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Liebe Seminaristinnen und Seminaristen, anbei das Konvolut von Protokollen, wie gesagt: unzensiert und ohne Auswahl, finden Sie Ihren Weg dadurch, formatieren Sie nach Herzenlust. Auch Protokolle zur gestrigen Sitzung finden sich bereits. Frohes Schaffen, RK

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Liebe Seminaristinnen und Seminaristen, anbei das Konvolut von Protokollen, wie gesagt: unzensiert und ohne Auswahl, finden Sie Ihren Weg dadurch, formatieren Sie nach Herzenlust. Auch Protokolle zur gestrigen Sitzung finden sich bereits. Frohes Schaffen, RK

Menschenbilder. Vom vier-Säfte-Wesen zum Mechanisten Andreas Blotko (18.4.07) Medizinische Menschenbilder der Geschichte unterscheiden sich nicht unbedingt von literarischen Menschenbildern. Denn beide Disziplinen, sowohl die medizinischen als auch die literarischen, beschäftigen sich mit dem Menschen als Solches. Wenn man den Menschen als Solches erkennt, baut man ein Bild von ihm. Ähnlich wie bei einem medizinischen Menschenbild schafft auch ein literarisches Menschenbild ein Konzept des Lebewesens. Sie werden einzig und allein unterschiedlich geformt. Man erfasst den Menschen somit nie in seiner gesamten Folge, sondern immer nur ein Teil von ihm. Infolgedessen entsteht ein „Kunstprodukt“. Als das älteste Bild des Menschen gilt das antike Idealmodell, welches den Menschen als vier-Säfte-Wesen sah (Humoralpathologie). Der Mensch wurde als Wesen gesehen, welches mit vier Säften gefüllt war, die in unterschiedlichen Zusammenhängen zueinander standen. Bei den vier Säften handelte es sich, nach der antiken Vorstellung, um Blut, weißen Schleim, schwarze Galle und gelbe Galle. In diesem Menschenbild sind den vier Organen zudem noch vier Organe zugeordnet (Leber, Herz, Milz und das Gehirn). Hinzu kamen vier Elemente sodass folgende Zusammenhänge entstanden:

Blut Herz Luft

Weißer Schleim Gehirn Wasser

Schwarze Galle Milz Erde

Gelbe Galle Leber Feuer

Mit den vier Temperamenten (Sanguis, Phlegma, Melancholera, Cholera) wurde das antike Menschenbild komplettiert. Sie stehen ebenfalls mit den vier Säften/Organen/Elementen im Zusammenhang. Die Gesundheitslehre der antiken Zeit berief sich somit darauf, dass alle vier Säfte im Gleichgewicht sein müssten (Eukratsie). Das Geheimnis von Gesundheit liege demnach im Gleichgewicht der vier Säfte und bei Krankheit scheinen die Säfte im Ungleichgewicht (Dyskrasie) zu sein. Die dazugehörigen therapeutischen Mittel unterschieden sich ebenfalls nach Homer und nach Hippokrates. Bei Homer vermutete man einen lebendigen Dämon, der den Körper heimsuchte und ihn krank machte. Die Krankheit sah man zu Zeiten Homers als Zustand, welches im Körper regelrecht sitzt. Zu Zeiten Hippokrates waren es die schlechten Säfte, welche verantwortlich waren für Gesundheit oder Krankheit. Ein schlechter Gesundheitszustand floss somit durch den Körper und saß nicht wie noch zu Homers Zeiten im Körper. Die Therapie einer Krankheit erfolgte nach Homer noch durch die Hilfe der Götter und Priester, bei Hippokrates jedoch durch die Hilfe von Ärzten und der Medizin. In der Literatur ist dieser Zusammenhang in Aristoteles Poetik wiederzufinden. Katharsis (Jammer und Schauder) dient als Reinigung des Körpers, und soll bei einem Theaterbesuch hervorgerufen werden. Dadurch sollte der Säftekreislauf angeregt und die Säfte in Umlauf gebracht werden. Galenus (um 129-190 n.Chr.), der als der wichtigste Arzt der Antike gilt, unterstütze diese Theorie. Er untermalte die Theorie des „vier-Säfte-Wesen“ und seine Methoden waren für das Gleichgewicht der Säfte angelegt. Er benutze jedoch zum Sezieren Hunde, Affen und Katzen,

da er der Meinung war, dass die Anatomie mit der eines Menschen vergleichbar gewesen sein musste. Galenus galt in vielen medizinischen Bereichen wie zum Beispiel in der Diätik / Heilmittel als vorbildhaft und führend und veröffentlichte knapp 200 Bücher zu dieser Thematik. Doch die Tatsache, dass die Sezierungen an Tieren durchgeführt wurden, machten seine Ergebnisse fragwürdig. Die Meinung, den Menschen als Zusammenhang und als Säftewesen zu sehen, blieb in der Wissenschaft jedoch bis zum 16.Jhd. bestehen. Mit dem Anatom und Begründer der neuzeitlichen Anatomie Andreas Vesalius (1514- 1564) beginnt ein neues Denken in der Idee des Menschenbildes. Zur Zeit der Renaissance wurde das Menschenbild verändert, man kritisierte und hinterfragte das antike Menschenbild und begann den Menschen als geometrische Form zu sehen und zu vermessen. Als das berühmteste Beispiel hierbei gilt die Zeichnung von Leonardo da Vinci (Der vitruvianische Mensch, 1492), in der der Mensch vermessen wird. Neu war ebenfalls der Bereich der Sezierungen und mit Beginn des 15.Jhd. betrieb man Anatomie als wissenschaftliche Methode. Vesalius schrieb ein siebenbändiges Buch namens „de Hamani Corporis Fabrica“ aus dem Jahre 1543, in dem er als erster Wissenschaftler überhaupt Sezierungen vorgenommen hat (Wobei dies aus ethischen Gründen nur mit den toten Körpern von Kriminellen geschah). Hieraus entwickelte sich ein neuer Teilbereich, der der öffentlichen Sezierungen (oder auch anatomisches Theater). 1595 in Padua entstand an der dortigen Universität eine Art Amphitheater, in dem man auch Eintritt zahlen musste. Die Prozedur der öffentlichen Anatomie dauerte einige Tage. Da es sich um eine öffentliche Veranstaltung handelte, mussten auch nicht- Wissenschaftler Eintritt zahlen. Um 1600 wurde Anatomie als Pflichtfach zur Lehre am Menschen an den Universitäten eingeführt. Man muss sich nun die Frage stellen, was diese Entwicklung für das Menschenbild gebracht hatte? Konnte der Mensch nun als Maschine gesehen werden? Die verschiedenen Teile des Menschen, die man durch die Anatomie und Sezierungen jetzt auch sehen konnte, standen in einem Zusammenhang zueinander, doch wie funktionierte der Mensch wirklich, wie entstand z.B. Bewegung? In einer Illustration von Descartes erkannte man den Menschen als Wesen, welches aus mehreren Seilzügen bestand. Für Descartes waren physiologische Modellvorstellungen integraler Bestandteil seiner Philosophie. Er reduzierte den lebenden Organismus des Menschen auf dessen Mechanik und wurde damit zum Begründer der neuzeitlichen Iatrophysik, in der Menschenmodelle und (versuchte oder gedachte) Konstruktionen von Menschenautomaten eine wichtige Rolle spielten.1 Mit der Entdeckung des Blutkreislaufs gilt der Arzt und Anatom William Harvey (1578- 1657) als Wegbereiter der modernen Physiologie. Seine Auffassung war, dass das Herz das Blut durch den menschlichen Körper pumpt. Er sah den Menschen als „Brunnensystem“ durch den neuzeitigen Gebrauch von technischen Hilfsmitteln, wie dem Mikroskop, wurde die Forschung weiter ausgebaut. In diesem Zusammenhang entstand nun eine Mensch-Maschine-Konzeption, in dem man immer tiefer in den Menschen eindrang und ihn mehr und mehr als Produkt definierte. Ab 1750 entstand, mitunter durch den Schweizer Mediziner und praktischen Arzt Albrecht von Haller (1708-1777), ein moderneres Menschenbild, welches den Körper nun als Nervensystem mit Zellstrukturen erkannte und nicht mehr als Anhäufung von Seilen oder Ähnlichem. Der Mensch als Nervenwesen war auch immer eine interessante Wissenschaft. Denn man fragte sich, wie dieses Nervensystem funktionierte und ob es reizbar war? Nervenstränge galten als reizbar (Sensibilität) aber auch als verformbar (Irritabilität) und in

1 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Descartes#Der_Mensch_als_Maschine

der Neurophysiologie gilt dieses sogar noch bis heute. Als Folge entwickelte sich eine utopische Vorstellung, nämlich einen Menschen, welches man nun als Maschinenwesen sah, künstlich erschaffen zu können (Beispiel Mary Shelleys Frankenstein, 1818). Im späten 18.Jhd. entstand nun einen neue Form des Menschenbildes. Man ging davon aus, dass die Seele den Menschen bestimme und forme. Die Animisten bildeten somit den Gegensatz zu den Medizinern/Mechanisten. Denn Animisten glaubten, dass die Seele der Körper war, wobei die Mechanisten den Menschen als Maschine sahen, und den Körper als Basis für die Seele und das Denken interpretierten.

Ergebnisprotokoll zur Sitzung vom 18.4.2007

Rafael Rau In der Sitzung vom 18. April 2007 ging es um die Menschenbilder (von) der Antike bis zur Neuzeit aus medizinischer Sicht. Im antiken Griechenland war Homer der Erste, der die Anatomie des Menschen zu verstehen versuchte. In seinem Verständnis war ein Dämon, der an irgendeiner Stelle des Körpers saß, Grund für die Krankheit des Menschen und dieser konnte nur mit Hilfe der Götter geheilt werden. Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. entstanden unter dem Einfluss des Hippokrates die Anfänge der Humoralpathologie (Viersäftelehre). Dabei wurde der Körper beobachtet und mit Einflussnahme auf seine Zusammensetzung versucht, seine Selbstheilung zu unterstützen. Nach damaligem Verständnis durchflossen den Körper vier Säfte (Blut, Schleim, Schwarzgalle, Gelbgalle), denen vier Organe (Herz, Gehirn, Milz, Leber), vier Temperamente (Sanguiniker, Phlegmatiker, Melancholiker, Choleriker) und vier Elemente (Luft, Wasser, Erde, Feuer) zugeordnet waren. Die Medizin musste diese Säfte im Gleichgewicht (Eukrasie) halten, da das Ungleichgewicht (Diskrasie) den Menschen krank machte. Geheilt werden konnte der Mensch von den im Körper fließenden schlechten Säften durch zwei Varianten: Zum einen durch die Heilkraft der Natur, zum anderen durch die Behandlung von Ärzten mit natürlichen Heilmitteln. In der Literatur findet sich diese Auffassung bei Aristoteles wieder, der bei seiner Katharsis von einer Reinigung der Leidenshaften durch eleos und phobos (Jammer/Schauder) spricht. In der Spätantike revolutionierte Galenus, Leibarzt von Marc Aurel, die medizinische Sicht. Er vertiefte die Humroalpathologie durch Beginn von Sektionen an Schweinen, Hunden und Affen. Anhand deren anatomischen Aufbaus schloss er auf eine ähnliche Anatomie beim Menschen. Seine Überlegungen reichen noch bis in die Renaissance und selbst heutige Diätvorschriften sowie die Pharmakotherapie berufen sich auf ihn. Galen sah den Menschen zudem als Ganzes und ging von der These aus, dass alle Körperteile eine eigene Funktion haben und im Ganzen funktionieren, worin Gottes Plan deutlich würde. Im Mittelalter wurde das Wissen der bestehenden Lehren auf Grund des Autoritätsgefüges eigentlich nicht großartig weiterentwickelt, sondern nur weitergegeben. Nachdem man über Jahrhunderte hinweg lediglich die alten Autoritäten (u.a. Hippokrates und Galen) gelesen hatte, gewannen ab dem 15. und 16. Jahrhundert eigene Erkenntnisse und Untersuchungen an Gewicht. Eigene Beobachtungen und Experimente stellten die Autoritäten in Frage und führten zu neuen Entdeckungen besonders in der Anatomie und Physiologie. Vesalius lernte die galenische Medizin und gebrauchte als erstes Sektionen zum Gewinn

neuer Erkenntnisse über die menschliche Anatomie, welche zuvor nur zur Illustration von Galen-Texten gebraucht worden waren. 1595 gab es das erste anatomische Theater in Padua, das nach dem Bild der römischen Amphitheater aufgebaut war. Dort konnten Studenten und Ärzte, gegen Geld auch öffentliches Publikum, Sektionen beiwohnen. Anatomie wurde in der Folge (1600) zum Pflichtfach und brachte Wissen über den Aufbau des Menschen mit sich, das wichtig für das weitere Menschenbildverständnis war . Die aufkommende Frage nach dem Zusammenspiel im Menschen führt bei den Gelehrten zu verschiednen Thesen, bei Descartes sitzt das Zentrum, welches alles koordiniert und alle Vorgänge lenkt, beispielsweise in der von ihm entdeckten Zirbeldrüse. Der Mensch könnte demnach als Maschine aufgefasst werden, als Wesen, das im Inneren aus Seilzügen besteht, über die die Reizleitung läuft. Im 17. Jahrhundert entdeckte William Harvey durch Experimente am lebenden Organismus den Blutkreislauf und die Pumptätigkeit des Herzens. Die bisherige Annahme von mehreren Kreisläufen wurde damit widerlegt. Die Mensch-Maschine-Konzeption ging vorerst weiter und es wurden immer größere Versuche unternommen, den Menschen bis in kleinste Detail zu erforschen. Eine wichtige Erfindung für diese Forschung war das Mikroskop. Auch in die Literatur fand dieser Fortschritt der Medizin Eintritt. Als Beispiel dafür kann Barthold Hinrich Brokes genannt werden, der 1714 nach einer Mikroskopuntersuchung ein Gedicht über das Auge verfasste. Im 18. und auch im beginnende 19. Jahrhundert waren verschiedenste medizinische Deutungssysteme denkbar. Durch neue Erkenntnisse, wie z.B. die Entdeckung, dass Nervenbahnen keine Seilzüge/Röhren sind, sondern eine eigene Zellstruktur aufweisen und etwas Organisches haben, wurde die Säftelehre völlig aufgegeben. Die Reizleitung rückte in den Fokus und der Mensch wurde als Nervenwesen angesehen. Albrecht von Haller fand heraus, dass Nervenstränge reizbar (Sensibilität) und verformbar (Irritabilität) sind, womit die Nervenreizleitung DAS neue Thema in der Medizin wird. Luigi Galvani entdeckte, dass Strom in Kombination mit Reizen Bewegung erzeugte. Da er die Entstehung allerdings nicht erklären konnte, stellte er die Hypothese auf, dass Menschen und Tiere einen natürlichen Strom besitzen, die animalische Elektrizität, die durch äußere Reize gesteuert ist. Ende des 18. Jahrhunderts tritt die Vorstellung des Menschen als Maschinenwesen wieder in den Vordergrund und die Utopie auf, dass der Bau eines Menschen möglich sein müsste, da die Anleitungen von Anatomie, etc. vorhanden sind. Aus dieser Vorstellung ergaben sich zwei Varianten von Medizinern: Zum einen die Mechanisten, die den Menschen als Maschine sahen, dessen Körper die Seele und das Denken bestimmt, und die Animisten, die davon ausgingen, dass die Seele den Körper bestimmte. 18.4. Thomas Höffgen Die Sitzung des germanistischen Hauptseminars „Poetologie /Pathologie“ am 18.04.

2007 begann mit der Thematisierung der antiken 4-Säfte-Lehre. Die altertümliche Thumoralpathologie versteht den Menschen als Säftewesen, dessen jeweiliger Charakter oder Gemütszustand sich auf ein Gleichgewicht (Eukrasie) bzw. Ungleichgewicht (Diskrasie) der Säfteverteilung zurückführen lässt. Die vier Kardinalsäfte besagter Theorie sind Blut, Schleim, Gelb- und Schwarzgalle, die den Elementen Luft, Wasser, Feuer und Erde zugeordnet sind. Die Organe Herz, Gehirn, Leber und Milz produzieren jeweils die Säfte. Eine Überproduktion der Schwarzgalle etwa resultiert in Melancholie, der Choleriker dagegen leidet an gesteigerter Gelbgalle; während der Sanguiner an einer Diskrasie des Blutes leidet, produziert der Phlegmatiker zu viel Wasser.

