltePolitikerInnen• DieBeendigungder systematischenÜbergriffeaufdieZivilbevölkerungdurchMilitärund

staatlicheKräfte(besondersindenProvinzenHakkari,Sirnak,Dersim,Siirt,VanundAgri• EinbeidseitigerWaffenstillstand• DialogischeGesprächeallerBeteiligten• Amnestieregulierungen• DiejuristischeAufarbeitungvonMenschenrechtsverletzungen• DiesofortigeBeendigungderKriegsverbrechendurchdastürkischeMilitär• DieAufklärungsämtlicherKriegsverbrechendurcheineinternationaleKommission• DieAufhebungdesDorfschützersystems• DieFörderungkommunalerundzivilgesellschaftlicherProjekte• DerWilleder internationalenRegierungenvonderBekämpfungslogikgegenüberderPKK

Abstand zu nehmen und deren Friedenswillen als positive Chance zur friedlichen unddemokratischenEntwicklungderTürkeizubegreifen.

EinederartigeEntwicklungwäreeinwichtigerSchritt zueiner langfristigenDemokratisierungdesMittlerenOstens.

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Anhang1:

SchreibenandieTürkischeBotschaftinBerlin,inKopiean:HerrnJoséManuelBarroso/PräsidentderEuropäischenKommission,HerrnBotschafterDr.EckartCuntz/Dt.BotschaftAnkara,HerrnMdBKrichbaum/VorsitzenderdesEU‐AusschussesimBundestag

Absender:MdBAndrejHunko;ähnliche Schreibenwurden vonMdEP Jürgen Klute,MdB Ingrid Remmers,MdLNRW HamideAkbayirundMdLNRWBärbelBeuermanngesandtAktuelleVorkommnisseinderTürkeiSehrgeehrterHerrBotschafter,Seit dem 15. Oktober diesen Jahres befinden sich Europaparlamentarier/innen, deutsche Bun-destagsabgeordnete und Landtagsabgeordnete sowie RechtsanwältInnen zu RecherchezweckensowiemenschenrechtlichemMonitoringinderTürkei.Als einer der Partizipierenden möchte ich Sie mit diesem Schreiben auf besorgniserregendeVorkommnisseundEntwicklungenaufmerksammachen:Zurzeit findet in Diyarbakir ein Prozess gegen 151 Politiker/innen der im türkischen Parlamentvertretenen BDP (Demokratische Friedenspartei) und gegen türkische Menschenrechtler/innenstatt.InsgesamtwurdenseitApril2009imRahmeneinerVerhaftungswelle1.700Politiker/innenund Menschenrechtler/innen festgenommen, darunter Bürgermeister/innen, ehemalige Parla-mentarier/innen und Frauenrechtlerinnen. Die nach unseren Recherchen anlasslose Kriminali-sierung ist in diesem Ausmaß einmalig in der Geschichte der Türkei. Auf dieseWeisewird einedemokratischeundfriedlicheEntwicklungdesLandes,wiesienotwendigist,verunmöglicht.In der Provinz Hakkari (ebensowie in den Provinzen Sirnak, Dersim, Siirt und Agri) finden seitWochen, trotz einseitigem Waffenstillstand seitens der PKK, ausgedehnte Militäroperationenstatt. In diesen Regionenherrscht eine ähnliche Situationwie in denneunziger Jahrendes ver-gangenen Jahrhunderts. Es findet ein systematischer Angriff auf die Zivilbevölkerung statt. ImerstenHalbjahr2010wurdenmehrals600Fälle vonFolter, 20 extralegaleHinrichtungensowiezum Teil systematische Vergewaltigungen durch Sicherheitskräfte von Menschenrechtsorgani-sationendokumentiert.EingroßesProblemistdabeidieStraflosigkeitderTäter.Zu diesem Ergebnis kommt auch eine entsprechende Studie von Human RightsWatch (ClosingRanksagainstaccountabilitybarrierstotacklingpoliceviolenceinTurkey).In mehr als zehn Fällen gibt es deutliche Hinweise auf den Einsatz verbotener ChemiewaffendurchdietürkischeArmee.EinbesonderserschreckenderVorfallstelltderAnschlagaufeinenMinibusnaheHakkari/Geçitlidar. Sämtliche Indizien wie auch Augenzeugenberichte deuten hier auf eine Täterschaft aus

