neies lautre - juni 2015
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Zeitung für eine solidarische und basisdemokratische GesellschaftTRANSCRIPT
NEIES LAUTRE ZEITUNG FÜR EINE SOLIDARISCHE UND BASISDEMOKRATISCHE GESELLSCHAFT
ZUM INHALT REFLEXIONEN UNSERER PRAXIS
Gerade wenn im Sommer die meisten Menschen in Sachen politischer Aktivität kürzer treten, ist es an der Zeit, seine vergange-ne und hoffentlich auch zukünfti-ge Praxis zu reflektieren und Selbstkritik zu üben. Schließlich kommt dies auf dem Weg von Demo zu Kampagne und wieder zur nächsten Demo oft zu kurz. Mit dieser Ausgabe wollen wir unseren Beitrag dazu leisten.
Das Lower Class Magazine (lowerclassmag.com) betreibt seit 2013 'Proletkultjournalismus von der Straße für die Straße' und ist seither der be-deutendste Blog der undogmatischen radikalen Linken. In ihrem Artikel „Eu-ropa. Anders. Machen“? „So. Wird. Das. Nichts“ [S. 1-3] kritisieren sie eine Demonstration in Berlin gegen Austeritätspolitik und EU-Grenzregime, an der am 20.06. 6.000 Menschen teil-nahmen.
In unserem Artikel Die Isolation durch-brechen! [S. 4]thematisieren wir, wie Menschen, die wollen, sich besser in unserer Bewegung beteiligen können.
Die Antifa Kritik & Klassenkampf (akkffm.blogsport.de) betreibt in ihrem (von uns stark gekürzten) Text Der kommende Aufprall [S. 5-10] eine tiefgreifende Analyse der Krise und erarbeitet Vorschläge für eine bessere Praxis. Ergänzt haben wir diesen um Zitate einer von ihr veran-stalteten Podiumsdiskussion mit der Basisgruppe Antifaschismus Bremen von '... ums Ganze' und den Freund*innen der klassenlosen Ge-sellschaft aus Berlin. Ungekürzt alles auf der Website der AKKffm.
Ein Text von Erich Mühsam auf S. 11.
„EUROPA . ANDERS . MACHEN“? „SO . WIRD . DAS . NICHTS“ 19. Juni 2015 – Von Fatty McDirty
Am Samstag ist in Berlin mal wieder „Aktionstag“
mit anschließendem Konzert. Wir brauchen schön
langsam wirklich neue Ideen. Ein Vorschlag zur
Diskussion, welche das sein könnten
Seit vielen Jahren machen wir „Aktionstage“, „Akti-
onswochen“, bisweilen ganze „Aktionsjahreszeiten“
(„heißer Herbst“, der zumeist recht kühl blieb). Jetzt
kommt erneut ein „Aktionswochenende“ auf uns nie-
der. Am Samstag sollen wir zur Aktion schreiten und
zwar in der Hauptstadt. Dort ruft ein „breites Bündnis“
(auch diese Formulierung wirkt schmerzhaft bekannt)
dazu auf, zuerst zu demonstrieren und sich dann ein
Konzert anzuhören (auch das gab´s vor wenigen Wo-
chen mit exakt derselben thematischen Ausrichtung –
Flüchtlingspolitik – wenige Kilometer entfernt am
Oranienplatz).
Diesmal, so erfährt man aus dem Aufruf zu Demo und
Konzert, geht es darum, „dass an Europas Außengren-
zen seit Jahren und immerfort Tausende geflüchtete
Menschen sterben“ und es geht gegen das „Dogma des
Neoliberalismus“, gegen TTIP und gegen die Politik
der EU gegenüber Griechenland. Das alles sind sinn-
volle Anliegen, wichtige Themen werden aufgegriffen
und zahlreiche zentrale politische AkteurInnen der
deutschen und migrantischen Linken unterstützen das
Bündnis. Es ist dankenswert und gut, dass sich Men-
schen Mühe machen, den organisatorischen und finan-
ziellen Aufwand zu bewältigen, den so ein Tag kostet.
Gleichwohl kann man sich nicht ersparen, die Frage zu
stellen: Was bringt´s? Aktionstage gingen Stück um
Stück über die Bühne. Sie schafften einige Aufmerk-
samkeit für Themen, ein bis zwei Tage
werden sich entsprechende Meldungen in entsprechen-
den Medien finden. Danach geht man auseinander und
schreitet an die Vorbereitung der kommenden Aktions-
tage.
Der Aufruf zu der morgigen Demonstration, die unter
dem ob der Interpunktion etwas dadaistisch anmuten-
den Motto „Europa. Anders. Machen“ abgewickelt
wird, ist hinsichtlich des zu erwartenden Outputs erfri-
schend aufrichtig. Er tut gar nicht mehr so, als könnten
wir mit derartigen „Aktionen“ irgendwas ändern. Er
sagt lediglich, man wolle damit zeigen, „dass die Bun-
desregierung nicht für uns spricht“. Ehrlich bis zur
Schmerzgrenze heißt es: „Mit unserer Demo wollen
wir einem anderen Bild von Europa Raum geben.“
Die Frage, die bleibt, ist: Was sollen die in libanesi-
schen Lagern sitzenden Familien aus Syrien mit die-
sem „Bild“? Was sollen die vor dem – auch – europäi-
schen Krieg in Libyen Geflohenen, die irgendwo im
Mittelmeer aus den Schlepperbooten fallen, mit diesem
„Bild“? Was machen die von der – vorrangig aus
Juni 2015
Kaiserslautern
Auflage: 50
1
Deutschland betriebenen – Austeritätspolitik Drangsa-
lierten in Athen mit diesem „Bild“? Und wie verbes-
sert dieses „Bild“ unsere eigene von Prekarisierung
und Lohnarbeit oder Erwerbslosigkeit und Elend zer-
trümmerten Leben?
Wie die Aktion werden wird, kann man sich denken,
bevor man da war: Erst wird gelatscht, dann wird ge-
quatscht. Wir werden Gregor Gysi und Co. lauschen
und anderen, am Ende des Tages wird die Erkenntnis
stehen, die wir alle auch schon zur Demonstration mit-
gebracht haben: Dieses Europa tötet. Soweit so gut.
Aber was nun?
KEIN E „BESS ERE“ EU, SON DERN GAR K EIN E
Es ist sehr schwer, auf diese Frage eine Antwort zu
finden. Der Organisierungsgrad der Linken in
Deutschland – wie in den meisten imperialistischen
Zentren – ist so gering, dass über Kampfformen wie
Generalstreiks kaum nachgedacht werden kann. Und
selbst diese (zumindest, wenn sie befristet sind) haben
– das zeigt die Erfahrung aus Griechenland oder Spa-
nien – nicht mehr die Wirkung, die man sich von ihnen
erhofft.
Bevor wir also sprechen, was zu tun sein könnte, ach-
ten wir doch einen Moment auf die Theorie, die Ana-
lyse, aus der die Praxis des immerwährenden Aktions-
tags erwächst. Der Aufruf von „Europa. Anders. Ma-
chen.“ verrät uns, es gehe darum, dass „Europa“ (ge-
meint ist natürlich die Europäische Union, ansonsten
machen diese Sätze semantisch keinen Sinn) ein „de-
mokratisches und soziales Versprechen“ gegeben habe,
das es nicht einlöse: „Statt der einst gepriesenen euro-
päischen Werte von Vernunft, Gerechtigkeit, Freiheit
und Demokratie herrscht der technokratische Wahn-
sinn.“
Man könnte schon hier einwenden, dass es eben gerade
nicht „Wahnsinn“ ist, der Flüchtlinge in verwertbare
und nicht-verwertbare einteilt und letztere zum Sterben
verurteilt, sondern die ganz normale kapitalistische
Wert-Rationalität. Wichtiger ist aber noch der Punkt:
Es wird nicht gesagt, was diese EU eigentlich für ein
Verein ist, sondern es wird geltend gemacht, man müs-
se sie „besser“ machen, man müsse „das Versprechen
von einem solidarischen Europa der Demokratie und
der Menschenrechte“ erfüllen.
Das Problem ist, dass diese Sätze sehr abstrakt gehal-
ten sind. Würde konkret von der Europäischen Union
und nicht immer von einem nicht näher definierten
„Europa“ die Rede sein, müssten wir sofort die Frage
stellen: Was ist es denn an dieser EU, das wir behalten
und besser machen könnten? Ist es die gemeinsame
Europäische Außen- und Sicherheitspolitik? Sind es
Agrarsubventionen, Programme zur Terrorbekämpfung
oder Förderungen urbaner Großprojekte? Würde sich
schlagartig alles zum Guten wenden, säßen nur ver-
nünftige, linke Menschen in den Chefetagen der Euro-
päischen Zentralbank, der EU-Kommission, des Euro-
päischen Parlaments oder gar des Europäischen Rats?
Das kann niemand glauben.