1. Herz – Sanguis/Blut – Luft 2. Gehirn – Phlegma/Schleim – Wasser 3. Milz – Melancholera/Schwarzgalle – Erde 4. Leber – Cholera/Gelbgalle – Feuer

Während Homer als Ursache einer Krankheit noch dämonische Besessenheit unterstellte, führte der bis heute bedeutende Mediziner Hippokrates (vlg. „Hippokratischer Schwur“) die Symptome auf ein Säfteungleichgewicht zurück. Dementsprechend sprach Homer nur der Kraft der Götter heilende Funktion zu, Hippokrates hingegen berief sich auf die Heilkraft der Natur; auch lokalisierte ersterer, im Gegensatz zu Hippokrates Theorie des Fließenden, die Krankheit an einem Ort im Körper. Im Folgenden sollen medizinische Menschenbilder seit der Antike dargestellt werden, wobei der Fokus auf mechanistischen Anschauungen, also der Ansicht, dass der Körper die Seele bzw. das Denken bestimmt, liegt. Das Gegenstück zum Mechanismus ist der Animismus, der von einem wesentlichen Einfluss der Seele auf den Körper ausgeht. Aristoteles thematisiert in seiner „Poetik“ die reinigende Wirkung der �������s, wobei er von einer Reinigung der Leidenschaften (nicht von den Leidenschaften) durch das Durchleben von ����s (Jammer) und ����s (Schauder) ausgeht. Die Leidenschaften sollen keineswegs negiert werden, sie sind unabdingbar für ein harmonisches Gleichgewicht, für das die Seelensauna sorgen soll. Vielmehr werden die Leidenschaften gemildert oder bestenfalls umgewandelt (vgl. Lessing: Umwandlung der Leidenschaften in „tugendhafte Fertigkeiten“). Der folgereichste Arzt der Antike war Galenus (129-190 n.Chr.); sein Einfluss reichte bis in die Renaissance. Er vertiefte die Thumoralpathologie und initiierte besondere Heilmethoden zur Herstellung des Gleichgewichts. Nicht zuletzt aufgrund einer religiösen Scheu, waren Sektionen verboten. Galenus behalf sich mit anatomischen Untersuchungen von Tierkörpern und schloss von diesen Erkenntnissen auf den organischen Aufbau des Menschen; dementsprechend wenig ernst zu nehmen sind seine Forschungen diesbezüglich. Ernst zu nehmen aber ist seine therapeutische Lehre mit planzenmedizinischen Heilmitteln um die Säfte in Eukrasie zu bringen: Die heutige Pharmakologie beruht auf Galenus. Weiterhin war Galenus Vertreter der Korrespondenztheorie, dass alle Körperteile ihre Funktion im Gesamtplan erfüllen und dieser auf den Gesamtplan Gottes schließen lässt.

Der nächste bedeutende Mediziner war Andreas Vesalius (1514-1564). Er nutze die Aufhebung des Sektionsverbotes der Renaissance und veröffentliche seine Erkenntnisse in dem Werk „De Humani Corpus Fabrica“ 1543. Er sezierte auch vor (universitäts-) öffentlichem Publikum. Nicht zuletzt Andreas Vesalius Öffentlichkeitsarbeit initiierte das erste anatomische Theater um 1600, dem nicht nur Studenten, sondern die breite Öffentlichkeit beiwohnte; inklusive der Entrichtung eines Eintrittsgeldes. Anatomie wurde nun zum Pflichtfach westlicher Universitäten. Mit Descartes fand die zeitgenössische Mensch-Maschine-Konzeption ihren vorläufigen Höhepunkt; darüber hinaus verstand er die Zirbeldrüse - als einzig nicht zweifach im Gehirn vorkommend – als Sitz der Seele, bzw. als den Ort im Menschen, an dem sich Körper und Geist verbinden. Er differenzierte den Menschen in res cogitans (denkendes Ding) und res extensa (ausgedehntes Ding). Der Schotte William Harvey entdeckte den einen großen Blutkreislauf im Menschen. Sowohl die Antike als auch die Renaissance gingen von mehreren kleinen Blutkreisläufen aus. Um 1750 entdeckte Albrecht von Haller den Menschen als „Nervenswesen“: Moderne Sektion und Mikroskopie erkannte die Nervenbahnen nicht als eine Ansammlung von Seilen (Descartes), sondern als Nerven mit eigener Zellstruktur. Die altertümliche 4-Säfte-Lehre war nun vollends als antiquiert entlarvt. Damit einhergehende Erkenntnisse waren u.a. die Reizbarkeit der Nervenstränge (Sensibilität) und die Verformbarkeit der Stränge (Irritabilität). Die Nervenreizleitung ist bis heute Thema der Medizin. Die Geschichte des Italieners Galvani könnte auch einem (schlechten) Film entspringen: Zu anatomischen Zwecken spannte Galvani Frösche auf; als es blitze, fingen die Frösche an zu zucken. Zunächst nahm er animalische Elektrizität als Lebensenergie in menschlichen und tierischen Muskeln an. Offenbar geschieht die Reizleitung durch Stromweitergabe. Nicht zuletzt Galvanis Erkenntnisse stütze die zeitgenössische Wissenschaft um 1780 in eine tiefe Erkenntniskrise; repräsentativ hierfür steht Kants transzendentalphilosophischer Ansatz: Das Ding an sich ist unerkennbar, dem Menschen bleibt bloß die Erscheinung. Protokoll 18.4. Elisabeth Schaddelee (Erasmusprogramm) Thema „Medizinische Menschenbilder ab der Antike“ Einleitung Für den Leistungsnachweis, soll neben einer Klausur auch eine kurze schriftliche Arbeit verfasst werden.

Hauptteil Literatur und Medizin haben eine eigentümliche Affinität. Sie haben beide mit dem Menschen zu tun. Es gibt/gab verschiedene Konzepte des Menschen, oft durch eine bestimmte Brille gesehen. „Wir kreieren den Menschen“, nimm z.B. Scans. Die stellen ein künstliches Bild dar, ein Körper sieht nicht wirklich so aus. Es sind die Bilder die wir uns machen, und das gilt auch für frühere Zeiten. Es gibt Paradigmenwechsel: Das eine Menschenbild wird durch ein anderes Menschenbild ersetzt. Antike In der Antike wurde der Mensch als Säftewesen gesehen: Humoralpathologie (humores – Säfte). Der Mensch besteht aus: Vier Kardinalsäfte: Blut (Herz), Schleim (Gehirn), Gelbgalle (Leber) und Schwarzgalle (Milz); Vier Temperamente: Sanguis, Phlegma, Cholera und Melancholera; Vier Elemente: Luft, Wasser, Feuer, Erde. Der Zusammenhang sieht so aus: Kardinalsäfte Temperamente Elemente Blut (Herz) Sanguis Luft Schleim (Gehirn) Phlegma Wasser Gelbgalle (Leber) Cholera Feuer Schwarzgalle (Milz) Melancholera Erde Diese Daten wurden an Gemütsverfassungen verknüpft. So hatte der Sanguistiker zu viel Blut, er war warm und temperamentvoll. Der Phlegmatiker hatte zu viel Schleim, er dacht zu viel und war passiv. Der Choleriker hatte zu viel Gelbgalle und hatte sein Temperament nicht in der Hand. Der Melancholiker sitzt einfach da, in sich gekehrt, brütet in sich, denn er hat zu viel Schwarzgalle. Es soll Eukrasie (Gleichgewicht) geben, also Harmonie. Im Gegensatz dazu steht Dyskrasie (Ungleichgewicht). Zwei Behandlungsmethoden: Homer („altes Denken“) Hippokrates („neues

Denken“) Krankheit hervorgerufen durch…

einen lebendigen Dämon schlechte Säfte

Die Krankheit… sitzt in einem Teil des Körpers

fließt durch den Körper

Genesung durch… Hilfe der Götter Priester Heilkraft der Natur Ärzte Aristoteles sah es als Aufgabe der Poetik eine Katharsis beim Publikum hervorzubringen. Katharsis heißt Reinigung. Hierzu benutzte er eleos/phobos (also, Jammer/Schauder). Die Säfte sollen im Umlauf kommen, das Publikum körperlich angesprochen werden. Wie wirkt das eigentlich? Es wurde eine Reinigung der Leidenschaften angestrebt, sie sollten nicht ganz

ausgelöscht werden. Ein Überschuss an dessen wird abgesagt und die Säfte wieder in Harmonie (auch geistlich) gebracht. Die Katharsis war ein wichtiges Wirkungsprinzip. Galen(us) war Arzt der späteren Antike und lebte von ungefähr 129-190 n.Chr.. Er War Leibarzt des Kaisers Marc Aurel. Seine Lehre behielt bis in der Renaissance dogmatischen Wert. Er war Vertreter der Humorlehre. Er obduzierte Tiere, Menschen darf er nicht obduzieren. Er setzte die Ergebnisse aber gleich: „Wenn es bei einem Tier so ist, wird das bei einem Menschen auch so sein.“ Er sah Diätetik („wie ernähre ich mich“) als Heilmittel und war in diesem Gebiet führend; er verfasste über 200 Bücher mit Rezepten. Diese reichen bis heute. Laut Galenus war die Leber das zentrale Organ, es bildet Blut und das Blut bildet Fleisch. In der Pharmakotherapie war Galenus stark. Jedes Teil im Körper funktioniert mit den anderen: Gottes Plan wird daraus deutlich. Menschen im Zusammenhang beurteilen, der Mensch als Ganzes. 16. Jahrhundert Andreas Vesalius (1514-1564). Im Mittelalter wurden Autoritäten nicht angezweifelt. In der Renaissance wurde das aber hinterfragt. Wir kennen aus dieser Zeit das bekannte Bild DaVincis: der Mensch im Mittelpunkt. Es fanden mehr Obduktionen statt (Bild: Aderlassmann), das Tabu wurde durchbrochen, aber nicht ohne Widerspruch von den Kirchen. Man guckte sich die Anatomie genauer an. Vesalius ~ „De Humani Corporis Fabrica“ 1543 Wissenschaftliche Sektionen an den Universitäten fanden jetzt statt und ab ungefähr 1600 gab es die ersten anatomischen Theater (Padua 1595). Es war Amphitheater-artig, man musste Eintritt bezahlen. Es war relativ teuer, und wurde sogar teuerer pro „interessanter Körperteil“. Es waren also nicht nur Studenten und Dozenten anwesend. Um 1600 wurde Anatomie Pflichtfach an den europäischen Universitäten. Menschenbild: der Mensch als Maschine, Maschinenmetapher. Teil für Teil, wie wirkt das alles zusammen. (Bild: Descartes, Zirbeldrüse – Sitz der Seele). Die Zirbeldrüse regelt alles. Descartes ~ „Über den Menschen“ 1632 Im Menschen: Seitzüge, Räder usw.. Descartes verglich das Funktionieren der menschlichen Maschine mit Fontänen und Pumpwerken. William Harvey entdeckte 1628 der große Kreislauf. Damit kam die Idee der Antike, dass es mehrere Kreisläufe gäbe, zu Ende. Das Herz als Pump für den ganzen Körper. Der Mensch als Brunnensystem. Um diese Zeit wurde die Mikroskope erfunden, sowie auch Teleskope. Das bedeutete eine Erweiterung des medizinischen Wissens. (Gedicht: B.H. Brockes ~ „Die Fünf Sinne“) Ab ca. 1750 Albrecht von Haller wies nach, dass das Nervensystem selbst Struktur aufweist, dass es also etwas Organisches ist, das Reize durchgibt. Der Mensch als Nervenwesen. Wie passiert Reizleitung, fragte von Haller sich. Nerven:

- Reizbarkeit (Sensibilität) der Nervenstränge

- Verformbar (Irritabilität) Nervenreizleitung ist bis heute Steckenpferd der Neuroforschung (Elektroministröme). So genau wusste man das damals nicht, die Theorie war aber dann schon, dass es mit Strom zu tun hatte. Galvani (Italiener): Froschenexperiment. Tote Froschen bewegten sich im Gewitter, wenn es also elektrostatische Luft gab. Galvani dachte sich die Hypothese der natürlichen Strom (animalische Elektrizität) aus, eine Art Lebensenergie. Er machte mehrere ähnliche Beobachtungen bei Froschen. Die Literatur der Romantik beschäftigt sich damit, z.B. Schillers Geisterszene mit Strom. Man sieht das oft während der Romantik (Jean Paul, E.T.A. Hoffmann). Klasse-Experiment: Die Hände werden festgehalten und Druck wird durchgegeben. Mit ungefähr 40 Studenten dauert das etwa 25 Sekunden. Also ca. 1 Sekunde pro Weitergabe, das ist ziemlich langsam. Der Mensch hat offensichtlich langsame Nerven, eine lange Reizleitung. Was kann auf diesem Weg nicht alles verloren gehen/geändert werden? Diese Frage sorgte für eine Erkenntniskrise. Kant: „Wir nehmen die Dinge war, wie sie uns erscheinen.“ Nicht wie sie sein, nicht die Dinge an sich. Das war ein Problem im 18. Jahrhundert, was soll man damit. Nochmals: der Mensch als Maschine. Die Utopie war, einen Menschen zu bauen. In der Literatur: Mary Shelleys „Frankenstein“, im späten 18. Jahrhundert. Es entstand eine Flügel der Mediziner die man ‚Mechanisten’ nennen kann. Körper Seele, Denken. Ab dem späten 18. Jahrhundert: ‚Animisten’. Seele Körper, also umgekehrt. Die Gesundheit wird von der Seele beeinflusst, nicht andersherum.

Protokoll der Sitzung vom 16.5.2007 Kathrin Fehrholz Inhalt der Sitzung vom 16. Mai war ein Vergleich des Büchner-Fragments „Lenz“ mit dem Originalprotokoll des Pfarrers Oberlin, auf dem Büchners Text basiert. Dabei lassen sich bei einem Close-reading einige interessante Beobachtungen machen, die eine Perspektivenverschiebung vom Protokoll zur Erzählung zeigen: So wird zum Beispiel ein Gedanke Oberlins aus seinen eigenen Aufzeichnungen, dass er einige Dramen von Lenz gelesen habe, bei Büchner zu wörtlicher Rede, da diesem wohl zwar der Gedanke an sich erwähnenswert scheint, er aber ansonsten nicht die Absicht hegt, sich mit Oberlins Innenwelt zu befassen. Stattdessen konzentriert er sich auf Lenz und betont dessen körperlichen Ausdruck seines psychischen Zustands. Zudem markiert er im Unterschied zu Oberlin nur dessen Redebeiträge durch Anführungszeichen. Diejenigen von Lenz bleiben unmarkiert und signalisieren so eine größere Nähe des Erzählers zur Lenz Figur; Oberlin dagegen bleibt ein „Außenstehender“. Bis auf diese Ausnahmen und den notwendigen Angleich der Personalpronomen findet sich jedoch in der Erzählung an dieser Stelle eine fast wörtliche Übernahme des Oberlin-Protokolls. Dies erhöht die Authentizität der Geschichte und folgt der Maxime des dokumentarischen Schreibens von Karl Philipp Moritz, nach der Literatur sich an echten Fällen orientieren soll. Ein solcher Dokumentarismus ist bei schreibenden Ärzten sehr verbreitet. Eine weitere Auffälligkeit findet sich auf den Seiten 26 und 27. Hier ist die wörtliche Rede der beiden Hauptfiguren gar nicht markiert. Gleichzeitig spricht Lenz immer wieder von Hieroglyphen, die in ihrer Funktion als geheime Schriftzeichen ebenso sehr Verwirrung stiften können, wie es an dieser Stelle die unstrukturierte wörtliche Rede tut. Lenz liest diese Hieroglyphen angeblich am Himmel, womit er sich in der Tradition der Romantiker bewegt, die ebenfalls glaubten, aus Naturerscheinungen, Pflanzen und ähnlichem geheime Zeichen lesen zu können. Im Protokoll dokumentiert Oberlin die „gegenseitige Qual“, die sich Lenz und er bereiten, womit er wohl in erster Linie seine eigene meint. Bei Büchner fällt der Aspekt, dass Oberlin unter seinem „Patienten“ leidet, komplett weg, weil für Büchner Oberlins Gedanken und Gefühle nicht wichtig sind. Ihm geht es allein um die Beschreibung der Lenz-Figur. Daher orientiert er sich an dieser Stelle zwar stark am Protokoll, übernimmt jedoch für seine Darstellung Belangloses dabei nicht. Es gibt hingegen auch Textstellen, in denen sich ein sehr klarer eigener dichterischer Anteil Büchners aufzeigen lässt, so z.B. Lenz´ Zusammenbruch nach seinem Besuch auf dem Kirchhof (S 12 oben): Büchner beschreibt sehr deutlich, wie sich Lenz´ Verzweiflung körperlich in Tränen äußert, die neben dem Blut die wichtigsten körperlichen Ausdrucksmittel des Sturm und Drang waren. Die Erzählperspektive wechselt durch eine Dopplung des Wortes „allein“, das zudem mit einem Ausrufezeichen markiert wird, innerhalb eines Satzes vom Erzähler zu Lenz, was für eine große Einfühlung des Erzählers in die Figur spricht. Im weiteren Verlauf der Szene ist oft schwer zu entscheiden, wer einzelne Passagen spricht, der Erzähler oder Lenz. Es gibt Tendenzen für beides: Lenz hätte nicht so klare Worte für seine Gefühle, wie sie in dieser Szene zu finden sind, aber z.B. der Ausdruck er habe das Gefühl, „sich auflösen“ zu müssen kann eindeutig ihm zugeschrieben werden, da dieser voll und ganz seinem Sprachstil und seiner eigentümlichen Denkweise entspricht. Es handelt sich hier also um einen gemischten Erzählstil, der Erzähler verdeutlicht seine Emphase in Bezug auf die Lenz-Figur hier besonders stark indem er sich von deren Sprachstil beeinflussen lässt und eine eindeutige Zuordnung der Passagen zu einem Sprecher beinahe unmöglich macht.

