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Sachverständigenkommission Dreizehnter Kinder- und Jugendbericht (Hrsg.) Materialien zum Dreizehnten Kinder- und Jugendbericht Mehr Chancen für gesundes Aufwachsen Expertise von Stephan Sting Suchtprävention im Kindes- und Jugendalter

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  • Sachverständigenkommission Dreizehnter

    Kinder- und Jugendbericht (Hrsg.)

    Materialien zum Dreizehnten Kinder- und Jugendbericht

    Mehr Chancen für

    gesundes Aufwachsen

    Expertise von Stephan Sting

    Suchtprävention im Kindes- und Jugendalter

  • Vorwort

    Der 13. Kinder- und Jugendbericht „Mehr Chancen für gerechtes Auf-wachsen“ widmet sich erstmals in der Berichtsgeschichte dem Thema „Gesundheitsbezogene Prävention und Gesundheitsförderung in der Kinder- und Jugendhilfe“. Zusammen mit der Stellungnahme der Bundesregierung ist der Bericht im Mai 2009 als Bundestagsdrucksache erschienen.

    Um einen umfassenden Überblick zu diesem Themenkreis und ver-tiefte Einblicke in einzelne Bereiche zu erhalten, entschied die von der Bundesregierung mit der Erstellung des Berichts betraute Sachver-ständigenkommission, zahlreiche Expertisen und eine Delphi-Studie erstellen zu lassen.

    Die Inhalte der Expertisen gaben entscheidende Impulse für die Dis-kussionen der Kommission, viele Aspekte flossen auch in den Berichts-text ein und haben wesentlich zu dessen wissenschaftlicher Fundierung beigetragen. Im Bericht konnten jedoch nicht alle Erkenntnisse aus den Expertisen im Detail berücksichtigt werden. Da diese jedoch viele wichtige Befunde, Einblicke und Einsichten enthalten, die für die Kinder- und Jugendhilfe, für das Gesundheitssystem und die Ein-gliederungshilfe/Rehabilitation neu sein dürften, beschloss die Sachver-ständigenkommission, die Expertisen einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Dafür wurden die – ausschließlich von den Autorinnen und Autoren verantworteten – Texte von diesen im Mai 2009 zum Teil leicht überarbeitet und aktualisiert.

    Um die Übersicht zu erleichtern, wurden die einzelnen Arbeiten fünf großen Bereichen zugeordnet, die auch Schwerpunkte des 13. Kinder- und Jugendberichts bilden. Dabei wurde in allen Arbeiten – wie auch im Bericht – den Schnittstellen und sowohl den Kooperationserforder-nissen wie den Kooperationschancen zwischen Kinder- und Jugendhilfe, Schule, Gesundheitssystem und Behindertenhilfe/Rehabilitation be-sondere Aufmerksamkeit gewidmet.

    Die Sachverständigenkommission dankt allen Autorinnen und Autoren der Expertisen und der Delphi-Studie für ihre wertvolle Unter-stützung bei der Erstellung des 13. Kinder- und Jugendberichts. Besonders hervorzuheben ist dabei ihre Kooperationsbereitschaft und die Einhaltung der engen, auf oft nur wenige Monate begrenzten Zeit-vorgaben, denn der gesamte 13. Kinder- und Jugendbericht musste innerhalb von nur 15 Monaten fertig gestellt werden.

    Der Sachverständigenkommission zum 13. Kinder- und Jugendbericht als Herausgeber dieser Expertisen gehörten an: Dr. Wolfram Hartmann,

  • Prof. Dr. Holger Hassel, Prof. Dr. Hans Günther Homfeldt, Prof. Dr. Heiner Keupp (Vorsitzender), Dr. Hermann Mayer, Dr. Heidemarie Rose, Prof. Dr. Elisabeth Wacker, Dr. Ute Ziegenhain, Dr. Christian Lüders (kooptiertes Mitglied).

    In der Geschäftsstelle im Deutschen Jugendinstitut arbeiteten: Dr. Hanna Permien, Dr. Tina Gadow, Gisela Dittrich, Angela Keller, Dr. Ekkehard Sander, Sonja Peyk und Susanne Schmidt-Tesch (Sachbe-arbeitung). München, im Juni 2009 Prof. Dr. Heiner Keupp Vorsitzender der Sachverständigenkommission des 13. Kinder- und Jugendberichts

  • Sting: Suchtprävention im Kindes- und Jugendalter 789

    Inhalt

    1 Grundlagen der Gesundheitsförderung und Prävention in der Kinder- und Jugendhilfe

    Nico Dragano, Thomas Lampert, Johannes Siegrist Wie baut sich soziale und gesundheitliche Ungleichheit im Lebenslauf auf? .................................................................................. 13 Petra Kolip

    Zentrale gender-relevante Kriterien für Gesundheitsförderung und Prävention ................................................ 51

    Bernd Röhrle Evaluationsprogramme zu Strategien der Gesundheitsförderung und Prävention – was können sie leisten? .......................................................................... 69

    Manfred Hintermair Salutogenetische und Empowerment-Konzepte in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen ............ 155

    2 Gesundheitsförderung und Prävention in der Kinderbetreuung

    und für Heranwachsende mit Behinderungen Tina Friederich Die Bedeutung von Gesundheitsförderung und Prävention in Kindertageseinrichtungen .......................................... 195 Renate Höfer, Luise Behringer

    Interdisziplinäre Frühförderung: Angebot und Leistungen ...................................................................... 257

    Elisabeth Wacker, Rainer Wetzler, Stefanie Frings Delphi-Studie zu Gesundheitsförderung und Gesundheitschancen von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen ............................................................................... 311

    3 Gesundheitsförderung und Prävention in der Kinder- und

    Jugendarbeit sowie der Jugendberufshilfe Andreas Hanses, Kirsten Sander

    Gesundheitsförderung in der außerschulischen Jugendarbeit ........................................................................................... 373

    Knut Lambertin Gesundheitsförderung in der Jugendverbandsarbeit ...................... 419 Elke Opper, Petra Wagner

    Gesundheitsförderung und Prävention im Kinder- und Jugendsport ...................................................................... 447

  • 790 Materialien zum 13. Kinder- und Jugendbericht

    Peter Paulus Gesundheitsförderung in Kooperation von Schule, Jugendhilfe und anderen Partnern ..................................................... 537

    Florian Straus Gesundheitsförderung und Prävention in berufsbildenden Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe ....................................... 621 4 Gesundheitsförderung und Prävention bei Kindern und

    in Risikolagen Albert Lenz Riskante Lebensbedingungen von Kindern psychisch und suchtkranker Eltern – Stärkung ihrer Ressourcen durch Angebote der Jugendhilfe .................................................................... 683 Michael Kölch

    Versorgung von Kindern aus Sicht ihrer psychisch kranken Eltern ....................................................................................... 753

    Stephan Sting Suchtprävention im Kindes- und Jugendalter ............................. 791 5 Gesundheitsförderung und Prävention bei den Hilfen

    zur Erziehung und ihren Schnittstellen Ulrich Gerth, Klaus Menne

    Der Beitrag der Erziehungsberatung zur Förderung der Gesundheit von Kindern und Jugendlichen ...................................... 829

    Margret Dörr Gesundheitsförderung in stationären Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe: Heime als Orte für Salutogenese ......................... 925

    Jörg M. Fegert, Tanja Besier Psychisch belastete Kinder und Jugendliche an der Schnittstelle zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Gesundheitssystem − Zusammenarbeit der Systeme nach der KICK-Reform ......................................................................... 987

    6 Autorinnen und Autoren ..................................................................... 1111

  • Sting: Suchtprävention im Kindes- und Jugendalter 791

    Stephan Sting

    Suchtprävention im Kindes- und Jugendalter Potentiale und Grenzen der

    verschiedenen Ansätze zur Suchtprävention im Hinblick auf Gesundheitsförderung unter Berücksichtigung der Lebens- und Risikolagen und der Suchtgefährdung von Kindern und Jugendlichen

     1 Einleitung .............................................................................................. 793 2 Daten zum Substanzkonsum und zu Suchtproblemen unter Kindern und Jugendlichen in Deutschland ................................ 794 2.1 Rauchen ................................................................................................. 794 2.2 Alkohol .................................................................................................. 795 2.3 Illegale Drogen ...................................................................................... 797 2.4 Konsumbezogene Probleme und Suchtentwicklungen ....................... 798 3 Rausch, Sucht und Abhängigkeit .......................................................... 802 4 Konzepte der Suchtprävention............................................................. 806 5 Suchtprävention in Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe .......... 811 5.1 Kindertageseinrichtungen ..................................................................... 811 5.2 Schulen .................................................................................................. 813 5.3 Jugendarbeit .......................................................................................... 814 5.4 Ambulante und stationäre Erziehungshilfen ....................................... 816 6 Grenzen und Potentiale der Suchtprävention: Schlussfolgerungen für die Kinder- und Jugendhilfe .......................... 819 7 Literatur ................................................................................................. 824  

  • Sting: Suchtprävention im Kindes- und Jugendalter 793

    1 Einleitung

    Die Themen „Jugend und Sucht“ und „Jugend und Drogen“ eignen sich in besonderer Weise dazu, das Bild der „gefährdeten Jugend“ öffentlichkeits-wirksam zu reaktivieren, die besonderer Schutz- und Kontrollmaßnahmen bedarf, um eine gesunde Entwicklung sowie die Einhaltung der Regeln und Ordnung der Gesellschaft zu garantieren. Die Suchtprävention läuft vor diesem Hintergrund Gefahr, sich eher mit fiktiven und potentiellen statt mit realen Risiken und Gefährdungen zu befassen – eine Schräglage, die nach Spode in die Entstehungsgeschichte der neueren Suchtprävention ein-geschrieben ist (vgl. Spode 1998, S. 111f.).

    Insgesamt erscheint die Sucht- und Drogendiskussion in Deutschland von einer doppelten Problemverschiebung geprägt, die es schwer macht, den tat-sächlichen Präventionsbedarf und für Kinder und Jugendliche angemessene Zugänge zur Suchtprävention zu bestimmen: Erstens werden neue ge-sellschaftliche Erscheinungen im Bereich des Substanzkonsums, des Me-diengebrauchs oder der sozialen Praktiken schnell mit einem auf Kinder und Jugendliche bezogenen Gefährdungs- und Problemdiskurs verknüpft. Zweitens lässt sich eine Tendenz erkennen, in der Erwachsenengesellschaft tabuisierte Problem- und Praxisbereiche wie Sucht und Rausch auf das Kindes- und Jugendalter zu projizieren. Die Aufmerksamkeit auf jugendliche Sucht-Moden lenkt damit von den Rauscherfahrungen und Suchtproblemen der Erwachsenen ab, was dazu führt, dass sich am gesellschaftlichen Umgang mit der Suchtproblematik wenig ändert. Die Suchtprävention gerät dabei in die relativ hoffnungslose Position, bei Kindern und Jugendlichen Verhaltens-weisen propagieren zu wollen, an denen die Erwachsenengesellschaft gar kein Interesse hat. Quensel (2004) konstatiert dementsprechend ein weitgehendes Scheitern der bisherigen suchtpräventiven Bemühungen, das er aufgrund seiner systematischen Ursachen zum „Elend der Suchtprävention“ verdichtet.

    Dieser skeptische Einstieg liefert einen meiner Einschätzung nach not-wendigen Vorbehalt, um die Potenziale und Grenzen der Suchtprävention bei Kindern und Jugendlichen adäquat einschätzen zu können. In einem ersten Schritt sollen zunächst vorhandene Daten zu suchtrelevanten Praktiken und Verhaltensweisen unter Kindern und Jugendlichen analysiert werden, um einen Eindruck von Art und Ausmaß der Problemstellung zu gewinnen. Im nächsten Schritt geht es um eine differenzierte Betrachtung der Phänomene „Rausch“, „Sucht“ und „Abhängigkeit“ und deren Bedeutung für die Lebens- und Risiko-lagen von Heranwachsenden. Anschließend erfolgt eine Einschätzung der am meisten verbreiteten Leitkonzepte der Suchtprävention, die durch eine Dar-stellung suchtpräventiver Aktivitäten in ausgewählten Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe ergänzt wird. Schließlich werden Problemfelder und

  • 794 Materialien zum 13. Kinder- und Jugendbericht

    Grenzen der Suchtprävention skizziert und Schlussfolgerungen für die Kinder- und Jugendhilfe abgeleitet.