Und dennoch ist genau das das Projekt derer, die sich
nicht zu sagen trauen, was offenkundig ist: Die Institu-
tionen der EU wurden weder für uns, noch für Flücht-
linge, griechische ReinigungsarbeiterInnen oder die in
sklavenähnlichen Verhältnissen darbenden Tagelöhner
auf spanischen Plantagen geschaffen, sie entsprechen
Form und Inhalt nach nicht unseren Interessen und wir
können sie deshalb auch nicht „von innen“ verbessern.
Sie müssen zerschlagen werden.
D IE EI GEN E SEI TE AUFBAUEN
Wer so denkt, den interessiert es höchstens aus takti-
schen Überlegungen, wer in die EU-Institutionen ge-
wählt wird. Interessant wird bei einer solchen Analyse
anderes, nämlich die Frage, wie wir uns eigene Formen
von Organisation und Partizipation schaffen können,
die Staat und EU zuwiderlaufen, sie untergraben und
am Ende sprengen.
Um diese Formen – in Ansätzen, klein und noch un-
scheinbar, aber als Idee schon mächtig – zu finden,
müssen wir uns weder Wunderwelten ausmalen, noch
gar – obwohl das durchaus sinnvoll ist – in die Ge-
schichte der kommunistischen und anarchistischen
ArbeiterInnenbewegung zurückblicken, in der Räte,
Betriebe unter Arbeiterkontrolle und Selbstverwal-
tungsstrukturen allgegenwärtig sind.
Wir müssen nur sehen, was die Praxis der Kämpfe in
den vergangenen Jahren in vielen Ländern ohnehin
schon hervorgebracht hat, diese Formen aufnehmen,
analysieren, weiterentwickelt. Sehen wir nach Kurdis-
tan und nehmen wir den Kampf ernst, als etwas, das
nicht nur irgendwo in der Ferne unsere Unterstützung
verdient, sondern als etwas, das uns hier gegenwärtig
werden könnte: Stadtteilstrukturen, Frauenselbstorga-
nisation, der Aufbau von Gegenmacht aus kleinen
Einheiten über die Straße, den Stadtteil bis zum Be-
zirk, der Stadt und darüber hinaus. Zu weit weg? Geo-
graphisch etwas näher ist Istanbul: Hier bot uns der
Taksim-Aufstand vor zwei Jahren die Erfahrungen der
„Kommune vom Gezi-Park“. Noch näher gefällig? In
Griechenland entstanden – genötigt durch Krise und
Austerität – Stadtteilräte und Versuche einer Selbstver-
sorgung mit basalen Gütern des täglichen Lebens. Be-
Den Zaun anders machen, langt nicht, man muss ihn
einreißen. Das geht aber nur, wenn man gleichzeitig
einreißt, was das heutige „Europa“ ausmacht: die kapita-
listische Verwertungslogik. 2
triebe wurden besetzt, in Thessaloniki wie in Istanbul,
und selbstorganisiert weitergeführt. Es gibt viele dieser
Erfahrungen. Sogar in Berlin. Das Bündnis „Zwangs-
räumung verhindern“ ist so eine Struktur, Kotti&Co.
zeigte Ansätze davon, die neuerdings aufgekommene
Diskussion um ein „soziales Zentrum“ geht in diese
Richtung und „Hände weg vom Wedding“ macht mit
seinen Ansätzen von Community Organising auch
Ähnliches.
PAR LAMENT ARI S MUS –> GÄHN!
Der Aufbau solcher Strukturen von Gegenmacht voll-
zieht sich nicht auf meterhohen Bühnen im Regie-
rungsviertel. Er braucht auch keinen Gregor Gysi, der
ihn „repräsentiert“. Und er muss nicht wünschen, ir-
gendwann die Institutionen der BRD oder der EU
durch möglichst viele entsandte FunktionärInnen zu
flluten, sondern er arbeitet auf die Zerschlagung der
staatlichen und supranationalen Strukturen hin, die
niemals unseren Interessen entsprechen werden. „Am
Ende ist das Ideal der Commons (horizontaler, basis-
demokratischer, tragfähiger Gegenseitigkeit, sowie
Entscheidungsfindungen in der eigenen Kommune und
radikaler Autonomie) völlig der Staatsform und dem
eurozentrischen Regime der Souveränität entgegenge-
setzt, das bisland der „Container“ unserer „Rechte“,
wie wir gewohnt waren, sie uns vorzustellen, war“,
schreibt Max Haven im ROAR Magazine.1 „Also muss
jedes ‚Recht auf Commons‘ notwendig ein
aufständiges Recht, ein radikaler Anspruch an die Un-
terwanderung und Ersetzung staatlicher Souveränität
sein.“
In einem solchen Konzept müssen Parteien wie Die
LINKE nicht unbedingt völlig negiert und als Gegner
angesehen werden. Sie können eine Rolle spielen, aber
nicht, wenn sie, wie derzeit, im Parlamentarismus mit
all seinen „Sachzwängen“ ihre Perspektive sehen.
Nicht einmal ein „gleichberechtigtes“ Verhältnis von
Partei und einer so verstandenen Bewegung ist anzu-
streben. Die Partei müsste, würde sie etwas Nützliches
sein wollen, sich ganz einer solchen Bewegung ver-
schreiben, sich ihr unterordnen und ihre eigenen Ziele
als Partei hinter die
der realen Bewe-
gung zurückstellen.
Das tut sie leider
nicht. Da wo sie
regiert, das sahen
wir in Berlin und
sehen wir in Thürin-
gen, wird sie zu
einem ganz braven
Player im Spiel des
1 ROARMAG.org reflections on a revolution (roar-
mag.org/2015/06/max-haiven-common-austerity/)
parlamentarischen Spektakels. Da, wo sie nicht regiert,
schürt sie Illusionen, alles würde besser, würde man
nur endlich „richtig“, nämlich sie, wählen. Unterwür-
figkeitsgesten gegenüber dem Gegner, der Wunsch,
auch verwalten zu dürfen und das schale Argument,
wenn man nicht selber mitspielen würde, würden´s die
anderen noch schlimmer treiben, zeichnen heute diese
Partei aus. Sicher gibt es auch in dieser Partei viele
aufrichtige, gutmeinende Menschen. Diese Kritik ist
keine ad hominem. Sie zielt auf die Form der Organi-
sation. Und zu dieser Form lässt sich nur sagen: eine
parlamentaristische, sich im vorgesehenen Rahmen
bewegende Partei brauchen wir nicht.
SEI EN WIR R EALI STI SCH , V ERS UCHEN WIR DAS
UNMÖ GLI CHE!
Kommen wir zurück zum konkreten Anlass des Akti-
onstages „Europa. Anders. Machen“. Vorrangig geht
es um die Flüchtlingspolitik der EU, und das macht ja
auch ob der Drastik des Problems Sinn. Aber wie wird
das Problem angegangen? Man wird sagen: Der Akti-
onstag schafft Aufmerksamkeit dafür, dass Menschen
an den EU-Außengrenzen sterben. Das ist doch Blöd-
sinn. „Aufmerksamkeit“ ist hier längst geschaffen. Es
gibt zwischen dem bayerischen Prutting und Leck in
Schleswig sicher keine noch so kleine Siedlung, in die
nicht vorgedrungen ist, was im Mittelmeer passiert.
Spiegel, Zeit, Welt, gar Bild oder Mopo – niemand,
nicht eines dieser Blätter, verschweigt, dass an EU-
Außengrenzen Menschen sterben. Sogar bei Pro7-
News und im RTL-Nachmittagsprogramm weiß man
davon, und was dort angekommen ist, bleibt selbst
dem noch so hartnäckigen Verweigerer politischer
Themen nicht verborgen.
Was zu tun wäre, wäre zu erklären, warum dort Men-
schen sterben und wie das zu ändern ist. Das Warum
wird im Aufruf zu „Europa. Anders. Machen“ völlig
ausgeklammert. Die Krux an der Sache ist doch: In-
nerhalb der Paradigmen von Kapitalismus und Natio-
nalstaat gibt es keine (!) Lösung des „Flüchtlingsprob-
lems“. Das ist tragisch, weil wir soweit davon entfernt
sind, die beiden abzuschaffen. Aber wer es ver-
schweigt, trägt zur Verlängerung des Problems bei.
Die Gleichung ist einfach: Solange Kapitalismus und
Nationalstaat, solange sterben Flüchtlinge an Grenzen,
solange gibts Lohndrückerei, Erwerbslosigkeit und
Arschleben hier und in Griechenland. Willste nicht?
Gut, musst du mithelfen, Kapitalismus und National-
staat wegzubekommen. Im gesamten Aufruf von „Eu-
ropa. Anders. Machen“ kommt nichts davon vor. Das
Wort „Kapitalismus“ fehlt völlig, „Nationalismus“
kommt einmal vor, aber auch der Nationalstaat bleibt
ansonsten ungeschoren. Man fragt sich aufrichtig, was
denn da eigentlich „Anders.“ gemacht werden soll.
Ist das Warum des Massensterbens im Mittelmeer so
benannt, müsste auf das oben beschriebene Wie zu-
rückgekommen werden. Klar, wir können und müssen
im Hier und Heute konkrete kleine Dinge angehen:
Wir können und müssen Flüchtlinge schleusen, sie hier
Wählste Wulf,
geht alles seinen
geordneten
Gang.