Diese doppelte Perspektivik von Erzähler und Protagonist ist noch heute ein modernes Stilmittel des Erzählens. In Büchners Roman hat sie die spezielle Funktion, einen Bogen zum Dokumentarismus zu schlagen, indem sie dem Leser Einblicke in Lenz´ Gedankenwelt erlaubt. Der Rezipient entwickelt auf diese Weise eine größere Nähe zur Figur des Lenz und wird aus seiner „kalten“ Außenposition in eine Art „Arztrolle“ versetzt, nimmt also stärker am Geschehen teil. Es handelt sich bei diesen Einblicken in den Kopf des Lenz jedoch nicht um innere Monologe, denn diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie stets aus der Ich-Form und im Präsens geschrieben sind. Sie tauchen in der Literatur erst gegen 1900 zum ersten Mal auf, also etwa 60 Jahre nach Büchners Tod. In der besprochenen Szene liegt eine erlebte Rede vor, die aus der Erzählerperspektive in der 3. Person Singular Präteritum über die Gefühle der Figur berichtet. Sowohl der innere Monolog als auch die erlebte Rede sind noch heute moderne Erzählmuster. Guten Einblick in Lenz´ gestörte Wahrnehmung und sein Verständnis seiner Umwelt gibt auch die „Erweckungsszene“, hinter der eine religiöse Erweckungsidee steht: Wie Jesus in der Bibel glaubt Lenz in einem Anflug von Größenwahn ein totes Mädchen durch eine bloße Aufforderung wiederbeleben zu können. Als dieser Versuch misslingt läuft er frustriert und ungehalten davon und reagiert blasphemisch, indem er metaphorisch den Himmel als „dummes blaues Aug“ bezeichnet in dem der Mond „ganz lächerlich“ aussehe. Sein Größenwahn schlägt in Atheismus um, es scheint sich eine manisch-depressive Erkrankung zu zeigen. Wieder sind die Redeübergänge zwischen dem Erzähler und Lenz dabei fließend. Lenz´ Wunsch, das Mädchen zu erwecken wird zu Beginn der Szene als „fixe Idee“ beschrieben, ein Ausdruck, der zur damaligen Zeit noch nicht zur Umgangssprache gehörte sondern zum medizinisch-psychologischen Fachvokabular. Die gesamte Szene ist in ihrer Erzählweise stark psychologisch beobachtend aufgeladen und im Gegensatz zur Protokollversion, die die Ereignisse nüchtern in fünf Zeilen beschreibt, bei Büchner auf zwei Seiten Erzählung ausgeweitet. Die Psychologie war zu Büchners Zeiten noch eine sehr junge Disziplin, und an einem Stich von Wilhelm von Kaulbach aus dem Jahr 1834 lässt sich gut beobachten, wie man zur damaligen Zeit den „Wahnsinn“, der auch in der Kunst ein Thema war, in Kategorien einzuteilen versuchte. Dargestellt sind unterschiedliche Typen psychischer Erkrankungen in vielfach überlieferter „typischer“ Körperhaltung. So sieht man zum Beispiel einen Melancholiker, der in sitzender Pose, sein Gesicht auf seine Hand gestützt, nachdenklich ins Leere schaut. Ein Grund für das große Interesse der Kunst am Thema Wahnsinn könnte die weit verbreitete Theorie sein, dass Genie und Wahnsinn nah beieinander liegen und psychische Krankheiten oft soziale Probleme wie Ausgrenzung zur Folge hatten und haben. Zudem hatte Hegel in den 1820er Jahren die These formuliert, dass die Zeit der „schönen“ Kunst abgelaufen sei. An ihre Stelle trat eine Ästhetik des Daseins und Lebens in allen seinen Formen und Ausprägungen. Dies deckt sich mit Lenz´ Kunstverständnis in der Erzählung: Er erwartet nicht eine Neuschöpfung oder Verklärung der Welt, sondern die Nachahmung der Realität. Hier zeigt sich die beginnende Ablösung einer idealistischen und klassischen Periode durch den Realismus und später durch den Naturalismus. 23.5.: Georg Büchner „Woyzeck“ Sarah Pachtmann An vielen Stellen bietet „Woyzeck“ von Georg Büchner auffällige Ähnlichkeit mit dem historischen Vorbild. Sowohl die literarische Figur, als auch die historische Vorlage gehörten zur unterprivilegierten Schicht. Frau Christiane Woost ist die reale Vorlage für Marie; beide werden von Woyzeck ermordet. Sowohl die Wanderschaft, der Kriegsdienst, als auch das uneheliche Kind stimmen mit dem realen Woyzeck überein.

Die Doktor Figur im „Woyzeck“ setzt sich aus mehreren Faktoren zusammen. Die medizinischen Hintergründe bestehen aus älteren und neu aufkommenden Medizinischen Konzepten. Zunächst ist dabei das naturkundlich - klassifikatorische Interesse zu nennen. Man versuchte Stammbäume von Arten und Spezies zu erstellen, was in das spekulative Interesse der romantischen Philosophie hinein spielte, gegenwärtiges Wirken von Einzelteilen im Gesamtsystem zu erkennen. Einer von Büchners Bekannten befasste sich mit diesem Thema. Ein weiterer Ansatz im „Woyzeck“ stellt die chemische Analyse in der Medizin und organischer Chemie dar, welche durchgeführt wurde, um physiologische Zusammenhänge zu erstellen. Dafür wurden Ernährungsversuche an Tieren und Menschen durchgeführt, welche den Zusammenhang von Störungen im Verdauungstrakt mit psychosomatischen Auswirkungen dokumentierten. Büchner las wahrscheinlich Lektüren der medizinischen Forschung und stieß dabei auf Liebig, Magendie und Tiedemann und Gmelin. Karl Justus Liebig führte Experimente an Soldaten durch, welche im „Woyzeck“ aufgenommen werden. Die Frage nach einer möglichst kostengünstigen Ernährung von weitern Bevölkerungsschichten, waren dafür die Motivation. Eine Vorlage für die Figur des Doktors im „Woyzeck“ lässt sich mit Dr. Johann Bernhard Wilbrand, welchen Büchner in seiner Studienzeit in Gießen trifft, finden. Die Ähnlichkeit ist durch Zeitzeugen nachweisbar. Seine gehetzte Wesensart ist ebenso in der Figur des Doktors wiederzufinden, wie seine Einstellung gegenüber der spekulativen Naturphilosophie. Dass der Mensch durch die Kraft seines Geistes über seinen Körper frei verfügt, ist eine These, welche die Doktorfigur gegenüber Woyzeck zum Ausdruck bringt. Wenn man diese historischen Fakten mit Büchners Woyzeck und dort vor allem mit der ersten Doktorszene in Verbindung setzt, fällt Folgendes auf: Das Erbsenessen, zu dem der Doktor Woyzeck anhält, stellt ein Experiment dar, wie es von Liebig hätte durchgeführt werden können. Da auch Woyzeck ein Soldat ist, ist der Zusammenhang noch auffälliger. Der vom Doktor erwähnte Musculus constrictor vesicae, also Blasenschließmuskel, ist dem Willen des Menschen unterworfen, so wie er es erwähnt und spiegelt die Einstellung gegenüber der spekulativen Naturphilosophie wieder. Dagegen ist das von ihm verwendete Wort „Hyperoxydul“ nicht existent und daher ein Kunstwort. Die Perspektive, in welcher der Doktor seinen Patienten betrachtet, ist die eines Subjekts. Er nennt ihn das „Subjekt Woyzeck“, sieht ihn als Unterworfenen. Dabei ist die Sprache dem Stand angemessen, indem Woyzeck die Umgangssprache, sein Gegenüber hingegen hauptsächlich Fachjargon nutzt. Nicht nur der Doktor, sondern auch der Hauptmann wird von Woyzeck nur mit dem jeweiligen Titel angesprochen. Sie besitzen keine Namen, was daher ein Privileg der Unterprivilegierten – Franz Woyzeck und Marie – zu sein scheint. Aus der Sicht des Lesers bewegen sich die moralischen Handlungen umgekehrt zu den sozialen Schichten der Figuren. Während in den Schichten der Doktor und der Hauptmann sich über Woyzeck befinden, scheint Woyzeck eine bessere Moral zu besitzen als jene. Dies lässt sich vor allem an deren Verhalten ablesen. Sowohl der Doktor als auch der Hauptmann sprechen Woyzeck nur in der dritten Person an. Dieser führt ohne Fragen ihre Befehle aus. Der Doktor spricht gegenüber Woyzeck von Dingen, von denen er nichts wissen kann. Er stellt ihm bedrohliche Fragen, die seinen Patienten entweder Antworten lassen, oder dazu verleiten in den Wahnsinn zu fliehen. Dieses Verhalten klassifiziert der Doktor dann. Woyzeck wird von ihm als Hund bezeichnet, als ein gehorsames Tier, das dem Menschen treu ergeben ist. Dadurch wird die übergeordnete Position des Doktors weiter verstärkt. Das Verhalten des Doktors ist nicht dadurch begründet, dass er Woyzeck heilen möchte, er sieht ihn als bloßen Kasus, den es gilt zu untersuchen. Im gezeigten Theaterstück wird dieses Verhalten durch die Körpersprache verdeutlicht. Wenn der Doktor im Fachjargon spricht, Woyzeck also einschüchtert, befindet sich sein Körper in einer höheren Position als jener von Woyzeck.

Die nüchterne Sichtweise des Doktors auf die Welt lässt sich nicht nur anhand Woyzecks beobachten, sondern auch daran, wie er sich selbst klassifiziert. Er präsentiert sich als eine entseelte Figur, die wie eine Maschine funktioniert und keinen eigenen Charakter besitzt. Dem entgegen wurde Woyzeck konzipiert. Er besitzt Emotionen und scheint körperlich wärmer. Das Wissenschaftsbild des Doktors steht in der Tradition des Stoffwechselkreises. Die Materialisten des 18. Jahrhunderts waren der Ansicht, dass sich Stoffbeimengungen in der Nahrung oder eine OP, auf die Psyche auswirkt. Dieses Bild lässt sich an Woyzeck wieder entdecken, der unter Einfluss von bestimmten Stoffen zu phantasieren beginnt, während der Doktor davon sehr fasziniert ist. In der Mordszene begibt sich Woyzeck in die Rolle des Arztes. Er versucht das Sterben der Marie zu analysieren und zu reflektieren. Woyzeck verändert seine Position in der Gesellschaft. Während er in anderen Szene eine Position unter den anderen handelnden Figuren einnimmt, erscheint er hier viel dominanter und wertet Marie ab, so wie er abgewertet wurde. Er verliert seine warme Wesensart und erscheint kaltblütig. Seine innere, eifersüchtige Stimme kann nicht ertragen, dass sie mit anderen schläft, daher erscheint ihm ein Mord an Marie als einziger Ausweg. Da er zuvor das Messer erwirbt, kann nicht von einer Affekthandlung ausgegangen werden. In seiner letzten Unterhaltung lässt er Anspielungen auf seine kommende Tat fallen: „Wenn du kalt bist, frierst du nicht mehr!“ Zum Ende der Handlung nimmt der Wahnsinn des Woyzeck seinen Höhepunkt. Seine ausweglose Situation legitimiert er durch die Stimmen in seinem Kopf, dieses spiegelt sich durch den Satzbau wieder. Die Sätze werden elliptisch und er wirkt gehetzt und emotional. Er scheint sich nicht mehr daran erinnern zu können, was er getan hat, scheint aber zu denken, dass er Marie von ihren Sünden erlöst hat. Dr. Clarus, der Gutachter des historischen Woyzeck, hat einige von dessen Aussagen festgehalten, die Büchner in der Handlung mit verarbeitete. Woyzeck hat auf seinen Reisen von den Freimaurern erfahren, wodurch er sie in seine Phantastereien mit aufnahm und sich von ihnen verfolgt fühlte. Auch dieses wird in die Figur des Woyzeck mit einbezogen. Ein weiterer Hinweis dafür, dass Büchner den Text des Dr. Clarus kannte, ist die Verwendung der Worte „Immer zu, immer zu!“, die abgewandelt aus dem Gutachten „Immer drauf, immer drauf!“ stammen. Viele der Abschnitten werden Original in der Handlung verwendet. Martina Kitzbichler formuliert es in ihrem Buch „Aufbegehren der Natur“ wie folgt: „Der Wahnsinn und der Mord Woyzecks erscheinen als Symptome der Niederlage des Ich in diesem Konflikt, definiert als mißlungene, und darum pathologische Abwehrreaktion gegen die Invasion äußerer Ansprüche in die Leibseele. Die Kontinuität des Leidens und der soziale Ort im Klassengefüge heben die Macht des Gewissens auf. Das Phatologische erscheint dem Mediziner Büchner somit auch hier als Gesellschaftlich verursachtes Phänomen, als Konsequenz der wahnhaften Selbstinszenierung der Rationalität. Damit sind seine tiefenpsychologischen Erkenntnisse unmittelbar an die Beobachtung der historisch entstandenen Herrschaftsverhältnisse gebunden.“ In Georg Büchners „Schädelnerv“ stehen sich zwei Grundansichten gegenüber, zum einen die teleologische, zum anderen die philosophische Ansicht. In der teleologischen setzt die Wirkung einen Zweck voraus, so wie es im Verhältnis zwischen Auge und Tränendrüse zu beobachten ist. Der Zweck der Wirkung ist dabei entscheidend und sein Nutzen wird beobachtet. Diese Ansicht ist in der Figur des Doktors vertreten. In der philosophischen Sichtweise besitzen die Organe keinen Zweck, sondern sind um ihrer selbst willen existent und besitzen daher einen ästhetischen Wert. Daran ist abzulesen, dass Büchner eher ein Dichter als ein Mediziner ist, wobei diese beiden hier miteinander verschmelzen, obwohl eine Tendenz zur philosophischen Perspektive zu erkennen ist.

