neies lautre - juni 2015

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NEIES LAUTRE ZEITUNG FÜR EINE SOLIDARISCHE UND BASISDEMOKRATISCHE GESELLSCHAFT ZUM INHALT REFLEXIONEN UNSERER PRAXIS Gerade wenn im Sommer die meisten Menschen in Sachen politischer Aktivität kürzer treten, ist es an der Zeit, seine vergange- ne und hoffentlich auch zukünfti- ge Praxis zu reflektieren und Selbstkritik zu üben. Schließlich kommt dies auf dem Weg von Demo zu Kampagne und wieder zur nächsten Demo oft zu kurz. Mit dieser Ausgabe wollen wir unseren Beitrag dazu leisten. Das Lower Class Magazine (lowerclassmag.com ) betreibt seit 2013 'Proletkultjournalismus von der Straße für die Straße' und ist seither der be- deutendste Blog der undogmatischen radikalen Linken. In ihrem Artikel „Eu- ropa. Anders. Machen“? „So. Wird. Das. Nichts“ [S. 1-3] kritisieren sie eine Demonstration in Berlin gegen Austeritätspolitik und EU-Grenzregime, an der am 20.06. 6.000 Menschen teil- nahmen. In unserem Artikel Die Isolation durch- brechen! [S. 4]thematisieren wir, wie Menschen, die wollen, sich besser in unserer Bewegung beteiligen können. Die Antifa Kritik & Klassenkampf (akkffm.blogsport.de ) betreibt in ihrem (von uns stark gekürzten) Text Der kommende Aufprall [S. 5-10] eine tiefgreifende Analyse der Krise und erarbeitet Vorschläge für eine bessere Praxis. Ergänzt haben wir diesen um Zitate einer von ihr veran- stalteten Podiumsdiskussion mit der Basisgruppe Antifaschismus Bremen von '... ums Ganze' und den Freund*innen der klassenlosen Ge- sellschaft aus Berlin. Ungekürzt alles auf der Website der AKKffm. Ein Text von Erich Mühsam auf S. 11. „E UROPA . A NDERS . M ACHEN “? „S O . W IRD . D AS . N ICHTS 19. Juni 2015 Von Fatty McDirty Am Samstag ist in Berlin mal wieder „Aktionstag“ mit anschließendem Konzert. Wir brauchen schön langsam wirklich neue Ideen. Ein Vorschlag zur Diskussion, welche das sein könnten Seit vielen Jahren machen wir „Aktionstage“, „Akti- onswochen“, bisweilen ganze „Aktionsjahreszeiten“ („heißer Herbst“, der zumeist recht kühl blieb). Jetzt kommt erneut ein „Aktionswochenende“ auf uns nie- der. Am Samstag sollen wir zur Aktion schreiten und zwar in der Hauptstadt. Dort ruft ein „breites Bündnis“ (auch diese Formulierung wirkt schmerzhaft bekannt) dazu auf, zuerst zu demonstrieren und sich dann ein Konzert anzuhören (auch das gab´s vor wenigen Wo- chen mit exakt derselben thematischen Ausrichtung Flüchtlingspolitik wenige Kilometer entfernt am Oranienplatz). Diesmal, so erfährt man aus dem Aufruf zu Demo und Konzert, geht es darum, „dass an Europas Außengren- zen seit Jahren und immerfort Tausende geflüchtete Menschen sterben“ und es geht gegen das „Dogma des Neoliberalismus“, gegen TTIP und gegen die Politik der EU gegenüber Griechenland. Das alles sind sinn- volle Anliegen, wichtige Themen werden aufgegriffen und zahlreiche zentrale politische AkteurInnen der deutschen und migrantischen Linken unterstützen das Bündnis. Es ist dankenswert und gut, dass sich Men- schen Mühe machen, den organisatorischen und finan- ziellen Aufwand zu bewältigen, den so ein Tag kostet. Gleichwohl kann man sich nicht ersparen, die Frage zu stellen: Was bringt´s? Aktionstage gingen Stück um Stück über die Bühne. Sie schafften einige Aufmerk- samkeit für Themen, ein bis zwei Tage werden sich entsprechende Meldungen in entsprechen- den Medien finden. Danach geht man auseinander und schreitet an die Vorbereitung der kommenden Aktions- tage. Der Aufruf zu der morgigen Demonstration, die unter dem ob der Interpunktion etwas dadaistisch anmuten- den Motto „Europa. Anders. Machen“ abgewickelt wird, ist hinsichtlich des zu erwartenden Outputs erfri- schend aufrichtig. Er tut gar nicht mehr so, als könnten wir mit derartigen „Aktionen“ irgendwas ändern. Er sagt lediglich, man wolle damit zeigen, „dass die Bun- desregierung nicht für uns spricht“. Ehrlich bis zur Schmerzgrenze heißt es: „Mit unserer Demo wollen wir einem anderen Bild von Europa Raum geben.“ Die Frage, die bleibt, ist: Was sollen die in libanesi- schen Lagern sitzenden Familien aus Syrien mit die- sem „Bild“? Was sollen die vor dem – auch europäi- schen Krieg in Libyen Geflohenen, die irgendwo im Mittelmeer aus den Schlepperbooten fallen, mit diesem „Bild“? Was machen die von der – vorrangig aus Juni 2015 Kaiserslautern Auflage: 50 1

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Zeitung für eine solidarische und basisdemokratische Gesellschaft

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Page 1: Neies Lautre - Juni 2015

NEIES LAUTRE ZEITUNG FÜR EINE SOLIDARISCHE UND BASISDEMOKRATISCHE GESELLSCHAFT

ZUM INHALT REFLEXIONEN UNSERER PRAXIS

Gerade wenn im Sommer die meisten Menschen in Sachen politischer Aktivität kürzer treten, ist es an der Zeit, seine vergange-ne und hoffentlich auch zukünfti-ge Praxis zu reflektieren und Selbstkritik zu üben. Schließlich kommt dies auf dem Weg von Demo zu Kampagne und wieder zur nächsten Demo oft zu kurz. Mit dieser Ausgabe wollen wir unseren Beitrag dazu leisten.

Das Lower Class Magazine (lowerclassmag.com) betreibt seit 2013 'Proletkultjournalismus von der Straße für die Straße' und ist seither der be-deutendste Blog der undogmatischen radikalen Linken. In ihrem Artikel „Eu-ropa. Anders. Machen“? „So. Wird. Das. Nichts“ [S. 1-3] kritisieren sie eine Demonstration in Berlin gegen Austeritätspolitik und EU-Grenzregime, an der am 20.06. 6.000 Menschen teil-nahmen.

In unserem Artikel Die Isolation durch-brechen! [S. 4]thematisieren wir, wie Menschen, die wollen, sich besser in unserer Bewegung beteiligen können.

Die Antifa Kritik & Klassenkampf (akkffm.blogsport.de) betreibt in ihrem (von uns stark gekürzten) Text Der kommende Aufprall [S. 5-10] eine tiefgreifende Analyse der Krise und erarbeitet Vorschläge für eine bessere Praxis. Ergänzt haben wir diesen um Zitate einer von ihr veran-stalteten Podiumsdiskussion mit der Basisgruppe Antifaschismus Bremen von '... ums Ganze' und den Freund*innen der klassenlosen Ge-sellschaft aus Berlin. Ungekürzt alles auf der Website der AKKffm.

Ein Text von Erich Mühsam auf S. 11.

„EUROPA . ANDERS . MACHEN“? „SO . WIRD . DAS . NICHTS“ 19. Juni 2015 – Von Fatty McDirty

Am Samstag ist in Berlin mal wieder „Aktionstag“

mit anschließendem Konzert. Wir brauchen schön

langsam wirklich neue Ideen. Ein Vorschlag zur

Diskussion, welche das sein könnten

Seit vielen Jahren machen wir „Aktionstage“, „Akti-

onswochen“, bisweilen ganze „Aktionsjahreszeiten“

(„heißer Herbst“, der zumeist recht kühl blieb). Jetzt

kommt erneut ein „Aktionswochenende“ auf uns nie-

der. Am Samstag sollen wir zur Aktion schreiten und

zwar in der Hauptstadt. Dort ruft ein „breites Bündnis“

(auch diese Formulierung wirkt schmerzhaft bekannt)

dazu auf, zuerst zu demonstrieren und sich dann ein

Konzert anzuhören (auch das gab´s vor wenigen Wo-

chen mit exakt derselben thematischen Ausrichtung –

Flüchtlingspolitik – wenige Kilometer entfernt am

Oranienplatz).

Diesmal, so erfährt man aus dem Aufruf zu Demo und

Konzert, geht es darum, „dass an Europas Außengren-

zen seit Jahren und immerfort Tausende geflüchtete

Menschen sterben“ und es geht gegen das „Dogma des

Neoliberalismus“, gegen TTIP und gegen die Politik

der EU gegenüber Griechenland. Das alles sind sinn-

volle Anliegen, wichtige Themen werden aufgegriffen

und zahlreiche zentrale politische AkteurInnen der

deutschen und migrantischen Linken unterstützen das

Bündnis. Es ist dankenswert und gut, dass sich Men-

schen Mühe machen, den organisatorischen und finan-

ziellen Aufwand zu bewältigen, den so ein Tag kostet.

Gleichwohl kann man sich nicht ersparen, die Frage zu

stellen: Was bringt´s? Aktionstage gingen Stück um

Stück über die Bühne. Sie schafften einige Aufmerk-

samkeit für Themen, ein bis zwei Tage

werden sich entsprechende Meldungen in entsprechen-

den Medien finden. Danach geht man auseinander und

schreitet an die Vorbereitung der kommenden Aktions-

tage.