3
unterstützen, mit ihnen Plätze besetzen, sie in ihren
Kämpfen supporten. Aber so traurig es ist: Solange wir
hier keine Bewegung haben, die die Verhältnisse
gründlich umzuwälzen in der Lage ist, werden Men-
schen an der Verwertungslogik des Kapitals sterben.
Wer das nicht einsieht, und die Illusionen von Parla-
mentarismus und „Reformen“ weiterverbreitet, muss
sich am Ende des Tages die Frage stellen, wem eine
solche Politik nützt.
DIE ISOLATION DURCHBRECHEN!
[Die längere Fassung dieses Textes, der von zwei Mit-
gliedern der Anarchistischen Initiative KL geschrieben
wurde, erscheint in der Gai Dao (www.fda-
ifa.org/gaidao) im Juli 2015. Einige Aspekte, die auch
für Menschen außerhalb der anarchistischen Bewe-
gung interessant sind, geben wir hier wider.]
OR GANIS ATIO NS DUALI S MU S Anarchistische Föderationen wie die FdA existieren,
um Anarchist*innen zu organisieren und deren Aktivi-
täten zu koordinieren. Aktuell bestehen diese Aktivitä-
ten vor allem aus dem Verbreiten anarchistischer Ge-
danken durch Zeitungen wie die Gai Dao oder Kam-
pagnen mit Vorträgen, Mobimaterialien und Demonst-
rationen. Dies ist aber natürlich nicht ausreichend, um
der befreiten Gesellschaft näher zu kommen oder das
kapitalistische System zumindest anzugreifen. Außer-
dem ist zumindest in der aktuellen Situation nicht zu
erwarten, auf diese Weise eine große Masse an Men-
schen zu organisieren. Deshalb sieht das Konzept des
Organisationsdualismus zusätzlich Interessenorganisa-
tionen vor. Dies können z. B. anarchosyndikalistische
Gewerkschaften wie die FAU sein oder stadtpolitische
Bündnisse gegen Gentrifizierung und Zwangsräumun-
gen. Diese Organisationen helfen zum einen anarchis-
tischen Aktivist*innen, die sich eben nicht nur abra-
ckern und auf die Revolution warten müssen, da sie
jetzt schon Verbesserungen für sich erkämpfen kön-
nen.
BR EIT E PARTI ZI PATI O NS MÖGLI CH K EIT EN Zum anderen können Interessenorganisationen die
Homogenität der Bewegung abschwächen. Die anar-
chistische Bewegung ist größtenteils jung und besteht
aus nur wenigen Frauen oder Menschen mit Migrati-
onshintergrund. Da unmittelbare Interessen eben den
meisten Menschen wichtiger sind als Utopien, kann die
FAU auch rumänische Bauarbeiter organisieren, die
sich wohl noch nie mit anarchistischen Theoreti-
ker*innen auseinandergesetzt haben und auch nicht
sofort damit anfangen werden, Kropotkins Memoiren
zu lesen.
Für eine breite Bewegung braucht es auf jeden Fall
sowohl verschiedene Inhalte als auch verschiedene
Formen der Partizipation. Verschiedene Inhalte, weil
eine Hausfrau, die nicht lohnarbeitet, wohl nicht Mit-
glied einer Gewerkschaft werden will; aber auch ver-
schiedene Formen, weil politisch aktiv sein mehr be-
deutet, als Aufrufe zu schreiben, Flyer zu verteilen und
dann eine Demo zu organisieren. Die fehlende Kreati-
vität in Teilen der Bewegung führt zu fehlender Effizi-
enz (das einfache geschriebene Wort ist heute wohl
allein nicht mehr in der Lage, die revolutionären Mas-
sen aufzustacheln), und zu fehlender Breite in den
Gruppen (weil nur die Leute mitmachen, die sich hin-
ter Bergen von Texten immer noch wohl fühlen).Dabei
ist die Beteiligungsschwelle bei der anarchistischen
Bewegung sowieso schon sehr hoch: wir haben keine
formellen passiven Mitgliedschaften, keine Listen auf
Wahlzetteln, keine Onlinepetitionen; wer dabei sei
will, muss auch wirklich was tun. Wenn aber das
niedrigschwellige Angebot nur sehr eingeschränkt ist,
dann sollten die Partizipationsmöglichkeiten wenigs-
tens so vielfältig, interessant und (ohne Szenekenntnis-
se) machbar sein, wie möglich.
[...]
Es ist ein Vorteil mancher Anarchist*innen wie z.B.
der Graswurzelrevolution2, das positive und emanzipa-
tive an unserer Bewegung zu betonen. Denn der Anar-
chismus ist eben für den Großteil der Bevölkerung
keine Bedrohung, sondern sollte die Hoffnung auf ein
besseres Leben in einer solidarischen und freiheitli-
chen Gesellschaft sein. Diesem Großteil sollten wir die
Möglichkeit anbieten, Anarchist*innen zu sein, ohne
deshalb in eine Szenesubkultur eintreten zu müssen.
Als ganz normale Menschen, Rebellinnen und Rebel-
len.
2 Eine der bedeutendsten anarchistischen Zeitungen im
deutschsprachigen Raum mit antimilitaristischer und ge-waltloser Ausrichtung, deren Ansichten wir deswegen nicht vollkommen teilen, u.a. fehlt uns der Klassenstandpunkt.
4
DER KOMMENDE AUFPRALL AUF DER SUCHE NACH DER REIßLEINE IN
ZEITEN DER KRISE - Strategische Überlegungen -
1. E IN LEIT UN G Es gibt bisher trotz aller Diskussion über die Krise in
der deutschen Linken keine theoretisch fundierte, aber
gleichzeitig gesellschaftlich relevante Praxis, um auf
die mit Kapitalismus und Krise verbundenen Entwick-
lungen reagieren zu können.3 [...]
Alle uns bis heute bekannten Versuche, auf die heuti-
gen Krisenbearbeitungsstrategien des Kapitals zu rea-
gieren, konnten die mit ihnen einhergehenden Angriffe
auf die Lohnabhängigen nicht abwehren – unsere eige-
nen inbegriffen. Alle Politik, die über Teilbereichs-
kämpfe hinausweist, begegnet uns in der einen oder
anderen Form des Events oder der reinen Kritik. Beide
Formen greifen nicht verändernd in unseren Alltag als
Lohnabhängige, in die Sphäre der kapitalistischen Pro-
duktionsweise ein – unter den derzeitigen Bedingun-
gen bleiben sie als Appell zahnlos.
[...]
2. KRI S E Bevor wir zur Diskussion praktischer Perspektiven der
radikalen Linken in der Krise kommen, wollen wir
kurz darstellen, wie wir die gegenwärtige gesellschaft-
liche Situation einschätzen, da sich hieraus einige
Konsequenzen für die Praxis ergeben.
2.1 W I D E R S P R U C H & K R I S E N D Y N A M I K
Auch wir gehen davon aus, dass die gegenwärtige Kri-
se Ausdruck der grundlegenden Krisenhaftigkeit der
kapitalistischen Produktionsweise ist, die in ihren inne-
ren Widersprüchen angelegt ist. [...] Staaten können im
Grunde nur zum Sachwalter des Entwertungsdrucks
werden, egal ob dies im Gewand neoliberaler
Austeritätspolitik, die Entwertung primär durch den
Angriff auf die Lebensverhältnisse der Lohnabhängi-
gen vorantreibt, oder keynesianischer Konjunkturpake-
te geschieht, die die Entwertung nur weiter hinaus-
schieben. Denn jedes noch so gut gemeinte Konjunk-
turprogramm wird früher oder später an die Grenze
seiner Finanzierbarkeit stoßen [...]. Deshalb teilen wir
die These der Freundinnen und Freunde der klassenlo-
sen Gesellschaft, dass es – zumindest systemimmanent
– keine soziale Krisenlösung gibt. Eine solche ist nur
als sozialrevolutionäre Umwälzung der kapitalistischen
Produktionsweise zu haben.
Diese Perspektive bedeutet für uns auch immer, eine
radikale Kritik am Staat zu formulieren. Die Repro-
duktion verschiedenster – ökonomischer, rassistischer
und sexistischer – Herrschaftsverhältnisse ist sein Job;
3 Damit ist weder gemeint, dass wir lediglich die eine richti-
ge Theorie bräuchten, noch, dass es allein an der radikalen Linke läge, ob sie eine gesellschaftliche Relevanz erheischen kann oder nicht.
er ist bei allem, was er tut,
angewiesen auf eine funkti-
onierende Kapitalakkumula-
tion, deren Aufrechterhal-
tung entsprechend sein zent-
rales ,Interesse‘ sein muss – dies zu betonen, halten
wir im gegenwärtigen Suchprozess der (radikalen)
Linken für zentral, denn nur eine gehörige
Delegitimation des Staats4 eröffnet eine langfristige
Perspektive auf eine Selbstorganisation von unten jen-
seits der herrschenden Logik; wo der Staat als Teil der
Lösung und nicht als Teil des Problems verhandelt
wird, geht früher oder später jeder Ansatz von Selbst-
organisation in staatstragende Organisation über. [...]