    2 Daten zum Substanzkonsum und zu Sucht-problemen unter Kindern und Jugendlichen in Deutschland

    Zur Abschätzung des Konsums von psychoaktiven Substanzen durch Kinder und Jugendliche wird eine Reihe von regelmäßigen Monitorings durchgeführt. Am einflussreichsten ist die seit 1973 in regelmäßigen Abständen von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) durchgeführte „Drogenaffinitätsstudie“, die mittels Telephonbefragungen Daten zu Konsum-erfahrungen von 12- bis 25-jährigen Jugendlichen erhebt. Relativ aktuelle Daten liefert darüber hinaus der Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS), in dem Fragen zum Tabak-, Alkohol- und Drogenkonsum von 11- bis 17-jährigen Mädchen und Jungen enthalten sind. Daneben gibt es die von der WHO initiierte HBSC-Studie (Health Behaviour in School-Aged Children), die Konsumerfahrungen von 11-, 13- und 15-jährigen Schülerinnen und Schülern erhebt, sowie die europäische Schülerstudie ESPAD (European School Survey Project on Alcohol and other Drugs), die Konsumprävalenzen bei 15- bis 16-Jährigen untersucht. An beiden internationalen Studien sind jeweils einzelne Bundesländer beteiligt.

    Ein Problem der Zusammenfassung der verschiedenen Daten besteht darin, dass jeweils unterschiedliche Alterseinteilungen vorgenommen werden und dass die Kategorien zur Beurteilung des Konsumverhaltens variieren (vgl. Lampert/Thamm 2007). Daher können die Ergebnisse der verschiedenen Monitorings nicht direkt verglichen werden, sondern sie müssen zu über-greifenden Tendenzen zusammengefasst werden.

    2.1 Rauchen

    Die Drogenaffinitätsstudie der BZgA aus dem Jahr 2004 berichtet von einem relativ kontinuierlichen Rückgang des Rauchens seit 1973. Die Raucherquote (= ständige oder gelegentliche Raucher) unter den 12- bis 25-Jährigen ging von 58 % im Jahr 1973 auf 35 % im Jahr 2004 zurück. Ebenso sank der Anteil starker Raucher (= 20 Zigaretten und mehr am Tag) von 34 % im Jahr 1993 auf 12 % im Jahr 2004. Das Alter der ersten Zigarette bleibt seit 1993 kon-stant; es liegt 2004 bei durchschnittlich 13,6 Jahren (vgl. BZgA 2004, 14 bis18

  • Sting: Suchtprävention im Kindes- und Jugendalter 795

    Jahre). Zugleich lässt sich seit den 1990er Jahren eine Angleichung der Geschlechter feststellen: Lagen bis Mitte der 1990er Jahre alle Konsumwerte für Jungen höher als für Mädchen, so ist 2004 keine signifikante Geschlechter-differenz mehr zu erkennen. Allerdings lässt sich nach wie vor eine Differenz zwischen west- und ostdeutschen Jugendlichen konstatieren, der zufolge ost-deutsche Jugendliche etwas mehr rauchen als westdeutsche Jugendliche. Eine Unterscheidung nach Altersgruppen zeigt, dass die Raucherquote mit dem Alter ansteigt. Während sich 16 % der 12- bis 15-Jährigen als ständige oder gelegentliche Raucher bezeichnen, sind dies 43 % der 16- bis 19-Jährigen und 44% der 20- bis 25-Jährigen (vgl. BZgA 2004, S. 9).

    Die Daten der Drogenaffinitätsstudie werden durch andere Untersuchungen bestätigt. Auch die KiGGS-Studie stellt nur geringe geschlechtsspezifische Unterschiede beim Rauchen fest. Der Anteil der aktuellen Raucher (= mindestens einmal pro Woche) liegt bei den 17-jährigen Jungen bei 43,1 % und bei den 17-jährigen Mädchen bei 42,0 % (vgl. Lampert/Thamm 2007, S. 602ff.). Die ESPAD-Studie aus dem Jahr 2007, an der sich die Bundesländer Bayern, Berlin, Brandenburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Saarland und Thüringen beteiligten, bestätigt den höheren Tabakkonsum unter ost-deutschen Schülerinnen und Schülern (vgl. Kraus u. a. 2008, S. 51f.). Darüber hinaus ist der Raucheranteil an Hauptschulen deutlich höher als an Gymnasien. Dieser Befund wird durch die HBSC-Studie untermauert (vgl. Kraus u. a. 2008, S. 47; Ravens-Sieberer/Thomas 2003, S. 63f.).

    Insgesamt kann man also festhalten, dass etwas weniger als die Hälfte der Heranwachsenden (43 bis 44 %) im Jugend- und jungen Erwachsenenalter zumindest gelegentlich raucht. Während das Einstiegsalter konstant bleibt, ist der Konsum in den letzten Jahrzehnten markant zurückgegangen. Und während die ostdeutschen Jugendlichen etwas mehr rauchen als die west-deutschen, hat sich die Geschlechterdifferenz seit den 1990er Jahren nivelliert. Schließlich ist eine deutliche Verteilung nach Schultypen erkennbar, die dazu führt, dass Hauptschüler am meisten rauchen und Gymnasiasten am wenigsten.

    2.2 Alkohol

    Alkohol ist nach wie vor die Kulturdroge Nummer 1 in unserer Gesellschaft. Dementsprechend sind Alkoholerfahrungen unter Heranwachsenden weit verbreitet. In der KiGGS-Studie berichten 95 % der 17-Jährigen von Er-fahrungen mit Alkohol (vgl. Lampert/Thamm 2007, S. 604f.). Der gelegent-liche oder regelmäßige Konsum von Alkohol stellt eine Normalität in unserer Gesellschaft dar, in die Kinder und Jugendliche im Verlauf der Entwicklung hineinwachsen. Von den ersten Erfahrungen mit Alkohol, die im Durchschnitt

  • 796 Materialien zum 13. Kinder- und Jugendbericht

    bei 11,6 bis 11,8 Jahren liegen (vgl. Ravens-Sieberer/Thomas 2003, S. 64f.; Becker 2002, S. 23f.) bis zur Schwelle des Erwachsenenalters erreicht der Alkoholgebrauch eine Verbreitung, die in etwa derjenigen der Erwachsenen-gesellschaft entspricht. Dabei sind nur geringe Differenzen zwischen den Bundesländern zu erkennen (vgl. Kraus u. a. 2008, S. 74). Ebenso wenig zeichnen sich eindeutige Unterschiede nach Schularten oder sozioöko-nomischem Status ab. Allerdings verweisen alle Studien auf eine signifikante Geschlechterdifferenz, der zufolge Jungen dazu tendieren, mehr und häufiger Alkohol zu trinken als Mädchen (vgl. Lampert/Thamm 2007, S. 604f.).

    Die Drogenaffinitätsstudien vermerken von 1973 bis 2001 einen deutlichen Rückgang der Konsummengen bei allen alkoholischen Getränken. Von 2001 bis 2004 wird dieser Rückgang durch einen gegenläufigen Trend zum zu-nehmenden Konsum von Alkopops durchbrochen (vgl. BZgA 2004a, S.19ff.). Die Einführung der Kennzeichnungspflicht und der Sondersteuer für spirituosenhaltige Alcopops ließ im Jahr 2005 eine Trendwende erhoffen, da bei den 12- bis 17-Jährigen sowohl die absoluten Konsumhäufigkeiten von Alkohol als auch der Konsum von Alcopops deutlich zurückgingen (vgl. BZgA 2005). Die 2007er Daten der BZgA zeigen, dass die Hoffnung auf eine Trend-wende durch die Verschärfung des Jugendschutzes trügerisch war: Zwar ging der Konsum von Alcopops weiter zurück, doch nahmen sowohl Trinkhäufig-keiten als auch Trinkmengen wieder zu und erreichten in allen Untersuchungs-gruppen in etwa die Werte der Untersuchung von 2004. Damit ist der Trend zum Rückgang des Alkoholkonsums seit 2001 gestoppt. 2007 berichten 54 % der männlichen und 31 % der weiblichen 16- bis 17-Jährigen von einem regelmäßigen Alkoholkonsum (= mindestens einmal pro Woche; vgl. BZgA 2007, S. 8). Noch höhere Werte ermittelt die KiGGS-Studie: Demnach konsumieren 67,2 % der 17-jährigen Jungen und 39,2 % der 17-jährigen Mädchen regelmäßig Alkohol (vgl. Lampert/Thamm 2007, 604f.). Ob der in der Drogenaffinitätsstudie 2008 sich abzeichnende Rückgang des Alkohol-konsums unter den 12-17-Jähreigen eine erneute Trendwende markiert, bleibt abzuwarten (vgl. BZgA 2008, 4).

    Es gibt Anzeichen dafür, dass die Stabilisierung des Alkoholkonsums vor allem auf die Zunahme von Alkoholrausch-Erfahrungen zurückzuführen ist, dass also Jugendliche gezielt Rauscherfahrungen suchen. Die Drogenaffinitäts-studien verzeichnen zwischen 1997 und 2004 eine Zunahme an Alkohol-rauscherfahrungen (= 6 Räusche oder mehr) von 13 auf 21 % der 12- bis 25-Jährigen (vgl. BZgA 2004a, S. 29). Erstmals wurde 2004 das Kriterium des „Binge Drinking“ eingeführt (= fünf oder mehr Gläser Alkohol hinter-einander, mindestens einmal in den letzten 30 Tagen). Dabei zeigt sich, dass die 16- bis 17-Jährigen diejenige Gruppe sind, die am häufigsten von Binge Drinking berichten. Im Jahr 2004 waren dies 52 % der Jungen und 33 % der Mädchen, im Jahr 2007 stiegen diese Werte auf 63 % bzw. 37 % (vgl. BZgA

  • Sting: Suchtprävention im Kindes- und Jugendalter 797

    2007, S. 18). Ähnliche Werte vermerkt die ESPAD-Studie von 2007 bei den 15- bis 16-Jährigen, wobei die Geschlechterdifferenz deutlich geringer ausfällt. Dort berichten 63,7 % der Jungen und 54,3 % der Mädchen von Binge Drin-king in den letzten 30 Tagen (vgl. Kraus u. a. 2008, S. 87). Im europäischen Kontext scheint die Geschlechterdifferenz bei Trunkenheitserlebnissen tendenziell abzunehmen (vgl. Drogenbeauftragte der Bundesregierung 2008, S. 59). Zusammenfassend lässt sich ein Rückgang des Alkoholkonsums von 1973 bis 2001 feststellen, der sich bis 2007 nicht weiter fortsetzt. Während regionale und soziale Differenzen nur gering ausgeprägt sind, ist eine klare Geschlechterdifferenz zu erkennen, nach der Jungen mehr und häufiger Alkohol konsumieren als Mädchen. Insgesamt stellt der Konsum von Alkohol eine gesellschaftliche Normalität dar, die nahezu alle Jugendlichen über-nehmen. Dabei zeigt sich in den letzten Jahren eine Verlagerung der Trink-muster hin zum Rauschtrinken bzw. Binge Drinking, für die insbesondere die Gruppe der 15- bis 17-Jährigen und hier stärker die Jungen als die Mädchen verantwortlich zu sein scheint.

    2.3 Illegale Drogen

    Im Vergleich zu den legalen Substanzen Alkohol und Tabak spielt der Konsum von illegalen Drogen eine relativ geringe Rolle. Zwar sind etwas weniger als die Hälfte der Heranwachsenden inzwischen bereit, illegale Drogen auszuprobieren, doch bleibt es in den meisten Fällen bei wenigen Konsum-experimenten. Die Lebenszeitprävalenz ist bei den 12- bis 25-Jährigen von 18 % im Jahr 1993 auf 32 % im Jahr 2004 angestiegen. Bei den 20- bis 25-Jährigen beträgt der Wert 2004 44 % (vgl. BZgA 2004b, S. 7ff.). Dabei handelt es sich überwiegend um Cannabiserfahrungen, andere Substanzen sind nur relativ gering verbreitet (die Lebenszeitprävalenzen liegen für die 12- bis 25-Jährigen zwischen 4 % bei Ecstasy, Amphetaminen und biogenen Drogen, 2 % bei Kokain und 0,3 % bei Heroin). Nach der KiGGS-Studie liegt das Durch-schnittsalter des Erstkonsums von Cannabis bei 16,4 Jahren, bei allen anderen illegalen Drogen zwischen 17 und 18 Jahren (vgl. Lampert/Thamm 2007, S. 605f.; BZgA 2004b, S. 16).