23.5.: Protokoll zu Georg Büchners Woyzeck Thomas Steinherr In dem Werk Woyzeck von Georg Büchner ist der Protagonist, welcher den gleichen Namen wie der Titel trägt, ein Soldat, der sich für Ernährungsexperimente zur Verfügung stellt. Das Drama ist als eine Art Dokumentarismus zu betrachten, da er an den historischen Woyzeck angelehnt ist. Der Protagonist und der historische Woyzeck entstammen beide der unteren Gesellschaftsschicht. Der historische Woyzeck soll Christiane Woost getötet haben, woraufhin er direkt verhaftet wurde und am 27.08.1824 auf dem Leipziger Markt hingerichtet wurde. Der Protagonist in Georg Büchners Werk ermordet Marie, welche als Anlehnung an Christiane Woost zu sehen ist. In dem Werk zeichnet sich ein Wirkungskreis ab, welcher eine Interdependenz zwischen Physiologie, Somatik und Psychologie aufzeigt. Diesem liegt die Beobachtung der Natur, also der Artenvielfalt und der Spezies an sich, zugrunde, was als ein Spiegel der historischen medizinischen Konzepte in diesem Werk Einfluss findet. Zur damaligen Zeit war ein Trend zur Ernährungspsychologie zu verzeichnen. Aus der damaligen Forschung sind einige Namen zu nennen. Zum einen Karl Justuf Ließing, der durch Beobachtung des Ernährungsverhaltens Fachliteratur erstellte. Tiedemann und Gneli beschäftigten sich im Wesentlichen mit den Verdauungssäften und Karl Gotthilf Lehmann begründete seine Theorien auf die Analyse der Konzentration im menschlichen Harn. In Büchners Werk treten genau diese zeitgenössischen Überlegungen auf, da der Protagonist von dem gehetzt und unruhig wirkendem Doktor Willband nur mit Erbsen gefüttert wird. Dieses Experiment geht aus der Überlegung hervor, große Bevölkerungsgruppen, welches in der damaligen Zeit die niedrige Schicht war, mit Erbsen ernähren zu können. Der Filmbeitrag zu der Szene der Untersuchung durch Doktor Willband stellt auf skurrile Art die Person des Woyzeck dar, welcher als Versuchsobjekt des Doktors zu beobachten ist. Es soll geprüft werden, ob der Schließmuskel dem freien Willen unterworfen ist, was später herausgestellt wird. Differenzen entstehen hier bereits in der Dialogführung, da die Äußerungen des Doktors primär in Fachsprache getätigt werden, wohingegen Woyzeck in der damaligen Alltagssprache zu antworten versucht. Der Doktor stellt fest, dass die Harnwerte des Woyzeck zu niedrig seien (bei etwa 0,1) und er sich dadurch in einem schlechten Zustand befindet. Hier finden die historischen Theorien der Medizin Anwendung (siehe Karl Gotthilf Lehmann) und durch einen gewollt überspitztem Dialog zwischen dem Woyzeck und dem Doktor fließt das Fachvokabular ein. Dort wird das vermeidliche Fachwort „Hyperoxidol“ von Woyzeck ausgesprochen, bei welchem es sich um ein Kunstwort handelt. Eine weitere Differenz, welche durch die Sprache zum Ausdruck kommt, ist die Hierarchie zwischen den beiden Personen. Der Doktor sieht Woyzeck lediglich als (Versuchs)Objekt, was er durch „subjektum“ also „der Unterworfene“ zum Ausdruck bringt, ihn als Hund betitelt oder ihn permanent in der dritten Person anspricht. Woyzeck hingegen ist abhängig vom Doktor, da dieser seine Unschuld beweisen könnte, indem er ihm zugesteht, dass er keinen freien Willen hat. Eine interessante Beobachtung an dieser Stelle ist, dass die Figuren im Woyzeck mit ihren Berufen angesprochen werden. So gibt es den Hauptmann und Doktor Willband, der lediglich als Doktor bezeichnet wird. Hierdurch wird der soziale Stand der Personen herausgestellt, welcher sich über den Stand des Soldaten Woyzeck befindet. Blickt man hingegen auf den moralischen Stand, also der Handlungsintention, so steht Woyzeck über dem Doktor und dem Hauptmann. Der Doktor hingegen stellt Selbstdiagnosen, was den Anschein erweckt, dass er wie eine Maschine funktioniert, also keinen eigenen Charakter besitzt. Daraus lässt sich das

Wissenschaftsbild des Doktors ableiten, welches in diesem Fall das des Materialisten ist. Er steht somit in der Tradition der „Lo Machine“, da er Körpersäfte untersucht. In der Mordszene hingegen übernimmt Woyzeck die Rolle des Arztes, da er durch das Beobachten des Hinscheidens der Marie über das Sterben reflektiert. Dies äußert sich durch sein schnelles Nachfragen, ob Marie bereits tot ist. Doch es gibt noch weitere Auffälligkeiten im sprachlichen Verhalten des Woyzeck innerhalb dieser Szene. Er wird nicht, wie gewohnt, passiv dargestellt, sondern als dominant. Blickt man auf den Charakter des Woyzeck in dieser Szene, so erscheint er kaltblütig, bedingt durch den Mord, und eifersüchtig durch abschätzende Bemerkungen wie „Hurenatem“. Dies scheint Marie zu bemerken und versucht sich Woyzeck zu entziehen indem sie sagt: „ich muss fort, der Nachttau fällt“. An dieser Äußerung sind zwei Dinge zu beobachten. Zum Einen das Wort „Nachttau“, welches nicht zufällig gewählt wurde, sondern das Böse in der damaligen Zeit repräsentierte, wohingegen der Tag für die Vernunft stand. Zum Anderen „Nachttau“ als Kompositum, welches für das Fließende steht und daher lebendig und leidenschaftlich wirkt. Dies ist adäquat zu Blut und Tränen, welche man als Körpersekret des 18. Jahrhunderts angesehen hat. Zuletzt kann man in Szene 23 einen langen Monolog von Woyzeck betrachten, der ebenfalls durch seine sprachlichen Mittel auffällig ist. Durch den dominierenden parataktischen Aufbau der Sätze und der häufigen Benutzung von Ellipsen, wirkt der Protagonist in dieser Szene gehetzt und unruhig. Durch die Selbstlegitimation entsteht ein auswegloses Denken, welches sich in den Sätzen wiederspiegelt. Hierdurch wird deutlich, dass Georg Büchner eine klare Vorstellung vom Woyzeck hat, nämlich den historischen Woyzeck. Diese Beiden weisen Parallelen auf, wie zum Thema „Freimaurer“. Der historische Woyzeck wird nach der Reise durch Europa in seinen Träumen von den Freimaurern verfolgt. Im Drama Woyzeck sind diese Phantasien ebenfalls aufgegriffen worden. Durch den Nachweis des Fehlens des freien Willens, könnte Woyzeck vom Doktor freigesprochen werden. Allerdings wird dies nicht gewährleistet, da der historische Woyzeck keine Seelenstörung hat und somit wird er wegen Mordes zum Tode verurteilt. Büchner liefert mit diesem Drama ein Gegengutachten, welches zeigen soll, dass durch die soziale Determination und der gesellschaftlichen Hierarchie, Woyzeck nicht verurteilt werden durfte. Abschließend gibt es noch zwei pathologische Grundgedanken zu nennen, welche im Woyzeck dargestellt werden. Zum einen den theologischen Grundgedanke, welcher die Wirkung der Organe als einen Zweck ansieht, woraus ein ewiger Zirkel entsteht. Zum anderen ein philosophischer Grundgedanke, der aufzeigt, dass die Organe ihrer selbst Willen existieren und einen ästhetischen Wert innehaben. Der theologische Grundgedanke äußert sich im Verhalten und der Weltanschauung des Doktor Willband. Der philosophische Grundgedanke hingegen wird durch den Dichter Büchner, also künstlerisch dargestellt. Als Resümee sei festzuhalten, dass der Arzt Georg Büchner mit dem Dichter Büchner verschwimmt, jedoch zum philosophischen Grundgedanken tendiert. 2.5. Thomas Höffgen Die Sitzung vom 02.05.2007 des germanistischen Hauptseminars „Poetologie/Pathologie“ thematisierte die 1780 veröffentlichte medizinische Dissertation „Philosophie der Physiologie“ von Friedrich Schiller. Der erste Paragraph besagter Schrift beschreibt das Universum als Werk unendlichen Verstandes. Der ihm innewohnende Mensch ist ein mit Göttlichkeit geadelter Geist, dem es gilt den Plan des Ganzen zu entdecken; Gottgleichheit sei die Bestimmung des Ganzen.

Die angesprochene „Vollkommenheit“ ist ein typisch klassizistischer Kunstgedanke. Weiterhin wird der Grundgedanke des Mitleidens thematisiert, der seit Lessings Umdeutung des aristotelischen Katharsiseffektes zeitgenössischer Konsens ist. Die wohl auffälligste, weil ungewöhnlichste Stelle des ersten Paragraphen ist die Erwähnung Schillers der „empfindenden Natur“ im Sinne des Stürmers und Drängers. Ungewöhnlich ist dieser pantheistische Grundgedanke im Kontext einer medizinischen Dissertation; Schiller weist hier deutliche literarische Tendenzen auf und spricht wie ein Dramatiker. Im zweiten Paragraphen greift Schiller auf eine neuartige Wissenschaft vor; die Psychologie: Er stellt „Innerlichkeit“ in direkten Zusammenhang besagter Wissenschaft und somit aus dem Fokus der Physiologie. Seine Theorie der undurchdringlichen Materie und des durchdringlichen Geistes, führt zu der Frage wie Materie auf den Geist wirkt. Schiller geht hier von einer sg. Mittlerkraft aus, die ein Zusammenspiel zwischen Materialismus und Idealismus ermöglicht. Dies sei undenkbar, aber philosophisch durchaus möglich. Im dritten Paragraphen beschreibt Schiller unsere Wahrnehmung als bloßes Erfassen der „Zeichen der Dinge“, anstatt ihres wesentlichen Kerns, und unterstreicht somit Emanuel Kants These des Vorenthaltenseins objektiver Erkenntnis des Dinges an sich; dem Menschen sei nur die Erscheinung erkennbar. Paragraph sechs greift die moderne wissenschaftliche Erkenntnis des Menschen als Nervenwesen auf, hebt jedoch gleichzeitig die daraus resultierende Erkenntniskrise hervor: Schiller führt hier die Idee eines Nervengeistes auf, der bereits angesprochenen Mittelkraft zwischen den grundverschiedenen Komponenten Materie und Geist. Der Nervengeist sei immateriell und elementar unvergleichlich. Alternativmodelle zeitgenössischer Mediziner sind Nervensäfte oder Nervenkügelchen; auch Descartes Seilzug ist nach wie vor nicht aus der Mode. Im Kontext der Lehrstuhl- bzw. Wissenschaftskonkurenz ist Schillers Nervengeistthese dennoch eher gewagt. Der neunte Paragraph lässt Schillers empiristisches Gedankengut gewahr werden: Er beschreibt wie Sinnesreize als sinnliche Idee auf die Seele treffen und dort Vorstellungen, Erinnerungen oder Assoziationen hervorrufen, beschreibt die Wahrnehmung von Sinneseindrücken also im Rahmen eines Kettensystems als Netzwerkknüpfung. Paragraph zehn beschreibt die materielle Assoziation als Grund auf dem das Denken ruht und trägt somit deutlich deterministischen Charakter; jedoch hat die Seele tätigen Einfluss auf das Denken und kann Sinnesreize stärken oder schwächen. Die Seele als innere Instanz wird hier mit deutlicher Wirkung nach außen beschrieben. Dennoch sind die Handlungen unfrei: Ein jeweiliger Außeneinfluss resultiert in einer Handlung. Die Instanz der Seele allerdings lenkt die Aufmerksamkeit ihrer selbst, steuert also ihre Wahrnehmung und beschreibt somit absolute Freiheit. Resümierend beschreibt Schiller also eine Verknüpfungskette aus Seele-Geist-Mittelkraft-Materieller Welt. 9.5. Thomas Höffgen

Die Sitzung des germanistischen Hauptseminars „Poetologie/Pathologie“ am 09.05.2007 behandelte die psychatrische/antipsychatrische Thematik des „Lenz“ von Georg Büchner. Im Gegensatz zum mechanistischen Weltbild (der Körper produziert das Bewusstsein), spricht eine animistische Anschauung von dem Einfluss der Seele auf den Körper; allgemeine Terminologie der Leib Seele Wechselwirkung ist „Influxionismus“. Der deutsche Universalgelehrte Christian Wolff (1679 – 1754) vermutete bereits 1750 (seelische) Kräfte unterhalb der rationalen Bewusstseinsebene und gilt als Aufklärer dunkler Erkenntniskräfte. Ihm folgte etwa Lessings Aufgreifen des Unbewussten in den 1760ern oder Karl Phillip Moritz’ „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde“ 1781 – 1791. Letzteres gilt als Einstieg in die Psychopathologie. Moritz bediente sich erstmals, ganz in empiristischer Manier, keinen fiktiven Fällen und griff somit erstmals das Unbewusste als Wissenschaftsgegenstand auf. In seinen „Aussichten zu einer Experimentallehre“ fordert er eine explizite Selbstbetrachtung zur Beobachtung des Menschen und legt den Fokus auf die „Geschichte seines [jeweils] eigenen Herzens“; die Aufmerksamkeit soll dem gegenwärtigen, wirklichen Leben geschenkt werden. Dies impliziert kein zwingendes Entziehen der eigenen Leidenschaften, ganz im Gegenteil, immerhin sind sie selber (auch) im Kern der Betrachtung, aber die Möglichkeit der sachlich-objektiven Distanz des „kalten Beobachters“. Das Betrachten des fremden Menschen hätte nur ein oberflächliches Erkennen zur Konsequenz. Moritz vergleicht diese Problematik mit dem Betrachten eines Uhrzeigers, der viel preisgibt, nichts jedoch über das innere Uhrwerk; im Kontext des Menschen: Die Seele. Diese wissenschaftliche Aufforderung begründet die moderne Psychologie. Literaturgeschichtlich wird um diese Zeit erstmalig auch die innere Geschichte des Protagonisten thematisiert; vorherige Helden handeln zwar, weisen aber keine psychologische Tiefe auf. Nun wird auf die Innenschau literarisch verarbeitet. Mit Karl Phillip Moritz entsteht sowohl das literarische Interesse an der Psychologie, als auch die moderne Psychologie im Allgemeinen. Georg Büchners Erzählung „Lenz“ – erstmals im Jahre 1839 erschienen – greift exakt dieses literarische Interesse an Psychologie auf. Der Autor beruft sich jedoch auf die Protokollierung eines 3-wöchigen Aufenthalts vom Stürmer und Dränger Lenz, seitens des Pfarrers Joh. Fr. Oberlin (1740-1826), 1780, und widerspricht damit Moritz’ Forderung der Introspektive. Büchner stützt sich auf besagte Aufzeichnungen und erweitert sie. „Heißt das gelebt? Heißt das seine Existenz gefühlt, seine selbstständige Existenz, den Funken Gottes?“ – dieses Lenz’sche Zitat spielt auf die zeitgenössischen aristokratischen bürgerlichen Verhältnisse an, die ihm unerträglich erscheinen und ihn dem Wahn verfallen lassen. Lenz’ Wahrnehmung hält sich nicht an Naturgesetze äußerlicher Art, sondern bedient sich (äußeren) Aspekten, die sein Inneres verändert und variiert: Einblicke in die Lenzfigur der Seiten 5-21 stellen Wahrnehmungssplitter dar, die deutlich hyperbolisiert werden; Raum und Zeit verlieren ihre tatsächliche Struktur und der innere Ablauf dominiert die Szenerie. Nicht das Bild der äußeren Welt, sondern Lenz’ Seelenlandschaft wird aufgeführt. Stilistisch hervorgehoben wird dieser Zustand durch die Verwendung der Ellipse (�������s), also der Aussparung – in diesem Fall: - des Verbs, um den fragmentarischen Charakter der Natur bzw. dessen schnellen Eindrucks aufzuzeigen. Offensichtlich handelt es sich hierbei um eine Fiktion Büchners; dem Protokoll Oberlins sind diese Lenz’schen Eindrücke unmöglich bekannt. Ebenso lässt Büchner absichtlich Jahres- und Ortsangabe der authentischen Aufzeichnung Oberlins weg und gibt stattdessen ausschließlich ein nichts sagendes „20ter“ preis. Die, durch die Ellipse initiierten, unmittelbaren Eindrücke symbolisieren unvermittelte Emotionalität und lassen des weiteren Rückschlüsse auf das

außergewöhnliche, doppelte Erzählerperspektive zu: Es wird ständig zwischen auktorialem und personalem Erzählen gewechselt; souveräner Standpunkt des Erzählers und mimetisches (nachahmendes) Erzählen geben sich die Hand. Das auktorial angewandte epische Praeteritum wird durch Einschübe á la „Aber alles so dicht […] so träg und plump“ abgelöst. Während des mimetischen Erzählens, nimmt der Erzähler die Welt aus der Perspektive des Protagonisten wahr und spricht mit dem Vokabular des Lenz. Der Perspektivenwechsel, teilweise innerhalb eines Satzes, erzeugt Spannung und Dynamik. Die ruhigen, diagnostisch vollendeten Sätze des Erzählers wandelt sich unvermittelt in die impulsive Kurzatmigkeit des Lenz. Der Psychologe Büchner verweist mit dieser gekonnten Stilistik auf die Pathologie des Lenz und schenkt ihr weitere Glaubwürdigkeit. Betont werden darüber hinaus die gemehrten Wahrnehmungskanäle, d.h. das vollständige Spektrum der Sinneswahrnehmung wird aufgegriffen; nicht bloß die visuellen Eindrücke thematisiert. Es entsteht der Eindruck einer undifferenzierten Wahrnehmung, einer ungefilterten Reizflut: Lenz nimmt Daten aus der Landschaft wahr, übersteigert diese und beschreibt letztlich seine Sicht der Dinge. Lenz weist hier eine pathologisch-synästhetische Veranlagung auf, indem unterschiedliche Sinneseindrücke vermischt werden; so entsteht ein Spiel mit Räumen, bei dem etwa ein See im Himmel anzutreffen ist, da die farbliche Komponente eine ähnliche ist. Generell spielt bei der Lenz’schen Wahrnehmung die Farbe eine primäre Rolle; Farben lösen sich vom Raum und stellen eine selbstständige Entität dar. Vgl. abstrakte Malerei des 19. Jahrhunderts. 6.6. Alfred Döblin – Die Ermordung einer Butterblume Stefanie Schwanewilms Bei der ersten Betrachtung des Titels „Die Ermordung einer Butterblume“ gibt es unterschiedliche Eindrücke und Erwartungen, was sich hinter dem Begriff der Butterblume verbergen könnte. Allerdings wird bei der Lektüre der Erzählung deutlich, dass es sich wirklich um die Ermordung einer Butterblume handelt. Das erste Lesen zeigt, dass es sich um einen einfachen Sachverhalt handelt, der akribisch ausformuliert ist, aber keinen richtigen Höhepunkt aufweist. Bei der intensiven Betrachtung des Textes fallen gleich zu Beginn besonders die Körperbewegungen der Hauptfigur Michael Fischer auf. Beim Gehen zählt er seine Schritte, benahe zwanghaft. Seine Art spazieren zu gehen ist eine merkwürdige. Er betrachtet nicht die Landschaft um sich herum und seine komischen Bewegungen würden unter ,,normalen“ Spaziergängern auffallen. Sowohl sein Spazierstock als auch seine Körperteile scheinen lebendig zu sein, was anhand von Personifikationen in der Erzählung dargestellt wird. Als Michael Fischer in seinem Spazierrhythmus gestört wird, fühlt er sich provoziert, wird aggressiv und steigert sich völlig in diese Situation hinein. Michael Fischer hat eine gestörte Wahrnehmung in Bezug auf sich selbst. Er kann nur durch das Ertasten seines Gesichts feststellen, dass es verzerrt ist. In der erlebten Rede reflektiert er sein Verhalten, besonders vor dem Hintergrund, was andere über ihn denken könnten. Seine Erklärung für dieses Verhalten, die Stadt mache ihn nervös scheint unzulänglich, da Michael Fischer sich zu diesem Zeitpunkt im Wald befindet. In der Ermordungsszene ist die Wahrnehmung des Michael Fischers nur noch halluzinatorisch. Gerade die Menge „weißen Blutes“, das aus dem Hals des abgeschlagenen Blütenkopfes quillt, bestätigt dies.