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Kreisen der türkischen Armee hin. Neun Zivilist/innen starben bei diesem Anschlag, darunterFrauenundKleinkinder.DasHausdesBürgermeistersvonSemdinliwurdeimletztenMonatvonSoldatendestürkischenMilitärs mit Kugeln regelrecht durchsiebt, gleichzeitig ein Verwandter des Politikers schwergefoltert.Einen Tag nachdem Teilnehmer/innen der Delegation ein Büro der BDP in Hakkari/Yüksekovabesuchten, verübten unbekannte Täter am 22.10.2010 einen Bombenanschlag auf das Büro.AllemAnscheinnachhandeltessichdabeiumeinenRacheaktaufgrundinternationalerKontaktedesBüros.SehrgeehrterHerrBotschafter,ichprotestierehiermitaufsSchärfstegegendiegenanntenVorgehensweisenundbitteSieallesimRahmen IhrerMöglichkeiten liegende zu tun, die türkischeRegierungdazu zu bewegen sich aninternationalemenschen‐undkriegsrechtlicheRegulierungenzuhalten.Wir bitten Sie dafür Sorge zu tragen, dass Arbeit und Recherche internationaler Delegationenerfolgen kann, ohnedass die Bevölkerungwie auch PolitikerInnenmit Repressionoder lebens-bedrohlichenRacheaktensanktioniertwerden.Zudem ist für eine friedliche und demokratische Entwicklung der Türkei ein Dialog und keineZuspitzungdesmilitärischenKonfliktesnotwendig.

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Anhang2:

Kriegsverbrechen

SchonseitBeginnderneunzigerJahrenutztdastürkischeMilitärillegaleKriegspraktiken,wiedenEinsatz chemischerWaffen und die Verstümmelung gefallener GuerillakämpferInnen. Zwischen2001und2009 gab es seltener Berichte darüber. In den letztenMonatenhaben sich derartigeDokumentationenerneutbesorgniserregendgehäuft.

EinigeBeispiele:

1.Fall(Chemiewaffen)

Nahe der türkisch‐irakischen Grenze, in der Provinz Hakkari, wurden zwischen dem 8. und 15.SeptemberletztenJahres8Menschen–nachBetrachtungallerzugänglichenFakten‐OpfereinesEinsatzesvonchemischenKampfmittelndurchdastürkischeMilitär.Augenzeugen berichteten von dem Vorfall und beschrieben, dass Soldaten gasförmige, allemAnschein nach chemische Kampfstoffe in Form von Geschossen in eine Höhle in der Nähe dertürkisch‐irakischen Grenzstadt Cukurca (Provinz Hakkari) einbrachten und wenige Zeit spätermehrereMenschen,MitgliederderGuerilladerPKK,ausdieserHöhlebargen.Einigederbereitsleblosen Körper wurden daraufhin zusätzlich von Panzerfahrzeugen überfahren und/odererschossen.Aus einem Gutachten eines Rechtsmedizinischen Instituts der Universitätsklinik Eppendorf inHamburgimZusammenhangmitdemAugenzeugenberichtkönnenwirschließen,dassgegendie8vondertürkischenArmeegetötetenPersonenmitgroßerWahrscheinlichkeitchemischeWaffeneingesetztwordensind.MenschenrechtlerausderRegionhattenunserervorletztenMenschenrechtsdelegationimMärz2010, unter anderem Delegierten von Bundestags‐ und Landtagsabgeordneten undWissenschaftlerInnen, die Augenzeugenberichte übermittelt und Fotos aus dem Zeitraum kurznach der Obduktion übergeben. Die Fotos sind nach Ansicht des Bildfälschungsexperten HansBaumann authentisch. Bei einer Begutachtung fand Baumann keinerlei Hinweise auf eineManipulation der Aufnahmen. Lichtverhältnisse, Details der Leichen und Kameradaten seienkonsistent und in dieser Form praktisch nicht fälschbar. Nach weiterer Recherche können wirdavonausgehen,dassessichbeidenTotenumRizgarAskan,AzizÖzer,RamazanYildiz,KahramanŞexAli, YahyaMusazade,SalihGüleç,AliyeTimurundHanifeAli, imAlter von19bis33 Jahrenhandelt.2.Fall(Chemiewaffen)Am06.Juli2010wurdennahederStadtHakkariSemdinlizwölfGuerillasbeieinermilitärischenAuseinandersetzunggetötet.DieLeichensindsämtlichaufeineunbeschreiblicheArtundWeiseaufgequollenwieWasserleichen.EshandeltsichallerdingsnichtumWasserleichen.Esbestehtein