Der Aufruf zu der morgigen Demonstration, die unter

dem ob der Interpunktion etwas dadaistisch anmuten-

den Motto „Europa. Anders. Machen“ abgewickelt

wird, ist hinsichtlich des zu erwartenden Outputs erfri-

schend aufrichtig. Er tut gar nicht mehr so, als könnten

wir mit derartigen „Aktionen“ irgendwas ändern. Er

sagt lediglich, man wolle damit zeigen, „dass die Bun-

desregierung nicht für uns spricht“. Ehrlich bis zur

Schmerzgrenze heißt es: „Mit unserer Demo wollen

wir einem anderen Bild von Europa Raum geben.“

Die Frage, die bleibt, ist: Was sollen die in libanesi-

schen Lagern sitzenden Familien aus Syrien mit die-

sem „Bild“? Was sollen die vor dem – auch – europäi-

schen Krieg in Libyen Geflohenen, die irgendwo im

Mittelmeer aus den Schlepperbooten fallen, mit diesem

„Bild“? Was machen die von der – vorrangig aus

Juni 2015

Kaiserslautern

Auflage: 50

1

Page 2: Neies Lautre - Juni 2015

Deutschland betriebenen – Austeritätspolitik Drangsa-

lierten in Athen mit diesem „Bild“? Und wie verbes-

sert dieses „Bild“ unsere eigene von Prekarisierung

und Lohnarbeit oder Erwerbslosigkeit und Elend zer-

trümmerten Leben?

Wie die Aktion werden wird, kann man sich denken,

bevor man da war: Erst wird gelatscht, dann wird ge-

quatscht. Wir werden Gregor Gysi und Co. lauschen

und anderen, am Ende des Tages wird die Erkenntnis

stehen, die wir alle auch schon zur Demonstration mit-

gebracht haben: Dieses Europa tötet. Soweit so gut.

Aber was nun?

KEIN E „BESS ERE“ EU, SON DERN GAR K EIN E

Es ist sehr schwer, auf diese Frage eine Antwort zu

finden. Der Organisierungsgrad der Linken in

Deutschland – wie in den meisten imperialistischen

Zentren – ist so gering, dass über Kampfformen wie

Generalstreiks kaum nachgedacht werden kann. Und

selbst diese (zumindest, wenn sie befristet sind) haben

– das zeigt die Erfahrung aus Griechenland oder Spa-

nien – nicht mehr die Wirkung, die man sich von ihnen

erhofft.

Bevor wir also sprechen, was zu tun sein könnte, ach-

ten wir doch einen Moment auf die Theorie, die Ana-

lyse, aus der die Praxis des immerwährenden Aktions-

tags erwächst. Der Aufruf von „Europa. Anders. Ma-

chen.“ verrät uns, es gehe darum, dass „Europa“ (ge-

meint ist natürlich die Europäische Union, ansonsten

machen diese Sätze semantisch keinen Sinn) ein „de-

mokratisches und soziales Versprechen“ gegeben habe,

das es nicht einlöse: „Statt der einst gepriesenen euro-

päischen Werte von Vernunft, Gerechtigkeit, Freiheit

und Demokratie herrscht der technokratische Wahn-

sinn.“

Man könnte schon hier einwenden, dass es eben gerade

nicht „Wahnsinn“ ist, der Flüchtlinge in verwertbare

und nicht-verwertbare einteilt und letztere zum Sterben

verurteilt, sondern die ganz normale kapitalistische

Wert-Rationalität. Wichtiger ist aber noch der Punkt:

Es wird nicht gesagt, was diese EU eigentlich für ein

Verein ist, sondern es wird geltend gemacht, man müs-

se sie „besser“ machen, man müsse „das Versprechen

von einem solidarischen Europa der Demokratie und

der Menschenrechte“ erfüllen.

Das Problem ist, dass diese Sätze sehr abstrakt gehal-

ten sind. Würde konkret von der Europäischen Union

und nicht immer von einem nicht näher definierten

„Europa“ die Rede sein, müssten wir sofort die Frage

stellen: Was ist es denn an dieser EU, das wir behalten

und besser machen könnten? Ist es die gemeinsame

Europäische Außen- und Sicherheitspolitik? Sind es

Agrarsubventionen, Programme zur Terrorbekämpfung

oder Förderungen urbaner Großprojekte? Würde sich

schlagartig alles zum Guten wenden, säßen nur ver-

nünftige, linke Menschen in den Chefetagen der Euro-

päischen Zentralbank, der EU-Kommission, des Euro-

päischen Parlaments oder gar des Europäischen Rats?

Das kann niemand glauben.

Und dennoch ist genau das das Projekt derer, die sich

nicht zu sagen trauen, was offenkundig ist: Die Institu-

tionen der EU wurden weder für uns, noch für Flücht-

linge, griechische ReinigungsarbeiterInnen oder die in

sklavenähnlichen Verhältnissen darbenden Tagelöhner

auf spanischen Plantagen geschaffen, sie entsprechen

Form und Inhalt nach nicht unseren Interessen und wir

können sie deshalb auch nicht „von innen“ verbessern.

Sie müssen zerschlagen werden.

D IE EI GEN E SEI TE AUFBAUEN

Wer so denkt, den interessiert es höchstens aus takti-

schen Überlegungen, wer in die EU-Institutionen ge-

wählt wird. Interessant wird bei einer solchen Analyse

anderes, nämlich die Frage, wie wir uns eigene Formen

von Organisation und Partizipation schaffen können,

die Staat und EU zuwiderlaufen, sie untergraben und

am Ende sprengen.

Um diese Formen – in Ansätzen, klein und noch un-

scheinbar, aber als Idee schon mächtig – zu finden,

müssen wir uns weder Wunderwelten ausmalen, noch

gar – obwohl das durchaus sinnvoll ist – in die Ge-

schichte der kommunistischen und anarchistischen

ArbeiterInnenbewegung zurückblicken, in der Räte,

Betriebe unter Arbeiterkontrolle und Selbstverwal-

tungsstrukturen allgegenwärtig sind.

Wir müssen nur sehen, was die Praxis der Kämpfe in

den vergangenen Jahren in vielen Ländern ohnehin

schon hervorgebracht hat, diese Formen aufnehmen,

analysieren, weiterentwickelt. Sehen wir nach Kurdis-

tan und nehmen wir den Kampf ernst, als etwas, das

nicht nur irgendwo in der Ferne unsere Unterstützung

verdient, sondern als etwas, das uns hier gegenwärtig

werden könnte: Stadtteilstrukturen, Frauenselbstorga-

nisation, der Aufbau von Gegenmacht aus kleinen

Einheiten über die Straße, den Stadtteil bis zum Be-

zirk, der Stadt und darüber hinaus. Zu weit weg? Geo-

graphisch etwas näher ist Istanbul: Hier bot uns der

Taksim-Aufstand vor zwei Jahren die Erfahrungen der

„Kommune vom Gezi-Park“. Noch näher gefällig? In

Griechenland entstanden – genötigt durch Krise und

Austerität – Stadtteilräte und Versuche einer Selbstver-

sorgung mit basalen Gütern des täglichen Lebens. Be-

Den Zaun anders machen, langt nicht, man muss ihn

einreißen. Das geht aber nur, wenn man gleichzeitig

einreißt, was das heutige „Europa“ ausmacht: die kapita-

listische Verwertungslogik. 2

Page 3: Neies Lautre - Juni 2015

triebe wurden besetzt, in Thessaloniki wie in Istanbul,

und selbstorganisiert weitergeführt. Es gibt viele dieser

Erfahrungen. Sogar in Berlin. Das Bündnis „Zwangs-

räumung verhindern“ ist so eine Struktur, Kotti&Co.

zeigte Ansätze davon, die neuerdings aufgekommene

Diskussion um ein „soziales Zentrum“ geht in diese

Richtung und „Hände weg vom Wedding“ macht mit

seinen Ansätzen von Community Organising auch

Ähnliches.

PAR LAMENT ARI S MUS –> GÄHN!

Der Aufbau solcher Strukturen von Gegenmacht voll-

zieht sich nicht auf meterhohen Bühnen im Regie-

rungsviertel. Er braucht auch keinen Gregor Gysi, der

ihn „repräsentiert“. Und er muss nicht wünschen, ir-

gendwann die Institutionen der BRD oder der EU

durch möglichst viele entsandte FunktionärInnen zu

flluten, sondern er arbeitet auf die Zerschlagung der

staatlichen und supranationalen Strukturen hin, die

niemals unseren Interessen entsprechen werden. „Am

Ende ist das Ideal der Commons (horizontaler, basis-

demokratischer, tragfähiger Gegenseitigkeit, sowie

Entscheidungsfindungen in der eigenen Kommune und

radikaler Autonomie) völlig der Staatsform und dem

eurozentrischen Regime der Souveränität entgegenge-

setzt, das bisland der „Container“ unserer „Rechte“,

wie wir gewohnt waren, sie uns vorzustellen, war“,

schreibt Max Haven im ROAR Magazine.1 „Also muss

jedes ‚Recht auf Commons‘ notwendig ein

aufständiges Recht, ein radikaler Anspruch an die Un-

terwanderung und Ersetzung staatlicher Souveränität

sein.“

In einem solchen Konzept müssen Parteien wie Die

LINKE nicht unbedingt völlig negiert und als Gegner

angesehen werden. Sie können eine Rolle spielen, aber

nicht, wenn sie, wie derzeit, im Parlamentarismus mit

all seinen „Sachzwängen“ ihre Perspektive sehen.

Nicht einmal ein „gleichberechtigtes“ Verhältnis von

Partei und einer so verstandenen Bewegung ist anzu-

streben. Die Partei müsste, würde sie etwas Nützliches

sein wollen, sich ganz einer solchen Bewegung ver-

schreiben, sich ihr unterordnen und ihre eigenen Ziele

als Partei hinter die

der realen Bewe-

gung zurückstellen.