Dennoch soll ein wesentlicher Aspekt
linkskeynesianischer Programme5 hier nicht übergan-
gen werden: Sie können bei entsprechender Ausrich-
tung dazu führen, dass es eben nicht primär die Lohn-
abhängigen sind, die den Entwertungsdruck zu spüren
bekommen, und in diesem Sinne einen wesentlichen
Unterschied machen.6 Sie sollten jedoch mit einem
anderen, eben sozialrevolutionären Impetus angegan-
gen werden, d.h. sie sollten nicht als Krisenlösung
diskutiert, sondern als Maßnahmen betrachtet werden,
die nur sinnvoll sind, wenn sie den Bedürfnissen der
Lohnabhängigen entgegenkommen und damit die Kri-
se vorantreiben. Sie wären zu betrachten als einzelne,
wirtschaftspolitische Maßnahmen innerhalb eines viel
weiter reichenden antikapitalistischen Transformati-
onsprozesses, als Übergangsmaßnahmen, bei denen es
darum geht „das letzte Geld sinnvoll (zu) verballern“
(Ortlieb).7 [...]
4 Wobei es nicht nur um eine Delegitimation einzelner Re-
präsentant*innen (seien es Einzelpersonen oder Parteien) oder Repräsentationsmodi geht, sondern um eine Delegitimation des Staats als sozialer Form, um eine De-struktion des ‚Systemvertrauens’. 5 Die Grundidee des Keynesianismus ist es, die Wirtschaft
über den Hebel der Nachfrage (Konsum und Investitionen – oder in Marxscher Terminologie: individuelle und produkti-ve Konsumtion) zu steuern. Unter Linkskeynesianismus lassen sich jene Interpretationen der Theorie von John Maynard Keynes verstehen, „die in den von Keynes emp-fohlenen Maßnahmen der staatlichen Finanzpolitik oder einer ihnen entsprechenden Gewerkschaftspolitik einen Ansatzpunkt für die Realisierung eines Programms sozialer und demokratischer Reformen zugunsten der Arbeiter-schaft sehen“ 6 Eine Spaltung der Linken in Etatist*innen und Antiautori-
täre ist in dieser Perspektive und wenn es darauf ankommt, die verheerenden sozialen Folgen der Krisenpolitik zu ver-hindern, wenig sinnvoll. 7 Diese sozialrevolutionäre Herangehensweise wird in aller
Regel jedoch durch das linkskeynesianische Versprechen sozialverträglichen kapitalistischen Wirtschaftens verhin-dert.
5
3. KLASS E 3.1 S E L B S T O R G A N I S I E R U N G U N D K L A S S E N K A M P F
„Die Proteste werden dann gefährlich, wenn sie als
Klassenkampf angesehen werden.“ (Klaus Schwab,
Gründer und Präsident des Weltwirtschaftsforums,
2012)
Vor dem Hintergrund der beschriebenen ökonomi-
schen Situation und der durch sie bedingten, sich ver-
schärfenden Angriffe auf die Lebens- und Arbeitsbe-
dingungen der Menschen, zu denen der Staat des Kapi-
tals immer wieder ausholt, sowie des Erstarkens anti-
semitischer, rassistischer und national gesinnter Kräfte,
wird eine handlungsfähige Linke immer dringlicher.
Im Zusammenhang mit dem Ziel, handlungsfähig zu
werden, das heißt auch die eigene Marginalität zu
überwinden, ist immer wieder die Rede von der
Selbstorganisierung, die in Gang gebracht werden soll
und als Ausweg aus der Misere sowie sozialrevolutio-
näre Perspektive diskutiert wird. Diese Perspektive
teilen wir grundsätzlich, doch stellt sich uns zunächst
die Frage, wer sich überhaupt als Subjekt dieser Orga-
nisierung begreift bzw. begreifen könnte.
Die klassisch marxistische Antwort, es sei das Proleta-
riat oder die Arbeiter*innenklasse, scheint vor dem
Hintergrund, dass sich heute anscheinend kaum je-
mand diesen Begriffen zuordnet, äußerst unbefriedi-
gend und abstrakt. Doch ohne Träger*innen sozialre-
volutionärer Veränderung kann es diese nicht geben.
Handlungsfähigkeit unsererseits ist nicht denkbar ohne
das Anknüpfen an potenzielle Subjekte der Selbstorga-
nisierung. Es stellt sich uns also weiter die Frage, wer
diese sein könnten. Klar ist: Es gibt kein per se revolu-
tionäres Subjekt, so wenig wie es die ‚Klasse für sich‘
gibt. Der Prozess der Konstituierung potenzieller Trä-
ger*innen sozialrevolutionärer Veränderungen bedarf
vielmehr einer bestimmten Form der politischen Aus-
einandersetzung, welche momentan nicht gegeben ist.
a) Gerade in der Krise tritt die Abstraktheit nicht über
sich selbst hinausblickender Alltags- und Interessen-
kämpfe von Lohn- und Reproduktionsarbeiter*innen,
Mieter*innen, Student*innen u.a. besonders deutlich
hervor. Der Mangel an gesellschaftlicher Kontextuali-
sierung der vereinzelten Kämpfe der Lohnabhängigen
und der sie repräsentierenden Organisationen macht sie
zu langfristig wirkungslosen Erscheinungen. [...] Erst
wenn der Widerspruch zwischen den eigenen Interes-
sen und Bedürfnissen und denen des Kapitals, der sich
in dieser Form des politischen Kampfes ausdrückt, von
den Kämpfenden auf die gesellschaftliche Totalität
bezogen wird, das heißt die eigene Position innerhalb
dieser verortet wird, konstituieren sich potenzielle
Träger*innen sozialrevolutionärer Veränderung. Die-
ser bewusste Totalitätsbezug, in dem die eigene Positi-
on innerhalb des Reproduktionsprozesses des Kapital-
verhältnisses reflektiert wird, ist es, den wir als Klas-
senbewusstsein verstehen.
b) Demgegenüber steht die Abstraktheit der Kämpfe
linker Politgruppen, die ihren Blick immer an sich
selbst vorbei auf die Abschaffung des Kapitalismus
richten. Der Mangel an Verankerung in Alltags- und
Arbeitskämpfen macht sie zu wirkungslosen Erschei-
nungen. Das Selbstbewusstsein, mit dem moralische
Appelle auf den alljährlichen Großevents vorgetragen
werden, ist angesichts des fehlendes Einflusses auf die
Reproduktionsprozesse gesellschaftlicher Herrschaft
absurd.
Auch die linksradikalen Aktivist*innen stehen – daran
muss man (sich selbst) scheinbar immer wieder erin-
nern – in einem materiellen Verhältnis zur Verwertung
des Kapitals, sind selbst Ausgebeutete. Nur wenn ihre
Kämpfe direkt in dieses Verhältnis eingreifen, haben
sie Einfluss darauf und können so antikapitalistisch
wirken. [...]
Die Forderung nach der Abschaffung des Kapitalismus
muss sich aus dem Widerspruch, in dem die Bedürf-
nisse des eigenen Lebens zu den Bedürfnissen des
Kapitals stehen, ergeben; sie bleibt idealistisch, solan-
ge sie reine Erkenntnis des gesellschaftlichen Ganzen
bleibt und nicht die Bewegung des aus sich
heraustreibenden Widerspruchs im Besonderen ist.
Es zeigt sich, dass weder die systemimmanenten Ein-
zelforderungen reiner Interessenkämpfe noch die
scheinbar außerhalb des Systems stehenden Forderun-
gen nach der Abschaffung des Kapitalismus ihr Ziel
erreichen können – es mangelt ihnen am jeweils Ande-
ren. [...]
Vor dieser Beziehung bleiben die einseitigen Momente
abstrakt. Diese Abstraktheit ist ihre politische Ohn-
macht. Das Potenzial beider Formen des Kampfes
kann sich nur in ihrer Verbindung realisieren. Der be-
wusste Kampf gegen die eigene Proletarität schafft die
Möglichkeit der Konstituierung eines sozialrevolutio-
nären Selbstorganisierungsprozesses. Die vermittelnde
Kategorie beider Pole ist der Klassenkampf, der ohne
Klassenbewusstsein nichts ist. Die Subjekte der
„Selbstorganisation“ sind die klassenbewussten Prole-
tarier*innen.
Das Bild zeigt ein Transparent der
Anarchosyndikalistischen Jugend Berlin bei einer
Demo für die um ihren Lohn geprellten Arbeiter
der „Mall of Berlin“.