Das Verhältnis von Michael Fischer zu seinem Körper wird als distanziert dargestellt. Er hat eine diffuse Körperwahrnehmung und verfällt in eine Art Ohnmacht über seinen eigenen Körper, denn dieser scheint sich zunehmend zu depersonalisieren. Michael Fischer spricht sogar mit seinen Körperteilen. Zu seinen Füßen sagt er: „Nach Kanossa gehen wir nicht“, was so viel bedeutet wie, wir lassen uns nicht demütigen. Die Einbildung des Telegraphen ist ein Hinweis auf eine psycho-pathologische Störung, da Technik in diesen Fantasien oft eine Rolle spielt. Als Michael Fischer zum Tatort zurückkehrt gibt er der getöteten Butterblume den Namen Ellen, der er von da an, zur Wiedergutmachung, ein Näpfchen zur Opferung von Speise und Trank widmet und monatliche Geldbeträge überweist. Michael Fischer scheint als würde er von höheren Mächten gesteuert, als sei sein Verhalten fremdveranlasst. Es werden Versatzstücke aus seinem Beruf, aus der Religion und dem Gerichtswesen in seine Phantasien übertragen. Am Anfang der Erzählung noch als dick beschrieben, verliert Michael Fischer im Laufe der Erzählung zunehmend an Körpergewicht. Auch das Verhältnis zu der Butterblume Ellen verändert sich. Das Näpfchen zur Wiedergutmachung stößt er um und bei den Geldüberweisungen verrechnet er sich zu ihren ungunsten. Er sucht Ersatz für Ellen und überträgt das Verhältnis auf die neue Pflanze. Als die Hauswirtschafterin diese Pflanze umstößt, ist Michael Fischer sie losgeworden, ohne es verschuldet zu haben und schließlich von der Übermacht befreit. Dennoch hat sich das Verhältnis von Michael Fischer zur Natur nicht verbessert. Er zeigt nach wie vor sadistisches Verhalten, hat jedoch keine Schuldgefühle mehr und zeigt auch keine Reue. Im Gegenteil, seine Aggressionen scheinen sich von Pflanzen zu Tieren zu steigern. Er verspottet die Natur. Der Charakter des Michael Fischer zeichnet sich durch Zwanghaftigkeit, neurotische Psychosen und aggressive Neurosen aus. Passt dieser Charakter in die wilhelminische Zeit in der diese Erzählung geschrieben worden ist? Verbirgt sich Wahnsinn hinter der bürgerlichen Fassade? Die Antwortet lautet ja, denn individuelle Neurosen haben immer etwas Soziales in sich. Michael Fischer nennt Paragraphen über Schuldkompensation und sowohl juristische als auch militärische Ausdrücke bilden Versatzstücke seiner Neurosen. Ein ebenfalls autoritärer Charakter der wilhelminischen Zeit wird in Thomas Manns- Der Untertan beschrieben. Zur Biografie Alfred Döblins (1878-1957) Döblin studierte nach dem Abitur Medizin, insbesondere Neurologie und Psychiatrie. Er übertrug seine Erkenntnisse als Nervenarzt und Psychoanalytiker auf die Literatur und forderte aus den realen Ereignissen zu lernen. Er promovierte zum Thema Merkschwächen und das Problem Erinnerungen auf bestimmte Situationen zu übertragen. Bei dieser so genannten Projektion werden Versatzstücke aus der Realität auf den Wahnsinn übertragen. 13.06.2007 Gottfried Benn: „Unter der Großhirnrinde“ & „Morgue-Lyrik“ Tim Voßnacke In Gottfried Benns Werken werden zahlreiche Diskurse - wie, der medizinische, anthropologische und ästhetische Diskurs -, die auch im Rahmen unseres Seminars die Hauptrolle spielen, zusammengeführt. Benn, der 1886 geboren wurde, war bezeichnenderweise wie Schiller, Büchner und Döblin auch Mediziner – er studierte seit 1905 an der Kaiser-Wilhelm-Akademie in Berlin Medizin. Im Jahr 1911 erscheint in der Sonntagsausgabe der Frankfurter Zeitung der gattungsmäßig schwer einzuordnende Essay

„Unter der Großhirnrinde“ – Benns erster veröffentlichter literarischer Prosa-Text überhaupt. Dieser wird 2003 erst wiederentdeckt und gilt als literarische Sensation. Am Ende dieses Textes steht die geplante Flucht des Ich-Protagonisten, der Bruch mit und die Abkehr von der modernen Zivilisation. Was bringt ihn dazu? Dies wird im vorangegangenen Text überaus deutlich: Dort prangert der Ich-Erzähler die Abhängigkeit der Menschen in der modernen Gesellschaft von der Doktrin der rationalen Erkenntnis an. Alles dreht sich nur um Wissen, Wissenschaft und Rationalität. Der Intellekt frisst Hirne auf, wie Affen Äpfel fressen. Der Mensch ist auf das Denken reduziert auf das Menschenbild des reinen Hirnmenschen. In dieser Skepsis knüpft Benn an Hofmannsthal an, der in seinem „Chandos-Brief“ ebenfalls kritisiert, dass keineswegs mehr Zusammenhänge gedacht werden, sondern dass das Denken Selbstzweck, nur noch leere Doktrin ist, nur noch eine Hülse und Schall & Rauch. Eine Abwertung und Reduzierung der Bedeutung von Denken und Rationalität macht Benn deutlich, indem er die Vorstellung aufzieht, was passieren würde, wenn man ein menschliches Gehirn teilweise schädigen würde; wenn man „eine Nadel oder eine Gabel nehmen und eine bestimmte Stelle der Oberfläche ein bißchen abschaben“ würde. Laut Benn würde der Körper trotzdem noch funktionieren, der Mensch würde trotzdem noch überleben können. Die Verbindung von Hirn und Körper ist laut Benn mehr als zufällig, es ist ein zufälliges Funktionieren. Das Gehirn als eine zufällige Steuereinheit ist im Grunde also vom Rationalismus hochgezüchtet und fälschlicherweise hochgehalten worden. Das Hirn verarbeitet lediglich Eindrücke und Impressionen, es bringt Assoziationen hervor – mehr nicht. Die ach so mächtige Großhirnrinde ist nicht halb so mächtig wie sie scheint. Hierin liegt die feindliche Betrachtung der modernen Wissenschaften, die die Seuche der Erkenntnis hochhalten, begründet. Obwohl Benn selbst ein Kind der Wissenschaften ist (s.o.) oder gerade deswegen ist er Antirationalist: Reine Erkenntnis und Rationalität reichen nicht zum Leben. Die Geschichte, die den Rationalismus derartig glorifiziere, sei ein Irrweg. Als Gegenentwurf seht er sich zurück in die Zeit, als wir „mal im Laube gewohnt und uns in Erdlöchern gewärmt haben“, also ein Zurückbringen an die „niederen Zentren“. „Es muss sich früher leichter gelebt haben als Gott den Eingang und den Ausgang aller Wissenschaften segnete“, sagt er. Benn sieht den Fluchtpunkt aus dem Zwang zum Rationalismus in dem radikalen Austritt aus der Moderne und eine Rückführung in eine elementare Lebensform. Dieser Fluchtpunkt kann in der Natur liegen, die ein elementares Dasein, eine einfachste Lebensform ermöglicht, wo auch Gefühl und andere Werte als Erkenntnis zählen. Die propagierte Abkehr von der Ratio birgt aber auch Gefahren politischer Art. Wenige Jahre später wird sich die rechte Bewegung gerade ein Abzielen auf die emotionalen Bedürfnisse der Menschen zu Nutze machen und in Anlehnung an das Konzept eines „élan vital“, eines Vitalismus, der alle Menschen als gleich ansieht, auf die Gefühle und die Emotion der Menschen setzen. Das Grundanliegen Benns, die Rationalismus-Skepsis und die Sorge um den Menschen in einer solchen Welt, wird auch in dessen Lyrik der sogenannten „Morgue-Lyrik“ deutlich. Als exemplarisches Beispiel kann hier das Gedicht „Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke“ gelten: Dieses einer Ästhetik des Hässlichen verpflichetes Gedicht, sieht den Menschen radikal nicht als denkendes Wesen, sondern viel eher als Gegenstand und auf den Körper reduziert. Ein Mann scheint eine Frau durch eine Krebsstation zu führen, die hier abwertend als „Baracke“ bezeichnet wird, was gemeinhin eher ein Ort zur Lagerung von Gegenständen ist. In einer Mischung aus extrem sachlicher und emotionaler Tonart werden

Kranke beschrieben, die nur noch „Klumpen Fett und faule Säfte“ sind. Der Mensch wird hier auf ein Fleisch- und Säftewesen reduziert, was einer Rückkehr zum Elementaren, zum Urzustand entspricht. Ratio und Erkenntnis spielen hier im Angesicht des Todes keine Rolle mehr. Dies ist ein eindeutiger Verweis auf die Vergänglichkeit des Menschen. Der Mensch erscheint im Gedicht als Objekt (man wäscht ihn „wie „man Bänke wäscht“), das zur Schau gestellt, vorgeführt und betrachtet wird- von einem denkenden Subjekt kann hier keine Rede mehr sein. Der Mensch wird auf seinen körperlichen Anteil zurückgeführt, der biologische Zerfall wird eindringlich deutlich. Auch der christlich-religiöse Glaube kann hier nur eine vorgespielte, eine enttäuschte Hoffnung sein. Benn erteilt derartig religiösen Vorstellungen eine klare Absage: Er verweist auf christliche Ikonographie und Symbolik („Rosenkranz“ und Fühlen der Wunden Jesu), ruft sie aber nur auf um diesen Hoffnungshorizont zu zerstören: der Geist und eine Seele sind nicht existent, Ratio ist im Tode nichts wert - was bleibt ist der Körper und nicht mehr. Die Aussage des Gedichts wird eindrucksvoll durch Oppositionspaare hervorgehoben, wie dass „noch ein Kind aus dem verkrebsten Schoß“ entnommen wird – also dass Anfang, Beginn des Lebens und das Ende, der Tod so nahe beieinander liegen. Auch im Gedicht „Kleine Aster“ wird die Reduktion des Menschen auf seinen Körper betrieben: es wird eine Sektion beschreiben, ein toter „Bierfahrer“ wird seziert. Im Zuge dieser Leichenöffnung wird der Körper zum Gegenstand, er wird zur Vase für eine Aster. Im Tod spendet der Mensch dieser Blume durch seine Säfte und Körperflüssigkeiten Leben. Der Mensch wird hier erneut auf ein Säftewesen reduziert. Auch hier sind Erkenntnis, Ratio und Verstand unwichtig. In diesem Gedicht korrespondieren Form und Inhalt auf besondere Art: Das formell sehr uneinheitliche Gedicht zeichnet sich vor allem durch seine Zeilensprünge (Enjambements) aus – diese sind wie Schnitte durch die Sätze und Verse des Gedichts. Dass inhaltlich eine Leiche zerschnitten, nämlich seziert wird, fügt sich hier ein. Eine solche Lyrik bezeichnet man als sog. „Sektionslyrik“ 20.06. 2007 Naima Khaloua In der Seminarsitzung vom 20 .06 ging es um das Werk ``Gehirne`` von Gottfried Benn. Benn und Nietzsche : Es gibt keinen anderen Namen, der bei Benn so oft vorkommt wie der von Nietzsche. Er ist der Begründer einer neuen Kunstlehre und spielt eine wichtige Rolle für die Literatur von Benn. Die Kunst soll für Nietzsche das sein, was früher die Religion war, das heißt die Kunst tritt an die Stelle der Religion. Auf den Spuren Friedrich Nietzsches verkündet er das „Artistenevangelium“. Das Artistenevangelium ist die Erhebung der Form ins absolute bzw. die Moral der Form. Der Sinn des Lebens liegt allein darin Artist zu sein. Nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein der Welt ewig gerechtfertigt. Die Zeit der Dekadenz beschreibt einen kulturellen Niedergang. Nietzsches Absage richtet sich nicht nur gegen den christlichen Gott sondern auch gegen den

Weingott Dionysos (das Irrationale, Chaotische, Ungeformte) und gegen alle möglichen Götter. Er bezweifelt nicht nur Gott sondern auch alle Wahrheiten. Die gelungene Form der Existenz ist für ihn die Kunst. Denn Wenn wir aus dem Leben kein Kunstwerk machen ist es verfehlt. Außerdem kommt es zu einer Überformungen der Kunst. Nur Kunst lässt nach Nietzsche die Welt da sein. Dies kann man auch als eine Flucht in die Kunstwelt deuten. Es geht um den Wertezerfall um die Heimatlosigkeit aber auch um das „verlorene Ich“ in der zerrissenen Welt der Moderne. Auch die Transzendenz ist für Nietzsche ein wichtiger Begriff. Transzendenz bedeutet Überschreiten des Verhaltens, Erlebens und Bewusstseins, sowie das Sichbefinden jenseits dieser Grenzen. Benn ist Mediziner aber auch Künstler. Es stellt sich jetzt die Frage wo ist er Mediziner und wo ist er Künstler? Wo wird Pathologie zur Poetologie? Gottfried Benn: Gehirne Die Novelle beginnt im Präteritum wechselt aber schnell in das Präsens. Es wird aus Rönnes Perspektive erzählt wie es bei Lenz der Fall ist. Im Lenz taucht das gleiche Phänomen auf. Es gibt nämlich immer einen Schwenk in den Kopf der Figur, von außen in die innere Person (Bewusstseinsroman). Die Wahrnehmung Rönnes zeigt sich in Impressionen (,,Ein blau flutet durch den Himmel``, S. 3). Die Farbe wird zum selbstständig handelnden Wesen. Es findet ein Wechsel von sachlicher Sicht zur emotionalen Sichtweise statt. Außerdem gibt es Beziehungen zur Malerei bzw. zum Impressionismus (abstrakte Farbbehandlung). Die Farbe scheint nicht an einem Gegenstand zu hängen. Zudem kommt es in Rönnes Wahrnehmung zu einer Blickvertauschung (,,Häuser an Rosen gelehnt``, S. 3) Die Eindrücke sollen schnell fixiert werden, da Rönne anscheinend ein Kurzzeitgedächtnis hat. Gedächtnis und freies Assoziieren sind Themen in der Medizin in dieser Zeit. Er will schreiben, damit nicht alles so herunter fließt und verloren geht. Mit fließen verbindet man Flüssigkeiten oder man denkt an einen Bewusstseinsstrom und dieser Bewusstseinsstrom soll mit der Schrift fixiert werden. Rönne nimmt Bewegungsbilder wahr. Es scheint als wären die Augen ein Objekt und verselbstständigt (``Dann lagen in vielen Tunneln die Augen auf dem Sprung, S. 3.) Man könnte sich vorstellen, dass eine Kamera im Zug liegt und diese Kamera ist das Auge.