Das tut sie leider

nicht. Da wo sie

regiert, das sahen

wir in Berlin und

sehen wir in Thürin-

gen, wird sie zu

einem ganz braven

Player im Spiel des

1 ROARMAG.org reflections on a revolution (roar-

mag.org/2015/06/max-haiven-common-austerity/)

parlamentarischen Spektakels. Da, wo sie nicht regiert,

schürt sie Illusionen, alles würde besser, würde man

nur endlich „richtig“, nämlich sie, wählen. Unterwür-

figkeitsgesten gegenüber dem Gegner, der Wunsch,

auch verwalten zu dürfen und das schale Argument,

wenn man nicht selber mitspielen würde, würden´s die

anderen noch schlimmer treiben, zeichnen heute diese

Partei aus. Sicher gibt es auch in dieser Partei viele

aufrichtige, gutmeinende Menschen. Diese Kritik ist

keine ad hominem. Sie zielt auf die Form der Organi-

sation. Und zu dieser Form lässt sich nur sagen: eine

parlamentaristische, sich im vorgesehenen Rahmen

bewegende Partei brauchen wir nicht.

SEI EN WIR R EALI STI SCH , V ERS UCHEN WIR DAS

UNMÖ GLI CHE!

Kommen wir zurück zum konkreten Anlass des Akti-

onstages „Europa. Anders. Machen“. Vorrangig geht

es um die Flüchtlingspolitik der EU, und das macht ja

auch ob der Drastik des Problems Sinn. Aber wie wird

das Problem angegangen? Man wird sagen: Der Akti-

onstag schafft Aufmerksamkeit dafür, dass Menschen

an den EU-Außengrenzen sterben. Das ist doch Blöd-

sinn. „Aufmerksamkeit“ ist hier längst geschaffen. Es

gibt zwischen dem bayerischen Prutting und Leck in

Schleswig sicher keine noch so kleine Siedlung, in die

nicht vorgedrungen ist, was im Mittelmeer passiert.

Spiegel, Zeit, Welt, gar Bild oder Mopo – niemand,

nicht eines dieser Blätter, verschweigt, dass an EU-

Außengrenzen Menschen sterben. Sogar bei Pro7-

News und im RTL-Nachmittagsprogramm weiß man

davon, und was dort angekommen ist, bleibt selbst

dem noch so hartnäckigen Verweigerer politischer

Themen nicht verborgen.

Was zu tun wäre, wäre zu erklären, warum dort Men-

schen sterben und wie das zu ändern ist. Das Warum

wird im Aufruf zu „Europa. Anders. Machen“ völlig

ausgeklammert. Die Krux an der Sache ist doch: In-

nerhalb der Paradigmen von Kapitalismus und Natio-

nalstaat gibt es keine (!) Lösung des „Flüchtlingsprob-

lems“. Das ist tragisch, weil wir soweit davon entfernt

sind, die beiden abzuschaffen. Aber wer es ver-

schweigt, trägt zur Verlängerung des Problems bei.

Die Gleichung ist einfach: Solange Kapitalismus und

Nationalstaat, solange sterben Flüchtlinge an Grenzen,

solange gibts Lohndrückerei, Erwerbslosigkeit und

Arschleben hier und in Griechenland. Willste nicht?

Gut, musst du mithelfen, Kapitalismus und National-

staat wegzubekommen. Im gesamten Aufruf von „Eu-

ropa. Anders. Machen“ kommt nichts davon vor. Das

Wort „Kapitalismus“ fehlt völlig, „Nationalismus“

kommt einmal vor, aber auch der Nationalstaat bleibt

ansonsten ungeschoren. Man fragt sich aufrichtig, was

denn da eigentlich „Anders.“ gemacht werden soll.

Ist das Warum des Massensterbens im Mittelmeer so

benannt, müsste auf das oben beschriebene Wie zu-

rückgekommen werden. Klar, wir können und müssen

im Hier und Heute konkrete kleine Dinge angehen:

Wir können und müssen Flüchtlinge schleusen, sie hier

Wählste Wulf,

geht alles seinen

geordneten

Gang.

3

Page 4: Neies Lautre - Juni 2015

unterstützen, mit ihnen Plätze besetzen, sie in ihren

Kämpfen supporten. Aber so traurig es ist: Solange wir

hier keine Bewegung haben, die die Verhältnisse

gründlich umzuwälzen in der Lage ist, werden Men-

schen an der Verwertungslogik des Kapitals sterben.

Wer das nicht einsieht, und die Illusionen von Parla-

mentarismus und „Reformen“ weiterverbreitet, muss

sich am Ende des Tages die Frage stellen, wem eine

solche Politik nützt.

DIE ISOLATION DURCHBRECHEN!

[Die längere Fassung dieses Textes, der von zwei Mit-

gliedern der Anarchistischen Initiative KL geschrieben

wurde, erscheint in der Gai Dao (www.fda-

ifa.org/gaidao) im Juli 2015. Einige Aspekte, die auch

für Menschen außerhalb der anarchistischen Bewe-

gung interessant sind, geben wir hier wider.]

OR GANIS ATIO NS DUALI S MU S Anarchistische Föderationen wie die FdA existieren,

um Anarchist*innen zu organisieren und deren Aktivi-

täten zu koordinieren. Aktuell bestehen diese Aktivitä-

ten vor allem aus dem Verbreiten anarchistischer Ge-

danken durch Zeitungen wie die Gai Dao oder Kam-

pagnen mit Vorträgen, Mobimaterialien und Demonst-

rationen. Dies ist aber natürlich nicht ausreichend, um

der befreiten Gesellschaft näher zu kommen oder das

kapitalistische System zumindest anzugreifen. Außer-

dem ist zumindest in der aktuellen Situation nicht zu

erwarten, auf diese Weise eine große Masse an Men-

schen zu organisieren. Deshalb sieht das Konzept des

Organisationsdualismus zusätzlich Interessenorganisa-

tionen vor. Dies können z. B. anarchosyndikalistische

Gewerkschaften wie die FAU sein oder stadtpolitische

Bündnisse gegen Gentrifizierung und Zwangsräumun-

gen. Diese Organisationen helfen zum einen anarchis-

tischen Aktivist*innen, die sich eben nicht nur abra-

ckern und auf die Revolution warten müssen, da sie

jetzt schon Verbesserungen für sich erkämpfen kön-

nen.

BR EIT E PARTI ZI PATI O NS MÖGLI CH K EIT EN Zum anderen können Interessenorganisationen die

Homogenität der Bewegung abschwächen. Die anar-

chistische Bewegung ist größtenteils jung und besteht

aus nur wenigen Frauen oder Menschen mit Migrati-

onshintergrund. Da unmittelbare Interessen eben den

meisten Menschen wichtiger sind als Utopien, kann die

FAU auch rumänische Bauarbeiter organisieren, die

sich wohl noch nie mit anarchistischen Theoreti-

ker*innen auseinandergesetzt haben und auch nicht

sofort damit anfangen werden, Kropotkins Memoiren

zu lesen.

Für eine breite Bewegung braucht es auf jeden Fall

sowohl verschiedene Inhalte als auch verschiedene

Formen der Partizipation. Verschiedene Inhalte, weil

eine Hausfrau, die nicht lohnarbeitet, wohl nicht Mit-

glied einer Gewerkschaft werden will; aber auch ver-

schiedene Formen, weil politisch aktiv sein mehr be-

deutet, als Aufrufe zu schreiben, Flyer zu verteilen und

dann eine Demo zu organisieren. Die fehlende Kreati-

vität in Teilen der Bewegung führt zu fehlender Effizi-

enz (das einfache geschriebene Wort ist heute wohl

allein nicht mehr in der Lage, die revolutionären Mas-

sen aufzustacheln), und zu fehlender Breite in den

Gruppen (weil nur die Leute mitmachen, die sich hin-

ter Bergen von Texten immer noch wohl fühlen).Dabei

ist die Beteiligungsschwelle bei der anarchistischen

Bewegung sowieso schon sehr hoch: wir haben keine

formellen passiven Mitgliedschaften, keine Listen auf

Wahlzetteln, keine Onlinepetitionen; wer dabei sei

will, muss auch wirklich was tun. Wenn aber das

niedrigschwellige Angebot nur sehr eingeschränkt ist,

dann sollten die Partizipationsmöglichkeiten wenigs-

tens so vielfältig, interessant und (ohne Szenekenntnis-

se) machbar sein, wie möglich.

[...]

Es ist ein Vorteil mancher Anarchist*innen wie z.B.

der Graswurzelrevolution2, das positive und emanzipa-

tive an unserer Bewegung zu betonen. Denn der Anar-

chismus ist eben für den Großteil der Bevölkerung

keine Bedrohung, sondern sollte die Hoffnung auf ein

besseres Leben in einer solidarischen und freiheitli-

chen Gesellschaft sein. Diesem Großteil sollten wir die

Möglichkeit anbieten, Anarchist*innen zu sein, ohne

deshalb in eine Szenesubkultur eintreten zu müssen.

Als ganz normale Menschen, Rebellinnen und Rebel-

len.

2 Eine der bedeutendsten anarchistischen Zeitungen im

deutschsprachigen Raum mit antimilitaristischer und ge-waltloser Ausrichtung, deren Ansichten wir deswegen nicht vollkommen teilen, u.a. fehlt uns der Klassenstandpunkt.

4

Page 5: Neies Lautre - Juni 2015

DER KOMMENDE AUFPRALL AUF DER SUCHE NACH DER REIßLEINE IN

ZEITEN DER KRISE - Strategische Überlegungen -

1. E IN LEIT UN G Es gibt bisher trotz aller Diskussion über die Krise in

der deutschen Linken keine theoretisch fundierte, aber

gleichzeitig gesellschaftlich relevante Praxis, um auf

die mit Kapitalismus und Krise verbundenen Entwick-

lungen reagieren zu können.3 [...]