6
Basisgruppe Antifa: „Klassenkampf ist einfach immer da, wo es eine Klas-sengesellschaft gibt; die eine versucht die andere… ihr kennt das, wenn ihr zur Arbeit geht oder so ... es ist das notwendige Verhältnis der Klassen zueinander. In diesem Klassenkampf bringt jede Seite ihr jeweili-ges Interesse vor und versucht es durchzusetzen; wobei die Klasse, der ich zugehörig bin, gerade nicht so gut dabei ist. Trotzdem, auch wenn wir nicht er-folgreich sind, ist das immer Klassenkampf. Indem ich aber losgehe, meine Interessen als Klasse durchzuset-zen, verbleibe ich affirmativ immer auf dem Boden der Klassengesellschaft. Das ist nicht das revolutionä-re Moment darin.“
Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesell-schaft: Was zu tun ist: Herauszuarbeiten, warum es gute Gründe für deutsche Prolet*innen gibt, warum ihnen der eigene Arbeitsplatz näher ist als die Solidarität zu Klassenbrüdern und -schwestern in Griechenland.
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Einschub: Klasse, Klassenkampf, Klassenbe-
wusstsein ---------- ZU M BE G R I F F D E R K L A S S E
Wenn wir hier den Begriff der Klasse hervorkramen
und versuchen politisch nutzbar zu machen, geht es
uns nicht darum, einen alten Klassenbegriff aufzu-
wärmen, der zu Recht in vielerlei Hinsicht kritisiert
wurde. [...] Dennoch ist und bleibt davon auszugehen,
das kapitalistische Gesellschaften stets Klassengesell-
schaften sind – zunächst in dem ganz grundlegenden
Sinne, dass sie auf einer Trennung der Produktionsmit-
tel von den unmittelbaren Produzent*innen beruhen,
die zugleich mit der Trennung von Lohn- und Hausar-
beit, von Produktions- und Reproduktionssphäre ein-
hergeht. Diese Trennung bedeutet, dass die Menschen,
die den gesellschaftlichen Reichtum produzieren, nicht
über ihn verfügen können, d.h. ihnen ist – in beiden
Sphären – die Kontrolle über die zu ihrer Reproduktion
notwendigen materiellen, sozialen und zeitlichen Be-
dingungen entzogen. Dies liegt nicht einfach am bösen
Willen der Kapitalist*innen, es ist vielmehr der syste-
mische Charakter der Heteronomie hervorzuheben; die
Klassenherrschaft in kapitalistischen Gesellschaften ist
in eine Form anonymer, subjektloser Herrschaft einge-
gliedert, die auch der herrschenden Klasse das Gesetz
der Kapitalakkumulation aufzwingt. Dennoch hegt die
Kapitalist*innenklasse ein besonderes Interesse an der
Aufrechterhaltung dieser Gesellschaftsordnung. Sie
setzt ihre Herrschaft ständig durch ideologische und
materielle Gewalt bewusst um. So sind es (auf qualita-
tiv andere Weise) die Bedürfnisse der Lohnabhängi-
gen, die stets zu kurz kommen.
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ZU M BE G R I F F D E S K L A S S E N K A M P F E S
Vor diesem Hintergrund bedeutet Klassenkampf nicht
schlicht den Kampf von (proletarischer) Klasse gegen
(kapitalistische) Klasse, sondern ist als Kampf um die
Aneignung der materiellen, sozialen und zeitlichen
Bedingungen der Reproduktion bzw. der Bedürfnisbe-
friedigung zu verstehen, der nicht bloß ein Kampf in-
nerhalb und – im besten Fall – gegen das Klassenver-
hältnis, sondern auch innerhalb und – im besten Fall –
gegen das übergreifende Kapitalverhältnis und andere
(etwa rassifizierte, vergeschlechtlichte) Ausbeutungs-
verhältnisse ist.
[...] Der Begriff des Klassenkampfes erfüllt für uns
eine dreifache Funktion:
1. Er bietet die Möglichkeit, eine Klammer zwischen
verschiedenen Kämpfen (in Produktions- und Repro-
duktionssphäre) herzustellen.
2. Er verweist auf den potentiellen Widerspruch zwi-
schen den „Bedürfnissen des Kapitals“ (Marx) und den
daran hängenden Interessen ihrer privaten und staatli-
chen Funktionär*innen einerseits und den Bedürfnis-
sen der Lohnabhängigen andererseits.
3. Er kann so zwischen Theorie und Bedürfnissen
vermitteln und damit dazu beitragen, dass Kritik und
Theorie zur materiellen Gewalt werden.
[...]
3.2. BE D Ü R F N I S U N D K L A S S E N B E W U S S T S E I N
„Die Theorie wird in einem Volke nur so weit verwirk-
licht, als sie die Verwirklichung seiner Bedürfnisse ist
[…]. Eine radikale Revolution kann nur die Revolution
radikaler Bedürfnisse sein.“ (MEW)
„To make love and to refuse night work to make love,
is in the interest of the class“ (Dalla Costa)
Wenn wir betonen, dass wir den (Praxis-)Begriff des
Klassenbewusstseins für wichtig halten, weil mit die-
sem der Bezug auf die Totalität kapitalistischer Verge-
sellschaftung hergestellt werden kann, bedeutet dies
nicht, dass wir einem industrieproletarisch verengten
Begriff von Klasse aufsitzen. Klar ist: Die konkreten
Lebensrealitäten derer, die gezwungen sind, von dem
zu leben, was der Verkauf seiner*ihrer Arbeitskraft
abwirft bzw. was die Arbeitskraft derer abwirft, von
denen sie abhängig sind, sind nichts Homogenes, son-
dern durch verschiedene Herrschafts- und Ausbeu-
tungsverhältnisse in sich weiter fragmentiert. Insofern
ergeben sich daraus auch verschiedene Anknüpfungs-
punkte für die Entstehung von Klassenkämpfen. Klas-
senbewusstsein kann dann als der Versuch beschrieben
werden, im Kampf ein Gemeinsames zu finden. [...]
Das Gemeinsame ergibt sich daraus, dass die verschie-
denen Herrschaftsverhältnisse nicht einfach unvermit-
telt nebeneinander stehen, sondern Teil einer Totalität
sind, die gebunden ist an abstrakte Arbeit, Ware,
Mehrwert, Akkumulation, Zweigeschlechtlichkeit,
geschlechtlich konnotierte, unentlohnte Reprodukti-
onsarbeit sowie an einen rassifizierenden Nationalstaat
7
und Imperialismus.
Klassenbewusstsein ist dabei weit mehr als ein bloß
wissenschaftliches Erkennen, sondern ergibt sich aus
der Dialektik von Theorie und Praxis und vermittelt
sich über die Basis- und Selbstorganisierung. Beson-
ders offen treten die sonst versteckten ökonomischen
Kräfte und die dahinter liegende Gewalt in sozialen
Kämpfen hervor, woraus sich Reflexion, Organisati-
onsbildung und Spontaneität (im Sinne der Selbstorga-
nisation) ergeben können.
[...]
Bedürfnisse können in einer Gesellschaft, in der die
Bedürfnisbefriedigung der Menschen nur ein Abfall-
produkt der Mehrwertproduktion ist, ein wichtiger
Ausgangspunkt für sozialrevolutionäre Veränderungen
sein. Dabei sind es insbesondere die Bedürfnisse der
Lohnabhängigen, die immer wieder negiert und den
herrschenden Verhältnissen subordiniert und einge-
passt werden. [...]
Eine materialistische Perspektive auf Bedürfnisse tritt
einem unmittelbaristisch oder ontologisch gefassten
Bedürfnisbegriff entgegen.8 Bedürfnisse sind nicht
ahistorisch als richtige oder falsche, allgemein-
menschliche oder spezifisch-kapitalistische Bedürfnis-
se zu kategorisieren. In kapitalistischen Verhältnissen
ist es die erste Bedingung der Produktion einer Ware,
dass sie „menschliche Bedürfnisse irgendeiner Art
befriedigt“ (MEW). Die Herrschaft des Kapitals ist
damit aber nicht nur in ihrem Innersten von den be-
dürftigen Menschen abhängig, sondern produziert
gleichzeitig seine Bedürftigkeit auf historisch qualita-
tiv spezifische und neue Weise. Gleichzeitig können,
da die Produkte gesellschaftlicher Arbeit privat ange-
eignet werden, die von der kapitalistischen Produkti-
onsweise hervorgerufenen Bedürfnisse nur durch Zah-
lung befriedigt werden. Diese systematische Restrikti-
on der Bedürfnisbefriedigung, ihre Subsumtion unter
die Zahlungsfähigkeit, bedeutet, dass die gesellschaft-
lich produzierten Bedürfnisse ein die Herrschaft des
Kapitals transzendierendes Potential enthalten. Gleich-
zeitig sind sie – mit H. Marcuse – zu verstehen als
bereits von Herrschaftsinteressen der bestehenden Ge-
sellschaft historisch geformte und durch den Sozialisa-
tionsprozess vermittelte. Sie sind Resultat einer Verin-
nerlichung der Leistungs- und Konkurrenzanforderun-
gen des Kapitals an die Lohnabhängigen und tragen so
zur kulturellen und psychischen Verelendung bei. In
dieser Hinsicht sind sie Modalitäten der Aggression
und des Elends, die die Unterdrückung verewigen.