    Deutlich niedriger als die Lebenszeit-Prävalenzen sind die 12-Monats-Prävalenzen, die ein Indiz für den aktuellen Konsum darstellen. Hier klaffen die Werte der verschiedenen Studien stark auseinander. Die Drogenaffinitäts-studien vermerken (im Gegensatz zum Anstieg der Lebenszeit-Prävalenz) von 1997 bis 2004 eine relativ konstante 12-Monats-Prävalenz von 12 bis 13 % unter den 12- bis 25-Jährigen. Dabei liegen die Werte der männlichen Jugend-lichen klar über den Werten der weiblichen Jugendlichen (2004: 17 % männ-

  • 798 Materialien zum 13. Kinder- und Jugendbericht

    lich, 10 % weiblich). Zugleich weist die Altergruppe der 16- bis 19-Jährigen mit 20 % die höchste 12-Monats-Prävalenz auf (vgl. BZgA 2004b, S. 14). Die BZgA-Daten von 2007 und 2008 lassen einen Rückgang des Cannabiskonsums vermuten. Die 12-Monats-Prävalenz für Cannabis sank bei den 18- bis 19-Jährigen von 18,4 % im Jahr 2004 auf 13,9 % im Jahr 2007 (vgl. BZgA 2007a, S. 10; BZgA 2008, 12). Diese Tendenz wird durch die ESPAD-Studie bestätigt (vgl. Kraus u. a. 2008, 113). Etwas höhere Werte ermittelt die KiGGS-Studie für die 17-Jährigen. Hier beträgt die 12-Monats-Prävalenz der Jungen 24,7 % und der Mädchen 14,5 % (vgl. Lampert/Thamm 2007, S. 605).

    Für die Abschätzung des Konsums illegaler Drogen stellt sich die Datenlage noch heterogener dar als für die legalen Substanzen Alkohol und Tabak. Ins-gesamt sind illegale Drogen unter männlichen Jugendlichen deutlich mehr verbreitet als unter weiblichen Jugendlichen. Sozioökonomische Unterschiede werden in den verschiedenen Studien nicht verzeichnet. Auch die Differenzen zwischen den Schultypen sind nicht eindeutig, wobei die höchsten Konsum-raten in Gesamtschulen berichtet werden (vgl. Kraus u. a. 2008, S. 97 und 104). Während im Verlauf der 1990er Jahre die Bereitschaft zu Drogenexperi-menten gestiegen ist, scheinen die Raten für den aktuellen Konsum relativ konstant zu bleiben. Und während die meisten illegalen Drogen bei Heran-wachsenden nur eine geringe Rolle spielen, hat sich Cannabis bei einer Minderheit der Jugendlichen (etwa 12 bis 18 %) als Alltagsdroge etabliert. Der bis 2004 vermutete Anstieg des Cannabiskonsums scheint sich dabei in den letzten Jahren nicht weiter fortzusetzen.

    2.4 Konsumbezogene Probleme und Suchtentwicklungen

    Neben der Analyse der Konsumtrends stellt sich die Frage, in welcher Weise daraus konsumbezogene Probleme resultieren und in welchem Ausmaß Sucht-entwicklungen im Kindes- und Jugendalter eine Rolle spielen. Einen ersten Anhaltspunkt liefert dafür die Krankenhausstatistik, die stationäre Aufenthalte nach unterschiedlichen Diagnosen auflistet. 2006 waren 124.246 Krankenhaus-aufenthalte in Deutschland durch Alkoholmissbrauch bedingt. Die Verteilung nach Altergruppen zeigt einen ersten Höhepunkt bei den 15- bis 20-Jährigen (15.854 Fälle). Danach gehen die Fallzahlen wieder zurück, um dann bis zu den 45- bis 50-Jährigen wieder anzusteigen, die mit 17.916 Fällen die höchste Fallzahl aufweisen (vgl. Statistisches Bundesamt 2007). Dieser Verlauf be-stätigt die Präferenz der 15- bis 20-Jährigen für das Rauschtrinken, das mit Überdosierungen und konsumbezogenen Unfällen einhergeht. Und er deutet an, dass die Hauptproblemgruppen in Bezug auf Alkoholabhängigkeit im mittleren Erwachsenenalter liegen. Die Zunahme von Alkoholexzessen bei den 10- bis 20-Jährigen lässt sich nach dem Drogen- und Suchtbericht von 2008

  • Sting: Suchtprävention im Kindes- und Jugendalter 799

    durch den Anstieg der Fallzahlen bei Krankenhauseinlieferungen von 9.500 Fällen im Jahr 2000 auf 19.500 Fälle im Jahr 2006 belegen (vgl. Drogenbeauf-tragte der Bundesregierung 2008, S. 11). Uhl u. a. bemerken dazu allerdings aus österreichischer Sicht, dass in den Anstieg auch „Artefakte“ eingehen wie z. B. eine differenziertere Diagnostik aufgrund der öffentlichen Sensibilisierung für das Thema „jugendliches Rauschtrinken“ oder eine höhere Wahrnehmbarkeit durch die Verlagerung der Alkoholexzesse vom privaten in den öffentlichen Raum (vgl. Uhl u. a. 2008).

    Krankenhausaufenthalte aufgrund des Missbrauchs anderer psychotroper Substanzen (v. a. illegale Drogen) sind mit insgesamt 16.281 Fällen im Jahr 2006 deutlich seltener. Die höchsten Fallzahlen weisen hier die 20- bis 25-Jährigen mit 2.449 Fällen auf, während die Zahlen mit höherem Alter kontinuierlich abnehmen. Diese Situation untermauert den „episodischen Charakter“ des Konsums illegaler Drogen (vgl. Kastner/Silbereisen 1988), der zwischen 20 und 25 Jahren seinen Höhepunkt erreicht (vgl. Statistisches Bundesamt 2007).

    Weitere Hinweise ergeben sich aus der Suchthilfestatistik. In der ambulanten Suchthilfe nehmen alkoholbezogene Störungen mit 55 % aller Fälle im Jahr 2006 den größten Stellenwert ein. Danach folgen opiatbezogene Störungen (21 %) und cannabisbezogene Störungen (13 %) (vgl. Sonntag u. a. 2007, S. 16f.). Der durchschnittliche Betreuungsbeginn bei alkoholbezogenen Störungen liegt bei 43,1 Jahren. Personen unter 28 Jahren mit Alkohol-problemen spielen in der ambulanten Suchthilfe nur eine geringe Rolle. Die jüngsten Klientengruppen sind Personen mit einer Cannabisdiagnose (durch-schnittlicher Betreuungsbeginn: 23,6 Jahre), und Personen mit einer Stimulanziendiagnose (durchschnittlicher Betreuungsbeginn: 25,3 Jahre). Bei opiatbezogenen Störungen liegt der durchschnittliche Betreuungsbeginn bei 32,3 Jahren (vgl. Sonntag u. a. 2007, S. 18f.). Die Daten zur stationären Sucht-hilfe bestätigen diese Tendenzen in Bezug auf die Verteilung der Alters-gruppen und die bevorzugten Substanzen (vgl. Sonntag u. a. 2007a, S. 50f.).

    Die Daten der Suchthilfestatistik zeigen, dass Suchtprobleme in Verbindung mit Alkohol für Jugendliche und junge Erwachsene noch wenig präsent sind. Eher geht es um konsumbezogene Unfälle und die Folgen von Über-dosierungen; die Hauptproblemgruppen in Bezug auf Alkoholabhängigkeit finden sich im mittleren und höheren Erwachsenenalter. Diese Situation stellt die Suchtprävention vor die Herausforderung, dass sich im Jugend- und jungen Erwachsenenalter zwar durchaus problematische Trinkgewohnheiten und Trinkmuster entwickeln können, dass die Folgen davon jedoch erst Jahre oder gar Jahrzehnte später manifest werden. Suchtprobleme in Verbindung mit illegalen Drogen werden bereits im jungen Erwachsenenalter manifest, wobei vor allem cannabisbezogene Störungen mit 13 % aller Fälle in der ambulanten

  • 800 Materialien zum 13. Kinder- und Jugendbericht

    Suchthilfe und 3,7 % aller Fälle in der stationären Suchthilfe eine nennens-werte Verbreitung erfahren haben (vgl. Sonntag u. a. 2007a, S. 51).

    Neben den substanzbezogenen Störungen liefert die Suchthilfestatistik auch Daten für substanzungebundene Suchtformen. Entsprechend der medizinischen Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-IV sind bisher „Ess-störungen“ und das „pathologische Glücksspiel“ als Krankheitsbilder an-erkannt. Essstörungen werden allerdings zu einem großen Teil außerhalb des Suchthilfesystems bearbeitet, so dass die Suchthilfedaten dazu wenig aussage-kräftig sind. Lindenmeyer bezweifelt, ob die Indikation „Essstörung“ eine Anbindung an das Suchthilfesystem rechtfertigt oder ob es sich nicht eher um eine „Fehlsteuerung von Patienten mit einer anderweitigen psychischen Störung handelt, bloß weil diese im Deutschen das Wort Sucht (…) enthält“ (vgl. Lindenmeyer 2007, S. 5). Vor diesem Hintergrund erscheint es mir legitim, auf Essstörungen im Rahmen der Suchtproblematik nicht weiter ein-zugehen.

    Meyer berechnet, dass das Glücksspiel einen enormen Wirtschaftsfaktor darstellt. Während sich die Gesamteinnahmen des Staates aus Glücksspielen im Jahr 2005 auf 4,254 Mrd. Euro belaufen, beträgt allein der Bruttoertrag aus Geldspielautomaten abzüglich Gewinnen 2,2 Mrd. Euro. Insbesondere Spiel-automaten und in geringerem Umfang das Glücksspiel in Spielbanken ver-fügen über ein hohes Suchtpotenzial. Die genaue Zahl der pathologischen Glücksspieler ist in Deutschland nicht bekannt. Nach einer groben Schätzung von Meyer soll es sich um 100.000 bis 170.000 Betroffene handeln (vgl. Meyer 2007, S. 112f.). Die Suchthilfestatistik von 2006 weist in der ambulanten Suchthilfe 2.998 Fälle auf; ihr Anteil ist seit mehreren Jahren mit 2% aller Fälle relativ konstant (vgl. Sonntag u. a. 2007, S. 31). In der stationären Suchthilfe werden 358 Patienten bzw. 1 % aller Fälle mit der Diagnose „pathologisches Spielverhalten“ registriert (vgl. Sonntag u. a. 2007a, S. 59). Der Blick auf die Geschlechterverteilung verdeutlicht, dass mit etwa 90 % der Fälle überwiegend Männer betroffen sind. Im Hinblick auf die Altersstruktur sind Personen ab 22 Jahren, in nennenswertem Umfang ab 28 Jahren, betroffen; der durchschnitt-liche Betreuungsbeginn liegt in der ambulanten Suchthilfe bei 37 Jahren, in der stationären Suchthilfe bei 39 Jahren. Das pathologische Glücksspiel stellt damit eine Problematik dar, die vor allem Männer ab dem mittleren Er-wachsenenalter betrifft, die sich allerdings schon im jungen Erwachsenenalter anbahnen kann.

    Neben den medizinisch anerkannten Suchtformen werden noch eine Reihe anderer Suchtformen öffentlichkeitswirksam diskutiert, über deren Ver-breitung und faktische Relevanz bisher noch wenig bekannt ist. Prinzipiell kann nach dem gegenwärtigen Verständnis von Sucht als „Extremverhalten“ fast jede Tätigkeit eine suchtförmige Gestalt annehmen, wobei die Grenze zwischen Normalität und Abweichung nur schwer zu ziehen ist. Das einzige

  • Sting: Suchtprävention im Kindes- und Jugendalter 801

    Feld, zu dem über die medizinisch diagnostizierten Suchtformen hinaus nennenswerte Daten vorliegen, ist die Internet- oder Onlinesucht. Die Kriterien dafür werden in Anlehnung an die Diagnose Alkoholabhängigkeit gebildet; allerdings gibt es bis heute keine eindeutige, allgemein anerkannte Definition. Hahn und Jerusalem bezeichnen Internetsucht „als eine moderne Verhaltensstörung und eskalierte Normalverhaltensweise im Sinne eines ex-zessiven und auf ein Medium ausgerichteten Extremverhaltens“ (Hahn/Jerusalem 2001, S. 283). Grüsser und Kollegen ergänzen diese Be-schreibung um das Merkmal des „zweckfremden Verhaltens“, d. h. dass die Nutzung des Internet zur (inadäquaten) Stressregulierung genutzt wird (vgl. Grüsser u. a. 2005, S. 6).

    Im Hinblick auf die Verteilung stellen Hahn und Jerusalem fest, dass die Datenlage bisher wenig zufrieden stellend ist. Die meisten Untersuchungen beruhen auf Online-Befragungen, denen Gelegenheitsstichproben zugrunde liegen. Dadurch ist eine überproportionale Beteiligung von vermeintlich Be-troffenen zu vermuten; zugleich werden meist mehr oder weniger willkürliche Kriterien herangezogen (vgl. Hahn/Jerusalem 2001, S. 284). In ihrer eigenen Studie gehen sie nach der Kontrolle dieser Fehlerquellen von einem Anteil von 3,2 % Internetsüchtigen und einer Risikogruppe von 6,6 % der befragten Nutzer aus. Internetsucht erscheint dabei vor allem als Jugendproblematik: Bei den unter 20-Jährigen gelten 7,2 % der Befragten als internetsüchtig und 10 % als gefährdet. Die Geschlechterverteilung ist altersabhängig; bei den unter 20-Jährigen sind die Männer etwas stärker vertreten, bei den 20- bis 29-Jährigen sind die Frauen etwas überrepräsentiert (vgl. Hahn/Jerusalem 2001, S. 286ff.).