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erheblicherVerdacht,dasschemischeSubstanzenoderWaffenprä‐oderpostmortalzumEinsatzgekommen sind. Bei einem der Toten wurde der Kopf abgetrennt, bei weiteren Toten andereKörperteileverstümmelt.FotosderLeichensindvorhanden.DerObduktionsberichtwurdebishervon der Staatsanwaltschaft nicht herausgegeben. Eine Klage und eine weitere Obduktion derToten,sowiedieBegutachtungderFotoswerdenetwaigvonMenschenrechtlerInnenangestrebt.InderTürkeihabenderartigeKlagenjedochkaumeineChanceaufErfolg.3.Fall(Folter,VergewaltigungundTötungnachFestnahme)7 Kilometer von Hakkari entfernt wurde am 06. August,mehreren übereinstimmenden Augen‐undOhrenzeugenberichtenzufolge,einezuvormitdreiweiterenGuerillasineinGefechtmitdemtürkischen Militär verwickelte Frau, wahrscheinlich vonMitgliedern des Geheimdienstes Jitem,derfürüber17.000extralegaleHinrichtungenindenletztenJahrzehntenverantwortlichgemachtwird, gefoltert, vergewaltigt und schließlich getötet. Es wurde beobachtet wie dieGuerillaangehörigenach einemGefecht,beidemdiedreiweiterenGuerillas starben,nach ihrerFestnahmezu einemPlatz inderNaturvorHakkariStadt gebrachtwurde.AnschließendhörtenmehrereZeugenimmerwiederfürchterlicheSchreieunddieWorte:„Tutdasnicht,neintutdasnicht.“ Daraufhin brachte ein Konvoi von drei Autos der „Sicherheitskräfte“ die Betroffene aneinen anderen Ort. Am folgenden Tag wurde die nun Tote mit den weiteren Guerillas in derLeichenhalle aufgebart. Eine Obduktion der Toten wird im Gegensatz zu den weiteren drei bisheute verweigert. Bei in Augenscheinnahme durch Mitglieder des Menschenrechtsvereins IHDwurden Spuren von Folter und einer Vergewaltigung erkannt. Hierbei handelt sich um einenschwerwiegendenVerstoßgegendieGenferKonventionenunddieMenschenrechte.Die Augenzeugen nahmen nach Bedrohungen durchMitglieder des Geheimdienstes Jitem undStaatsbediensteteihrevorMenschenrechtsorganisationengetätigtenZeugenaussagenzurück.4.Fall(VerbrennungenundVerstümmelungen)

Sevdin Nergiz wurde in Batman/Beşiri am 08.08.10 mit vier anderen Guerillas vom türkischenMilitär getötet. Alle Leichen waren bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Sie wiesen desWeiterenSchussverletzungen und abgerissene Körperteile, bzw. herausgerissene Eingeweide auf. SevdinNergizwarbis zumUnterschenkelhinvollständig verbrannt,bzw. geschwärzt, seineEingeweidebefanden sich nicht mehr in seinem Körper, ein Arm fehlte vollständig. Ein Augenzeugeberichtete,dassdieganzeNachtüberamOrtdesGeschehensSchüssezuhörenwaren.DasganzeGebiet wurde mit Leuchtspurmunition erleuchtet. Später waren große Flammen zu sehen. AmMorgen nach dem Gefecht konnte der Zeuge beobachten, wie sich die Soldaten um dieGefallenenversammeltenunddieleblosenKörpermitSchüssendurchsiebtwurden.

Ob die Verletzungen durch Flammenwerfer, chemische oder anderen Waffen herbeigeführtwurden, lässt sich nur durch die Untersuchung des Falls von Seiten einer unabhängigenKommission feststellen. Auch der Einsatz von Flammenwerfern Verstößt gegen die Konventionzum Einsatz besonders grausamer Konventioneller Waffen (CCW), die die Türkei 2008 in Oslounterzeichnete. Der Gouverneur von Batman sprach präventiv von falschen Anschuldigungenbezüglich einer Benutzung chemischer Waffen, ohne dass diese Anschuldigungen erhobenwordensind.

