koreana summer 2014 (german)

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KOREANISCHE KULTUR UND KUNST JAHRGANG 9, NR.2 SOMMER 2014 ISSN 1975-0617 HAENYEO Die Taucherinnen-Ikonen von Jeju-do SPEZIAL HAENYEO VON JEJU-DO Koh In-0, die älteste Haenyeo; Vergangenheit und Gegenwart der Haenyeo von Jeju-do; Stärke und Zähigkeit der Frallen von Jeju-do

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Koreana Summer 2014 (German)

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Koreanische Kultur und Kunst

JAHRGANG 9, N

R.2SO

MM

ER 2014

ISSN 1975-0617

Haenyeo Die Taucherinnen-Ikonen von Jeju-do

sPeZial

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von JeJu

-doKoh In-0, die älteste Haenyeo; Vergangenheit und Gegenw

art der Haenyeo von Jeju-do; Stärke und Zähigkeit der Frallen von Jeju-do

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Haus ohne Türen, ohne Wände, erfüllt nur vom MondlichtKim Hwa-young Literaturkritiker, Mitglied der National Academy of Arts der Republik KoreaFoto Kwanjo

Raumstruktur und Landschaftsbild aus Wasser, Steinen und gut kultivierten Pflanzen und Bäumen bieten, wie es bei westlichen oder japanischen Gärten der Fall ist. Der Gesichtssinn objektiviert das Betrachtete. Die koreanischen Gelehrten des 16. Jhs, die dem taoistischen Gedankengut verhaftet waren, wollten nicht die Land-schaft betrachten, sondern als Bestandteil der Landschaft leben. Sie bauten keine Mauern um ihre Gärten, um sie als ihr Eigentum zu markieren. Sie wollten die Natur nicht künstlich unterteilen oder durch Veränderung verschönern.Sie suchten sich nur den angemessensten Ort inmitten in der unbe-rührten Natur mit ihren Bäumen, Bambushainen, Bächen und Stei-nen, wo sie ihr Haus bauten und am weiten Busen der Natur ruh-ten: kein großes Haus, sondern ein Haus voller Herz, das die Natur großzügig aufnimmt. Ein Dichter des 16. Jhs besang es folgender-maßen:

Nach zehn Jahren der Mühe Eteht das strohgedeckte Haus mit seinen drei Räumen:Ein Raum mir, ein Raum dem Mondund ein Raum der frischen Brise anvertraut.Für Berge und Bäche ist kein Platz, deshalb spanne ich sie um mein Haus auf und erfreue mich ihres Anblicks.

Nach zehn Jahren der Mühe, Song Sun (1493-1583)

ImpressIonen

Soswaewon in Damyang, Provinz Jeollanam-do, zählt zu den schönsten traditionellen Gärten Koreas.

Der prächtige Sommer hat alle Türen des kleinen Hauses in die-sem Garten weit aufgerissen. Die papierbeklebten Türen, die Zim-mer und Maru-Holzdiele, Innen und Außen getrennt hatten, hän-gen nun oben und sind Teil der Decke geworden. Ein Haus ohne Wände, ohne Türen, in dem nur die Säulen geblieben sind. Ein Zim-mer, in das Lichter und Klänge der Natur und die Düfte der Welt fluten.Das einfache Haus blickt auf Bäume, Steine und Bäche des Gar-tens hinaus, aber es objektiviert sie dabei nicht. Hier ist das Innere gleich das Äußere und das Äußere gleich das Innere. Mensch und Natur stehen im Einklang miteinander und werden eins.Die Schönheit dieses aus dem 16. Jh stammenden koreanischen Gartens findet sich nicht einfach in dem rein visuellen Genuss, den

Verleger Yu Hyun-seok

Redaktionsdirektor Cha Du-hyeogn

Chefredakteurin Ahn In-kyoung

Übersetzer Ahn In-kyoung

Anneliese Stern-Ko

Myeong Hye-jeong

Choi Hye-rim

Do Young-in

Redaktionsbeirat Bae Bien-u

Choi Young-in

Emmanuel Pastreich

Han Kyung-koo

Kim Hwa-young

Kim Young-na

Koh Mi-seok

Song Hye-jin

Song Young-man

Werner Sasse

Layout & Design

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2 Pyeongchang 44-gil, Jongno-gu, Seoul 110-848, Korea

Tel: 82-2-763-2303 / Fax: 82-2-743-8065

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Gedruckt Sommer 2014

Joongang Moonwha Printing Co.

27 Shinchon 1-ro, Paju-si, Gyeonggi-do 413-170, Korea

Tel: 82-31-906-9996

©The Korea Foundation 2014

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieser

Veröffentlichung darf ohne vorherige Genehmigung

der Korea Foundation in irgendeiner Form

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decken sich nicht notwendigerweise mit denen der

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Foundation. Koreana ist als Vierteljahresmagazin

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registriert (Reg. Nr. Ba-1033 vom 8.8.1997) und

erscheint auch auf Englisch, Chinesisch,

Französisch, Spanisch, Arabisch, Japanisch,

Russisch und Indonesisch.