Alle uns bis heute bekannten Versuche, auf die heuti-

gen Krisenbearbeitungsstrategien des Kapitals zu rea-

gieren, konnten die mit ihnen einhergehenden Angriffe

auf die Lohnabhängigen nicht abwehren – unsere eige-

nen inbegriffen. Alle Politik, die über Teilbereichs-

kämpfe hinausweist, begegnet uns in der einen oder

anderen Form des Events oder der reinen Kritik. Beide

Formen greifen nicht verändernd in unseren Alltag als

Lohnabhängige, in die Sphäre der kapitalistischen Pro-

duktionsweise ein – unter den derzeitigen Bedingun-

gen bleiben sie als Appell zahnlos.

[...]

2. KRI S E Bevor wir zur Diskussion praktischer Perspektiven der

radikalen Linken in der Krise kommen, wollen wir

kurz darstellen, wie wir die gegenwärtige gesellschaft-

liche Situation einschätzen, da sich hieraus einige

Konsequenzen für die Praxis ergeben.

2.1 W I D E R S P R U C H & K R I S E N D Y N A M I K

Auch wir gehen davon aus, dass die gegenwärtige Kri-

se Ausdruck der grundlegenden Krisenhaftigkeit der

kapitalistischen Produktionsweise ist, die in ihren inne-

ren Widersprüchen angelegt ist. [...] Staaten können im

Grunde nur zum Sachwalter des Entwertungsdrucks

werden, egal ob dies im Gewand neoliberaler

Austeritätspolitik, die Entwertung primär durch den

Angriff auf die Lebensverhältnisse der Lohnabhängi-

gen vorantreibt, oder keynesianischer Konjunkturpake-

te geschieht, die die Entwertung nur weiter hinaus-

schieben. Denn jedes noch so gut gemeinte Konjunk-

turprogramm wird früher oder später an die Grenze

seiner Finanzierbarkeit stoßen [...]. Deshalb teilen wir

die These der Freundinnen und Freunde der klassenlo-

sen Gesellschaft, dass es – zumindest systemimmanent

– keine soziale Krisenlösung gibt. Eine solche ist nur

als sozialrevolutionäre Umwälzung der kapitalistischen

Produktionsweise zu haben.

Diese Perspektive bedeutet für uns auch immer, eine

radikale Kritik am Staat zu formulieren. Die Repro-

duktion verschiedenster – ökonomischer, rassistischer

und sexistischer – Herrschaftsverhältnisse ist sein Job;

3 Damit ist weder gemeint, dass wir lediglich die eine richti-

ge Theorie bräuchten, noch, dass es allein an der radikalen Linke läge, ob sie eine gesellschaftliche Relevanz erheischen kann oder nicht.

er ist bei allem, was er tut,

angewiesen auf eine funkti-

onierende Kapitalakkumula-

tion, deren Aufrechterhal-

tung entsprechend sein zent-

rales ,Interesse‘ sein muss – dies zu betonen, halten

wir im gegenwärtigen Suchprozess der (radikalen)

Linken für zentral, denn nur eine gehörige

Delegitimation des Staats4 eröffnet eine langfristige

Perspektive auf eine Selbstorganisation von unten jen-

seits der herrschenden Logik; wo der Staat als Teil der

Lösung und nicht als Teil des Problems verhandelt

wird, geht früher oder später jeder Ansatz von Selbst-

organisation in staatstragende Organisation über. [...]

Dennoch soll ein wesentlicher Aspekt

linkskeynesianischer Programme5 hier nicht übergan-

gen werden: Sie können bei entsprechender Ausrich-

tung dazu führen, dass es eben nicht primär die Lohn-

abhängigen sind, die den Entwertungsdruck zu spüren

bekommen, und in diesem Sinne einen wesentlichen

Unterschied machen.6 Sie sollten jedoch mit einem

anderen, eben sozialrevolutionären Impetus angegan-

gen werden, d.h. sie sollten nicht als Krisenlösung

diskutiert, sondern als Maßnahmen betrachtet werden,

die nur sinnvoll sind, wenn sie den Bedürfnissen der

Lohnabhängigen entgegenkommen und damit die Kri-

se vorantreiben. Sie wären zu betrachten als einzelne,

wirtschaftspolitische Maßnahmen innerhalb eines viel

weiter reichenden antikapitalistischen Transformati-

onsprozesses, als Übergangsmaßnahmen, bei denen es

darum geht „das letzte Geld sinnvoll (zu) verballern“

(Ortlieb).7 [...]

4 Wobei es nicht nur um eine Delegitimation einzelner Re-

präsentant*innen (seien es Einzelpersonen oder Parteien) oder Repräsentationsmodi geht, sondern um eine Delegitimation des Staats als sozialer Form, um eine De-struktion des ‚Systemvertrauens’. 5 Die Grundidee des Keynesianismus ist es, die Wirtschaft

über den Hebel der Nachfrage (Konsum und Investitionen – oder in Marxscher Terminologie: individuelle und produkti-ve Konsumtion) zu steuern. Unter Linkskeynesianismus lassen sich jene Interpretationen der Theorie von John Maynard Keynes verstehen, „die in den von Keynes emp-fohlenen Maßnahmen der staatlichen Finanzpolitik oder einer ihnen entsprechenden Gewerkschaftspolitik einen Ansatzpunkt für die Realisierung eines Programms sozialer und demokratischer Reformen zugunsten der Arbeiter-schaft sehen“ 6 Eine Spaltung der Linken in Etatist*innen und Antiautori-

täre ist in dieser Perspektive und wenn es darauf ankommt, die verheerenden sozialen Folgen der Krisenpolitik zu ver-hindern, wenig sinnvoll. 7 Diese sozialrevolutionäre Herangehensweise wird in aller

Regel jedoch durch das linkskeynesianische Versprechen sozialverträglichen kapitalistischen Wirtschaftens verhin-dert.

5

Page 6: Neies Lautre - Juni 2015

3. KLASS E 3.1 S E L B S T O R G A N I S I E R U N G U N D K L A S S E N K A M P F

„Die Proteste werden dann gefährlich, wenn sie als

Klassenkampf angesehen werden.“ (Klaus Schwab,

Gründer und Präsident des Weltwirtschaftsforums,

2012)

Vor dem Hintergrund der beschriebenen ökonomi-

schen Situation und der durch sie bedingten, sich ver-

schärfenden Angriffe auf die Lebens- und Arbeitsbe-

dingungen der Menschen, zu denen der Staat des Kapi-

tals immer wieder ausholt, sowie des Erstarkens anti-

semitischer, rassistischer und national gesinnter Kräfte,

wird eine handlungsfähige Linke immer dringlicher.

Im Zusammenhang mit dem Ziel, handlungsfähig zu

werden, das heißt auch die eigene Marginalität zu

überwinden, ist immer wieder die Rede von der

Selbstorganisierung, die in Gang gebracht werden soll

und als Ausweg aus der Misere sowie sozialrevolutio-

näre Perspektive diskutiert wird. Diese Perspektive

teilen wir grundsätzlich, doch stellt sich uns zunächst

die Frage, wer sich überhaupt als Subjekt dieser Orga-

nisierung begreift bzw. begreifen könnte.

Die klassisch marxistische Antwort, es sei das Proleta-

riat oder die Arbeiter*innenklasse, scheint vor dem

Hintergrund, dass sich heute anscheinend kaum je-

mand diesen Begriffen zuordnet, äußerst unbefriedi-

gend und abstrakt. Doch ohne Träger*innen sozialre-

volutionärer Veränderung kann es diese nicht geben.

Handlungsfähigkeit unsererseits ist nicht denkbar ohne

das Anknüpfen an potenzielle Subjekte der Selbstorga-

nisierung. Es stellt sich uns also weiter die Frage, wer

diese sein könnten. Klar ist: Es gibt kein per se revolu-

tionäres Subjekt, so wenig wie es die ‚Klasse für sich‘

gibt. Der Prozess der Konstituierung potenzieller Trä-

ger*innen sozialrevolutionärer Veränderungen bedarf

vielmehr einer bestimmten Form der politischen Aus-

einandersetzung, welche momentan nicht gegeben ist.

a) Gerade in der Krise tritt die Abstraktheit nicht über

sich selbst hinausblickender Alltags- und Interessen-

kämpfe von Lohn- und Reproduktionsarbeiter*innen,

Mieter*innen, Student*innen u.a. besonders deutlich

hervor. Der Mangel an gesellschaftlicher Kontextuali-

sierung der vereinzelten Kämpfe der Lohnabhängigen

und der sie repräsentierenden Organisationen macht sie

zu langfristig wirkungslosen Erscheinungen. [...] Erst

wenn der Widerspruch zwischen den eigenen Interes-

sen und Bedürfnissen und denen des Kapitals, der sich

in dieser Form des politischen Kampfes ausdrückt, von

den Kämpfenden auf die gesellschaftliche Totalität

bezogen wird, das heißt die eigene Position innerhalb

dieser verortet wird, konstituieren sich potenzielle

Träger*innen sozialrevolutionärer Veränderung. Die-

ser bewusste Totalitätsbezug, in dem die eigene Positi-

on innerhalb des Reproduktionsprozesses des Kapital-

verhältnisses reflektiert wird, ist es, den wir als Klas-

senbewusstsein verstehen.

b) Demgegenüber steht die Abstraktheit der Kämpfe

linker Politgruppen, die ihren Blick immer an sich

selbst vorbei auf die Abschaffung des Kapitalismus

richten. Der Mangel an Verankerung in Alltags- und

Arbeitskämpfen macht sie zu wirkungslosen Erschei-

nungen. Das Selbstbewusstsein, mit dem moralische

Appelle auf den alljährlichen Großevents vorgetragen

werden, ist angesichts des fehlendes Einflusses auf die

Reproduktionsprozesse gesellschaftlicher Herrschaft

absurd.