    Grüsser und Kollegen führten eine schriftliche Befragung unter 323 Berliner Grundschülern der sechsten Klasse zur „exzessiven Computer-nutzung“ durch. 30 bzw. 9,3 % der befragten Kinder zeigten dabei ein auf-fälliges Computerspielverhalten (7 Mädchen und 23 Jungen). Diese Kinder scheinen den Computer im Unterschied zu den unauffälligen Nutzern eher zur Gefühlsregulierung und zum Stressabbau zu nutzen, während die Bereitschaft zur Kommunikation und zur Mitteilung von Gefühlen etwas geringer aus-geprägt ist als unter anderen Kindern (vgl. Grüsser u. a. 2005, S. 14ff.). Die Daten von Grüsser und Kollegen bestätigen die Tendenzen von Hahn und Jerusalem. Danach ist davon auszugehen, dass von einer Minderheit von Kindern und Jugendlichen die Nutzung des Computers und des Internets im Verlauf der Entwicklung auf inadäquate Weise zur Gefühls- und Stress-regulierung genutzt wird. Die Autoren weisen allerdings zu Recht darauf hin, dass die Kausalitätsrichtung ungeklärt ist und dass Formulierungen wie „nichtstoffgebundene Abhängigkeit“ insbesondere für das Kindesalter mit Vorsicht zu verwenden sind (vgl. Grüsser u. a. 2005, S. 19 und 21).

  • 802 Materialien zum 13. Kinder- und Jugendbericht

    3 Rausch, Sucht und Abhängigkeit

    Aus den Daten zum Substanzkonsum und zur Verbreitung von Suchtent-wicklungen unter Kindern und Jugendlichen geht hervor, dass Suchtprä-vention schon bei der Bestimmung ihres Problemfelds mit einer doppelten Schwierigkeit konfrontiert ist: Erstens ist unklar, bei welchen Formen des Substanzkonsums und bei welchen Formen exzessiven Verhaltens von Sucht gesprochen werden kann, da prinzipiell jedes Verhalten eine suchtförmige Gestalt annehmen kann und zugleich die Grenze zwischen normalem und süchtigem Verhalten schwer zu ziehen ist. Zweitens strebt niemand bewusst „Suchtverhalten“ an, sondern Sucht entsteht in einem meist langdauernden Prozess unter der Hand als Folge anderer Handlungsintentionen. Die Sucht-gefährdung muss also aus anders intendierten Handlungen und Alltagspraxen konstruiert werden. Schetsche erläutert am Beispiel der Internetsucht, dass den Betroffenen erst in einem Akt der Problemdeutung ihr Status als „Problem-opfer“ deutlich gemacht werden muss (vgl. Schetsche 2007, S. 122). Suchtprä-vention hat demnach mit einem geringen Problembewusstsein ihrer Adressaten zu rechnen. Insbesondere bei Kindern und Jugendlichen kann sie „nicht auf Bedrohungskognitionen als motivationaler Grundlage aufbauen“ (Petermann/Roth 2006, S. 134).

    Im Hinblick auf substanzbezogene Suchtformen muss zwischen Substanz-konsum und Sucht unterschieden werden. Heranwachsende verbinden mit dem eigenen Substanzkonsum in der Regel weder Suchtprobleme noch die Bewältigung von Alltagsproblemen, sondern überwiegend positive Assoziationen wie Neugier, Spaß, Genuss, Suche nach neuen Erfahrungen, high sein oder Geselligkeit (vgl. ÖBIG 2005, S. 14f.). Dass diese Einschätzung in den meisten Fällen durchaus realistisch ist, bestätigen Untersuchungen zur Persönlichkeitskonstitution von Substanzkonsumenten, die belegen, dass Jugendliche, die z. B. einen mäßigen Alkohol- oder Cannabiskonsum auf-weisen, keine Problemjugendlichen sind, sondern im Gegenteil eher Jugend-liche, die sich durch soziale Kompetenz und vielfältige soziale Kontakte aus-zeichnen (vgl. Fischer/Röhr 1999; Kleiber/Soellner 1998, S. 141).

    Heranwachsende streben mit dem Substanzkonsum nicht nach Sucht, sondern nach Rauscherfahrungen. Das Bedürfnis nach „Rausch“, nach aus dem Alltag herausgehobenen Erfahrungen, die gruppenbildende und gemein-schaftsstabilisierende Funktionen haben, scheint ein in allen Gesellschaften auffindbares Menschheitsphänomen zu sein (vgl. Sting 2004). Auch in unserer Gesellschaft spielt der Rausch eine bedeutende Rolle, was an der Ausbreitung der Kulturdroge Alkohol sichtbar wird. Doch seit den Anfängen der modernen Gesellschaft unterliegt er einer Tabuisierung, da er das Idealbild des nüchtern-autonomen und rational-abwägenden Menschen in Frage stellt (Schneider 1994, S. 30f.; Boikat 1993, S. 53f.).

  • Sting: Suchtprävention im Kindes- und Jugendalter 803

    Es gibt Indizien dafür, dass sich das Bedürfnis nach Rauscherfahrungen bei Jugendlichen im Kontext des gesellschaftlichen Wandels verstärkt. Dem Substanzkonsum wird schon seit längerem eine spezifische Funktionalität bei der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben im Jugendalter zugeschrieben: Z. B. kann er die Ablösung vom Elternhaus unterstützen, Zugang und Zuge-hörigkeit zu Gleichaltrigengruppen vermitteln, körperliche Selbst- und Grenz-erfahrungen ermöglichen, zur Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Wert- und Normvorstellungen führen und so zur Identitätsentwicklung beitragen (vgl. Kastner/Silbereisen 1988; Leppin u. a. 2000, S. 11). Jungaberle unter-scheidet eine Reihe von „motivationalen Grundthemen“ (z. B. Angstüber-windung, Neugier, Suche nach Grenzen, Zugehörigkeit, Auflehnung/Protest, Problembewältigung), die den jugendlichen Umgang mit psychoaktiven Sub-stanzen leiten. Rauscherfahrungen werden dabei gezielt herbeigeführt und zugleich mittels unterschiedlicher Strategien, die entweder „über ein System von Versuch und Irrtum angeeignet oder aus dem Peer-Kontext über-nommen“ werden, kontrolliert. Die vorherrschende Darstellung des Rauschs als „unkontrollierbar“ widerspricht der alltäglichen Erfahrung mit Alkohol und wirkt als Botschaft an Experimentier- oder Gelegenheitskonsumenten von illegalen Drogen demotivierend (vgl. Jungaberle 2007, S. 186 und 178). Eine Tübinger Studie zum jugendlichen Rauschtrinken zeigt, dass die Kontrolle des Alkoholkonsums ein wesentliches Moment der Organisation von Trinkereignissen darstellt (Institut für Erziehungswissenschaft 2008, 8).

    Rauscherfahrungen werden meist in spezifische Situationen und Gruppen-zusammenhänge (Settings) eingebettet und mit besonderen Erwartungs-haltungen und Stimmungen (Sets) wie Entspannung, Feiern, Spaß und Ge-selligkeit verknüpft, die die Substanzwirkung wesentlich beeinflussen. In Peer-groups findet eine „Sozialisation zur Droge“ statt, bei der Rituale für den Umgang mit Substanzen und Erklärungsmuster für Rauscherlebnisse weiter gegeben werden. Substanzkonsum kann als Aufnahmeritual und zur Markierung besonderer Situationen dienen (vgl. Blätter 2007, S. 84f.).

    Die Eigenschaft des Rauschs, temporäre Bewusstseinsveränderungen hervorzurufen, prädestiniert ihn für die Gestaltung von sozialen Übergängen und Statuspassagen (vgl. Bolle 1993, S. 143f.). Während in unserer Gesell-schaft allgemein verbindliche und gesellschaftlich vorgegebene Übergangs-rituale weitgehend an Bedeutung verloren haben, müssen Heranwachsende ihre Entwicklungsaufgaben im Rahmen einer selbsttätigen „Initiations- und Übergangsarbeit“ bewältigen (vgl. Schäfers 1998, S. 97ff.). Die Übergangs-arbeit erfolgt angesichts einer Vielfalt von Lebensoptionen zunehmend im „Selbstexperiment“. Der Rausch stellt dafür ein Vehikel dar. Er verhilft zu alltagstranszendierenden „Grenzüberschreitungen“ von begrenzter Dauer (vgl. Köpping 1997, S. 553), die meist in gemeinschaftliche Regeln und Handlungs-praktiken eingebettet sind (vgl. Sting 2004, S. 107ff.). Rauschrituale können als

  • 804 Materialien zum 13. Kinder- und Jugendbericht

    ein Element der Selbstinitiationsbemühungen Jugendlicher in eine plurale, dynamische Gesellschaft betrachtet werden. Jugendliche sollen wie Er-wachsene und trotzdem etwas Eigenständiges, Individuelles werden. Im Alkohol- oder Cannabisrausch z. B. können Jugendliche Erwachsensein und Anderssein gleichzeitig erfahren und ausleben. Zugleich tragen Rauschrituale zur jugendlichen Gemeinschaftsbildung und zur Selbstinitiation in Gleichaltrigengruppen bei. Sie stiften Zusammengehörigkeit und schaffen soziale Distinktionen (vgl. Bartsch 2007, S. 219). Sie bringen kollektive Ereig-nisse hervor, die eine identifikatorische Basis für gemeinsame Erfahrungen und Erzählungen bilden.

    Während beim größten Teil der Heranwachsenden Substanzkonsum und Rauscherfahrungen „im Kontext einer normativen Adoleszenzentwicklung“ zu betrachten sind und im Hinblick auf eine spätere Suchtgefährdung eher un-problematisch erscheinen, skizzieren Petermann und Roth daneben eine zweite Konsumpraxis, die sich nur bei wenigen Jugendlichen auffinden lässt, die als „Indikator für maladaptive Entwicklungsverläufe“ gesehen werden kann und die den Beginn einer Missbrauchs- oder Suchtproblematik andeutet (vgl. Petermann/Roth 2006, S. 116). Auch Jungaberle verweist auf einen „problematischen“ Konsumtypus, bei dem der Substanzkonsum weniger instrumentellen Strategien zur Erreichung von Entwicklungszielen folgt, als eine alternative Problembewältigungsstrategie bei unzureichenden biopsycho-sozialen Ressourcen darstellt (vgl. Jungaberle 2007, S. 185). Die Suchtprä-vention müsste sich dementsprechend in ihren Maßnahmen an der „ent-wicklungsbedingten bzw. adaptiven Form“ des Substanzkonsums orientieren, was die Mehrzahl der konsumierenden Jugendlichen betrifft, und zugleich spezifische Angebote für die kleine Gruppe von Problemkonsumenten ent-wickeln. „Die gegenwärtigen Programme orientieren sich jedoch eher an einem Defizitmodell und betrachten drogenkonsumierende Jugendliche nahezu aus-schließlich unter einer klinischen Perspektive“ (Petermann/Roth 2006, S. 116).

    Im Gegensatz zu Substanzkonsum und Rausch gelten „Sucht“ und „Ab-hängigkeit“ als eindeutig negativ besetzte Begriffe; sie bilden deshalb seit dem Wechsel von der Drogen- zur Suchtprävention in der ersten Hälfte der 1980er Jahre den Ausgangspunkt suchtpräventiver Bemühungen (vgl. Sting/Blum 2003, S. 15f.). Verhinderung von Sucht oder Abhängigkeit stellt die Kernauf-gabe der Suchtprävention dar, wobei Sucht seit dem Beginn des 19. Jahr-hunderts als medizinisch beschreibbare „Krankheit“ betrachtet wird (vgl. Spode 1993, S. 127ff.). Nolte weist nach, dass die „Krankheit Alkoholismus“ zum Leitmodell unserer heutigen „Sucht-Idee“ geworden ist, deren Elemente (progressiver Verlauf der Krankheit, Kontrollverlust, Abstinenz als therapeutisches Endziel, Gefahr des „Rückfalls“) auf andere Suchtformen übertragen werden (vgl. Nolte 2007, S. 53ff.). Dem Suchtverständnis wohnt damit eine Tendenz zur Steigerung, zum Verfall und zum Kontroll- und

  • Sting: Suchtprävention im Kindes- und Jugendalter 805

    Selbstverlust inne. Sucht wird heute unabhängig vom Substanzgebrauch als eine extreme oder exzessive Verhaltensweise verstanden, deren wesentliches Kriterium das „Nicht-mehr-aufhören-können“ bzw. die „zwanghafte Wieder-holung“ ist (Vief 1997, S. 891; Scheerer 1995, S. 35f.).