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5.Fall(PostmortaleVerstümmelungen,Chemiewaffen)

AndemLeichnamvonÖzgürDaghan,deram05.06.2010getötetwurde,warenVerstümmelungenundwahrscheinlichVerätzungenzusehen. ImVorhineinwarenAngehörigenBilderdesToten inunverstümmelten Zustand gezeigt worden. Bei der Abholung der Leiche war sein Körperverbrannt,sogarseineKnochenwarenwiegeschmolzen,seinSchädelzertrümmert.AufdieFragenach der Ursache der Verstümmelungen erklärte ein anwesender Staatsanwalt gegenüberVerwandten:„WaserwartestdufüreinenTerroristen,dergegendenStaatgekämpfthat.“

ZweierleiwirdindiesemFalldeutlich:1.DerStaatsanwalthatteanscheinendWissendarüber,waspostmortal mit der Leiche geschah 2. Die Vertreter des Staates können sich oft selbst beigravierenden Menschenrechtsverletzungen oder Kriegsverbrechen darauf verlassen, straflos zubleiben. In diesem und weiteren Fällen kommt zu dem Kriegsverbrechen die AnwendungpsychologischerKriegsführungdurchErniedrigung.

Die traumatisierenden Folgen davon konnten wir bei mehreren Gesprächen mit betroffenenVerwandtenwahrnehmen.

6.Fall(ExtralegaleHinrichtunginCaldiran)

DasDorfBuğulukaynak/Kelliegt130kmnördlichderzweitgrößtenkurdischenMetropoleVan(ca.1MillionEinwohnerInnen)nahederStadtÇaldıran(15.000EinwohnerInnen).

Hier richtetenSondereinheitendes türkischenMilitärs (Özeltim)am7.Oktober 2009drei jungeMenschenzwischen17und20JahrenaufbrutalsteWeiseextralegalhin.EinheitenderJandarmahattensiewährendeinerRazzia imDorf,aufderFluchtfestgenommen.ZweiderHingerichtetenwarenGuerilla,einerein jugendlicherDorfbewohner.DieSoldatender JandarmaübergabendieGefangenennoch amOrt der Festnahmeden Sondereinheiten, die sie dann, nachbestialischerFolterineinerSchlucht(ca.500mvomDorfentferntgelegen)mitGewehrsalvenhinrichteten.DieJugendlichenwarennachübereinstimmendenAussagenmehrererAugenzeugenunbewaffnet.Der Tathergang konnte aufgrund von über 30 Metern verteilten Blutspuren und Körperrestenziemlich detailliert rekonstruiert werden. Bei den Leichen wurden die Finger und Schädelzertrümmert. Dorfbewohner berichteten vonmehreren Gewehrsalven, die eineWeile nachderVerschleppung der Opfer, aus Richtung der Schlucht zu hören waren. Dutzende SoldatenbeobachtetendasgesamteGeschehen.EinervonIhnenberichteteanonymdarüber.Er sagte unter anderem, dass die beiden Guerilla zu den Sondereinheiten sagten, dass sie sieselbstzwartötenkönnten,densiebzehnjährigenIbrahimAtabayaber inRuhe lassensollten, ihnnichtfolternodertötensollten,daerunschuldigsei.DieFamilienmitglieder,dieihreAngehörigennachlängererUngewissheitüberdenAufenthaltderLeichen sehen konnten berichteten, dass deren Körper, über die beschriebenen FolterspurenhinausvonKugelndurchsiebtwaren.EinMahnmal,dassdieDorfbewohnerInnenzumAndenkenandieErmordeteninderbetreffendenSchlucht errichteten, wurde auf Weisung des türkischen Innenministers, Besir Atalay, von 730

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Jandarma mit Hilfe eines Baggers unter „Bewachung“ mit schweren Geschützen und Panzerneingerissen.DieFamilieAtabayistwegenErrichtungdesMahnmalsmiteinemGerichtsverfahrenkonfrontiert.DieAktemitdemVorwurfderextralegalenHinrichtunggegendieTäter,wurdeunterdessenvomGerichtgeschlossen.DiebetroffeneFamilielebtseitdeminständigerAngstvorweiterenMorden.DieMitgliederderFamiliewurdenseitderTatmehrmalsvonunterschiedlichenSicherheitskräftenundMilitärsbedroht.ZudemwerdensämtlicheHäuserdesDorfeszwischeneinmalinderWocheundeinmalimMonat,jeweilsvoneinemgroßenAufgebotvon„Sicherheitskräften“durchsucht.AufeineParlamentsanfragederAbgeordnetenFatmaKurtulan,antwortetedasInnenministerium,denerwiesenenTatsachenwidersprechend,der17jährigeSchülerIbrahamAtabaywäre34Jahrealt,PKKKaderundbewaffnetgewesen.