Auch die linksradikalen Aktivist*innen stehen – daran

muss man (sich selbst) scheinbar immer wieder erin-

nern – in einem materiellen Verhältnis zur Verwertung

des Kapitals, sind selbst Ausgebeutete. Nur wenn ihre

Kämpfe direkt in dieses Verhältnis eingreifen, haben

sie Einfluss darauf und können so antikapitalistisch

wirken. [...]

Die Forderung nach der Abschaffung des Kapitalismus

muss sich aus dem Widerspruch, in dem die Bedürf-

nisse des eigenen Lebens zu den Bedürfnissen des

Kapitals stehen, ergeben; sie bleibt idealistisch, solan-

ge sie reine Erkenntnis des gesellschaftlichen Ganzen

bleibt und nicht die Bewegung des aus sich

heraustreibenden Widerspruchs im Besonderen ist.

Es zeigt sich, dass weder die systemimmanenten Ein-

zelforderungen reiner Interessenkämpfe noch die

scheinbar außerhalb des Systems stehenden Forderun-

gen nach der Abschaffung des Kapitalismus ihr Ziel

erreichen können – es mangelt ihnen am jeweils Ande-

ren. [...]

Vor dieser Beziehung bleiben die einseitigen Momente

abstrakt. Diese Abstraktheit ist ihre politische Ohn-

macht. Das Potenzial beider Formen des Kampfes

kann sich nur in ihrer Verbindung realisieren. Der be-

wusste Kampf gegen die eigene Proletarität schafft die

Möglichkeit der Konstituierung eines sozialrevolutio-

nären Selbstorganisierungsprozesses. Die vermittelnde

Kategorie beider Pole ist der Klassenkampf, der ohne

Klassenbewusstsein nichts ist. Die Subjekte der

„Selbstorganisation“ sind die klassenbewussten Prole-

tarier*innen.

Das Bild zeigt ein Transparent der

Anarchosyndikalistischen Jugend Berlin bei einer

Demo für die um ihren Lohn geprellten Arbeiter

der „Mall of Berlin“.

6

Page 7: Neies Lautre - Juni 2015

Basisgruppe Antifa: „Klassenkampf ist einfach immer da, wo es eine Klas-sengesellschaft gibt; die eine versucht die andere… ihr kennt das, wenn ihr zur Arbeit geht oder so ... es ist das notwendige Verhältnis der Klassen zueinander. In diesem Klassenkampf bringt jede Seite ihr jeweili-ges Interesse vor und versucht es durchzusetzen; wobei die Klasse, der ich zugehörig bin, gerade nicht so gut dabei ist. Trotzdem, auch wenn wir nicht er-folgreich sind, ist das immer Klassenkampf. Indem ich aber losgehe, meine Interessen als Klasse durchzuset-zen, verbleibe ich affirmativ immer auf dem Boden der Klassengesellschaft. Das ist nicht das revolutionä-re Moment darin.“

Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesell-schaft: Was zu tun ist: Herauszuarbeiten, warum es gute Gründe für deutsche Prolet*innen gibt, warum ihnen der eigene Arbeitsplatz näher ist als die Solidarität zu Klassenbrüdern und -schwestern in Griechenland.

----------

Einschub: Klasse, Klassenkampf, Klassenbe-

wusstsein ---------- ZU M BE G R I F F D E R K L A S S E

Wenn wir hier den Begriff der Klasse hervorkramen

und versuchen politisch nutzbar zu machen, geht es

uns nicht darum, einen alten Klassenbegriff aufzu-

wärmen, der zu Recht in vielerlei Hinsicht kritisiert

wurde. [...] Dennoch ist und bleibt davon auszugehen,

das kapitalistische Gesellschaften stets Klassengesell-

schaften sind – zunächst in dem ganz grundlegenden

Sinne, dass sie auf einer Trennung der Produktionsmit-

tel von den unmittelbaren Produzent*innen beruhen,

die zugleich mit der Trennung von Lohn- und Hausar-

beit, von Produktions- und Reproduktionssphäre ein-

hergeht. Diese Trennung bedeutet, dass die Menschen,

die den gesellschaftlichen Reichtum produzieren, nicht

über ihn verfügen können, d.h. ihnen ist – in beiden

Sphären – die Kontrolle über die zu ihrer Reproduktion

notwendigen materiellen, sozialen und zeitlichen Be-

dingungen entzogen. Dies liegt nicht einfach am bösen

Willen der Kapitalist*innen, es ist vielmehr der syste-

mische Charakter der Heteronomie hervorzuheben; die

Klassenherrschaft in kapitalistischen Gesellschaften ist

in eine Form anonymer, subjektloser Herrschaft einge-

gliedert, die auch der herrschenden Klasse das Gesetz

der Kapitalakkumulation aufzwingt. Dennoch hegt die

Kapitalist*innenklasse ein besonderes Interesse an der

Aufrechterhaltung dieser Gesellschaftsordnung. Sie

setzt ihre Herrschaft ständig durch ideologische und

materielle Gewalt bewusst um. So sind es (auf qualita-

tiv andere Weise) die Bedürfnisse der Lohnabhängi-

gen, die stets zu kurz kommen.

----------

ZU M BE G R I F F D E S K L A S S E N K A M P F E S

Vor diesem Hintergrund bedeutet Klassenkampf nicht

schlicht den Kampf von (proletarischer) Klasse gegen

(kapitalistische) Klasse, sondern ist als Kampf um die

Aneignung der materiellen, sozialen und zeitlichen

Bedingungen der Reproduktion bzw. der Bedürfnisbe-

friedigung zu verstehen, der nicht bloß ein Kampf in-

nerhalb und – im besten Fall – gegen das Klassenver-

hältnis, sondern auch innerhalb und – im besten Fall –

gegen das übergreifende Kapitalverhältnis und andere

(etwa rassifizierte, vergeschlechtlichte) Ausbeutungs-

verhältnisse ist.

[...] Der Begriff des Klassenkampfes erfüllt für uns

eine dreifache Funktion:

1. Er bietet die Möglichkeit, eine Klammer zwischen

verschiedenen Kämpfen (in Produktions- und Repro-

duktionssphäre) herzustellen.

2. Er verweist auf den potentiellen Widerspruch zwi-

schen den „Bedürfnissen des Kapitals“ (Marx) und den

daran hängenden Interessen ihrer privaten und staatli-

chen Funktionär*innen einerseits und den Bedürfnis-

sen der Lohnabhängigen andererseits.

3. Er kann so zwischen Theorie und Bedürfnissen

vermitteln und damit dazu beitragen, dass Kritik und

Theorie zur materiellen Gewalt werden.

[...]

3.2. BE D Ü R F N I S U N D K L A S S E N B E W U S S T S E I N

„Die Theorie wird in einem Volke nur so weit verwirk-

licht, als sie die Verwirklichung seiner Bedürfnisse ist

[…]. Eine radikale Revolution kann nur die Revolution

radikaler Bedürfnisse sein.“ (MEW)

„To make love and to refuse night work to make love,

is in the interest of the class“ (Dalla Costa)

Wenn wir betonen, dass wir den (Praxis-)Begriff des

Klassenbewusstseins für wichtig halten, weil mit die-

sem der Bezug auf die Totalität kapitalistischer Verge-

sellschaftung hergestellt werden kann, bedeutet dies

nicht, dass wir einem industrieproletarisch verengten

Begriff von Klasse aufsitzen. Klar ist: Die konkreten

Lebensrealitäten derer, die gezwungen sind, von dem

zu leben, was der Verkauf seiner*ihrer Arbeitskraft

abwirft bzw. was die Arbeitskraft derer abwirft, von

denen sie abhängig sind, sind nichts Homogenes, son-

dern durch verschiedene Herrschafts- und Ausbeu-

tungsverhältnisse in sich weiter fragmentiert. Insofern

ergeben sich daraus auch verschiedene Anknüpfungs-

punkte für die Entstehung von Klassenkämpfen. Klas-

senbewusstsein kann dann als der Versuch beschrieben

werden, im Kampf ein Gemeinsames zu finden. [...]

Das Gemeinsame ergibt sich daraus, dass die verschie-

denen Herrschaftsverhältnisse nicht einfach unvermit-

telt nebeneinander stehen, sondern Teil einer Totalität

sind, die gebunden ist an abstrakte Arbeit, Ware,

Mehrwert, Akkumulation, Zweigeschlechtlichkeit,

geschlechtlich konnotierte, unentlohnte Reprodukti-

onsarbeit sowie an einen rassifizierenden Nationalstaat

7

Page 8: Neies Lautre - Juni 2015

und Imperialismus.

Klassenbewusstsein ist dabei weit mehr als ein bloß

wissenschaftliches Erkennen, sondern ergibt sich aus

der Dialektik von Theorie und Praxis und vermittelt

sich über die Basis- und Selbstorganisierung. Beson-

ders offen treten die sonst versteckten ökonomischen

Kräfte und die dahinter liegende Gewalt in sozialen

Kämpfen hervor, woraus sich Reflexion, Organisati-

onsbildung und Spontaneität (im Sinne der Selbstorga-

nisation) ergeben können.

[...]

Bedürfnisse können in einer Gesellschaft, in der die

Bedürfnisbefriedigung der Menschen nur ein Abfall-

produkt der Mehrwertproduktion ist, ein wichtiger

Ausgangspunkt für sozialrevolutionäre Veränderungen

sein. Dabei sind es insbesondere die Bedürfnisse der

Lohnabhängigen, die immer wieder negiert und den

herrschenden Verhältnissen subordiniert und einge-

passt werden. [...]