    Um eine wissenschaftlich präzise Diagnose und Behandlung von Sucht-problemen zu ermöglichen, ersetzte die WHO im Jahr 1964 den Suchtbegriff durch die Begriffe „psychische“ und „physische Abhängigkeit“. Die inter-nationalen medizinischen Klassifikationssysteme für die Bestimmung von Krankheiten (ICD-10 und DSM-IV) orientieren sich seither am Begriff der „Substanzabhängigkeit“. Die Kriterien für die medizinische Diagnose einer Abhängigkeitserkrankung beruhen dabei auf einer Weiterentwicklung der mit dem Suchtbegriff verbundenen Assoziationen. Nach DSM-IV müssen zur Diagnose einer Substanzabhängigkeit drei der folgenden sieben Kriterien er-füllt sein (vgl. Soellner 2000, S. 17): 1. Toleranzentwicklung und Dosissteigerung; 2. Entzugssymptome in konsumfreien Phasen; 3. stärkerer Konsum als intendiert; 4. Wunsch, den Konsum zu reduzieren oder einzustellen; 5. hoher Zeitaufwand zur Beschaffung und Beschäftigung mit der Substanz; 6. Einschränkungen wichtiger beruflicher und Freizeitaktivitäten; 7. anhaltender Konsum trotz wiederkehrender sozialer, psychischer oder

    körperlicher Probleme. Im öffentlichen wie im Fachdiskurs konnte sich die Begriffsbestimmung der WHO nicht durchsetzen. Sucht und Abhängigkeit werden heute weitgehend synonym verwendet (vgl. Paetzold 2006, S. 19), wobei beide Begriffe aus der Perspektive der Suchtprävention problematische Implikationen beinhalten. Der Begriff der „Substanzabhängigkeit“ befördert eine „pharmakozentrische Sichtweise“ (Scheerer 1995, S. 14), die die Droge mit ihren Wirkungen ins Zentrum rückt und die substanzungebundene Suchtformen unterschätzt. Zugleich wird die Orientierung an der Modellsucht Alkoholismus nicht auf-gegeben, was zur Unterbewertung von Suchtformen wie Tabakabhängigkeit oder problematischem Cannabiskonsum führt (vgl. Sting 2004a, S. 229). Darüber hinaus sind die Indikatoren der Klassifikationssysteme nicht neutral, sondern wert- und normabhängig (vgl. Dollinger/Schmidt-Semisch 2007, S. 11). Schließlich widerspricht die Möglichkeit der „Selbstheilung“, der abrupten selbstbestimmten Beendigung des Konsums, die neben dem Ausstieg aus dem Tabakkonsum vor allem bei Konsumenten illegaler Drogen im jungen Er-wachsenenalter auftritt und häufig mit biographischen Einschnitten wie Berufseintritt, Familiengründung oder beginnender Elternschaft einher geht

  • 806 Materialien zum 13. Kinder- und Jugendbericht

    (vgl. Weber/Schneider 1997, S. 253ff.), dem vorherrschenden Bild des zwang-haften und progressiven Krankheitsverlaufs.

    Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive wird gegen das vorherrschende, medizinisch dominierte Bild von Sucht und Abhängigkeit eingewendet, dass es als „self-fulfilling-prophecy“ das Selbsterleben und die Handlungsmöglich-keiten der Betroffenen präformiert und diesen kaum Chancen für eine selbst-tätige Überwindung ihrer Situation eröffnet (vgl. Dollinger/Schmidt-Semisch 2007; Nolte 2007, S. 53f.). Insbesondere der Begriff der Abhängigkeit legt einen „passiven, schicksalshaft zu erduldenden Krankheitsprozess“ nahe, während der Suchtbegriff zumindest noch aktive Anteile und Spielräume für Handlungsentscheidungen andeutet (vgl. Paetzold 2006, S. 20f.). Sucht-prozesse sind demgegenüber als komplexe und heterogene biographische Ver-läufe zu betrachten. Sie beinhalten ein ständiges Auf und Ab mit Höhepunkten und konsumfreien Phasen, das immer wieder Entscheidungsprozesse der Be-troffenen zulässt. Ähnlich vielfältig wie die Suchtentwicklungen sind die potentiellen Suchtursachen. Sie lassen sich im Schema des „Suchtdreiecks“ bzw. der „Trias der Suchtursachen“ verorten (vgl. Sting/Blum 2003, S. 33ff.) und errichten ein komplexes Raster, bestehend aus person-, umwelt- und substanzbezogenen Einflussfaktoren, aus dem je individuelle Konstellationen von Sucht abzuleiten sind. Suchtprävention hat es dementsprechend mit einem vielfältigen Bündel potenzieller Schutz- und Risikofaktoren zu tun. Zugleich gibt es keine vorab definierbaren Ursachenkomplexe, die unweigerlich zur Sucht führen, sondern die Frage, ob und wie Sucht entsteht, hängt jeweils auch von aktuellen Entscheidungen, Handlungsoptionen und Bewältigungsformen ab (vgl. Stein-Hilbers 2007, S. 41).

    4 Konzepte der Suchtprävention

    In der suchtpräventiven Praxis werden unterschiedliche Konzepte und Strategien verfolgt, die von verschiedenen Wirkungskonstellationen im Hin-blick auf Suchtentwicklungen und die Möglichkeit der Suchtvorbeugung aus-gehen. Am meisten verbreitet sind Strategien, die durch die Vermi t t lung von In f o rmat ionen und Wiss en über die Wirkungsweisen von Substanzen und über die Anzeichen und Gefahren von Sucht aufklären wollen. Die von der BZgA herausgegebene Dokumentation suchtpräventiver Aktivitäten in Deutschland (Dot.sys) im Jahr 2006 zeigt, dass von den 28.626 erfassten Aktivitäten 82 % der an Endadressatinnen und Endadressaten gerichteten und 74 % der an Multiplikatorinnen und Multiplikatoren gerichteten Maßnahmen dem Konzept der Informationsvermittlung zum Zweck der Bildung kritischer Einstellungen

  • Sting: Suchtprävention im Kindes- und Jugendalter 807

    folgten (vgl. BZgA 2007b, S. 17).1 Ein erheblicher Anteil davon (31 % aller dokumentierten Maßnahmen) konzentriert sich ausschließlich auf substanz-spezifische Informationen.

    Die klassische Aufklärungsstrategie, die auf die Rationalität von Argu-menten und eine rein kognitive Beeinflussung der Einstellungen und des Handelns setzt, wird häufig durch emotional ausgerichtete negative Bot-schaften bzw. „Furchtappelle“ ergänzt, die von unerwünschtem Verhalten abschrecken sollen (vgl. Sting/Blum 2003, S. 70f.). Die erfolglosen Versuche einer auf drastische und langfristige Schädigungen ausgerichteten „ab-schreckenden Information“, deren eher kontraproduktive Wirkungen in der Suchtprävention bei Kindern und Jugendlichen spätestens seit Anfang der 1980er Jahre bekannt sind (vgl. Franzkowiak/Sabo 1999, S. 90f.), weichen heute Hinweisen auf alltagsnahe, unmittelbar erlebbare Folgeprobleme (z. B. Gefahren im Straßenverkehr, gelbe Zähne und unattraktiver Geruch beim Rauchen; vgl. Künzel-Böhmer 1993, S. 53; Barth/Bengel 1998, S. 122f.; Laaser/Hurrelmann 1998, S. 400). Dennoch belegen Evaluationen, dass reine Informationsstrategien relativ wirkungslos sind. In Kombination mit anderen Konzepten wird ihnen eine verstärkende Wirkung zugesprochen (vgl. Bühler/Kröger 2006, S. 61). Aus einer übergreifenden gesundheitsfördernden Perspektive erschient das Operieren mit Angst und Abschreckung fragwürdig, da es durch eine Überzeichnung von Risiken und Gefahren einer positiven, auf Selbstvertrauen, Autonomie und Kohärenz basierenden Entwicklung von Kindern und Jugendlichen entgegen steht.

    Ein weit verbreitetes Konzept sind Aktivitäten zur Lebenskompe t enz -f ö rde rung , die auf die Stärkung von Selbstwert und Selbstwirksamkeit, auf die Förderung sozialer und kommunikativer Kompetenzen sowie auf Widerstands-fähigkeit und Bewältigungsfertigkeiten zielen. Von den im Dot.sys 2006 dokumentierten Aktivitäten folgten 58 % der an Endadressatinnen und Endadressaten gerichteten und 41 % der an Multiplikatorinnen und Multi-plikatoren gerichteten Maßnahmen diesem Konzept (vgl. BZgA 2007b, S. 17).2 Lebenskompetenzprogramme werden bereits bei Kleinkindern sowie im familiären Kontext eingesetzt; sie gelten für die Primärprävention im Vorfeld von Konsumerfahrungen oder potenziellen Suchtentwicklungen als geeignet, werden aber auch im Jugendalter (insbesondere in schulischen Kontexten) umgesetzt. Als Beitrag zu einer positiven Entwicklung können sie ein be-

    1 Dot.sys erfasste die Aktivitäten von 62 % der hauptamtlich in der Suchtprävention tätigen Fachkräfte. Die Ergebnisse sind damit nicht vollständig, sondern sie zeigen nur Tendenzen auf. Viele der Maßnahmen werden in Kooperation mit anderen Institutionen, z. B. aus der Kinder- und Jugendhilfe, durchgeführt. Suchtpräventive Maßnahmen, die ausschließlich im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe stattgefunden haben, sind jedoch nicht erfasst. 2 Durch die multidimensionale Ausrichtung vieler Maßnahmen, bei der verschiedene konzeptionelle Ansätze miteinander verknüpft werden, ergibt sich eine Summe von mehr als 100 %.

  • 808 Materialien zum 13. Kinder- und Jugendbericht

    reicherndes Element von Erziehungs- und Bildungsprozessen sein. Eine Reihe von Lebenskompetenzprogrammen (z. B. „Papillio“ für den Kindergarten, „Erwachsen werden“ für das Grundschulalter, „WeltTraumfahrer“ für Kinder und Jugendliche) enthalten spielerische und kreative Anteile, die generelle Anstöße für eine gelingende pädagogische Arbeit liefern. Lebenskompetenz-förderung deckt sich in diesen Fällen mit „guter Erziehung“ insgesamt (vgl. Institut Suchtprävention 2002, S. 28). Daneben existieren spezifische Programme, die aus lerntheoretisch und verhaltenspsychologisch fundierten Trainingseinheiten bestehen. Derartige Maßnahmen erfordern ein curricular strukturiertes, formales Bildungssetting; für den Bereich der Kinder- und Jugendhilfe sind sie daher weniger geeignet.

    Evaluationen zur suchtpräventiven Wirkung von Lebenskompetenzpro-grammen sind bisher ernüchternd. Quensel weist in einer breit angelegten Metaanalyse ihre relative Wirkungslosigkeit nach (vgl. Quensel 2004, S. 24ff.). Die Ineffektivität zeigt sich vor allem dann, wenn „Drogendistanz“ und „Abstinenzverhalten“ als Erfolgskriterien herangezogen werden. Dem-gegenüber kann z. B. die Förderung von Selbstwert und Unabhängigkeit den Substanzkonsum zumindest kurzfristig erhöhen (vgl. Quensel 2004, S. 31f.). Ein weiteres Problem stellt die implizite Defizitorientierung vieler Prä-ventionsmaßnahmen dar, die Substanzkonsum ebenso wie Sucht als Ausdruck von Kompetenzdefiziten und unangemessenem Bewältigungsverhalten be-trachten. Stattdessen muss die entwicklungsbezogene Funktionalität des Substanzkonsums im Rahmen der „normalen Adoleszenzentwicklung“ zur Kenntnis genommen werden. Zugleich stellen Petermann und Roth fest, dass es sich z. B. bei der Präventionskomponente „Selbstwertgefühl“ um ein relativ zeitstabiles Persönlichkeitsmerkmal handelt, dessen Stärkung eine lang-dauernde pädagogische Einflussnahme und eine vertrauensvolle Beziehung erfordert (vgl. Petermann/Roth 2006, S. 96). Lebenskompetenzförderung muss daher als Impuls für längerfristige Erziehungs- und Bildungsprozesse betrachtet werden, der spezifische Sensibilitäten und neue Akzentuierungen in der pädagogischen Arbeit von Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen hervor-bringen kann, der sich aber nicht selbst genügt.