7.Fall(Waldbrände‐Entlaubungsmittel)

EingroßesProblemsindindenProvinzenDiyarbakir,Hakkari,SiirtundDersimseitensdesMilitärsgelegte Waldbrände und der Einsatz von Entlaubungsmitteln. Auch hier besteht der Verdacht,dassunerlaubtechemischeSubstanzeneingesetztwurden.Ärztehabenz.b. inHakkaridieVermutung,dassdieKräuter,die inderRegionwachsenundvonderBevölkerungvonAprilbisJunigeerntetwerden,starkvergiftetsind.EineFolgedavonkönntesein,dassdieMagenkrebsrateindenletztenJahrenum100%angestiegenist.FrüherwurdendieKräuteralsMedikamentgenutzt.ÄrzteinAnkaraundHakkarihabenempfohlen,dieKräuternichtmehrzuessen.Füreinengroßen Teilder Bevölkerungsindsie jedochderartessentiell,dass sienicht auf das Sammeln verzichten wollen. Die Durchfallrate ist nach Auskunft von Ärzten inHakkari ebenfalls stark angestiegen. Ein entsprechendesDokument liegt beimörtlichen Gerichtvor. Es besteht derVerdacht, dass die Ebene von Bercelan, sowieweitere Orte stark verseuchtsind.VonhierkommtdassTrinkwasserderStadt.Wegen einer Beschwerde gegen die Nutzung von Chemiewaffen durch das türkischeMilitär inHakkari/BercelanvoreinigenMonatenwarderVorsitzendedesIHD,IsmaelAkbulut,dreiMonateim Gefängnis von Bitlis inhaftiert. Vorwurf war die vermeintliche Erniedrigung des türkischenMilitärsundPropagandafüreine[verbotene]Organisation.DanachwurdeerwegenMangelsanBeweisen frei gelassen. Delegationen aus Europa, die versuchten in der Region vor Ortdiesbezüglich zu recherchieren, wurden bisher regelmäßig von Militär und Polizei darangehindert.8.Fall(postmortaleVerstümmelung)

Am19.08.wurdenmehrereGuerillasvonSoldatenundDorfschützerninErcisbeiVanangegriffen.Zwei von ihnen wurden umgebracht, die Leichen postmortal verstümmelt. Die Betroffenenwurden,nachdemsieschonTodwaren,mitetlichenSchüssenweiterverstümmeltundmehrerehundertMeterüberdenBodengeschleift.EinDorfbewohner,deralsAugenzeugeAngabenüberdasGeschehenmachte,wurdesofortfestgenommen.