Eine materialistische Perspektive auf Bedürfnisse tritt

einem unmittelbaristisch oder ontologisch gefassten

Bedürfnisbegriff entgegen.8 Bedürfnisse sind nicht

ahistorisch als richtige oder falsche, allgemein-

menschliche oder spezifisch-kapitalistische Bedürfnis-

se zu kategorisieren. In kapitalistischen Verhältnissen

ist es die erste Bedingung der Produktion einer Ware,

dass sie „menschliche Bedürfnisse irgendeiner Art

befriedigt“ (MEW). Die Herrschaft des Kapitals ist

damit aber nicht nur in ihrem Innersten von den be-

dürftigen Menschen abhängig, sondern produziert

gleichzeitig seine Bedürftigkeit auf historisch qualita-

tiv spezifische und neue Weise. Gleichzeitig können,

da die Produkte gesellschaftlicher Arbeit privat ange-

eignet werden, die von der kapitalistischen Produkti-

onsweise hervorgerufenen Bedürfnisse nur durch Zah-

lung befriedigt werden. Diese systematische Restrikti-

on der Bedürfnisbefriedigung, ihre Subsumtion unter

die Zahlungsfähigkeit, bedeutet, dass die gesellschaft-

lich produzierten Bedürfnisse ein die Herrschaft des

Kapitals transzendierendes Potential enthalten. Gleich-

zeitig sind sie – mit H. Marcuse – zu verstehen als

bereits von Herrschaftsinteressen der bestehenden Ge-

sellschaft historisch geformte und durch den Sozialisa-

tionsprozess vermittelte. Sie sind Resultat einer Verin-

nerlichung der Leistungs- und Konkurrenzanforderun-

gen des Kapitals an die Lohnabhängigen und tragen so

zur kulturellen und psychischen Verelendung bei. In

dieser Hinsicht sind sie Modalitäten der Aggression

und des Elends, die die Unterdrückung verewigen.

Bedürfnissen kommt damit ein Doppelcharakter zu:

Sie sind immanentes, das Kapital stützendes und ihm

verpflichtetes Produkt kapitalistischer Produktionswei-

se und gleichzeitig ihr von ihr selbst hervorgebrachter

Totengräber. Das Radikale am Bedürfnis lässt sich mit

8 Mit erstem operiert – ohne sich dessen bewusst zu sein –

der Teil der Bewegung, der sich stark an Hedonismus-konzepten orientiert („Drogen, Techno, Antifa“), mit dem zweiten eher der grün-alternative Teil der Linken.

Hilfe allgemeingültiger Maßstäbe praktisch realisieren,

„die sich auf die optimale Entwicklung des Individu-

ums, aller Individuen, beziehen unter optimaler Aus-

nutzung der materiellen und geistigen Ressourcen,

über die der Mensch verfügt“ (Marcuse) und die sich

historisch weiter entwickeln. Radikal sind Bedürfnisse,

insofern sie zur Abschaffung von entfremdeter Lohn-

arbeit, Leid, Armut und Krieg hintreiben – sie zielen

auf Kooperation und Solidarität, auf Befriedung, Kon-

templation und Muße. Kurz: Es sind menschliche Be-

dürfnisse auf der Höhe des historisch Möglichen und

Wünschbaren und als solche befinden sie sich in einem

antagonistischen Verhältnis zur bestehenden Gesell-

schaft. Indem die politische Praxis diese aufgreift,

kann ein Bewusstsein befördert werden, das die Gren-

zen der Repression überschreitet. Der Blick auf die

Produktion und Negation der Bedürfnisse bringt die

verschiedenen Spaltungslinien der kapitalistischen

Herrschaft zu Tage.

[...]

4. PR AXI S Die zu Beginn der Krise aufgekommenen Hoffnungen,

dass die Krise auch in Deutschland, dem imperialisti-

schen Zentrum Europas, zu verschärften sozialen Kon-

flikten emanzipatorischen Gehalts führen würde, haben

sich bisher nicht erfüllt. Der Großteil der Menschen

scheint eine Haltung von grün bis tiefbraun einzuneh-

men, die eine Verteidigung des Standorts Deutschland

als alternativlos akzeptiert. Zu den Abwehrkämpfen

abseits linksradikaler Wunschprojektion und tatsächli-

cher, aber marginalisierter, Intervention lässt sich fest-

halten: „Abwehrkämpfe gibt es, doch antikapitalisti-

sche Ansätze oder gar Utopien stoßen auf Desinteres-

se.“ (Avanti Berlin). Anders sieht es auf Grund der

dramatischen Konsequenzen in den stärker betroffenen

Ländern aus, nur fehlen auch dort bisher sichtbare

Erfolge. Die durchaus beachtenswerten Aktionen und

Prozesse der Solidarisierung und Selbstorganisierung

konnten die krisenpolitischen Angriffe der Troika nicht

abwehren. Zudem kommt es zu keiner nennenswerten

Verbindung zwischen den Betroffenen dort und den

weniger Betroffenen hier. Dagegen haben reaktionäre,

vermeintliche Krisenlösungen Hochkonjunktur, wie

die Europawahlen 2014 zeigten: der Front National in

Frankreich, die United Kingdom Independence Party,

die Jobbik in Ungarn oder die Alternative für Deutsch-

land konnten hohe Wahlergebnisse erzielen. Bis tief

ins bürgerliche Lager zeigen sich starke Tendenzen

nach rechts. Auf den Montagsdemonstrationen seit

2014 absorbierte eine komplett verballerte, antisemiti-

sche Verschwörungsideologie das Unbehagen der

Menschen mit den klassisch linken Themen Frieden

und Antimilitarismus. Mit PEGIDA und Co., gegen

Ende des Jahres, trat offen zu Tage, wie es um den

Bewusstseinsstand der sogenannten Mitte der Gesell-

schaft steht. Die herrschende Politik reagiert, wie An-

fang der 1990er, mit einer Verschärfung der Asylrege-

lungen.

8

Page 9: Neies Lautre - Juni 2015

Aus dieser kurzen Bestandsaufnahme lässt sich für uns

nur der Schluss ziehen, dass es umso dringender einer

linken Politik bedarf, die sich aus ihrer Zurückgezo-

genheit und dem Zurückgedrängtsein herausarbeitet.

Auf der einen Seite antifaschistisch, mit dem offensi-

ven Entgegentreten rechter Tendenzen von populis-

tisch bis radikal und andererseits mit der Verbreitung

eigener Analyse und der solidarischen Intervention in

bestehende und dem Führen eigener Klassenkämpfe.

Von Beginn der Krise an ist es vermessen gewesen, in

die Krise und die damit verbundene eigene Politik alle

Hoffnung auf ein emanzipatorisches Vorhaben zu set-

zen. Angesichts der Gefahr und bitteren Realität reak-

tionärer Krisenantworten bleibt uns jedoch nichts an-

deres übrig, als jetzt unsere eigenen Analysen, unsere

Politik und Alternativvorschläge kritisch zu hinterfra-

gen und umso schärfer in die Auseinandersetzungen zu

gehen. [...]

Seitdem sich der Großteil der radikalen Linken von

Arbeitskämpfen entkoppelt hat und ohne gesellschaft-

lich verankerte Bewegung agiert, sind Events die vor-

herrschende Form der eigenen Politik geworden.

Grundsätzlich halten wir Großmobilisierungen weiter-

hin für einen wichtigen Bestandteil politischer Arbeit,

wenn es darum geht, sichtbar zu werden und gesell-

schaftliche Konflikte zuzuspitzen, Meinungshoheiten

medial zumindest zu kontrastieren und einen gemein-

samen Ausdruck ansonsten vereinzelter Tageskämpfe

zu finden. Doch geben erfolgreich organisierte Groß-

demonstrationen und „Blockaden“ einer EZB oder

ähnlichen Zielen mit Systemcharakter nur Auskunft

über eben unsere Fähigkeiten der Organisation und

Mobilisierung und nicht unserer gesellschaftlichen

Wirkung. Bezogen auf „uns“, die Organisierenden und

Demonstrierenden, muss festgestellt werden, dass es

nicht einfach darum gehen kann, Zehntausende auf die

Straße zu bringen, die in ihrer Freizeit den Kapitalis-

mus kritisieren, um ihm danach wieder voll und ganz

zur Verfügung zu stehen. Bezogen auf die bisher be-

friedeten lohnabhängigen Zuschauer*innen lässt sich

sagen, dass ein kritisches Bewusstsein eben äußerst

selten als von außen herangetragene Position in Form

von Demonstration, Flugblatt und Medienbericht ent-

steht. Inwiefern wir die systemrelevanten Ak-

teur*innen mit unseren Events unter Druck setzen, ist

schwer zu sagen. Das Geheule der Gegenseite ob eines

gesellschaftlichen Auseinanderbrechens vor und nach

jedem Event ist nicht viel mehr als kalkulierte Angst-

mache. Der Kostenfaktor eines verlorenen Arbeitstages

durch die Blockade eines Geschäfts ist unwesentlich,

verglichen mit der alltäglichen Verwertung. Unsere

Solidaritätsbekundungen mit den Kämpfenden anderer

Ländern blieben das, was sie eben sind: verbale Äuße-

rungen. Was es unserer Ansicht nach in den hiesigen

Verhältnissen hingegen braucht, ist eben die kontinu-

ierliche dezentrale, aber strategisch fokussierte Aktivi-

tät in Produktion und Reproduktion, also dort, wo All-

tag und Kritik ihre momentane Trennung überwinden

könnten. Nur diese könnte uns in die Lage versetzen,

das Funktionieren des kapitalistischen Systems, auch

im Sinne anderer Betroffener, zu behindern. Erst auf

Grundlage dieser im Alltag verankerten Strukturen

würde ein Event mehr sein als Protest, eben der oft

benannte, aber selten eingelöste „Kristallisations-

punkt“ vorhandener Kämpfe. [...]