Bedürfnissen kommt damit ein Doppelcharakter zu:
Sie sind immanentes, das Kapital stützendes und ihm
verpflichtetes Produkt kapitalistischer Produktionswei-
se und gleichzeitig ihr von ihr selbst hervorgebrachter
Totengräber. Das Radikale am Bedürfnis lässt sich mit
8 Mit erstem operiert – ohne sich dessen bewusst zu sein –
der Teil der Bewegung, der sich stark an Hedonismus-konzepten orientiert („Drogen, Techno, Antifa“), mit dem zweiten eher der grün-alternative Teil der Linken.
Hilfe allgemeingültiger Maßstäbe praktisch realisieren,
„die sich auf die optimale Entwicklung des Individu-
ums, aller Individuen, beziehen unter optimaler Aus-
nutzung der materiellen und geistigen Ressourcen,
über die der Mensch verfügt“ (Marcuse) und die sich
historisch weiter entwickeln. Radikal sind Bedürfnisse,
insofern sie zur Abschaffung von entfremdeter Lohn-
arbeit, Leid, Armut und Krieg hintreiben – sie zielen
auf Kooperation und Solidarität, auf Befriedung, Kon-
templation und Muße. Kurz: Es sind menschliche Be-
dürfnisse auf der Höhe des historisch Möglichen und
Wünschbaren und als solche befinden sie sich in einem
antagonistischen Verhältnis zur bestehenden Gesell-
schaft. Indem die politische Praxis diese aufgreift,
kann ein Bewusstsein befördert werden, das die Gren-
zen der Repression überschreitet. Der Blick auf die
Produktion und Negation der Bedürfnisse bringt die
verschiedenen Spaltungslinien der kapitalistischen
Herrschaft zu Tage.
[...]
4. PR AXI S Die zu Beginn der Krise aufgekommenen Hoffnungen,
dass die Krise auch in Deutschland, dem imperialisti-
schen Zentrum Europas, zu verschärften sozialen Kon-
flikten emanzipatorischen Gehalts führen würde, haben
sich bisher nicht erfüllt. Der Großteil der Menschen
scheint eine Haltung von grün bis tiefbraun einzuneh-
men, die eine Verteidigung des Standorts Deutschland
als alternativlos akzeptiert. Zu den Abwehrkämpfen
abseits linksradikaler Wunschprojektion und tatsächli-
cher, aber marginalisierter, Intervention lässt sich fest-
halten: „Abwehrkämpfe gibt es, doch antikapitalisti-
sche Ansätze oder gar Utopien stoßen auf Desinteres-
se.“ (Avanti Berlin). Anders sieht es auf Grund der
dramatischen Konsequenzen in den stärker betroffenen
Ländern aus, nur fehlen auch dort bisher sichtbare
Erfolge. Die durchaus beachtenswerten Aktionen und
Prozesse der Solidarisierung und Selbstorganisierung
konnten die krisenpolitischen Angriffe der Troika nicht
abwehren. Zudem kommt es zu keiner nennenswerten
Verbindung zwischen den Betroffenen dort und den
weniger Betroffenen hier. Dagegen haben reaktionäre,
vermeintliche Krisenlösungen Hochkonjunktur, wie
die Europawahlen 2014 zeigten: der Front National in
Frankreich, die United Kingdom Independence Party,
die Jobbik in Ungarn oder die Alternative für Deutsch-
land konnten hohe Wahlergebnisse erzielen. Bis tief
ins bürgerliche Lager zeigen sich starke Tendenzen
nach rechts. Auf den Montagsdemonstrationen seit
2014 absorbierte eine komplett verballerte, antisemiti-
sche Verschwörungsideologie das Unbehagen der
Menschen mit den klassisch linken Themen Frieden
und Antimilitarismus. Mit PEGIDA und Co., gegen
Ende des Jahres, trat offen zu Tage, wie es um den
Bewusstseinsstand der sogenannten Mitte der Gesell-
schaft steht. Die herrschende Politik reagiert, wie An-
fang der 1990er, mit einer Verschärfung der Asylrege-
lungen.
8
Aus dieser kurzen Bestandsaufnahme lässt sich für uns
nur der Schluss ziehen, dass es umso dringender einer
linken Politik bedarf, die sich aus ihrer Zurückgezo-
genheit und dem Zurückgedrängtsein herausarbeitet.
Auf der einen Seite antifaschistisch, mit dem offensi-
ven Entgegentreten rechter Tendenzen von populis-
tisch bis radikal und andererseits mit der Verbreitung
eigener Analyse und der solidarischen Intervention in
bestehende und dem Führen eigener Klassenkämpfe.
Von Beginn der Krise an ist es vermessen gewesen, in
die Krise und die damit verbundene eigene Politik alle
Hoffnung auf ein emanzipatorisches Vorhaben zu set-
zen. Angesichts der Gefahr und bitteren Realität reak-
tionärer Krisenantworten bleibt uns jedoch nichts an-
deres übrig, als jetzt unsere eigenen Analysen, unsere
Politik und Alternativvorschläge kritisch zu hinterfra-
gen und umso schärfer in die Auseinandersetzungen zu
gehen. [...]
Seitdem sich der Großteil der radikalen Linken von
Arbeitskämpfen entkoppelt hat und ohne gesellschaft-
lich verankerte Bewegung agiert, sind Events die vor-
herrschende Form der eigenen Politik geworden.
Grundsätzlich halten wir Großmobilisierungen weiter-
hin für einen wichtigen Bestandteil politischer Arbeit,
wenn es darum geht, sichtbar zu werden und gesell-
schaftliche Konflikte zuzuspitzen, Meinungshoheiten
medial zumindest zu kontrastieren und einen gemein-
samen Ausdruck ansonsten vereinzelter Tageskämpfe
zu finden. Doch geben erfolgreich organisierte Groß-
demonstrationen und „Blockaden“ einer EZB oder
ähnlichen Zielen mit Systemcharakter nur Auskunft
über eben unsere Fähigkeiten der Organisation und
Mobilisierung und nicht unserer gesellschaftlichen
Wirkung. Bezogen auf „uns“, die Organisierenden und
Demonstrierenden, muss festgestellt werden, dass es
nicht einfach darum gehen kann, Zehntausende auf die
Straße zu bringen, die in ihrer Freizeit den Kapitalis-
mus kritisieren, um ihm danach wieder voll und ganz
zur Verfügung zu stehen. Bezogen auf die bisher be-
friedeten lohnabhängigen Zuschauer*innen lässt sich
sagen, dass ein kritisches Bewusstsein eben äußerst
selten als von außen herangetragene Position in Form
von Demonstration, Flugblatt und Medienbericht ent-
steht. Inwiefern wir die systemrelevanten Ak-
teur*innen mit unseren Events unter Druck setzen, ist
schwer zu sagen. Das Geheule der Gegenseite ob eines
gesellschaftlichen Auseinanderbrechens vor und nach
jedem Event ist nicht viel mehr als kalkulierte Angst-
mache. Der Kostenfaktor eines verlorenen Arbeitstages
durch die Blockade eines Geschäfts ist unwesentlich,
verglichen mit der alltäglichen Verwertung. Unsere
Solidaritätsbekundungen mit den Kämpfenden anderer
Ländern blieben das, was sie eben sind: verbale Äuße-
rungen. Was es unserer Ansicht nach in den hiesigen
Verhältnissen hingegen braucht, ist eben die kontinu-
ierliche dezentrale, aber strategisch fokussierte Aktivi-
tät in Produktion und Reproduktion, also dort, wo All-
tag und Kritik ihre momentane Trennung überwinden
könnten. Nur diese könnte uns in die Lage versetzen,
das Funktionieren des kapitalistischen Systems, auch
im Sinne anderer Betroffener, zu behindern. Erst auf
Grundlage dieser im Alltag verankerten Strukturen
würde ein Event mehr sein als Protest, eben der oft
benannte, aber selten eingelöste „Kristallisations-
punkt“ vorhandener Kämpfe. [...]
Inhaltlich geht es uns um nichts weniger als die soziale
Revolution, aufbauend auf unserem oben dargelegten
Verständnis von kapitalistischer Gesellschaft und
Klassenkampf. In diesem Sinne verstehen wir die sozi-
ale Revolution als Überwindung der Klassenverhält-
nisse und als Prozess der Selbstaufhebung des Proleta-
riats und der Abschaffung der Lohnarbeit. Dieser hier
umrissene Ansatz soll in Abgrenzung zu Kategorien
wie der Multitude oder konstituierender Macht, oder
auch einem bloßen gemeinsamen Forderungskatalog,
Grundlage unserer politischen Arbeit sein. Das Ge-
meinsame besteht zunächst als Negatives, als geteilter
Problemzusammenhang, und das Positive kann sich
erst im Kampf dagegen als Gemeinsames entwickeln.