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9.Fall(Chemiewaffen)In der 27000 EinwohnerInnen zählenden, nahe Siirt gelegenen Stadt Pervari wurden am 6. Juli2010 zehn Guerillas verbrannt und zerstückelt.Die Staatsanwaltschaft übergabdaraufhin nur 2der Leichen den Familien. Die restlichen 8 wurden unter Nichteinhaltung der üblichen 15Tagesfrist zur Identifikation sofort begraben. Aufgrund der Sichtung der Leichen durchMenschenrechtlerInnen und vorhandener Fotos, besteht ein berechtigter Verdacht, dass dastürkischeMilitärauchindiesemFallchemischeWaffeneingesetzthat.DieStaatsanwaltschafthatdieAutopsieberichte,wieinsolchenFällenüblich,nichtherausgegeben.Hintergründe:PervariwirdvonmehrerenDorfschützerclansbeherrscht.47MenschendiederBDPzugerechnetwerden, u.a. da sie keinem der Clans angehören, wurden in den letzten Monaten verhaftet.Dorfschützer und Soldaten verlegen in Nutzwäldern und Bergregionen rund um die Stadtregelmäßig Minen. Diese werden auch ohne Kartographie in sogenannten Sicherheitszonenverlegt. Diese Praxis fordert häufig Verletzte und Tote. Ein Soldat bekannte sich gegenüberMenschenrechtlerInnen dazu, dass Minen in Sicherheitszonen aus angeblichen„Sicherheitsgründen“ verlegtwerden.Das bedeutet einenVerstoß gegendie Konventionen vonOttawa.Eine Delegation hatte im August 2010 geplant, nach Pervari zu fahren, um dort die näherenUmstände bezüglich eines möglichen Chemiewaffeneinsatzes zu recherchieren. Es gab jedochkonkrete Verdachtsmomente dafür, dass in einem solchen Fall ein Minenanschlag auf dasDelegationsfahrzeug verübt werden könnte. Zudem wäre Einschätzungen unsererGesprächspartnerInnenvorOrt zufolge jederMensch,dermitderDelegationgesprochenhätte,imNachhineinwederseinerFreiheitnochseinesLebenssichergewesen.DurchseitensdesMilitärsgelegteWaldbrändewurdenindenletztenMonateninderProvinzSiirtmehr als 50 000HektarWald zerstört. SoldatenundPolizistenbehinderten in vielen FällendasLöschenderBrände.IndenRegionen, indenendieWaldbrändegelegtwurden,verlegtenMilitärundDorfschützerBerichtenzufolgeebenfallsMinen.10.Fall(ChemischeSubstanzen)In einem Landwirtschaftsbetrieb in Yüksekova wies Baumobst in diesem Jahr ungewöhnlicheVeränderungen auf. Bei einerUntersuchung in einem Labor außerhalb der TürkeiwurdenhoheKonzentrationenungewöhnlicherchemischerSubstanzennachgewiesen.

11.Fall(SystematischeVergewaltigungen)Die Vergewaltigungsrate hat u.a. in der Provinz Siirt in letzter Zeit immens zugenommen. DieSpitze des Eisbergs: Ein stellvertretender Schuldirektor und mehr als 20 weitere Verdächtige,darunterSoldaten,SicherheitskräfteundAKPMitgliederhabenmindestens7SchülerInnenüber4Jahre systematisch im Zimmer des Schuldirektors unter Bedrohungen vergewaltigt. DerGouverneur kommentierte Proteste von kurdischen Frauenorganisationen, indem er sagte dass

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sie keine Protestaktionenmachen sondern sich prostituieren sollten. VergewaltigungenwerdenseitJahrenimRahmenvonAssimilationspolitikundderpolitischenUnterdrückungderkurdischenBevölkerunginmehrerenRegionensystematischangewandt.12.Fall(HirteDersim)Am 12.08.10 war der Hirte, Fikri Karakuş, aus Skorsky‐ und Kobrahubschraubern inDersim/Pülümürangegriffenundschwerverletztworden.Nachdemerum17.00vonHelikopternüberflogenwordenwar,währenderseinViehweidete,wurdenerundseineHerdebombardiertobwohlesoffensichtlichgewesenseinmuss,dassereinzivilesZieldarstellte.Ererklärte:„IchwarinderNäheeinesFelsenmitmeinenLämmernundsaßimSchatten,dieHelikopterüberflogenunsmehrfach. Ich hatte einen Hundundeinen Esel dabei. Plötzlich flogendie KobraHelikopter aufmichzu.AlssieanfingeninmeineRichtungBombenzuwerfen,versteckte ichmichuntereinemFelsen und wartete. Dabei wurde ich verletzt und fiel in Ohnmacht. Ich wurde auf der Almgefunden und ins Krankenhaus gebracht.“ Das Bombardement dauerte Berichten zufolgemindestens2Stundenan.AufdemWeginsKrankenhauswurdendieihnTransportierendenvomKommandantendesKocatepeMilitärstützpunktesbedroht.Diesersagte:„dasisteinTerrorist,dersollsterben,lasstihn.“MittlerweilebefindetsichderverletzteundschwertraumatisierteHirteimKrankenhausvonElazığinstationärerBehandlung.SplittersindinseinlinkesBeineingedrungen,großeKörperflächenverbrannt.

Wir forderndieumgehendeAufklärungsämtlicherdieserVerbrechendurch eineunabhängigeinternationale Kommission. Sie verstoßen gegen die Menschenrechte und die GenferKonventionenundsienichthinnehmbar.

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Anhang3:

1. FotosAnschlagGeçitli/Peyanis

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