    Eine weitere konzeptionelle Orientierung stellt das Konzep t d e r Ris iko -a l t e rna t i v en dar, das vor allem in der Suchtprävention mit Jugendlichen zur Anwendung kommt. Petermann und Roth halten das Bereitstellen „alternativer Handlungsmöglichkeiten“ für die geeignetste Form der Suchtprävention im Jugendalter (vgl. Petermann/Roth 2006, 1S. 35f.). Dot.sys rechnet 2006 29 % der an Endadressatinnen und Endadressaten gerichteten und 10 % der an Multiplikatorinnen und Multiplikatoren gerichteten Aktivitäten dem Konzept der „alternativen Erlebnisformen“ zu (vgl. BZgA 2007b, S. 17). Aufgrund seiner Erlebnis- und Aktivitätsorientierung bietet dieser Zugang vielfältige Einsatzmöglichkeiten in der Jugendarbeit oder in den erzieherischen Hilfen.

  • Sting: Suchtprävention im Kindes- und Jugendalter 809

    Er zielt zum einen auf Handlungsbefähigung und handlungsorientierte Kompetenzen und steht in dieser Hinsicht den Lebenskompetenzprogrammen nahe. Zum anderen geht es um Grenzerprobungen, um das Ermöglichen neu-artiger Selbst- und Welterfahrungen und um die Vermittlung von Gruppen-erlebnissen, was spezifische Funktionalitäten des Substanzkonsums aufgreift (vgl. Sting/Blum 2003, S. 73ff.). Die Stärke dieses Konzepts ist seine hohe motivationale Komponente; durch die Attraktivität der Angebote können sonst für die Suchtprävention schwer zugängliche Zielgruppen erreicht werden. Evaluationen zur suchtpräventiven Wirkung sind aufgrund der Breite des Zugangs schwierig. Das Konzept scheint u. a. dann Chancen zu bieten, wenn die Adressatinnen und Adressaten in die Planung und Durchführung der Maßnahmen einbezogen werden und wenn der Erwerb von Kompetenzen Teil der Maßnahme ist (vgl. Bühler/Kröger 2006, S. 62).

    Neben den bisher skizzierten primärpräventiven Konzepten gibt es mittler-weile einige sekundärpräventive Zugänge, die sich vor allem an riskant konsumierende Jugendliche und junge Erwachsene richten. Es handelt sich dabei um Konzep t e zur Frühe rkennung und – in t e r v en t i on sowie um Konzep t e zur Schadensmin imie rung . Nach wie vor ist die offene Kommunikation über Substanzkonsum zwischen Jugendlichen und pädagogischen Fachkräften in der Kinder- und Jugendhilfe selten. Zugleich sind konsumerfahrene Heran-wachsende durch Angebote der primären Suchtprävention kaum zu erreichen, und sie sind in Beratungsstellen unterrepräsentiert. Zur Schließung dieser „Versorgungslücke“ sind in den letzten Jahren verschiedene Ansätze ent-wickelt worden. Dot.sys rechnet im Jahr 2006 29 % der an Endadressatinnen und Endadressaten und 23 % der an Multiplikatorinnen und Multiplikatoren gerichteten suchtpräventiven Maßnahmen dem Bereich der Früherkennung und -intervention zu. 63 % der Maßnahmen wurden im schulischen Kontext realisiert, 17 % in der Jugendarbeit und 10 % in der Familie (vgl. BZgA 2007b, S. 17ff.).

    Interessant für die Kinder- und Jugendhilfe sind Zugänge, die weniger auf indikatorengestützte Screenings und Kontrolle als auf Partizipation und kritische Selbstreflexion setzen. Dazu dienen z. B. Selbsttests zur Ein-schätzung des eigenen Konsumverhaltens (zu Alkohol und Cannabis über die an Jugendliche gerichtete Homepage www.drugcom.de der BZgA zugänglich) oder Interventionen, die zur Verhaltensänderung motivieren sollen, wie das Frühinterventionsverfahren MOVE (vgl. Marzinzik/Fiedler 2005). Darüber hinaus existieren Ansätze zur Schadensminimierung („harm reduction“), die sich an drogennahe Szenen und intensiv konsumierende Personengruppen richten und darauf abzielen, mit dem Substanzkonsum verbundene Gesund-heitsgefährdungen und Unfälle zu reduzieren. Es geht dabei um die Ver-mittlung von Konsumregeln und -riten und um konsumbezogenes Er-fahrungswissen, was häufig mit der Reflexion eigener Konsumerfahrungen,

  • 810 Materialien zum 13. Kinder- und Jugendbericht

    einer Parteilichkeit für Konsumenten und einer Nähe zur Lebenswelt von Konsumentengruppen einher geht.

    Sekundärprävention erfordert im Rahmen der Jugendhilfe ein akzeptanz-orientiertes Umfeld, das eine offene Auseinandersetzung mit Konsum-erfahrungen und Konsumgewohnheiten zulässt. Obwohl Jugendliche und junge Erwachsene gerade im Hinblick auf Erfahrungsbereiche wie den Substanzkonsum „hoch ambivalent“ mit der Beratung durch Erwachsene wie mit konsumbedingten Problemen umgehen, zeigt z. B. die Evaluation von MOVE, dass ein großer Teil der Beratungsgespräche von den Jugendlichen selbst initiiert wurde (vgl. Marzinzik/Fiedler 2005, S. 137), oder zeigen Aktivi-täten zur Schadensminimierung, dass der Informations- und Gesprächsbedarf über Konsumerfahrungen prinzipiell hoch ist (vgl. Schneider/Stöver 2000, S. 27ff.). Eine Schwierigkeit der Sekundärprävention stellt die Bestimmung des „Umschlagspunkts“ vom normalen, entwicklungsangepassten Substanz-gebrauch zum gesundheitsgefährdenden Missbrauch dar, bei dem konkrete Unterstützungsmaßnahmen erforderlich sind (vgl. Schmidt 1998, S. 17). Daneben existieren rechtliche Unsicherheiten, vor allem im Umgang mit dem Konsum illegaler Drogen, die einer Tabuisierung der Auseinandersetzung mit Konsumerfahrungen Vorschub leisten.

    Eine Verbindung von primär- und sekundärpräventiven Zugängen findet sich in Konzepten, die Suchtprävention als Elemen t e ine r übe r g r e i f enden Erz i ehung s - und B i ldung sa rb e i t begreifen. In diese Perspektive können zum einen Aktivitäten zur Kompetenzförderung sowie zur Konsum- und Genuss-erziehung einfließen und zum anderen Bestrebungen zur Reflexion von Konsumerfahrungen und zur Verbreitung konsumbezogenen Wissens. Im Hinblick auf die Arbeit in Kindertageseinrichtungen ist dazu z. B. notwendig, dass der in den verschiedenen „Bildungsplänen“ verankerte Bildungsbereich „Gesundheit“ nicht angesichts einer Vorverlagerung von Qualifikations- und Leistungsansprüchen zur bloßen Worthülse verkommt, sondern dass das Wohlbefinden der Kinder und eine gesundheitsförderliche Alltagspraxis zu re-levanten Orientierungen in der pädagogischen Arbeit werden. In der Arbeit mit Jugendlichen gibt es inzwischen einzelne Vorschläge, wie Substanzkonsum und Suchtgefährdung zu einem pädagogischen Thema gemacht werden können. Wieland hat schon vor einigen Jahren im Bereich der Erziehungs-hilfen für eine explizite „Drogenerziehung“ plädiert, die die vorhandene Tabuisierung durch eine offensive Thematisierung von Drogen- und Alkohol-erfahrungen ersetzen soll (vgl. Wieland 1997). Sturzenhecker hat diesen Ansatz für die Jugendarbeit weiter entwickelt und durch eine geschlechts- und substanzspezifische Komponente präzisiert (vgl. Sturzenhecker 2001). Franzkowiak und Sabo setzen auf die Vermittlung von „Risikokompetenz“ und auf eine pädagogische Risikobegleitung, die Erkenntnisse aus der Schadensminimierung für die Gesamtgruppe der Jugendlichen anwendet (vgl.

  • Sting: Suchtprävention im Kindes- und Jugendalter 811

    Franzkowiak/Sabo 1999); und Quensel hat in ähnlicher Weise eine „Erziehung zur Drogenmündigkeit“ entwickelt, die die Verbreitung von drogen- und konsumbezogener Information mit dem Aufbau einer Vertrauensbasis und dem Engagement für eine demokratisch-emanzipatorische Grundorientierung verknüpft (vgl. Quensel 2004, S. 252ff.).

    Diese Ansätze machen deutlich, dass Suchtprävention in der Kinder- und Jugendhilfe nicht isoliert betrachtet werden sollte, sondern dass sie einen Be-standteil und eine besondere Sensibilität im Rahmen der allgemeinen Erziehungs- und Bildungsarbeit darstellt. Negativ ausgerichtete, kontrollierend-repressive Zugänge sind inzwischen positiven, entwicklungs-förderlichen Konzepten gewichen, in denen die selbsttätige, selbstreflexive Auseinandersetzung mit Konsumerfahrungen und Suchtgefährdungen sowie die partizipative, auf Vertrauen beruhende Beschäftigung mit den Anliegen von Kindern und Jugendlichen eine zentrale Rolle spielen.

    5 Suchtprävention in Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe

    Suchtpräventive Arbeit hat sich inzwischen für alle Lebensalter und für sehr unterschiedliche Zielgruppen etabliert. Dementsprechend liegt für Ein-richtungen der Kinder- und Jugendhilfe eine breite Palette an Angeboten und Erfahrungen aus den jeweiligen Settings vor. Hierzu einen umfassenden Über-blick zu geben, ist aufgrund der Vielzahl von Projekten und Aktivitäten un-möglich. Daher können im Folgenden nur Trends und Beispiele aus den aus-gewählten Handlungsfeldern Kindertageseinrichtungen, Schulen, Kinder- und Jugendarbeit und Erziehungshilfen vorgestellt werden.

    5.1 Kindertageseinrichtungen

    Seit der Einsicht, dass eine effektive Suchtprävention möglichst frühzeitig und langfristig ansetzen sollte, gerät der Kindergarten zunehmend ins Blickfeld suchtpräventiver Aktivitäten. Hier kann von einer Prävention ausgegangen werden, die tatsächlich im Vorfeld jeglicher Suchtgefährdung angesiedelt ist. Zugleich bieten Kindertageseinrichtungen die günstigsten Voraussetzungen, auch die Eltern zu erreichen und damit die Familien für das Anliegen der Suchtvorbeugung zu sensibilisieren.

    Suchtprävention im Kindergarten verfährt in der Regel substanz- und suchtunspezifisch. Sie verfolgt einen positiven, entwicklungs- und kompetenz-fördernden Zugang. Ihren Ausgang nahm sie in Deutschland 1992 in

  • 812 Materialien zum 13. Kinder- und Jugendbericht

    Nürnberg, wo inzwischen ein breites Maßnahmebündel, bestehend aus den Medien- und Materialpaketen „Flirpse“ und „Bruno“, aus Multiplikatoren-Fortbildungen für Erzieherinnen, Erzieher und Eltern, aus einem Projekt-handbuch für Erzieherinnen/Erzieher, einem Eltern-Handbuch, einem such t -p räven t i v en Arbe i t skre i s „Nürnberger Kindertagesstätten“ etc., erarbeitet worden ist (www.kommunale-suchtpraevention.de 2008). Eine Besonderheit besteht in Nürnberg darin, dass die Koordinationsstelle Suchtprävention ex-plizit auf den präventiven Auftrag des SGB VIII Bezug nimmt und konzeptionell in der Kinder- und Jugendhilfe verankert ist (vgl. Kammerer 1996).

    Im Zentrum der suchtpräventiven Arbeit in Kindertageseinrichtungen stehen spielerische Projekte, die der Förderung sozialer und kommunikativer Kompetenzen sowie der Wahrnehmungs- und Sinnesschulung dienen. Bei-spiele dafür sind Projekte wie „Sinnesparcours“, „Sensomobile“ oder „Sinnenfeld“ für den Bereich der Sinnes- und Wahrnehmungsförderung bzw. „Fit und stark durchs Leben“ oder „Papillio“ für den Bereich der umfassend ausgerichteten Kompetenzförderung.3 „Papillio“ ist das derzeit am weitesten verbreitete Programm für Kindergärten, das vom beta-institut in Augsburg entwickelt worden ist. Es zielt auf die „Förderung prosozialen Verhaltens und sozial-emotionaler Kompetenz“, wobei die Maßnahmen auf der Kinderebene durch ErzieherInnenschulungen und themenspezifische Elternabende ergänzt werden (www.papillio.de 2008). Auch in anderen Projekten (z. B. „Vorbeugen ist besser als Heilen“ im Landkreis Oder-Spree) werden Eltern in Form von Elternabenden, Elternbriefen, Infoveranstaltungen und Fortbildungen ein-bezogen.