Alles begann mit einer einfachen Idee: Koreana bringt Beiträge über Menschen, die ihren eigenen Weg gehen und ihre eigenen, persönlichen Werte vertreten. Warum also für einen solchen Beitrag nicht eine Haenyo-Meerjungfrau interviewen? Die Tauche-rinnen von Jeju-do sind für ihre Ausdauer und Kraft bekannt. Aber weniger bekannt ist, was diese Frauen über ihre Arbeit denken und wie hart ihr Leben eigentlich ist. Aus dieser Grundidee wurde die Spezial-Serie der vorliegenden Ausgabe geboren. Haenyeo: die ikonenhaften Taucherinnen von Jeju-do. Wissenschaftler und Autoren, die sich mit der Geschichte dieses einzigartigen Berufes sowie dem Lebensstil und der Kultur der Taucherinnen gut auskennen, haben an dem Vorhaben teilgenom-men. Dank ihres Tiefenverständnisses und ihrer Begeisterung konnte vieles über das Leben und die Gedankenwelt dieser Frauen ans Licht gebracht werden.Die Haenyo sind wirklich beeindruckende Profis. Leider ist abzusehen, dass die durch sie verkörperten Traditionen ohne strategische Rettungsbestrebungen in naher Zukunft verschwinden werden. Daher sind die Bemühungen der koreani-schen Regierung und der akademischen Welt, die Haenyeo in die UNESCO-Liste des Immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufnehmen zu lassen, sehr ermu-tigend. Die Aufnahme wäre eine wohlverdiente Belohnung für diese Taucherinnen, die Not und Entbehrungen durchlitten haben. Aber es regen sich auch Bedenken in Bezug auf eine unbesonnene Publicity: „Was die Bemühungen zur Bekanntmachung der Haenyo betrifft, so ist zu hoffen, dass sich der Fokus auf ihre wertvolle Geisteshaltung richtet“, meint Heo Young-sun, Journalist und Dichter auf Jeju-do. „Sie besitzen einen Ehrfurcht einflößenden Auf-opferungsgeist. Ich hoffe, dass dieses geistige Erbe nicht von kommerzieller Propa-ganda überschattet wird.“ Da die Haenyeo bei ihren Tauchgängen den Meeresboden unter Einsatz ihres Lebens nach Meeresfrüchten absuchen, mag es vernunftwidrig erscheinen, den Fortbestand dieses Traditionsgewerbes zu wünschen. Daher sind wohl durchdachte Maßnahmen vonnöten, um den Kulturerbe-Wert der Haenyeo zu schützen und diese ureigene Ressource der Insel Jeju-do zu bewahren.

Ahn In-kyoung Chefredakteurin der deutschen Ausgabe

Von der Redaktion

nachhaltiger Wert der meerfrauen

Published quarterly by The Korea Foundation

2558 Nambusunhwan-ro, Seocho-guSeoul 137-863, Korea

http://www.koreana.or.kr

A Haenyeo’s Dream (1984) Kang Dong-un, Tusche und Pastellfarben auf Papier, 162 x 130 cm. Kang, 1947 auf der Insel Jeju-do geboren, hat sein künstlerisches Schaffen der Darstellung des Alltagslebens der Menschen seiner Heimatinsel gewidmet.

KoreAnIscHe KulTur unD KunsT Sommer 2014

spezIAl

Haenyeo Die Taucherinnen-Ikonen von Jeju-do

SpezIal 1

Gewundender pfad eines lebens, das am meer erblühtKoh In-o: die älteste Haenyeo Heo Young-sun

SpezIal 2

Vergangenheit und Gegenwart der Haenyeo von Jeju-do Yoo Chul-in

SpezIal 3

stärke und zähigkeit der Frauen von Jeju-do, gewonnen durchs Tauchen Joo Kang-hyun

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fokuS

DDp: ein neues, zukunftsgerichtetes Wahrzeichen seoulsGoo Bon-joon

InTervIew

Kim Young-taek erweckt mit Federzeichnungen die koreanische Architektur zu neuem lebenChung Jae-suk