Rönnes Wahrnehmung lässt sich auch mit einem Krankheitsbild verbinden nämlich mit der Ich-Dissoziation (Ich Zerfall, Ich Verlust, Realitätszerfall). Das Verhältnis zu seiner Arbeit wirkt ``fern und kühl`` und automatisiert bzw. distanziert. Hier findet eine Reduktion des Menschen auf seinen kranken Teil statt. (`´Inhaber des Ohr ``, S.4). Ohren Besitzer und Ohr scheinen voneinander getrennt zu sein. Rönne flüchtet in Assoziationswelten. ``Wenn die Geburtszange hier ein bisschen tiefer in die Schläfe gedrückt hätte...? Wenn man mich immer über eine bestimmte Stelle des Kopfes geschlagen hätte...? Was ist denn mit den Gehirnen? (S. 8) Hier ist der medizinische Essay Benns direkt in die Novelle eingearbeitet. Rönne sagt nicht nur, dass er fliegen will wie ein Vogel, sondern er tut es auch bis in die Satzgestalt hinein, was sich an den Gedankenstrichen zeigt. ``Aber nun geben sie mir bitte den Weg frei, ich schwinge wieder- ich war so müde- auf Flügeln geht dieser Gang...Entschweifungen der Schläfe``(S.8) Das Imperative löst sich auf (fragmentarische Struktur). Es existiert keine vollständige Syntax mehr, sie löst sich immer mehr auf. ``Umschweifung der Schläfe und Zerstäubung der Stirn ``(S.8) Dies ist eine poetische Überformung bis hin zur Alliteration. An dieser Stelle wird Benn der Mediziner zu Benn dem Poeten. Man kann auch von absoluter Prosa sprechen. Das Ziel sind hier vor allem die lautliche Qualitäten (Artistenevangelium: Erhebung der Form ins absolute). Die psychologische freie Assoziation wird zu einer poetisch, ästhetischen Assoziation. Lautliche rhythmische Qualitäten spielen jetzt eine Rolle. Die Prosa wird fast zur Musik, man kann auch sagen dass die Prosa an dieser Stelle zum Kunstwerk wird. Berliner Charite In der Charite wurde mit Strom experimentiert. Das ist der wissenschaftliche Hintergrund in dem Benn seine Ausbildung bekommen hat. Was in der Charite auch oft gemacht wurde ist, dass die Menschen die Aufgabe bekommen haben ihre Assoziationen aufzuschreiben. ,,Und nun vollzog sich über Maita-Malta-Strände-leuchtend-Fähre-Hafen-Muschelfressen-Verkommenheit-der helle klingende ton einer leisen Zersplitterung und Rönne schwankte in einem Glück.`` (S. 35). Auch hier kommt es zur freien Assoziation. Er zählt immer wider Dinge auf, die er mit dem Urlaub verbindet. Rönne flieht in seiner Gedankenwelt in den Süden.

Protokoll zur Sitzung am 20.06.2007 Gottfried Benn: Der Rönne-Zyklus Nicole Bischoff 1. Gottfried Benn und Friedrich Nietzsche Einleitend ging es um das Verhältnis von Gottfried Benn und Friedrich Nietzsche. Nietzsches Werk spielte für Benn eine große Rolle und es lassen sich häufig Anklänge Nietzsches finden. Für Benns Kunstästhetik war Nietzsche wegweisend. Benn sah in ihm einen der unerreichtesten Ästheten, der eine neue Kunstrichtung geschaffen hatte, die der „Kunst als Artistik“. Benns Ziel war es, die Formerhebung in das Absolute zu erreichen. Nietzsches Werk, bei dem die Form eine zentrale Rolle spielte, diente ihm zur Weiterentwicklung seiner Ästhetik. Für Benn ist das Dasein der Welt einzig in der Form des ästhetischen Phänomens gerechtfertigt. Die Kunst tritt hier an die Stelle der Religion und die Form ist die letzte metaphysische Aufgabe bei dem Zerfall der abendländischen Welt, die sowohl Nietzsche als auch Benn zu erahnen glaubten. Die Form wird bei Benn zum Sein, das Erleben wird Kunstform und so entsteht für ihn Autonomie. Er sieht Kunst als die eigentliche Aufgabe des Lebens. Auch Nietzsche sieht die einzige Garantie des Lebens in der Kunst. Wenn diese nicht vorhanden ist hat der Mensch sein Leben verfehlt (Nietzsches ästhetisches Manifest). An Wagners Oper sieht Nietzsche diese Idee verwirklicht. Alle anderen Welten sind zerstört und so bleibt nur der Untergang oder die Flucht nach vorn in die Ästhetik. 2. Der Rönne-Zyklus Die Analyse des Rönne-Zyklus wurde mit der Frage begonnen, an welchen Textstellen Benn als Mediziner spricht und an welchen seine Ästhetik durchscheint. Die 5 Rönne-Novellen sind in den Jahren 1914-16 entstanden. Der junge Arzt Rönne reist in eine Anstalt, um den dortigen Chefarzt zu vertreten. Während seines Aufenthaltes dort verändert er sich und seine Einstellung zu seiner Arbeit. Das führt schließlich zur eigenen Arbeitsunfähigkeit. Die Erzählperspektive wechselt zwischen auktorialem Erzählen und der Innenperspektive Rönnes, also dem Ich-Erzählen. Dies erinnert an Georg Büchners „Lenz“. Dort brach sich das Erzählen ebenfalls an den oft abrupten Wechseln von Außen- zu Innenperspektive, die nicht immer offensichtlich sind. In der ersten Novelle „Gehirne“ aus dem Jahre 1914 wird der Protagonist vorgestellt und seine neue Umgebung wird beschrieben. Erste Krankheitszeichen Rönnes zeigen sich. Rönne wird über sein Tätigkeitsfeld definiert: „Rönne, ein junger Arzt, der früher viel seziert hatte,…“2. Das Erzählen bewegt sich zunächst auf der personalen Ebene, dann erfolgt ein Wechsel in die Ich-Perspektive: „besprach er sich“3. Der Wechsel vom epischen Präteritum zum Präsens verdeutlicht dies. Der nachgestellte Hauptsatz: „Es geht also durch Weinland, besprach er sich, ziemlich flaches, vorbei an Scharlachfeldern, die rauchen von Mohn.“4 Er hat eine sehr impressive Wahrnehmung, er sieht starke leuchtende Farben und die Welt ist für ihn ein Vorbeirauschen und besteht aus Fetzen. Die Farbe ist nicht nur Objekt, sondern handelndes Subjekt: „ein Blau flutet durch den Himmel,“5. Hier finden sich Parallelen zur Kunst des Expressionismus, in der die Farben ebenfalls selbst handeln. Begann die Erzählung zunächst in einem sachlichen Protokollstil, wechselt es mit der Wahrnehmung von Farben in eine emotionale Sichtweise. Ein weiteres Element ist die Blickvertauschung beziehungsweise Assoziation. Das Haus lehnt an den Rosen und nicht umgekehrt, wie es statisch sein sollte. Das Verhältnis wird umgekehrt und zeugt von der 2 Benn, Gottfried: Prosa und Autobiographie, Frankfurt am Main 1998, S.19. 3 Ebd., S.19. 4 Ebd., S.19. 5 Ebd., S.19.

völlig anderen Perspektive, die Rönne auf die Welt hat. Auch der Satz „Augen lagen auf dem Sprung“6 zeigt seine ungewöhnliche Wahrnehmungsart. Die Augen scheinen abgetrennt von Rönne und sind so verselbstständigt. Später passiert das Gleicht mit anderen Organen. Dieses Element findet sich auch beim Protagonisten Michael Fischer in Döblins „Ermordung einer Butterblume“. Die Augen als Aufzeichnungsmaschine sind eine Ich-Dissoziation. Die Worte fließen und sind wie Flüssigkeiten, das Motiv des Fließens zieht sich gleich einem roten Faden durch die Novellen. Das Verhältnis zu seiner Tätigkeit wirkt automatisiert, kühl und distanziert. Der Patient, der Mensch, wird nicht genannt: „da kam ein Unfall“7 (Synaekdoche). Im Satz „Inhaber des Ohrs“8 zeigt sich, dass der ganze Mensch verschwunden ist, der Patient scheint an dem Ohr zu hängen, er wirkt wie ein Auswuchs. Das vermittelt dem Leser eine distanzierte Haltung zum Patienten. Am Ende der Gehirne-Novelle wirft er die Frage nach den Konsequenzen der Beschädigung des Gehirns auf. Damit greift er sein Essay-Thema „Unter der Großhirnrinde“ wieder auf. Der Vogel erscheint hier als Symbol für das Ausweichen in das Kreatürliche. Im Drama „Ithaka“ wünscht Benn sich, dass alle Menschen Quallen wären, da sie es in dieser Seinsform leichter hätten. Im Schluss der Novelle fliegt der Geist praktisch davon, die Gedankenstriche stehen für die Flügelschläge. Die Form des Textes zeigt das Fliegen, hier schimmert also die Formästhetik Benns durch. Die Satzform ist unvollständig, die Syntax ist aufgesplittert, auch dies zeigt das Fortfliegen der Seele beziehungsweise des Menschen. Das freie Assoziieren wird hier zum Schreiben. Die absolute Prosa zielt vor allem auf lautliche Qualitäten, wie in Nietzsches Artistenevangelium. Wo die Seele sich löst, wird es lautlich und rhythmisch, das Ganze wirkt wie ein Kunstwerk. An dieser Stelle zeigt sich der Übergang vom Psychologen und Mediziner zum Dichter. 3. Benn und die Berliner Charité Gegründet wurde die Charité 1710 als Pesthaus. Der erste Weltkrieg machte aus dem psychiatrischen Großkrankenhaus ein großes Sterbehaus. In den Jahren 1911-12 hatte Benn eine Stelle als Unterarzt im Berliner Krankenhaus. Die medizinische Psychologie ist die Anwendung von Erkenntnissen und Methoden der Psychologie auf die Medizin. Wichtige Vertreter der medizinischen Psychologie waren zum Beispiel Theodor Meynert (1833-1892) und Paul Emil Flechsig (1847-1929). Auf sie bezieht sich Benn in seinem Aufsatz. Bei den Krankheiten der Psyche sah man den Körper aus Ausgangsherd, die Materie bestimmt also die Psychosen. Dies lernte auch Benn. Ende des 19. Jahrhunderts kommt die Nervenforschung auf, auch dies nimmt Benn in der Charité auf. Er beginnt damit, Assoziationen seiner Patienten aufzuzeichnen. In der Novelle „Der Geburtstag“ findet sich ein Beispiel für Assoziationen. Hier schreibt er eine Assoziationskette nieder: „Maita- Malte- Strände- leuchtend- Fähre- Hafen- Muschelfressen- Verkommenheiten- der hell klingende Ton einer leisen Zersplitterung,…“9 Es zeigt sich erneut sein Wunsch der Flucht in die südlichen Gefilde. Die optischen Assoziationen unterstützen das sinnliche Schreiben, welches bei Benn einen Kontrast zu dem ebenfalls angewendeten distanzierten Stil.

6 Ebd., S.19. 7 Ebd., S.20. 7 Ebd., S.20. 9 Benn, Gottfried: Prosa und Autobiographie, Frankfurt am Main 1998, S.42.

20.6. Y. Ilseven In der ersten Viertelstunde wurde die Beziehung zwischen Gottfried Benn und Nietzsche angesprochen. Benn erwähnt in seinen Werken sehr häufig Nietzsche. Dieser ist für Benns Kunstästhetik verantwortlich. Für Benn ist Nietzsche Gründer der neuen Kunstlehre. Benns Maxime verdeutlicht es auch: „Kunst als Artist“. Benns Weltanschauung besagt, dass nur durch das ästhetische Phänomen das Dasein der Welt gerechtfertigt ist. Nietzsche als Atheist und Philosoph sieht die einzige Garantie für die gelungene Ästhetik in der Kunst. Wenn es dem Menschen nicht gelingt, aus dem Leben eine Kunstsammlung zu machen, dann ist das Leben verfehlt. Danach sind wir zu der Lektüre „Die Gehirne“ von Gottfried Benn übergegangen. Auf den ersten Seiten fällt dem Leser der Zeitwechsel auf. Es gibt einen Sprung vom Präteritum zur Präsens, d.h. der Leser hat eine Erzähl-Wechselperspektive vor sich. Die Erzähl-Wechselperspektive ist ein typisches Merkmal für einen Bewusstseinsroman, d.h. der Erzähler befindet sich im Kopf der Figur. In diesem Fall haben wir eine erlebte Rede vor uns. Der Protagonist führt einen inneren Monolog. Wie nimmt der Protagonist die Dinge wahr? Die Bilder, die er in seiner Umwelt wahrnimmt, rauschen an ihm vorbei. Die Farbe wird zum selbstständig handelnden Wesen. Hier hat man den Wechsel von der sachlichen Sicht zur Emotionalisierung der Sichtweise. Als nächsten Schritt haben wir über das Kurzzeitgedächtnis des Protagonisten gesprochen. Die Ereignisse, die in diesem Kurzzeitgedächtnis gespeichert worden sind, fließen bei der Beschreibung herunter. Der ganze Mensch wird auf ein ökonomisches Teil reduziert. Der Mensch hängt sich an das Ohr. Inhaber und Ohr werden als separate Subjekte dargestellt. Der Protagonist – Rönne – flieht in die Assoziation „Vogel aus der Schlacht“ (Zitat aus der Lektüre). Daraus schließt man, dass Rönne ins Tierische hinein will. Seine Worte sind wie folgt: „Ich will auffliegen wie ein Vogel“. Er verwirklicht sein Vorhaben bis ins kleinste Detail. Auf der syntaktischen Ebene betrachtet kann man sagen, dass man bei dieser Lektüre eine fragmentarische Struktur vor sich hat. Die Lektüre beginnt mit einem vollständigen Satz und die Sätze werden ausgeschnitten. Es werden Lautqualitäten gesetzt. Hier wird Benn der Mediziner zu Benn dem Poeten. Aus der psychologischen Assoziation entsteht eine ästhetische. Psychologie ist ein Gebiet der Humanmedizin. Dort hat man durch Stromschläge versucht, die Assoziationen der Patienten zu testen.

27.6. Charlotte Lehmann Die Sitzung vom 27.06.’07 beschäftigte sich mit Rainald Goetz und seinem beim Wettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt 1983 vorgetragenem Werk „Subito“.