    Einen spezifischen Ansatz stellt das Konzept des „spielzeugfreien Kinder-gartens“ dar, nach dem für eine begrenzte Zeit (etwa drei Monate) auf herkömmliches Spielzeug verzichtet wird und die Kinder zur Tagesgestaltung auf Alltagsmaterialien, eigene Kreativität und soziale Kooperation verwiesen werden. Die Kompetenzförderung wird um eine kritische Auseinandersetzung mit dem Konsumverhalten erweitert, die neben den Kindern auch auf Eltern, Erzieherinnen und Erzieher Auswirkungen hat (www.spielzeugfreierkinder garten.de, 2008). Ein besonderes Thema sind „Kinder aus (sucht-)belasteten Lebensgemeinschaften“, für die in den letzten Jahren eine Reihe von Arbeits-ansätzen und Hilfestellungen entstanden sind. In einigen Regionen sind zu dem Zweck Multiplikatorinnen-/Multiplikatoren-Fortbildungen durchgeführt worden; zugleich gibt es Bestrebungen die Hilfestrukturen durch Kooperation und Vernetzung zu verbessern (z. B. „Vernetzte Hilfe für Kinder in Sucht-

    3 Kurze Projektbeschreibungen zu suchtpräventiven Aktivitäten finden sich im von der BZgA eingerichteten, bundesweiten Internetprotal www.prevnet.de. Weitere Projekte sind in der Inter-netplattform www.gesundheitliche-chancengleichheit.de (Plattform „Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten“) verzeichnet.

  • Sting: Suchtprävention im Kindes- und Jugendalter 813

    familien“ in Bremen, „Connect“ in Hamburg; vgl. Baumgärtner/Scharping 2006). Einen umfassenden Arbeitsansatz zu diesem Problemfeld liefert „MAKS“ („Modellprojekt Arbeit mit Kindern von Suchtkranken“) in Freiburg, wo Gruppenangebote für Kinder und Jugendliche aus Suchtfamilien, Schwangerenberatung, Beratung für Eltern mit Kleinkindern, Mutter-Kind-Spielgruppen, Ferienfreizeiten, Infoveranstaltungen u. a. durchgeführt werden (vgl. www.maks-freiburg.de 2008).

    Suchtprävention in Kindertageseinrichtungen ist zwar nur in einzelnen Ein-richtungen etabliert, aber es existieren inzwischen vielfältige Ansätze. Dot.sys verzeichnet für das Jahr 2006, dass 6 % aller dokumentierten Suchtprä-ventionsmaßnahmen in Kindertageseinrichtungen durchgeführt wurden (vgl. BZgA 2007b, S. 31). Durch ihren spielerischen Charakter wird Suchtprä-vention in Kindertageseinrichtungen meist gut angenommen. Sie stellt eine Bereicherung und spezifische Sensibilisierung in der pädagogischen Arbeit dar und eröffnet Zugänge zu Eltern und Familien. Um die Gefahr der Stigmatisierung und einer frühzeitigen Defizitorientierung in der Beobachtung der Entwicklungsverläufe von Kindern zu vermeiden, erscheint es jedoch unumgänglich, dass Suchtprävention in dieser Lebensphase konsequent eine positive, ressourcen- und kompetenzorientierte Vorgehensweise verfolgt.

    5.2 Schulen

    Der größte Teil der suchtpräventiven Aktivitäten (44 % der in Dot.sys dokumentierten Maßnahmen) findet in Schulen statt. Der schulische Kontext bildet eine breite Projektionsfläche für Hoffnungen auf eine kontinuierliche Suchtpräventionsarbeit, mit der Kinder und Jugendliche aller Altersklassen und aller sozialer Schichten über einen langen Zeitraum hinweg erreicht werden können. Verschiedene Evaluationen zeigen, dass diese Hoffnung trügerisch ist. Ähnlich wie die schulischen Bildungsangebote insgesamt spricht auch schulische Suchtprävention Schülerinnen und Schüler höchst selektiv an: Mädchen werden eher erreicht als Jungen, Jugendliche ohne Konsum-erfahrungen sind ansprechbarer als bereits konsumierende Jugendliche, und Gymnasiasten werden häufiger mit Suchtprävention konfrontiert als Haupt-schülerinnen und Hauptschüler. Bauer bringt ein „Präventionsdilemma“ zum Vorschein, dass darin besteht, dass „Heranwachsende in sozial benachteiligter Lebenslage von einem erhöhten Risiko der Ausbildung selbst- und fremd-schädigender Verhaltensweisen betroffen sind“, „die Erreichbarkeit dieser Klientel mit Angeboten der Gesundheitsförderung“ aber „besonders defizitär“ ist (Bauer 2005, S. 14).

    Die Schule ist keine Institution der Kinder- und Jugendhilfe, allerdings sind zum Zweck der Suchtprävention sinnvolle Kooperationen – z. B. mit Ein-

  • 814 Materialien zum 13. Kinder- und Jugendbericht

    richtungen der Jugendarbeit oder mit der Schulsozialarbeit – denkbar. Die meisten schulischen Suchtpräventionsprogramme sind unterrichtsbezogen. Wenn Kooperationspartner einbezogen werden, kommen sie in der Regel aus dem Bereich des Gesundheitswesens oder der Suchthilfe. Die Projektdaten-banken „Prevnet“ (www.prevnet.de) und „Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten“ (www.gesundheitliche-chancengleichheit.de) enthalten nur wenige Projekte, in denen eine Kooperation mit Jugendeinrichtungen vermerkt ist. In einigen Fällen werden Jugendeinrichtungen in gemeinsame Aktionstage oder -wochen eingebunden (z. B. in die Aktionswoche „Jugend und Alkohol“ in Berlin-Neukölln), oder sie sind Partner in Netzwerken zur Unterstützung von Kindern aus belasteten Lebensgemeinschaften (z. B. in Hannover oder Euskirchen). Ebenso erfolgt die Ausbildung von Schülermentoren oder Schülermultiplikatoren z. T. in Kooperation mit dem Jugendamt bzw. mit Jugendfreizeiteinrichtungen (z. B. „Aktive Teens“ in Dortmund).

    Die Einbeziehung der Schulsozialarbeit wird in den Projektdarstellungen nicht explizit erwähnt. Gerade Schulsozialarbeit kann jedoch meiner Ein-schätzung nach einen wichtigen Beitrag zur präventiven Arbeit an Schulen liefern. Die Bereitstellung niedrigschwelliger Beratungs- und Unterstützungs-angebote an Schulen hat per se einen präventiven Effekt; zugleich bietet sie Chancen für die Umsetzung von Früherkennungs- und Frühinterventionsmaß-nahmen und zur Hilfestellung für Schülerinnen und Schüler mit auffälligem Konsumverhalten. Darüber hinaus kann Schulsozialarbeit an der Begleitung von Peer-Multiplikatoren und an der Umsetzung suchtpräventiver Projekte mitwirken sowie Aktivitäten zur Umsetzung einer gesunden und schüler-orientierten Schule befördern. Vor diesem Hintergrund stellt sie einen ge-eigneten Rahmen zur Effektivierung der schulischen Suchtprävention dar.

    5.3 Jugendarbeit

    Die „Jugendarbeit“ ist mit 15 % aller im Jahr 2006 in Dot.sys registrierten Maßnahmen das zweitwichtigste Setting der Suchtprävention (vgl. BZgA 2007b, S. 31). Das Spektrum suchtpräventiver Aktivitäten ist sehr breit. Einzelne Programme werden gleichermaßen in Schulen und in Jugendfreizeit-einrichtungen eingesetzt (z. B. „blueboys“, ein Planspiel für Jungen zu Alkoholkonsum und Sozialkompetenz aus Mülheim oder das Aktionspaket „Rauschbrille“ aus Erding). Insgesamt liegt der Schwerpunkt stärker auf erleb-nisorientierten und auf zielgruppenspezifischen Maßnahmen; entsprechend seiner Verbreitung spielt das Thema Alkohol in den letzten Jahren eine zentrale Rolle.

    Einige Angebote haben die Verbreitung alkoholfreier Getränke und Cock-tails (z. B. „Saftladen“ in Dresden, „Juice Box“ in Hessen, „Saftmobil“ in

  • Sting: Suchtprävention im Kindes- und Jugendalter 815

    Bayern) oder die Förderung des Nichtrauchens (z. B. Raucherentwöhnungs-kurse, Tabakbannmeile) zum Ziel. Eine Reihe von Projekten bieten alternative Erlebnisformen und die Förderung darauf bezogener Handlungskompetenzen an – entweder im kreativen Bereich (z. B. „Kunstrausch“ in Hamburg, „Erleb-niswelten“ in Hildesheim, „Trash Drumming“ in Hannover) oder im sport-lichen Bereich (z. B. Kletterworkshops). Einzelne Aktionen richten sich an spezifische Zielgruppen: MIA („Mädchen in Aktion“) in Oldenburg z. B. zielt auf die Stärkung des Selbstbewusstseins und der Körperwahrnehmung bei Mädchen; „Sozialkompetenz für Jungen“ versucht mittels Kooperations- und Bewegungsspielen das soziale Miteinander in Jungen-Peergroups zu verbessern (Hannover); das „Boxprojekt“ in Wildeshausen wendet sich speziell an jugend-liche Aussiedler und „Basketball bis Mitternacht“ orientiert sich stadteilbezogen an Jugendlichen mit Migrationshintergrund und an sozial Be-nachteiligten (Rheinberg).

    Zunehmend finden sich auch sekundärpräventive Maßnahmen zur Schadensminimierung und zur Früherkennung und -intervention. Die Maß-nahmen variieren von eher freizeitorientierten, freiwilligen Aktionen bis zu repressiven, auf Weisung des Jugendrichters veranlassten Auflagen. So gibt es szenenahe Projekte, oft mit Peer-Einbindung, zur Schadensminimierung vor Ort, in Discos oder auf Partys, wie z. B. die „Drugscouts“ in Leipzig oder die „Aktion Klarfeiern!“ in Bayern. Ein zielgruppenspezifisches Projekt für Jungen mit riskantem Alkoholkonsum stellt das von Sturzenhecker entwickelte Konzept der „beer education“ dar, das mittels ästhetischer Gestaltungen zur Reflexion der Bedeutung von Männlichkeitsvorstellungen für das Konsumver-halten anregt (vgl. Sturzenhecker 2001). An Jugendliche mit auffälliger Alkoholintoxikation richtet sich das Bundesmodellprojekt „HaLT“ („Hart am Limit“), das einerseits systematische Hilfe nach Krankenhauseinlieferungen bietet und das andererseits in Kooperation mit kommunalen Einrichtungen verschiedene Ansätze zur Frühintervention verfolgt (z. B. Gruppenangebote zur motivierenden Kurzintervention in Jugendeinrichtungen; vgl. Drogen-beauftragte der Bundesregierung 2008, S. 60). Darüber hinaus existieren Reflexionsgruppen oder soziale Trainingskurse für Konsumentinnen und Konsumenten von Cannabis und anderen illegalen Drogen mit ver-pflichtendem Charakter (z. B. durch Pr i sma in Hannover).

    Spezifische Frühinterventionsprogramme wie das bereits beschriebene Programme „MOVE“ („Motivierende Kurzintervention für konsumierende Jugendliche“) oder die auf den Konsum illegaler Drogen oder/und Alkohol ausgerichteten Programme „FreD“ („Frühintervention bei erstauffälligen Drogenkonsumenten“), „FreDplus“ und „FreSko“ („Früherkennung bei riskantem Suchtmittelkonsum“) werden im Rahmen von Multiplikatorinnen-/Multiplikatoren-Fortbildungen verbreitet und in einzelnen Einrichtungen der Jugendhilfe (zum Teil auf Weisung einer/eines Jugendrichterin/-richters)

  • 816 Materialien zum 13. Kinder- und Jugendbericht

    realisiert. Schließlich finden sich zielgruppenspezifische Streetwork-Angebote der Jugendsozialarbeit (meist in Kooperation mit Suchthilfeeinrichtungen) wie z. B. „Roadrunner“ in Essen, das von einem sozialräumlichen Ansatz aus-gehend mobile Beratung für jugendliche Risikogruppen wie Wohnungslose, jugendliche Prostituierte etc. anbietet, oder das von der BZgA initiierte bundesweite Projekt „Na Toll!“, das mit Hilfe von Peers riskant Alkohol konsumierende Jugendliche und junge Erwachsene in Ferienhochburgen und auf Jugendevents anspricht.