Die von uns hier entfaltete erweiterte Kategorie des
Klassenbewusstseins ist theoretischer Ausgangspunkt
unseres Strategievorschlags, um die Protestierenden
und Kämpfenden – also nicht zuletzt auch uns selbst –
zu einer Reflexion ihrer/unserer jeweiligen gesell-
schaftlichen Position zu provozieren, die nicht bei
einer Politik der ersten Person stehenbleibt, sondern
auf die gesellschaftliche Totalität als den gemeinsamen
Bezugspunkt abhebt. Dabei geht es nicht darum, vor-
handene Kämpfe unter dem Begriff des Klassenkamp-
fes zu subsumieren, sondern diese viel eher wieder um
die mit dem Klassenbegriff verbundenen Aspekte kapi-
talistischer Vergesellschaftung zu erweitern. Es geht
also um den Versuch, den spezifischen Kampf um 2%
mehr Lohn oder gegen die Maßnahmen der Agentur
für Arbeit über die unmittelbaren Interessen hinaus zu
‚politisieren‘. In der Praxis vermittelt sich der gesell-
schaftliche verbindende Problemzusammenhang im
Prozess der praktischen Solidarisierung. Solidarität ist
dabei sowohl Voraussetzung für das praktische Entste-
hen von Klassenbewusstsein wie auch als dessen Re-
sultat zu begreifen. Durch die Versuche, die Durchset-
zung der eigenen Interessen mit der Durchsetzung
anderer Interessen – die auch durchaus gegensätzlich
sein können – zusammenzuführen, entstehen praktisch
motivierte Fragen nach realen Trennungs- und Verbin-
dungslinien zwischen den Kämpfenden im gesell-
schaftlichen Funktionszusammenhang. Auf dieser
Grundlage können die Möglichkeiten gemeinsamer
Praxis diskutiert werden und erst durch diese geteilte
Perspektive kann ein wirklicher Austausch, eine ge-
meinsame Politik unter den Kämpfenden entstehen.
[...]
Ansätze einer praktischen Solidarität gibt es immer
wieder und immer noch von Einzelpersonen, Gruppen
und auch punktuell durch größere Bündnisse, aber
eben nicht forciert als langfristige, übergreifende Or-
ganisierung, welche wir hier vorschlagen wollen. Da-
mit Solidarisierungsprozesse nicht einfach wieder ver-
puffen, bedarf es einer Verfestigung der entstehenden
9
Kommunikations- und Koordinationsstrukturen in
einer Organisierung, die vor allem als Informations-
und Kommunikationsstruktur fungiert. In ihr können
Erfahrungen geteilt, reflektiert und weitergegeben
werden, sowie gemeinsame Aktionen zeitlich, räum-
lich und inhaltlich koordiniert werden. Ziel einer sol-
chen Organisierung muss es unseres Erachtens sein,
die Selbsttätigkeit der Kämpfenden zu fördern, ganz in
dem oben erwähnten Sinne, dass Emanzipation das
Selbsttätigwerden in der Geschichte bedeutet.
Drei Dimensionen halten wir hierfür zunächst für
sinnvoll, welche zwar möglichst zeitnah, aber eben
auch in ihrer je notwendigen Zeit nebeneinander wach-
sen sollen.
1. Politische Gruppen und politisierte Kämpfe (dazu
zählen für uns z.B. auch linke Gewerkschaftsinitiati-
ven) organisieren sich nach ihren eigenen Interessen in
ihrem unmittelbaren Lebensumfeld und gehen solida-
risch auf die Kämpfe in ihrer Umgebung/Sparte zu und
unterstützen diese möglichst in einer regionalen Basis-
organisierung. Dies ist die Ebene einer konkreten Ver-
netzung, welche an den Alltagsinteressen der Men-
schen (im Betrieb, der Uni, in der Hausarbeit) ansetzt
und hier die Basis, wie auch Kontakte und Orte für
eine gemeinsame solidarische Politik schafft. Damit
einher geht für uns die gegenseitige Hilfe durch Erfah-
rungsaustausch sowie technische und finanzielle Hilfe.
2. Eine überregionale Vernetzung der bereits politi-
schen Gruppen/Kämpfe und regionalen Bündnisse
ermöglicht es zunächst ganz praktisch, überregional
handlungsfähig zu werden. Nach innen soll diese über-
regionale Verbindung unser Ort der gemeinsamen
politisch-strategischen Beratung und politische Kon-
stante sein. Jedoch soll sie dabei kein Ort der zentralen
Entscheidungsgewalt über die Kämpfe vor Ort sein.
Ziel der Vernetzung ist es, zu einer möglichst gemein-
samen, koordinierten Praxis zu gelangen, die über alle
kurzfristigen Mobilisierungen, Events und Standort-
logiken (lokal, wie national) hinausweist und spürbar
in die Reproduktion der Verhältnisse eingreift.
3. Der Aufbau eines Büros zur organisatorischen Un-
terstützung der Beteiligten, dessen Aufgabe es wäre,
die direkten Verbindungen unter den Beteiligten zu
stärken. [...] Auf der anderen Seite kann das Büro die
Aufgabe eines Verstärkers übernehmen, wenn es um
dringende Aufrufe an möglichst viele Teile der Orga-
nisierung geht. Darüber hinaus kann es in seiner unter-
stützenden Rolle Presse- und Propaganda-Arbeit im
Sinne der laufenden Kämpfe übernehmen, Mediation
zwischen den Beteiligten vermitteln, Vollversammlun-
gen und Kongresse sowie finanzielle Unterstützung für
die Beteiligten organisieren. Für die Erarbeitung kom-
plexer Themenbereiche und deren Bedeutung für die
Kämpfe, wie z.B. einer Einschränkung des Streik-
rechts, könnte das Büro zudem innerhalb des Netz-
werks nach Expert*innen suchen, die Einschätzungen
dazu formulieren könnten und diese an die Beteiligten
als Entscheidungshilfe weitergeben. Um Tendenzen
der Verselbstständigung des Büros vorzubeugen, sind
die jeweils dort handelnden Menschen mandat-
gebunden, jederzeit abwählbar und möglichst nach
dem Rotationsprinzip besetzt.
Alle drei Dimensionen (die praktische Soli-Arbeit, die
politische Vernetzung und Reflexion sowie das Büro
für organisatorische und inhaltliche Unterstützung)
dienen der Schaffung von Verbindungen zwischen den
verschiedenen Kämpfen, so dass sich die Basis auf der
Straße und in den Betrieben verbreitert oder transna-
tionaler Widerstand zu anstehenden Themen gleichzei-
tig wirkungsmächtig wird. Würde alles wie geschmiert
laufen, so würden sich die Kämpfe immer mehr unter-
einander koordinieren; letztlich auch die Arbeit in
Form einer politischen Gruppe, wie wir sie heute in
unserer Defensivposition praktizieren, überflüssig
werden. Mehr noch: Die unterschiedlichen Basisorga-
nisationen, könnten als Keim einer sich herausbilden-
den Rätedemokratie und der umfassenden gesellschaft-
lichen Selbstverwaltung fungieren [...]. Die von uns
vorgeschlagene Art einer sozialrevolutionären Organi-
sierung gibt es momentan nicht, sie muss aufgebaut
werden.9 Wie eine solche Organisierung konkret ge-
staltet und praktisch geschaffen werden kann, ist für
uns die entscheidende Frage, welche beantwortet wer-
den muss, und dies kann nicht von uns allein geleistet
werden.
Ziel unserer Strategie ist es, klassenbewusst eine
emanzipatorische Gegenmacht zu Staat und Kapital
aufzubauen, die insbesondere in Krisenzeiten eine
praktische wie theoretische Alternative zu reaktionären
Lösungsvorschlägen bieten kann. Also eine Politik, die
den tatsächlichen Kampf mit den Herrschaftsverhält-
nissen wieder dort aufnimmt, wo sie sich direkt entfal-
ten. An diesem Vorschlag ist vieles aufregend, aber
wenig neu. [...] In der Gegenwart gibt es Initiativen
Gewerkschaftslinker und revolutionärer Basisgewerk-
schaften,10
die betriebliche Kämpfe als Kampf gegen
das Lohnsystem begreifen und deren Politikansätze in
die zu beschreitende Richtung weisen. Unser Politik-
Vorschlag beruht auf einer Reaktualisierung und
Repolitisierung des Klassenbegriffs, der auch Kämpfe
gegen weitere Herrschaftsverhältnisse mit einschließt
und eine praktische Verbindung der Kämpfe leisten
soll. Was von dieser Idee eingelöst werden kann, ist
eine Frage der gemeinsamen Praxis und nicht allein
der Theorie.
9 Uns ist klar, dass solche Reisepläne in Richtung Utopia
zunächst einigermaßen lächerlich wirken. Doch wer von Strategie redet, darf von ihrer Umsetzung nicht schweigen. Ihre Umsetzung aber hängt in der Praxis nicht vom starken Willen der Strateg*innen ab, sondern von Prozessen, deren Verlauf nicht in ihren Händen liegt. Daher die relative Hilf-losigkeit der Schritt-für-Schritt-ins-Paradies-Pläne. Doch letztlich führt kein Weg in eine befreite Gesellschaft daran vorbei, gemeinsam praktische Ziele auszuloten und zu set-zen und zu versuchen sie zu erreichen. 10
Zum Beispiel die FAU (www.fau.org), Wobblies (www.wobblies.de), TIE (www.tie-germany.org) u. a.