Inhaltlich geht es uns um nichts weniger als die soziale

Revolution, aufbauend auf unserem oben dargelegten

Verständnis von kapitalistischer Gesellschaft und

Klassenkampf. In diesem Sinne verstehen wir die sozi-

ale Revolution als Überwindung der Klassenverhält-

nisse und als Prozess der Selbstaufhebung des Proleta-

riats und der Abschaffung der Lohnarbeit. Dieser hier

umrissene Ansatz soll in Abgrenzung zu Kategorien

wie der Multitude oder konstituierender Macht, oder

auch einem bloßen gemeinsamen Forderungskatalog,

Grundlage unserer politischen Arbeit sein. Das Ge-

meinsame besteht zunächst als Negatives, als geteilter

Problemzusammenhang, und das Positive kann sich

erst im Kampf dagegen als Gemeinsames entwickeln.

Die von uns hier entfaltete erweiterte Kategorie des

Klassenbewusstseins ist theoretischer Ausgangspunkt

unseres Strategievorschlags, um die Protestierenden

und Kämpfenden – also nicht zuletzt auch uns selbst –

zu einer Reflexion ihrer/unserer jeweiligen gesell-

schaftlichen Position zu provozieren, die nicht bei

einer Politik der ersten Person stehenbleibt, sondern

auf die gesellschaftliche Totalität als den gemeinsamen

Bezugspunkt abhebt. Dabei geht es nicht darum, vor-

handene Kämpfe unter dem Begriff des Klassenkamp-

fes zu subsumieren, sondern diese viel eher wieder um

die mit dem Klassenbegriff verbundenen Aspekte kapi-

talistischer Vergesellschaftung zu erweitern. Es geht

also um den Versuch, den spezifischen Kampf um 2%

mehr Lohn oder gegen die Maßnahmen der Agentur

für Arbeit über die unmittelbaren Interessen hinaus zu

‚politisieren‘. In der Praxis vermittelt sich der gesell-

schaftliche verbindende Problemzusammenhang im

Prozess der praktischen Solidarisierung. Solidarität ist

dabei sowohl Voraussetzung für das praktische Entste-

hen von Klassenbewusstsein wie auch als dessen Re-

sultat zu begreifen. Durch die Versuche, die Durchset-

zung der eigenen Interessen mit der Durchsetzung

anderer Interessen – die auch durchaus gegensätzlich

sein können – zusammenzuführen, entstehen praktisch

motivierte Fragen nach realen Trennungs- und Verbin-

dungslinien zwischen den Kämpfenden im gesell-

schaftlichen Funktionszusammenhang. Auf dieser

Grundlage können die Möglichkeiten gemeinsamer

Praxis diskutiert werden und erst durch diese geteilte

Perspektive kann ein wirklicher Austausch, eine ge-

meinsame Politik unter den Kämpfenden entstehen.

[...]

Ansätze einer praktischen Solidarität gibt es immer

wieder und immer noch von Einzelpersonen, Gruppen

und auch punktuell durch größere Bündnisse, aber

eben nicht forciert als langfristige, übergreifende Or-

ganisierung, welche wir hier vorschlagen wollen. Da-

mit Solidarisierungsprozesse nicht einfach wieder ver-

puffen, bedarf es einer Verfestigung der entstehenden

9

Page 10: Neies Lautre - Juni 2015

Kommunikations- und Koordinationsstrukturen in

einer Organisierung, die vor allem als Informations-

und Kommunikationsstruktur fungiert. In ihr können

Erfahrungen geteilt, reflektiert und weitergegeben

werden, sowie gemeinsame Aktionen zeitlich, räum-

lich und inhaltlich koordiniert werden. Ziel einer sol-

chen Organisierung muss es unseres Erachtens sein,

die Selbsttätigkeit der Kämpfenden zu fördern, ganz in

dem oben erwähnten Sinne, dass Emanzipation das

Selbsttätigwerden in der Geschichte bedeutet.

Drei Dimensionen halten wir hierfür zunächst für

sinnvoll, welche zwar möglichst zeitnah, aber eben

auch in ihrer je notwendigen Zeit nebeneinander wach-

sen sollen.

1. Politische Gruppen und politisierte Kämpfe (dazu

zählen für uns z.B. auch linke Gewerkschaftsinitiati-

ven) organisieren sich nach ihren eigenen Interessen in

ihrem unmittelbaren Lebensumfeld und gehen solida-

risch auf die Kämpfe in ihrer Umgebung/Sparte zu und

unterstützen diese möglichst in einer regionalen Basis-

organisierung. Dies ist die Ebene einer konkreten Ver-

netzung, welche an den Alltagsinteressen der Men-

schen (im Betrieb, der Uni, in der Hausarbeit) ansetzt

und hier die Basis, wie auch Kontakte und Orte für

eine gemeinsame solidarische Politik schafft. Damit

einher geht für uns die gegenseitige Hilfe durch Erfah-

rungsaustausch sowie technische und finanzielle Hilfe.

2. Eine überregionale Vernetzung der bereits politi-

schen Gruppen/Kämpfe und regionalen Bündnisse

ermöglicht es zunächst ganz praktisch, überregional

handlungsfähig zu werden. Nach innen soll diese über-

regionale Verbindung unser Ort der gemeinsamen

politisch-strategischen Beratung und politische Kon-

stante sein. Jedoch soll sie dabei kein Ort der zentralen

Entscheidungsgewalt über die Kämpfe vor Ort sein.

Ziel der Vernetzung ist es, zu einer möglichst gemein-

samen, koordinierten Praxis zu gelangen, die über alle

kurzfristigen Mobilisierungen, Events und Standort-

logiken (lokal, wie national) hinausweist und spürbar

in die Reproduktion der Verhältnisse eingreift.

3. Der Aufbau eines Büros zur organisatorischen Un-

terstützung der Beteiligten, dessen Aufgabe es wäre,

die direkten Verbindungen unter den Beteiligten zu

stärken. [...] Auf der anderen Seite kann das Büro die

Aufgabe eines Verstärkers übernehmen, wenn es um

dringende Aufrufe an möglichst viele Teile der Orga-

nisierung geht. Darüber hinaus kann es in seiner unter-

stützenden Rolle Presse- und Propaganda-Arbeit im

Sinne der laufenden Kämpfe übernehmen, Mediation

zwischen den Beteiligten vermitteln, Vollversammlun-

gen und Kongresse sowie finanzielle Unterstützung für

die Beteiligten organisieren. Für die Erarbeitung kom-

plexer Themenbereiche und deren Bedeutung für die

Kämpfe, wie z.B. einer Einschränkung des Streik-

rechts, könnte das Büro zudem innerhalb des Netz-

werks nach Expert*innen suchen, die Einschätzungen

dazu formulieren könnten und diese an die Beteiligten

als Entscheidungshilfe weitergeben. Um Tendenzen

der Verselbstständigung des Büros vorzubeugen, sind

die jeweils dort handelnden Menschen mandat-

gebunden, jederzeit abwählbar und möglichst nach

dem Rotationsprinzip besetzt.

Alle drei Dimensionen (die praktische Soli-Arbeit, die

politische Vernetzung und Reflexion sowie das Büro

für organisatorische und inhaltliche Unterstützung)

dienen der Schaffung von Verbindungen zwischen den

verschiedenen Kämpfen, so dass sich die Basis auf der

Straße und in den Betrieben verbreitert oder transna-

tionaler Widerstand zu anstehenden Themen gleichzei-

tig wirkungsmächtig wird. Würde alles wie geschmiert

laufen, so würden sich die Kämpfe immer mehr unter-

einander koordinieren; letztlich auch die Arbeit in

Form einer politischen Gruppe, wie wir sie heute in

unserer Defensivposition praktizieren, überflüssig

werden. Mehr noch: Die unterschiedlichen Basisorga-

nisationen, könnten als Keim einer sich herausbilden-

den Rätedemokratie und der umfassenden gesellschaft-

lichen Selbstverwaltung fungieren [...]. Die von uns

vorgeschlagene Art einer sozialrevolutionären Organi-

sierung gibt es momentan nicht, sie muss aufgebaut

werden.9 Wie eine solche Organisierung konkret ge-

staltet und praktisch geschaffen werden kann, ist für

uns die entscheidende Frage, welche beantwortet wer-

den muss, und dies kann nicht von uns allein geleistet

werden.

Ziel unserer Strategie ist es, klassenbewusst eine

emanzipatorische Gegenmacht zu Staat und Kapital

aufzubauen, die insbesondere in Krisenzeiten eine

praktische wie theoretische Alternative zu reaktionären

Lösungsvorschlägen bieten kann. Also eine Politik, die

den tatsächlichen Kampf mit den Herrschaftsverhält-

nissen wieder dort aufnimmt, wo sie sich direkt entfal-

ten. An diesem Vorschlag ist vieles aufregend, aber

wenig neu. [...] In der Gegenwart gibt es Initiativen

Gewerkschaftslinker und revolutionärer Basisgewerk-

schaften,10

die betriebliche Kämpfe als Kampf gegen

das Lohnsystem begreifen und deren Politikansätze in

die zu beschreitende Richtung weisen. Unser Politik-

Vorschlag beruht auf einer Reaktualisierung und

Repolitisierung des Klassenbegriffs, der auch Kämpfe

gegen weitere Herrschaftsverhältnisse mit einschließt

und eine praktische Verbindung der Kämpfe leisten

soll. Was von dieser Idee eingelöst werden kann, ist

eine Frage der gemeinsamen Praxis und nicht allein

der Theorie.