    Das Angebot an Suchtpräventionsmaßnahmen in der Jugendarbeit ist viel-fältig und nahezu unüberschaubar. Neben allgemein kompetenzfördernden und erlebnisorientierten Aktivitäten gibt es eine ganze Reihe von Hand-reichungen und Hilfestellungen, um die lange Zeit tabuisierten Themen des Alkohol- und Drogenkonsums gezielt anzusprechen und bei auffälligem Ver-halten zu intervenieren. Insbesondere zum Bereich Alkohol sind in den letzten Jahren zahlreiche Projekte entstanden. Die suchtpräventive Arbeit kann dann zu einer gesundheitsbezogenen Sensibilisierung und Präzisierung der Jugend-arbeit beitragen, wenn sie in eine übergreifende Entwicklungs- und Bildungs-förderung eingebettet wird. Problematisch ist demgegenüber die bereits von Lindner und Freund kritisierte Ausbreitung einer Präventionsorientierung in der Jugendarbeit, die die breit angelegte und positiv ausgerichtete Bildungs-perspektive durch eine auf potenzielle Gefährdungen und Misstrauen gründende Präventionsarbeit ersetzt (vgl. Lindner/Freund 2001). Suchtprä-vention kann stattdessen als gesundheitsfördernde Kultivierung der Lebens-praxis, als soziale Reflexion von Bewältigungskonstellationen und als gezielte Unterstützung in spezifischen Problemlagen zu einem wichtigen Element einer partizipativen, bildungsförderlichen Jugendarbeit werden (vgl. Sting/Sturzen-hecker 2005).

    5.4 Ambulante und stationäre Erziehungshilfen

    In den Erziehungshilfen kommen ähnlich wie in der Jugendarbeit primär- und sekundärpräventive Zugänge zur Geltung. Die professionelle Grundhaltung des „Empowerments“ (vgl. Herriger 2001) kann durch die Förderung von Lebenskompetenzen und durch erlebnisorientierte, selbstwertstärkende Gruppenangebote präzisiert werden. Zugleich sind Aktivitäten zur Schadens-minimierung und zur Erhöhung der Risikokompetenz sinnvoll, was Informationen über Substanzen, die Auseinandersetzung über Konsumformen und die damit verbundenen Risiken einschließt. Drößler merkt allerdings zu Recht an, dass sich die präventive Arbeit in den Erziehungshilfen nicht aus dem Erziehungsalltag „herausbrechen“ lässt. Das Hinzuziehen präventiver Praxiskonzepte führt demnach weniger zur Etablierung spezifischer Aktivi-

  • Sting: Suchtprävention im Kindes- und Jugendalter 817

    täten und Projekte und auch nicht zu einer „grundlegenden Neustrukturierung der Erziehungspraxis in den Einrichtungen“, sondern vielmehr zu einer „Sensibilisierung für die präventiven Anteile der eigenen Tätigkeit“ (Drößler 2002, S. 308, 310).

    Jugendliche in erzieherischen Hilfen sind keine „anderen“ Jugendlichen, sie konsumieren in ähnlicher Weise Substanzen oder sind Suchtgefährdungen ausgesetzt wie die Gesamtgruppe der Jugendlichen. Es gibt Anzeichen dafür, dass die Konsumquoten bei professionell betreuten Jugendlichen sogar etwas überdurchschnittlich sind (vgl. Baudis 2002), was häufig mit ungünstigen Sozialisationsverhältnissen und lebensweltlichen Belastungen in Verbindung gebracht wird (z. B. niedrige Schulbildung, geringe materielle Ressourcen, häufigere Scheidungen der Eltern; vgl. Höfer 2000, S. 20ff, 48ff.). Darüber hinaus kann die Heimerziehung selbst als belastendes Setting in den Blick geraten, wenn z. B. die Beziehungen zu den Erzieherinnen und Erziehern ungünstig sind, der Alltag von Monotonie geprägt ist etc. (vgl. Drößler 2002, S. 307). Als Folge davon wird der Substanzkonsum von Jugendlichen in den erzieherischen Hilfen oft einer stärkeren Problematisierung unterzogen als bei anderen Jugendlichen (vgl. Quensel 1996, S. 12f.). Im Hinblick auf den Konsum illegaler Drogen besteht nach wie vor Unsicherheit, die zu Re-aktionen zwischen Wegsehen und Ausgrenzung bzw. Verlegung in Ein-richtungen der Suchthilfe und der Psychiatrie führt. Auch der Umgang mit Alkohol und Rauscherfahrungen unterliegt noch vielfältigen Tabuisierungen.

    Konsumierende Jugendliche stehen selbst bei „starker Gefährdung“ vor dem Problem, dass sie niemanden haben, den sie um Hilfe bitten können oder wollen. Mit den Pädagoginnen und Pädagogen aus der Kinder- und Jugend-hilfe finden sie keine angemessene Gesprächsbasis, Einrichtungen der Sucht- und Drogenhilfe sind ihnen entweder nicht bekannt oder sie werden als un-passend abgelehnt, die Delegation in derartige Einrichtungen erleben sie als Bestrafung und weiteren Beziehungsabbruch (vgl. Broekman/Schmidt 2001). Spezifisch auf jugendliche Drogenkonsumenten zugeschnittene Angebote wie z. B. „Cleanwohnen“ in Leipzig oder Dresden geraten schnell an die Grenzen pädagogischer Machbarkeit, da ihnen nichtkonsumierende Jugendliche als Gegengewicht und Teil einer anderen Normalität fehlen (vgl. Sting/Blum 2003, S. 109f.).

    Vor diesem Hintergrund erscheint eine engere Kooperation von Kinder- und Jugendhilfe und Suchthilfe unerlässlich. Der in den Jahren 2000 und 2001 von der Drogenbeauftragten der Bundesregierung initiierte Dialog zwischen Kinder- und Jugendhilfe (IGfH) und Drogenhilfe (FDR), der den Versuch des Aufbaus einer längerfristigen Vernetzung enthielt (vgl. IGfH 2001), ist allerdings relativ schnell wieder versiegt. Zu unterschiedlich scheinen die Perspektiven zu sein, so dass bisher keine Verständigung über gemeinsame Ziele möglich gewesen ist (vgl. Bathen 2005). Wird Drogenkonsum vom

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    Suchthilfesystem als krankhaft betrachtet, ist Kinder- und Jugendhilfe eher geneigt ihn als Ausdruck eines bestimmten Lebensstils zu sehen (vgl. Baudis 2002). Während für die Suchthilfe eine Problemsicht im Vordergrund steht, nimmt die Kinder- und Jugendhilfe eher eine Normalitätsperspektive ein (vgl. Wieland 2001).

    Wird der Fokus auf den „Drogenkonsum“ in den übergreifenden Horizont entwicklungsbezogener Bewältigungsformen und Risikoverhaltensweisen ein-gebettet, dann muss er wie andere Formen des Substanzkonsums und des exzessiven Verhaltens als jugendtypische Praxis wahrgenommen werden. Die „pathologisierende Wahrnehmung“ muss einer „bewältigungssensiblen Wahr-nehmung“ weichen, die Substanzkonsum als – zum Teil durchaus funktionale – Bewältigungsstrategie betrachtet. Der Fokus verschiebt sich damit „von der Droge zum Menschen“ (Konzack 1996, S. 163f.). Dies erfordert eine Differenzierung in unterschiedliche Formen des Substanzkonsums (Experimentieren, gelegentlicher Konsum, Gewohnheitskonsum, Missbrauch oder Abhängigkeit; vgl. Bathen 2005); der Drogengebrauch sollte „nicht zum Kardinalproblem gemacht werden, hinter dem die Person des Jugendlichen verschwindet“ (Drößler 2002, S. 322); und schließlich ist auf Seiten der Pädagoginnen und Pädagogen eine Auseinandersetzung mit der eigenen Un-sicherheit, Wut und Enttäuschung, mit Drogenängsten und eigenen Konsum-erfahrungen angebracht. Im Zentrum der suchtpräventiven Arbeit steht nach allen bisherigen Erfahrungen die Aufrechterhaltung des „Kontaktes“, die Wahrung und Gewährleistung stabiler, vertrauensvoller Beziehungen zwischen Jugendlichen und Pädagoginnen und Pädagogen.

    Erziehungshilfe-Einrichtungen sollten vor diesem Hintergrund jeweils ein eigenes pädagogisches Konzept zum Umgang mit Substanzkonsum und Sucht-gefährdung entwickeln. Das Pestalozzianum Zürich hat zu dessen Erarbeitung schon vor einigen Jahren in Kooperation mit Suchtpräventionseinrichtungen eine mehrstufige Vorgehensweise entwickelt (vgl. Arx u. a. 1999). Ein wichtiges Element darin ist es, Wege zu finden Rauscherfahrungen und Substanzkonsum im Rahmen der pädagogischen Kommunikation anzu-sprechen, in Form einer „Drogenerziehung“ oder „drogenbezogenen Bildungsarbeit“ zum Thema alltäglicher Auseinandersetzungen zu machen (vgl. Wieland 2001; Quensel 2004, S. 252ff.; Sting/Stockmann 2004). Ergänzend haben sich in primärpräventiver Hinsicht erlebnisorientierte Ange-bote bewährt, die als nicht-alltägliche Erfahrungen „kleine Höhepunkte“ im Alltag der Einrichtungen markieren (vgl. Drößler 2002, S. 314). Zur expliziten Bearbeitung problematischer oder riskanter Konsumformen erscheint die Einbeziehung strukturierter Gesprächsangebote wie z. B. das Kurzinter-ventionsverfahren „MOVE“ hilfreich. Darüber hinaus sind schließlich jugend-spezifische Beratungsangebote sinnvoll, die bei akuter Suchtgefährdung an-gemessene Formen der Hilfestellung und Unterstützung anbieten (hierzu zählt

  • Sting: Suchtprävention im Kindes- und Jugendalter 819

    z. B. die Arbeit des Berliner „Therapieladens“ oder das Konzept der „Jugend(Sucht)Beratung“ in Hamm) (www.therapieladen.de 2008; www.jugendsuchtberatung.de 2008).

    6 Grenzen und Potentiale der Suchtprävention: Schlussfolgerungen für die Kinder- und Jugendhilfe

    Die Sichtung suchtpräventiver Aktivitäten in der Kinder- und Jugendhilfe hat gezeigt, dass die lange Zeit vorherrschende Schräglage zwischen der Wahr-nehmung von legalen und illegalen Substanzen allmählich einer realistischeren Gefahreneinschätzung gewichen ist. Dennoch ist Suchtprävention nicht un-abhängig von der gesellschaftlichen Thematisierung von Suchtproblemen im öffentlichen Diskurs, wo im besorgten Blick auf Heranwachsende wechselnde suchtpräventive „Moden“ kreiert werden (von der Spielsucht über Ecstasy, Alkopops und Komasaufen bis zur Internetsucht). Aufgrund ihres „Vorgriffs-charakters“ kann sie diese Tendenzen verstärken, indem sie sich eher an potenziellen als an tatsächlich vorhandenen, empirisch belegbaren Risiken orientiert (vgl. Lindner/Freund 2001, S. 71ff.). Zugleich ist sie im Hinblick auf ihre öffentliche Wahrnehmung und Bedeutung sowie auf die Finanzierung ihrer Aktivitäten von der gesellschaftlichen Konstruktion des Suchtproblems abhängig. Dies gilt umso mehr, je mehr sie auf kurzfristigen Projektaktionis-mus setzt.

    Trotz des vielfach postulierten Anspruchs eines positiven, auf die Förderung von Gesundheit, Kompetenzen und Ressourcen gerichteten Zu-gangs gelingt es suchtpräventiven Angeboten in vielen Fällen nicht vollständig, die ihnen eingeschriebene Defizitorientierung zu überwinden. Prävention ist per Definition negativ – auf die „Verhinderung“ von Problemen und Gefahren – ausgerichtet (vgl. Böllert 2001, S. 1394ff.). In den Zielen und Erfolgs-kriterien suchtpräventiver Konzepte spiegelt sich die Defizitorientierung wider, wenn z. B. trotz umfassender Kompetenzorientierung der Erfolg einer Maßnahme am Abstinenzverhalten und am Aufschub des Konsumbeginns gemessen wird oder wenn die Förderung der Entscheidungsfähigkeit mit der Erwartung des „Nein-Sagens“ als richtiger Entscheidung verknüpft wird (vgl. Sting/Blum 2003, S. 143). Quensel kritisiert den „ätiologischen Blick“ der Suchtprävention, der in der Gegenwart von Kindern und Jugendlichen Zwischenprobleme (kleine Störungen und Schlechtigkeiten) aufspürt, die Ursachen für eine zukünftig mögliche Sucht sein könnten (vgl. Quensel 2004, S. 125f.). Dies führt zu einer „misstrauens- und verdachtsgeleiteten Wirklich-keitskonstruktion“, die einer positiven, auf Entwicklung und Förderung ge-

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