Rainald Goetz wurde am 24. Mai 1954 geboren und zählt zu den wichtigsten Autoren der Gegenwart. Er studierte Geschichte und Medizin, in welchen er auch promovierte. Vor allem ist hierbei seine Arbeit in der Medizin von 1982 zu erwähnen, die sich mit dem Thema Jugendpsychiatrie befasst. Als Schriftsteller profilierte er sich bei dem eben genannten Wettbewerb, bei welchem er sein Werk „Subito“ vorlas. Hier inszeniert er mit Marcel Reich Ranicki einen schockierenden Auftritt, bei dem Goetz sich als Punk verkleidet mit einer Klinge in den Kopf schneidet, das passend zu der Passage „In die Stirne schneid’ ich das Loch.“ passiert. Es war Ranickis Idee, der zuvor als Chef der FAZ für den Suhrkamp Verlag unterwegs war, das von Goetz geschriebene Buch „Irre“ las und diesen fragte, ob er an der Inszenierung teilnehmen wolle. Ranicki selbst wird im Text als „Titan“ angesprochen. Die Textgattung ist formal ein Prosatext, der aber auf der Bühne inszeniert ist, auf der der Autor selbst vorliest, welches dadurch dem Text ein dramatisches Element verleiht. Somit kann man den Text eher als Mischgattung bezeichnen. Trotzdem ist es ein Text in welchem das Publikum beschimpft wird, indem er durch Bevölkerungsschichten geht (z.B. Taxifahrer, Behinderte, etc.). Der Begriff „Autorterrorist“ ist passend. Der Text scheint einen auktorialen Erzähler zu haben, allerdings springt dieser ohne Vorwarnung zu verschiedenen Orten und Personen („eines abends“/“heller Nachmittag“). Es kommt zu einer doppelten Selbstreferenz des Textes, einmal auf sich selbst und einmal auf den Roman „Irre“. Somit referiert Literatur auf Literatur. Der Name der Hauptfigur Raspe wurde von einem Gründungsmitglied der RAF übernommen, der 1972 verhaftet wurde und 1977 durch Suizid starb. Diese Figur erinnert ebenfalls an die Rönne-Figur bei Gottfried Benn in der Novelle „Gehirne“. Die Parallelen sind, dass auch Raspe ein Terrorist und ein Chaot ist. Ähnlich ist die Entfremdung von der Körperlichkeit und der Landschaftswahrnehmung Das Hirn wird von Raspe ebenfalls als feindlich angesehen. Allerdings wird Raspe weitergeführt als Rönne, da jener noch andere Rollen übernimmt. So nimmt er die Rolle des Zynikers ein, der die Umwelt auf fleischliche Erscheinungen reduziert. Es gibt zahlreiche Stellen, wo er ausfallend wird. Er ist cholerisch, nihilistisch und misanthropisch. Ebenfalls kann man ihn als Terroristen, Nazi und Frauenhasser bezeichnen, da seine Art die Gewalt ist und er durchweg Minderheiten diskriminiert. Trotzdem ist der Text gemischt mit sensiblen Eindrücken der Landschaft und einer Selbstpathologie, da Raspe merkt, dass etwas in seinem Gehirn „passiert“. Zwischendurch wird ein Bruch im Text herbeigeführt, indem sich Goetz selbst einbringt (s.S.14 „ich“; S.15 „Hören Sie auf zu lesen, Goetz“). Somit wird klar, dass der Erzähler, der Ich-Erzähler und der Autor identisch sind. Goetz bringt ebenso reale Bezüge, wie z.B. eine Kritik am gegenwärtigen Literaturbetrieb ein, als er auf Seite 18 zum einen auf den Ort des Nachtcafes und zum anderen auf Klagenfurt, den Ort des Wettbewerbs, eingeht. Goetz verwendet bei „Subito“ die Technik des Dokumentarismus, indem er die ungefilterte gesprochene Sprache in seinen Text einfließen lässt. Der Text ist stark selbstreflexiv und ist inspiriert von der Kunst von Andy Warhol, der Popart, sowie literarisch vom Dokumentartheater und vom Naturalismus. Es findet eine Materialästhetik statt, indem das Material nicht in Form gebracht wird, sondern gefunden wird, ohne ihm einen Sinn zuzuschreiben. Diese Technik der Montage wendet Goetz hier an. Darüber hinaus wird der Gegensatz von Hirn und Blut aufgenommen, welches wieder eine Parallele zu Benn bzw. Rönne darstellt. Das Blut, das dort assoziiert wird mit dem Lebensstrom, Frauen und Rausch, verwendet Goetz ebenfalls so, trägt es aber auch nach

außen durch sein „dramatisches Schauspiel“. Das Leben selbst soll das Kunstwerk sein. Der Affekt und die Flüssigkeiten stehen für das Leben, was eine antiintellektuelle Haltung hervorbringt, indem es gegen das Denken vorgeht und somit als terroristisch aufzufassen ist. Eine letzte Parallele der Schreibweise ist das Bewusstseinsprotokoll, obwohl es auch ein Protokoll des Alltagslebens gibt. In diesem Text befindet sich die Hauptfigur in einem Extremzustand und wird seziert.

Protokoll der Sitzung vom 27.06.2007 zum Thema:

Rainald Goetz "Subito"

Der Text "Subito" von Rainald Goetz wurde für den Ingeborg-Bachmann Wettbewerb 1983 verfasst. Der Text ist nicht völlig eindeutig einer literarischen Gattung zuzuordnen, da er einerseits mit dem Vorhandensein einer Erzählerinstanz das Kriterium eines Prosatexts erfüllt aber andererseits auch manifestartige Züge trägt und zusätzlich, durch das Vortragen des Autors auf der 'Bühne' des Wettbewerbs und den Schnitt in die Stirn einen performativen Charakter erhält. Der Text entsteht aus Extremen verschiedener Art. Mangelnde inhaltliche Kohärenz, häufiger Gebrauch von Neologismen, derbe Ausdrucksweise, Wechsel im sprachlichen Register bis hin zur dialektischen Umgangssprache, häufige unmotivierte Ortswechsel innerhalb der Erzählung, plötzliche Veränderungen in der Erzählhaltung und scheinbar sinnlose Handlungen der Charaktere, stellen den Rezipienten vor Leseschwierigkeiten und führen zu damit verbundenen Verständnisproblemen. Die Ästhetik des Textes Subito konstituiert sich vor allem durch den bewussten Bruch mit akzeptierten narrativen Mustern und Erzählstrategien. Der Protagonist ist nicht mehr in ein einheitliches Gefüge von Raum und Zeit gebunden und eine lineare, sukzessive Abfolge von Handlungsschritten ist nicht gegeben. So befindet sich Raspe zu Beginn des Textes „[...] auf einer Parkbank im Innenhof der Klinik [...]“10, bis der Ort der Handlung nach einem ersten Blick in Raspes Gedankenwelt völlig unmotiviert in einen Zug verlegt wird: „Raspe saß nämlich im Zug“.11 Die Abfolge der Handlung offenbart sich somit eher als ein loses Konglomerat von einzelnen Szenen. Die Handlungszersetzung in kleinere Einheiten steht im Einklang mit der Montagetechnik, in der einzelne Textabschnitte mit anderen neuartige Beziehungen eingehen. Ein weiteres ästhetisches Element der Goetzschen Schreibweise zeigt sich im Hinblick auf den medizinischen Diskurs, der die Wahrnehmung Raspes ebenfalls beeinflusst und qualifiziert. Nach der Aufgabe des kontemplativen Schauens während der Zugfahrt nimmt der Nervenreiz Einfluss auf Raspes Aufmerksamkeit. Interessanterweise wird dem neuroanatomischen Ablauf der Reizweiterleitung durch den menschlichen Körper mit der Besetzung des Substantivs „Hirnrinde“12 in der syntaktischen Position des Subjekts handelnde Funktion zugewiesen: „[...] bis endlich, über den dicken Sehnervenstrang befeuert, die Hirnrinde ganz hinten im Occipitallappen wußte, daß da eine Lästigkeit [war] [...]“.13 Mitten im Darstellungsmodus der Reizweiterleitung wechselt die Beschreibung in den inneren Monolog Raspes, der das Geschehen dann bewusst wahrnimmt und weiter beschreibt: „[...], was ist denn da los, da links, das muß doch der Krüppel, die bewegt sich doch, diese Frau,

10 Goetz, Rainald: Hirn, Frankfurt a. M. 1986, S. 9. 11 Ebd., S. 10. 12 Ebd., S. 11. 13 Ebd., S. 11.

was macht denn der Krüppel da drüben“.14 Die Art und Weise des Wahrnehmens bekommt im Hinblick auf den medizinischen Diskurs und die damit verbundene Determinierung der Wahrnehmung durch physiologische Abläufe eine zusätzliche Qualität. Wahrgenommenes verselbständigt sich nämlich durch die Unmöglichkeit Nervenreize nicht wahrzunehmen oder auszublenden. Die Anordnung des Erzählverlaufs verdeutlicht dies: Die von der Umgebung des Menschen ausgehende, ununterbrochene Reizflut, die am Beginn der Textstelle ausgestaltet wird, führt zur Reizweiterleitung zum Gehirn, sodass der Reiz schließlich bewusst von Raspe wahrgenommen wird und der innere Monolog die Darstellung des Gesehenen übernimmt. Der Wechsel in der Erzählhaltung bietet einen weiteren interessanten Punkt im Goetzschen Text. Diese Erzählhaltung wird im Verlauf der Erzählung von einem Ich-Erzähler abgelöst: „Nüchtern, wie gesagt, noch so was von nüchtern hat Raspe das Nachtcafé betreten, und gleich bin ich, hier kriege ich Lust auf das Ich [...]“.15 Innerhalb eines Satzes verschiebt sich der Blickwinkel der Erzählung zur direkten Wiedergabe der Gedanken, Ideen und Handlungen des erzählenden Subjekts, sodass ein radikaler Schnitt in der Erzählsituation entsteht. Mit diesem Schnitt stellt sich zunächst die Frage, wer nach dem Wechsel in der Erzählhaltung denn eigentlich spricht. Einerseits könnte die Figur Raspe sich ihrer selbst bemächtigen und beginnen zu sprechen. Andererseits wird den Texten von Rainald Goetz oftmals unterstellt, dass Goetz als Autor selbst die Sprache ergreife und der Protagonist der Erzählung demzufolge mit dem Autor gleichgesetzt werden könne. Der manifestartige Auszug am Ende des Textes beginnt mit der Forderung des Ich-Erzählers, die Welt ganz einfach Abzuschreiben und die Konstitution eines Sinns außer Acht zu lassen. Das Abschreiben der Welt soll in Loslösung vom Sinn erfolgen. Gemäß dieser Forderung bedient sich der Text der Materialästhetik und widersetzt sich dem Intellekt des Menschen. Der Text stellt sich somit in seinem Facettenreichtum auch als 'Terror gegen das Denken' aus. Protokoll zur Sitzung am 27.6.2007 Renja Birkelbach In der Sitzung am 27.6. stand Rainald Goetz´ Text „Subito“ zur Behandlung. Rainald Goetz, geboren 1954, zog von München nach Berlin und promovierte dort zunächst als Historiker und dann als Mediziner. Seine medizinische Richtung war die Psychiatrie, vor allem die Jugendpsychiatrie. Dies zeigt sich auch deutlich in seinem ersten Roman „Irre“, dessen Protagonist – der junge Nervenarzt Raspe – zwischen Psychiatrie und Kneipe lebt. Mit dem Text „Subito“ hatte Rainald Goetz sein Debüt 1983 beim Ingeborg-Bachmann Preis in Klagenfurt. Goetz hatte ihn eigens für seinen Auftritt geschrieben und dies sollte sozusagen als „Vorgeschmack“ auf „Irre“ dienen. Auch seine Lesung selbst sorgte neben dem sehr provokanten und moralisch fragwürdigen Text „Subito“ für Aufsehen, denn er erschien in einem Punker-Kostüm und schnitt sich während seiner Vorlesung die Stirn auf. Dies war allerdings unter der Regie von Marcel Reich-Ranicki geschehen, der Goetz auf seiner Suche nach jungen Autor-Talenten sozusagen entdeckt hatte. Nun war bisher immer die Rede von „Subito“ als „Text“. Die Frage, die an dieser Stelle aufkommt, ist: Was ist er für eine Textgattung? Dies ist nicht leicht zu beantworten.

14 Ebd., S. 11. 15 Ebd., S. 14.

Prinzipiell spielt der Gattungsbegriff keine Rolle für Goetz, er bezeichnet sich selbst sogar als „Autorterrorist“. Goetz benennt ihn im Text selbst als „Manifest“. Die nächste Frage, die sich stellt, ist: Wer spricht? Der Beginn des Textes wird von einem auktorialen Erzähler gesprochen, der allerdings bereits „durchlöchert“ ist, d.h. er wird im Text nicht durchgehalten. Bald erscheinen die Figuren Raspe und Ich. Das Ich ist Goetz selbst. Das ist auch daran zu erkennen, dass er mitten in der Erzählung schreibt, er werde jetzt zum „Ich“ übergehen, da es jetzt „lustig wird“. Aber auch daran, dass er explizit auf den Ort Klagenfurt eingeht, wo die Literaturveranstaltung stattfindet, auf der er „Subito“ lesen wird. Der Übergang zwischen Raspe und dem Ich ist fließend. Der Text ist also eine Art Drama, da er Dialog-Tendenzen zwischen dem Ich und Goetz aufzeigt. Der erste Absatz des Textes ist aus Goetz´ Roman „Irre“ regelrecht abgeschrieben. Damit ergibt sich eine doppelte Selbstreferenz, nämlich einmal auf den Text und einmal auf den Autor. Anders gesprochen: Literatur verweist auf Literatur, was man auch als Intertextualität bezeichnet. Diese Intertextualität ist auch an der Figur des Raspe festzumachen. Er durchzieht immer wieder Goetz´ Texte und nicht nur dort gibt es ihn, auch im wahren Leben. Raspe ist Terrorist. Hier könnte man auch wieder auf die „literatur-terroristische“ Ader von Goetz Bezug nehmen. Doch Raspe hat seine Referenz nicht nur im wahren Leben und in verschiedenen Texten Goetz´, sondern er erinnert auch stark an die Figur des Arztes Rönne in Gottfried Benns „Gehirne“. Beide zeigen Gemeinsamkeiten auf; zum Beispiel in ihrer Landschaftsbetrachtung, die sehr impressiv ist. Weiterhin haben beide Figuren Erscheinungen von Ich-Dissoziationen, d.h. Verselbständigung von Organen, bzw. Körperteilen. Bei Rönne sind es die Augen, die „zum Sprung bereit sind“, bei Raspe ist es sein Arm, der fremd aus seinem Kittel ragt. Auch das „Hirn-Motiv“ wird in beiden Texten aufgegriffen, d.h. die Hirn-Feindlichkeit. Während Rönne fundamentale Zweifel am Gehirn hegt, will Raspe es sich aus dem Kopf herausschlagen. Auch kann man ein Bezug nehmen zu Benns Morgue-Lyrik, nämlich zum „Nachtcafé“, das hier in „Subito“ erwähnt wird. Eine weitere Frage, die wir behandelt haben, ist: Was übernimmt Raspe für Rollen? Er ist ein Zyniker über seine ärztlichen Tätigkeiten; das ist deutlich. Während er über die gesamte Spanne von Menschen herzieht, wie zum Beispiel das Bildungsbürgertum, Literaten, aber auch Krüppel, bekommt man den Eindruck, Raspe ist ein Misanthrop. Auch nihilistische Züge lassen sich nicht verbergen. Raspe schlüpft also in verschiedene Rollen, von denen der Nazi und der Frauenhasser nur zwei sind. Auch kam der Eindruch auf, Raspe ( oder das Ich? ) sei ein maßloser Choleriker, da sich dies während seiner Lesung, die wir auf Band anhören durften, doch deutlich zeigte. Noch deutlicher zeigten sich allerdings Raspes selbstpathologische Züge, als er zum Beispiel davon redet, dass sein Hirn platzen werde. Weiterhin ist der Ausdruck „alles kaputtschlagen“ aufgefallen. Diese zerstörerischen Tendenzen lassen sich ebenfalls in Benns „Gehirne“ wieder finden. Es ist immer wieder die Rede vom Hirn, das aufgeschnitten werden soll, sowohl bei Goetz als auch bei Benn. Dies haben wir als Fluchtbewegung gedeutet. Die Flucht in Blut, Traum und Rausch. Rönne will nicht mehr denken, will darin eintauchen und Raspe tut es dann auch. Er taucht ein in Blut, Traum und Rausch. Hier zeigen sich also wieder deutlich die Zweifel am Hirn, wie es schon bei Benn zu sehen war, nur, dass Goetz es noch weiter radikalisiert. Er nimmt eine extrem anti-intellektuelle Position ein. Um noch einmal auf die Gattungsfrage zurück zu kehren: Goetz nennt seinen Text „Manifest“. Es ist ein „Abschreiben der Welt“, also ein Dokumentarismus. Es muss auch hervorgehoben werden, dass es bei ihm um jegliche Loslösung von Sinn beim Schreiben geht. Bei Goetz steht das authentische Schreiben im Vordergrund, ein Verdoppeln der Welt im Abschreiben. Dies realisiert er durch sein Mundart-orientiertes Schreiben. Goetz schreibt so, wie Menschen reden und denken. Diese Art zu schreiben nennt man Materialästhetik. Sie