9 Uns ist klar, dass solche Reisepläne in Richtung Utopia

zunächst einigermaßen lächerlich wirken. Doch wer von Strategie redet, darf von ihrer Umsetzung nicht schweigen. Ihre Umsetzung aber hängt in der Praxis nicht vom starken Willen der Strateg*innen ab, sondern von Prozessen, deren Verlauf nicht in ihren Händen liegt. Daher die relative Hilf-losigkeit der Schritt-für-Schritt-ins-Paradies-Pläne. Doch letztlich führt kein Weg in eine befreite Gesellschaft daran vorbei, gemeinsam praktische Ziele auszuloten und zu set-zen und zu versuchen sie zu erreichen. 10

Zum Beispiel die FAU (www.fau.org), Wobblies (www.wobblies.de), TIE (www.tie-germany.org) u. a.

10

Page 11: Neies Lautre - Juni 2015

ZUR EINIGUNG DES REVOLUTIONÄ-

REN PROLETARIATS Erich Mühsam war Anarchist und beteiligt an der Münchener Räterepublik 1919. In der darauffolgenden Haftzeit war er für wenige Monate Mitglied der KPD und schrieb nach seinem Austritt 1920 den Text ‚Zur Einigung des revolutionären Proletariats im Bolsche-wismus‘, aus dem wir einen kurzen Abschnitt hier ab-drucken. 1934 wurde er von den Nazis ermordet.

Es bleibt der einzige Ausweg, der mir gangbar scheint und den ich zu betreten den deutschen Kommunisten, Genossen aller Richtungen dringend empfehle. Das ist die Schaffung einer kommunistischen Föderation.

Man überlege folgendes: Was die kommunistischen Organisationen, die Syndikalisten und die kommunisti-schen Anarchisten voneinander trennt, ist nichts, was in den Fragen der sozialen Revolution selbst und ihrer nächsten Zwecke miteinander kollidierte. Eine grund-sätzliche Gegnerschaft besteht zwischen ihnen nicht. Ihre Differenzen begegnen sich durchweg auf dem Gebiete der taktischen Organisation, also der revoluti-onären Koalitionsform und gewisser Probleme des außerrevolutionären Verhaltens (Parlamentarismus, Gewerkschaftswesen, gesetzliche Betriebsrätewahlen). Diese Differenzen sollen und müssen in aller sachli-chen Schärfe ausgetragen werden, denn die kommunis-tische Bewegung ist kein Harmonieklub, sondern eine Kampfgemeinschaft. Aber eine gänzliche Verbin-dungslosigkeit zwischen diesen Gruppen ist gefährlich und schädlich. Weder die Auflösung der bestehenden Organisationen noch die Sammlung aller Kommunis-ten in einer von ihnen ist im Moment möglich. Also müssen die Organisationen als solche miteinander einig werden.

Mit einer Kartellierung der bestehenden Organisatio-nen wäre allerdings die Frage noch nicht gelöst. Die Anarchisten sind zumeist nur in lockeren Diskussions-klubs miteinander verbunden, die ihrer Art nach einer korporativen Einfügung in die Föderation widerstre-ben, die Syndikalisten kennen nur wirtschaftliche Zu-sammenschlüsse.

[...] Die Föderation müßte demgemäß sowohl ganzen Korporationen als auch Einzelindividuen offen stehen bei allen vorausgesetzt das unbedingte Bekenntnis zur Diktatur des Proletariats.

[...]

Die Vorteile der Föderation liegen zutage. Sie bestehen nicht allein in der Gewährleistung einheitlicher Ent-schlüsse aller kommunistisch gerichteten Strömungen, die Zusammenfassung wird vor allem auch bei künfti-gen Kämpfen wirksam zur Geltung kommen. [...] Das Bewußtsein im Proletariat, daß hier der Einigung schon mächtig vorgearbeitet ist, wird den Ratschlägen der Kommunisten eine ganz andere Wucht verleihen, als wenn sie als eine von den Parteien einfach am Be-ratungstisch routinierter Funktionäre Platz nehmen dürfen. Garnicht zu reden von der ungeheuren Verstär-kung der agitatorischen Wirkung auf die Massen. [...]

Sollte der nicht stichhaltige Einwand erhoben werden, daß nachhaltige kommunistische Aufklärung, Arbeit und Aktion nur im Rahmen einer streng umgrenzten Partei möglich sei, so soll ja die Parteiarbeit ungestört bleiben. Aber der Ansicht, daß hermetischer Abschluß Bedingung für gedeihliches Wirken sei, widersprechen auch die Lehrer und Begründer des marxistischen Kommunismus selbst. Darüber heißt es im Kommunis-tischen Manifest: »Die Kommunisten sind keine be-sondere Partei gegenüber den anderen Arbeiterpartei-en. Sie haben keine von den Interessen des ganzen Proletariats getrennten Interessen. Sie stellen keine besonderen Prinzipien auf, wonach sie die proletari-sche Bewegung modeln wollen.« Die Unterscheidung liegt darin, daß sie »einerseits in den verschiedenen nationalen Kämpfen der Proletarier die gemeinsamen, von der Nationalität unabhängigen Interessen des ge-samten Proletariats hervorheben und zur Geltung brin-gen, andererseits dadurch, daß sie in den verschiede-nen Entwicklungsstufen, welche der Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie durchläuft, stets das Inte-resse der Gesamtbewegung vertreten«. Darin wird also jedes engherzige Parteiwesen verworfen und als Be-dingung für den Zusammenschluß nur verlangt, daß das Interesse der Gesamtbewegung der jeweiligen Entwicklungsstufe des Klassenkampfes gemäß hervor-zuheben und zur Geltung zu bringen ist. Besteht Ein-mütigkeit darüber, daß Interesse der proletarischen Gesamtbewegung zur Zeit im Sturz des Kapitalismus zu suchen ist, so sollen innerhalb dieser Verständigung keine besonderen Prinzipien aufgestellt werden, wo-nach die proletarische Bewegung zu modeln wäre. Geschieht daß durch einzelne Parteigebilde trotzdem, so ergibt sich logisch die Notwendigkeit eines weiteren Zusammenschlusses, wie er mit der Föderation beab-sichtigt wird.

Genau so wie das Kommunistische Manifest faßte auch der Spartakusbund in seiner Programmschrift seine Aufgabe auf. »Der Spartakusbund ist keine Par-tei, die über der Arbeitermasse oder durch die Arbei-termasse zur Herrschaft gelangen will. Der Spartakus-bund ist nur der zielbewußte Teil des Proletariats, der die ganze breite Masse der Arbeiterschaft bei jedem Schritt auf ihre geschichtlichen Aufgaben hinweist, der in jedem Einzelstadium der Revolution das sozialisti-sche Endziel und in allen nationalen Fragen die Inte-ressen der proletarischen Weltrevolution vertritt.« Der enge Parteicharakter wird somit auch hier nachdrück-lich abgelehnt. Die Idee der kommunistischen Födera-tion hält sich in jeder Hinsicht in dem vom kommunis-tischen Manifest und vom Spartakusprogramm gestell-ten Rahmen. Nach rechts hin, d. h. allen opportunisti-schen Bestrebungen gegenüber die schärfste Absonde-rung, alle konsequent revolutionären dem großen Ziel ohne Abirrung zustrebenden Kommunisten die Hand zum Bunde! Ein besonderes Programm für die kom-munistische Föderation erübrigt sich eigentlich. Ent-scheidend für die Zugehörigkeit ist das Bekenntnis zum Kommunismus und zur Rätediktatur.

[...] Keine schon vorhandene revolutionäre Bildung soll zerstört werden. Aber die Kommunisten haben besseres zu tun, als sich in weit getrennten Zirkeln

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Page 12: Neies Lautre - Juni 2015

gegenseitig zu befehden. Es geht jetzt um mehr als um Parteizank. Es geht ums Ganze. Darum müssen die Peripherien der Zirkel ineinandergreifen. Eine sichtba-re Gemeinschaft muß sein, unter denen sie für dasselbe gewaltige Ziel kämpfen.

Erich Mühsam: Zur Einigung des revolutionären Proletariats im Bolschewismus; Hg. von Philippe Kellermann 2014, Un-rast Verlag (Münster)

FAZIT

In letzter Zeit greifen auch nicht-anarchistische (radi-

kale) Linke libertäre Ideen auf: Selbstorgani-

sation von unten, Kollektivbetriebe, kommu-

nale Rätestrukturen. … Für uns Anar-

chist*innen ist das erfreulich, wollen wir

doch nicht das Copyright an unseren Kon-

zepten behalten, sondern diese im Gegenteil

möglichst weiterverbreiten. Gleichzeitig sind

auch anarchistische Theorien kein Allheil-

mittel für die Probleme revolutionärer Praxis

(Was tun mit Griechenland, wenn der Rest

Europas vom Ende des Neoliberalismus

nichts wissen will? Wie erhält man in Rojava

Basisdemokratie in einem Krieg?). Wenn

aber unsere revolutionären Ziele auch in

unseren Mitteln enthalten sind, müssen wir

keine Angst davor haben, diese Mittel an die

aktuellen Gegebenheiten (eine globalisierte

neoliberale Welt) anzupassen. ‚Fragend

schreiten wir voran‘: dieser Satz bedeutet

eben keine Selbstbeschränkung, im Gegen-

teil: weil wir Anarchist*innen sind in der

Lage, uns an verschiedene Situationen anzu-

passen, ohne unsere Grundsätze über Bord zu

werfen.

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Macher*innen dieser Zeitung sind organisiert in der Anarchistischen Initiative Kaiserslautern (anarchistische-initiative-kl.blogspot.de). Bei Fragen kann man sich an diese per Mail wenden ([email protected]).

Wir sind organisiert im Anarchistischen Netzwerk Südwest* (a-netz.org) und der Föderation deutsch-sprachiger Anarchist*innen (fda-ifa.org).

Die Pyramide der kapitalistischen Klassenge-sellschaft , entworfen von der syndikalisti-schen Gewerkschaft „Industrial Workers oft the World“ im Jahr 1911.