10
ZUR EINIGUNG DES REVOLUTIONÄ-
REN PROLETARIATS Erich Mühsam war Anarchist und beteiligt an der Münchener Räterepublik 1919. In der darauffolgenden Haftzeit war er für wenige Monate Mitglied der KPD und schrieb nach seinem Austritt 1920 den Text ‚Zur Einigung des revolutionären Proletariats im Bolsche-wismus‘, aus dem wir einen kurzen Abschnitt hier ab-drucken. 1934 wurde er von den Nazis ermordet.
Es bleibt der einzige Ausweg, der mir gangbar scheint und den ich zu betreten den deutschen Kommunisten, Genossen aller Richtungen dringend empfehle. Das ist die Schaffung einer kommunistischen Föderation.
Man überlege folgendes: Was die kommunistischen Organisationen, die Syndikalisten und die kommunisti-schen Anarchisten voneinander trennt, ist nichts, was in den Fragen der sozialen Revolution selbst und ihrer nächsten Zwecke miteinander kollidierte. Eine grund-sätzliche Gegnerschaft besteht zwischen ihnen nicht. Ihre Differenzen begegnen sich durchweg auf dem Gebiete der taktischen Organisation, also der revoluti-onären Koalitionsform und gewisser Probleme des außerrevolutionären Verhaltens (Parlamentarismus, Gewerkschaftswesen, gesetzliche Betriebsrätewahlen). Diese Differenzen sollen und müssen in aller sachli-chen Schärfe ausgetragen werden, denn die kommunis-tische Bewegung ist kein Harmonieklub, sondern eine Kampfgemeinschaft. Aber eine gänzliche Verbin-dungslosigkeit zwischen diesen Gruppen ist gefährlich und schädlich. Weder die Auflösung der bestehenden Organisationen noch die Sammlung aller Kommunis-ten in einer von ihnen ist im Moment möglich. Also müssen die Organisationen als solche miteinander einig werden.
Mit einer Kartellierung der bestehenden Organisatio-nen wäre allerdings die Frage noch nicht gelöst. Die Anarchisten sind zumeist nur in lockeren Diskussions-klubs miteinander verbunden, die ihrer Art nach einer korporativen Einfügung in die Föderation widerstre-ben, die Syndikalisten kennen nur wirtschaftliche Zu-sammenschlüsse.
[...] Die Föderation müßte demgemäß sowohl ganzen Korporationen als auch Einzelindividuen offen stehen bei allen vorausgesetzt das unbedingte Bekenntnis zur Diktatur des Proletariats.
[...]
Die Vorteile der Föderation liegen zutage. Sie bestehen nicht allein in der Gewährleistung einheitlicher Ent-schlüsse aller kommunistisch gerichteten Strömungen, die Zusammenfassung wird vor allem auch bei künfti-gen Kämpfen wirksam zur Geltung kommen. [...] Das Bewußtsein im Proletariat, daß hier der Einigung schon mächtig vorgearbeitet ist, wird den Ratschlägen der Kommunisten eine ganz andere Wucht verleihen, als wenn sie als eine von den Parteien einfach am Be-ratungstisch routinierter Funktionäre Platz nehmen dürfen. Garnicht zu reden von der ungeheuren Verstär-kung der agitatorischen Wirkung auf die Massen. [...]
Sollte der nicht stichhaltige Einwand erhoben werden, daß nachhaltige kommunistische Aufklärung, Arbeit und Aktion nur im Rahmen einer streng umgrenzten Partei möglich sei, so soll ja die Parteiarbeit ungestört bleiben. Aber der Ansicht, daß hermetischer Abschluß Bedingung für gedeihliches Wirken sei, widersprechen auch die Lehrer und Begründer des marxistischen Kommunismus selbst. Darüber heißt es im Kommunis-tischen Manifest: »Die Kommunisten sind keine be-sondere Partei gegenüber den anderen Arbeiterpartei-en. Sie haben keine von den Interessen des ganzen Proletariats getrennten Interessen. Sie stellen keine besonderen Prinzipien auf, wonach sie die proletari-sche Bewegung modeln wollen.« Die Unterscheidung liegt darin, daß sie »einerseits in den verschiedenen nationalen Kämpfen der Proletarier die gemeinsamen, von der Nationalität unabhängigen Interessen des ge-samten Proletariats hervorheben und zur Geltung brin-gen, andererseits dadurch, daß sie in den verschiede-nen Entwicklungsstufen, welche der Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie durchläuft, stets das Inte-resse der Gesamtbewegung vertreten«. Darin wird also jedes engherzige Parteiwesen verworfen und als Be-dingung für den Zusammenschluß nur verlangt, daß das Interesse der Gesamtbewegung der jeweiligen Entwicklungsstufe des Klassenkampfes gemäß hervor-zuheben und zur Geltung zu bringen ist. Besteht Ein-mütigkeit darüber, daß Interesse der proletarischen Gesamtbewegung zur Zeit im Sturz des Kapitalismus zu suchen ist, so sollen innerhalb dieser Verständigung keine besonderen Prinzipien aufgestellt werden, wo-nach die proletarische Bewegung zu modeln wäre. Geschieht daß durch einzelne Parteigebilde trotzdem, so ergibt sich logisch die Notwendigkeit eines weiteren Zusammenschlusses, wie er mit der Föderation beab-sichtigt wird.
Genau so wie das Kommunistische Manifest faßte auch der Spartakusbund in seiner Programmschrift seine Aufgabe auf. »Der Spartakusbund ist keine Par-tei, die über der Arbeitermasse oder durch die Arbei-termasse zur Herrschaft gelangen will. Der Spartakus-bund ist nur der zielbewußte Teil des Proletariats, der die ganze breite Masse der Arbeiterschaft bei jedem Schritt auf ihre geschichtlichen Aufgaben hinweist, der in jedem Einzelstadium der Revolution das sozialisti-sche Endziel und in allen nationalen Fragen die Inte-ressen der proletarischen Weltrevolution vertritt.« Der enge Parteicharakter wird somit auch hier nachdrück-lich abgelehnt. Die Idee der kommunistischen Födera-tion hält sich in jeder Hinsicht in dem vom kommunis-tischen Manifest und vom Spartakusprogramm gestell-ten Rahmen. Nach rechts hin, d. h. allen opportunisti-schen Bestrebungen gegenüber die schärfste Absonde-rung, alle konsequent revolutionären dem großen Ziel ohne Abirrung zustrebenden Kommunisten die Hand zum Bunde! Ein besonderes Programm für die kom-munistische Föderation erübrigt sich eigentlich. Ent-scheidend für die Zugehörigkeit ist das Bekenntnis zum Kommunismus und zur Rätediktatur.
[...] Keine schon vorhandene revolutionäre Bildung soll zerstört werden. Aber die Kommunisten haben besseres zu tun, als sich in weit getrennten Zirkeln
11
gegenseitig zu befehden. Es geht jetzt um mehr als um Parteizank. Es geht ums Ganze. Darum müssen die Peripherien der Zirkel ineinandergreifen. Eine sichtba-re Gemeinschaft muß sein, unter denen sie für dasselbe gewaltige Ziel kämpfen.
Erich Mühsam: Zur Einigung des revolutionären Proletariats im Bolschewismus; Hg. von Philippe Kellermann 2014, Un-rast Verlag (Münster)
FAZIT
In letzter Zeit greifen auch nicht-anarchistische (radi-
kale) Linke libertäre Ideen auf: Selbstorgani-
sation von unten, Kollektivbetriebe, kommu-
nale Rätestrukturen. … Für uns Anar-
chist*innen ist das erfreulich, wollen wir
doch nicht das Copyright an unseren Kon-
zepten behalten, sondern diese im Gegenteil
möglichst weiterverbreiten. Gleichzeitig sind
auch anarchistische Theorien kein Allheil-
mittel für die Probleme revolutionärer Praxis
(Was tun mit Griechenland, wenn der Rest
Europas vom Ende des Neoliberalismus
nichts wissen will? Wie erhält man in Rojava
Basisdemokratie in einem Krieg?). Wenn
aber unsere revolutionären Ziele auch in
unseren Mitteln enthalten sind, müssen wir
keine Angst davor haben, diese Mittel an die
aktuellen Gegebenheiten (eine globalisierte
neoliberale Welt) anzupassen. ‚Fragend
schreiten wir voran‘: dieser Satz bedeutet
eben keine Selbstbeschränkung, im Gegen-
teil: weil wir Anarchist*innen sind in der
Lage, uns an verschiedene Situationen anzu-
passen, ohne unsere Grundsätze über Bord zu
werfen.
12
Macher*innen dieser Zeitung sind organisiert in der Anarchistischen Initiative Kaiserslautern (anarchistische-initiative-kl.blogspot.de). Bei Fragen kann man sich an diese per Mail wenden ([email protected]).
Wir sind organisiert im Anarchistischen Netzwerk Südwest* (a-netz.org) und der Föderation deutsch-sprachiger Anarchist*innen (fda-ifa.org).
Die Pyramide der kapitalistischen Klassenge-sellschaft , entworfen von der syndikalisti-schen Gewerkschaft „Industrial Workers oft the World“ im Jahr 1911.