besteht aus den stilistischen Mitteln „Montage und Schnitt“. Das heißt, alles, aber auch alles wird aus der Welt in den Text übernommen. In dieser Art zu schreiben kann keine Rücksicht auf die moralischen Gefühle Anderer genommen werden. Daher die oft anstößigen Sequenzen im „Subito“-Text. Trotzdem ist und bleibt Goetz Mediziner. Deutlich zu sehen ist dies an seinem Schreibstil. „Subito“ ist eine enge Montage der Tatbestände. Egal, ob er über die Kneipe, den Kopf oder den Körper schreibt, er bleibt immer nah am Gegenstand und dieser Stil ist seit Schiller sehr bezeichnend für literarisch tätige Mediziner. Protokoll der Sitzung vom 27.6.2007 Matthias Selent Die Sitzung am 27.7.2007, behandelte den von Reinald Goetz 1983 veröffentlichen Text „Subito“. Der 1954 in München geborene Reinald Goetz, verfasste den Text für den Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb, wo er durch die Inszenierung seines Vorlesens schlagartig berühmt wurde. Marcel Reich-Ranicki war, im Vorfeld des Wettbewerbs, für den Suhrkampverlag auf der Suche nach jungen Talenten und bekam so Goetz Roman „Irre“ in die Hand, wodurch er auf ihn aufmerksam wurde. Reich-Ranicki stand Goetz nun bei seiner Inszenierung Regie, was allerdings erst einige Jahre später herauskam. Versucht man Subito in einer Gattung einzuordnen, so gestaltet sich dies äußerst schwierig. Formell betrachtet handelt es sich um einen Prosa-Text, der allerdings durch die Tatsache der Inszenierung in ein Drama überwechselt. Auch der auktoriale Erzähler unterwandert seine eigentliche Rolle und findet sich rasch in einem Dialog wieder. Dabei sind zwei Wechsel zu beobachten: Zuerst bleibt die Hauptfigur der fiktive Dr. Raspe und bricht dann um zu einem namenlosem Ich, dass dann im letzten Schritt als Reinald Goetz identifiziert wird. Dabei bezieht sich das Ich in einer doppelten Selbstreferenz auch auf den Autor des Werkes und sein Leben. Weiterer abrupte Wechsel finden sich in den Handlungsspielräumen. Die Wechsel treten dabei so häufig auf, dass es gerade gegen Ende schwer fällt sie von einander zu trennen oder sie zu identifizieren. Kurz gesagt lässt sich Subito also keinem Gattungsbegriff zuordnen. Die Hauptfigur, mit welcher der Text beginnt, ist Dr. Raspe. Diese Figur erscheint bei Goetz häufiger, zum Beispiel in seinem Roman „Irre“ aus dem zu Beginn von Subito kräftig zitiert wird. Der Bruch kommt erst, als sich das Ich fragt, ob es überhaupt Sinn macht etwas Vorzulesen, was in kurzer Zeit eh erscheinen wird. Raspe ist anhand seines Namens, den er mit einem RAF-Terroristen gemeinsam hat, eine höchst aktivistische Persönlichkeit. Seine doch „rotzige“ Sprache unterstreicht dies. Die Figur des Dr. Raspe erinnert dabei stark an Gottfried Benns Hauptfigur: Dr. Rönne. Zum Einen fallen die Landschaftsbeobachtungen auf, welche bei beiden Figuren Assoziationsketten auslösen. Auch eine Ich-Disposition wird bei beiden Ärzten deutlich, da sie sich zeitweise von ihren Körperteilen getrennt betrachten. Sie unterziehen sich dabei auch häufig einer Selbstpathologie und beobachten deutlich die einzelnen Abläufe ihres Körpers. Eine weitere Parallele findet sich im dokumentarischen Schreiben, welches als wesentliches Stilmittel bei Goetz und Benn auffällt und sich durch das akribische Aufzeichnen von Sachverhältnissen der Innen und Außenwelt der Hauptfigur ausmacht. Ein gemeinsamer Charakterzug der beiden Hauptfiguren ist dabei der des Misanthropen und Nihilisten, welcher die Umwelt und sich zynisch auf das Fleischliche reduziert. Beide sind cholerisch und folgen dem anarchistischen Grundsatz, dass alles Bestehende weg muss. Diesbezüglich führt Goetz Dr. Raspe jedoch weiter als Benn seinen Dr. Rönne führte, denn

bei diesem blieb alles im Geist. Dr. Raspe jedoch handelt und agiert. Raspe will weg vom Hirn und das Blut und das Leben strömen lassen, welches der ausgebildete Arzt Goetz mit einem Schnitt durch seine Stirn auf der Bühne untermalte. Die Parallelen zu Benn sind dabei durchaus gewollt, so wird in Subito beispielsweise ein Nachtcafé erwähnt, welches ja auch der Titel eines bekannten Gedichts von Benn ist. Gegen Ende von Subito wird die Sprache deutlich und fordernd, so dass man sie manifesthaft nennen kann. Im Wesentlichem werden in diesem Manifest 4 Kernthesen genannt: Zum Ersten ist alles Erreichte stets kaputtzuschlagen, um jedweden Stillstand zu verhindern. Zweitens muss stets versucht werden sich von jedem Sinn loszulösen. Drittens ist die Welt stets abzuschreiben, wobei viertens alles ein Thema sein kann. Genau dies ist Dokumentarismus, wenn er möglichst akribisch und ungefiltert versucht authentische Aufzeichnungen der Außen und Innenwelt anzufertigen. Diese Materialästhetik geht, neben Nietzsches Konzeptionen, vor allem auf Andy Warhol zurück, der von sich stets beteuerte, er versuche nur die Welt zu kopieren. Dies wird jedoch bei Goetz überspitzt, der sich selbst einen „Autorterroristen“ nannte. Stundenprotokoll vom 04.07.2007 Jessica Küpper In der Sitzung wird Thomas Melles Text Wuchernde Netze behandelt, welcher einer von zehn erzählähnlichen Texten aus seinem 2007 im Suhrkampverlag erschienenen Buch Raumforderung ausmacht. Melle ist ein junger Autor (1975 geboren), welcher sich insbesondere durch die Verwendung von Krebsmetaphern auszeichnet. Seine Erzählung Wuchernde Netze ist hoch ironisch angelegt und verbindet geschickt unterschiedliche Biografieformen. Der Text beinhaltet sowohl eine Autobiografie, eine fiktive als auch eine Arbeitsbiografie. Der von ihm aufgeführte Lebenslauf lässt keinerlei Übereinstimmung zu einem Autor zu, allerdings können alle geschilderten Ereignisse als authentisch ausgewiesen werden. Die erzählte Zeit in diesem Text umfasst einen Spannraum von 1977-2010. Allerdings werden auch früherer Ereignisse (vor 1977) umrissen, welche auf die Kindheit und Familienmitglieder des Autors referieren. Insgesamt werden in dieser Spanne zahlreiche Spuren gelegt, welche den Leser in die Irre führen und teilweise nur Mutmaßungen zulassen, beispielsweise in Bezug auf das Geburtsdatum des „Erzählers“. Es kann vermutet werden, dass dieser circa 1955, vielleicht auch im Jahre `54 geboren wurde als Anspielung auf das Geburtsjahr seines ewigen Konkurrenten Goetz. Dem Leser werden demnach nur einzelne „Anspielungswerte“ vermittelt. Darüber hinaus wird dem Leser abverlangt, sich in der Zukunft einzufinden mit dem Blick auf das Jahr 2010. Der erzählähnliche Text ist – wie schon erwähnt- hoch ironisch angelegt. Der Ironiebegriff stützt sich auf die griechische Bedeutung „eirreia“ im Sinne von Kunst der Verstellung. Als Beispiel einer Verstellung kann die Zeit benannt werden, die sich zum einen bis in die Zukunft erstreckt, also über die Gegenwart hinaus geht, und zum anderen eine Kapitelrückwärtszählung (Countdown) beinhaltet, die bis zu dem Punkt Null heruntergezählt wird. Darüber hinaus wird das Erinnern als ironisches Spiel thematisiert. Insbesondere das 20. Jahrhundert zeichnet sich durch unzählige Autobiografien aus, in welchen das Erinnern selbst zum Thema wird. Es kann an dieser Stelle Marcel Prost angeführt werden, welcher sich in seinem Lebensraum immer wieder neu zu erinnern vermag, indem beispielsweise die Kombination von Geschmacks- und Geruchsinn Erinnerungen in ihm wach werden lässt. Das „Sich Erinnern“ kann als moderner Topos verstanden werden, welcher durch immer

wiederkehrende Sätze wie „Ich weiß nichts mehr“ (150 im Text) in unterschiedlichen Autobiografien auftaucht. Der Autor greift diesen Satz selbst als Teil des ironischen Spiels auf. Eine weitere Ebene der Ironie findet sich im Kontext der Kommunikation/Medialität wieder. In Anlehnung an Baudrillards Simulationsthese kann davon ausgegangen werden, dass der Anteil direkter Kommunikation in unserer Gesellschaft abnehme und zunehmend durch eine simulierte Wirklichkeit ersetzt werde. Diese simulierte Wirklichkeit bestünde dann nur noch aus Abbildern. Als Spezialform der Kommunikation ist der Literatutbetrieb zu benennen, welcher beispielsweise innerhalb des Textes durch direkte Ansprachen an die Literaturkritiker zum Ausdruck kommt; Kritik härte nach Melle ab. Durch diese Aussage seitens des Autors wird auf Marcel Reich-Ranickis Vorrede 1983 bei der „Ingeborg Bachmann Preislesung“ angespielt. Auf Rainald Goetz wird nicht nur durch die Bezeichnung „ewiger Konkurrent“ verwiesen, sondern auch durch den Hinweis auf seinen (Internet-) blog, welcher in Wettkampfmanier Melles Internetplattform gegenübergestellt wird. Melles Internetseite bietet die Möglichkeit von Experimentaltexten, Alternativenden und Links und erfreue sich großer Beliebtheit. Goetz` Internettagebuch sei hingegen nach kurzer Zeit eingestellt worden. Als weitere Beziehung zwischen den Autoren Goetz und Melle kann der ähnliche Sprachgebrauch und die Verwendung des Metaphernfeldes Krebs betrachtet werden. Darüber hinaus spielen beide Autoren mit ihren Figuren Raspe(l) und Baader auf real existierenden Figuren an, die als Teil der linksextremistischen Terrororganisation RAF gelten. Raspel präsentiert sich als rabiate und chaotische Figur, welche neben lautlichen Parallelen zu der Figur Rönne auch weitere Ähnlichkeit zu Gottfried Benns Figur aufzeigt. Baader ist in Melles Erzählung der Freund seines Sohnes und zugleich „Terrorist im Internet“. In der Erzählung wird in Form einer Prolepse eine Voraussicht auf den Tod der Figur geliefert. Die Katastrophe wird vorweggenommen, das Ende des Textes hingegen liefert einen Rückblick (Analepse). Das Rückwärtszählen der Kapitel gilt dann als Countdown auf den mutmaßlichen Selbstmord unter Ankündigung, welcher zeitgleich als Reinigung gekennzeichnet wird. Bei Goetz ist es das Schneiden in die Stirn, welches als Freisetzung der verstandesmäßigen Hindernisse anzusehen ist. Das verseuchte Hirn soll herausgeschnitten werden. Durch diese Aktion, das Schneiden in die Stirn, soll die Authenzität von Gedanken markiert werden. Melle versucht, den Krebs und die böse Wahrheit auszutreiben. Goetz erkennt in dem Hirn selbst einen Tumor, der beseitigt werden müsse. In der Erzählung Wuchernde Netze wird die Performanz (Aktion/Tat) thematisiert, wodurch erneut eine Goetz- Anspielung deutlich wird, da dieser durch den Schnitt in die Stirn Literatur nicht nur als „etwas auf Papier Geschriebenes“, sondern auch als Aktion begreift. Diese Performanz kippt allerdings um in Repräsentation. Dieser Umstand kann möglicherweise als Verweis auf die literarische Ewigkeit verstanden werden. In der Erzählung wird darüber hinaus das Netzwerk thematisiert, welches im allgemeinen Sprachgebrauch positiv besetzt ist, von Melle allerdings ausgeschlachtet wird. Denn das Netzwerk ist eben nur das Netzwerk selbst und die Frage ist, was letztlich bleibt? Die Informationen im Netzwerk, beispielsweise Melles Internetportal, verlieren sich im Nichts oder in Allem und tauchen regelrecht unter. Der Autor begreift das Netz gemeinhin als Nachbau des Gehirns und betrachtet es in Anlehnung an die Neurobiologie als das Biomorphe der Medien. Der Mensch neige demnach dazu, bestimmte Dinge dem menschlichen Körper nachzubauen, zum Beispiel die Kamera in Anlehnung an das menschliche Auge. Melle fängt im Laufe der Erzählung selbst an, wie ein Computer zu sehen und Beziehungsgeflechte herzustellen, er wird selbst zum Netz. In der Erzählung wird demnach der Fokus stark auf das Ich in der Literatur und das Ich im Netz gerichtet.

4.7. Thomas Melle: Raumforderung Sarah Pühl Die Raumforderung von Thomas Melle ist fiktiv und gleichzeitig eine Arbeitsbiographie. Es gibt zwar die im Text erwähnten einzelnen Ereignisse, aber keinen dazugehörigen Autor. Die Zeitspanne des Textes umfasst 1977-2010, aber eigentlich startet sie schon viel früher, ca. 1955. 2010 ist das Jahr, dass den gesamten Text umfasst, und die einzelnen Ereignisse sind rückblickend anzuschauen. Melle erwähnt in seinem Text Familienmitglieder und erzeugt auch die Kunst der Verstellung (eironeia), d.h., dass die erzählte Zeit von 2010 rückwärts läuft. Er erschafft somit ein Herantasten von Vergangenheit an die Gegenwart. Das 20. Jahrhundert ist ein Jahrhundert der autobiographischen Romane, wozu man Melles Text ebenfalls zählen kann, da sein Erinnerungstext autobiographische Zeichen erkennen lässt. Diese Art und Weise der Erzählung ist ein moderner Topos, da man durch bestimmte Gerüche Kindheitserinnerungen hervorrufen kann. Thomas Melle ist ein postmoderner Autor, der mit der Erinnerung in ironischer Weise spielt. Nun kommt die Simulationsthese von Baudrillard ins Spiel. Diese These besagt, dass die Face to face Kommunikation langsam aber sicher durch die simulierte Form abgelöst wird, d.h., dass Menschen nur noch per sms oder emails miteinander sprechen und nicht mehr von Angesicht zu Angesicht. Da der Literaturbetrieb ebenfalls ein Kommunikationsmedium ist, kann man sagen, dass sich manche Menschen nur über dieses Medium ausdrücken. In seinem Text gibt es verschiedene Reaktionen und Gegenreaktionen zwischen ihm und Goetz. Eigentlich glaubt der Leser, dass es sich um einen Konkurrenzkampf zwischen Goetz und Melle handelt, obwohl man dies auf Grund der Altersunterschiede ausschließen kann. Das einzige, womit beide konkurrieren könnten, wäre die Tatsache, dass beide Literaten sind. Melle und Goetz haben jedoch eine weitere Sache gemeinsam, beide wollen ihren Körper reinigen, Melle auf Grund seines Tumors im Hals und Goetz will sich sein Gehirn herausschneiden. Im Gegensatz zu Melle, wird Goetz jedoch zum Ich-Erzähler, wenn er anfängt sich in seine Stirn zu schneiden und das Geschehen aus seinem Werk nachzuahmen. Er will mit dieser Geste andeuten, dass er sich sein Hirn herausschneidet, um die Rationalität damit abzuwerfen. Goetz betrachtet also sein Hirn genauso wie Melle als Tumor und will es nur noch loswerden und seinen Körper davon befreien. Auf der Seite 146 wird angedeutet, dass Melle seinen Text so geschrieben hat, dass die Leser ihn erst nach seinem Tod lesen sollen. Dies nennt man eine Prolepse, eine Ankündigung auf ein Geschehen, was noch passieren wird, nachdem der Text fertiggeschrieben ist. Die Pro-Analepse ist die Zurückschau, die er auf seine Kindheit macht. Am Ende seines Textes führen beide zusammen, die Prolepse, wie auch die Pro-Analepse. Mit der Performanz auf Seite 156 tätigt Melle eine Anspielung auf Goetz. An dieser Stelle kippt sein Leben um in eine Handlung, vielleicht will er damit aber auch nur die Verewigung in der Literatur aufzeigen. Seite 154 Kapitel 4. deutet daraufhin, dass die Prolepse am Schluss des Textes erneut aufgegriffen wird. Er spricht auf Seite 154 davon, dass er alle seine Texte in das Internet stellen möchte, was er am Ende seines Textes auf Seite 165 im Schluss noch mal aufgreift. Der Textschluss ist aber im eigentlichen Sinne kein wirklicher Abschluss und somit ein Paradoxon. Recherchequellen führen den Text immer weiter, man kann also unterschiedliche Anfänge und Enden bilden. Melle sucht seine Ewigkeit im Netz, wo seine Werke auch noch Jahre nach seinem Tod angeschaut und gelesen werden können. Seite 154: Er selbst netzt sich ein in das Netz der Schriftsteller und fügt sozusagen seine Werke hinzu. Das Wort differänz sticht hier besonders ins Auge, da es falsch geschrieben ist. Dies lässt sich auf eine

Wortschöpfung von Jacques Derrida zurückführen. Derridas sprachphilosophisches Konzept radikalisiert die Differentialitätsthese von Ferdinand de Saussure. Saussure entwickelte um 1900 die einflussreiche Theorie, dass sprachliche Zeichen (Signifikanten) ihre spezifische Bedeutung nicht aus der festen Verknüpfung mit einem jeweiligen Gemeinten (Signifikat), also einem Gegenstand, einer Idee etc., gewinnen, sondern aus der Differenz zu anderen Zeichen. Medien, die nach dem Körperselbstbild aufgebaut sind, nennt man biomorph, wie zum Beispiel Computer, die wie unser Gehirn funktionieren. In seinem Text stellt sich Melle also selbst als Netz dar.