MoDerne waHrzeIcHen

pfeiffer Hall:symbol der modernen HochschulbildungAhn Chang-mo

unTerwegS

Hadong: Heimat von literatur und TeeGwak Jae-gu

Den eIgenen weg geHen

In Fotos das zeitalter festhalten - Fotograf Kim nyung-manYoon Se-young

neuerScHeInung

Arirang in Korean culture and BeyondUmfassendste englischsprachige Studie

über Arirang

Charles La Shure

The soilDer erste moderne Roman Koreas dem

internationalen Publikum vorgestellt

Charles La Shure

Hello / serendipity / Fall to Fly–BeforeAdult Contemporary,

Popmusik für Erwachsene

Kim Young-dae

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enTerTaInMenT

From Webtoon to smartoon:Transformation des koreanischen manhwaPark Seok-hwan

gourMeT

Bingsu-Boom: eisdessert auf siegeszugYoon Duk-no

blIck auS Der ferMe

zwischen K-culture und Betonwüste: Die stellung des Hanok im modernen KoreaDaniel Tändler

reISen In DIe koreanIScHe

lITeraTur

Kleinere Fehler lösen mitfühlen aus Chang Du-yeong

The chef’s nailYun Ko-eun

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spezIAl 1 Haenyeo: die Taucherinnen-Ikonen von Jeju-do

Gewundender Pfad eines Lebens, das am Meer erblühtKoh In-o Die älteste Haenyeo 76 Jahre Taucherfahrung allein an der Küste des Dorfes Saekdal-ri in Seogwipo. Koh In-o, die älteste Haenyeo auf der Insel Jeju-do, ist wie immer damit beschäftigt, Braunalgen, Seegurken und Turbanschnecken zu sammeln. Die innere Stärke und Großherzigkeit der Jejudo-Haenyeo ist an diesen Frauen, die bereits in dritter Generation tauchen, abzulesen.Heo Young-sun Dichterin, Jeju National University | Fotos Cho Ji-young

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1 Ein einziger Atemzug entscheidet beim Tauchen über Leben und Tod. Im Meer lernen die Haenyeo auf natürliche Weise, jegliche Gier zu zügeln und mit dem Heute zufrieden zu sein. 2 Koh In-o, die älteste, noch aktiv tauchende Haenyeo, ist glücklich, dass sie mit Tochter und Schwiegertochter tauchen kann, die die Tradition fortsetzen. Sie freut sich, wenn die beiden mehr als sie selbst fangen.

heute noch überlässt sie ihren gealterterten Körper den Wellen. Jungmun, mittlerweile der größte Touristenressort auf Jeju-do: Hier lebt sie im Dorf Saekdal-ri am Meer, mit dem ihre Familie seit Generationen lebt. Vor den leuchtend gelben Rapsblüten am Wat-tenmeer reihen sich die Krafträder, mit denen die Haenyeo zur Küste fahren. Auf den Klippen, die das Meer wie ein Paravent ein-rahmen, wachsen alle möglichen Baumarten in der salzigen Luft, klein und gekrümmt vom Meereswind. Die Kolleginnen, selbst schon über 60 oder 70, staunen mit einem anerkennenden Zun-genschnalzen über Kohs immer noch große Geschicklichkeit beim Tauchen. Sie müsse wohl mit zwei Leben gesegnet sein. „Diese alte Dame ist nicht mit Worten zu beschreiben. Niemand kann mit ihr mithalten. Sie ist immer die Erste beim Rausschwim-men und hebt selbst schwere Lasten problemlos. Wir folgen ihr nur. In diesem Land gibt es wohl keine andere Meeresmutter wie sie.“ Koh In-o sammelt doppelt so viele Meeresfrüchte wie die jün-geren Haenyeo. Und in puncto Tauchtechnik kann ihr keine das Wasser reichen. Ihre Kolleginnen nennen sie „Tochter der Mee-resgöttin Yowang.“ Sie findet sich auch mit geschlossenen Augen im Meer zurecht. Es mag Tage geben, an denen die Sonne nicht zu sehen ist, aber keine Tage, an denen sie nicht ins Meer geht. D.h. ausgenommen natürlich die Tage, an denen der Wind zu heftig bläst.

Sparsam atmen Koh In-o ist eine Große Haenyeo obersten Ranges. Nachdem sie am Morgen vier Stunden getaucht hat, isst sie ein Stück Brot und sagt: „Das war das Mittagessen.“ Sie habe bisher im Meer kei-nen einzigen gefährlichen Moment erlebt. Ist das deshalb so, weil sie schon früh die Geheimnisse des Meeres erkannt hatte? Wohl kaum. Es liegt vielmehr daran, dass sie die Gier nie hat Oberhand gewinnen lassen. An ihren freien Tagen halte sie einen langen, tie-fen Mittagsschlaf. Wenn man frei habe, müsse man sich in Ruhe erholen. Ihr Tauchen ist „ganz normal“ und „gewöhnlich“. Sie „geht hin und macht es einfach“. Erblickt sie etwas, greift sie zu. „Wenn die Krake in dem Moment, in dem ich sie mit dem Haken fangen möchte, in einem Loch verschwindet, habe ich keine Chance mehr. Mit etwas Glück kommt sie aber am nächsten Tag wieder heraus. In so zehn Metern Tiefe habe ich auch schon mal Seeohren gesammelt, die größer als meine Handfläche waren.“ Im Süßwasser hat sie auch Fische mit der Harpune gefangen, was sie aufgrund ihres Alters jetzt nicht mehr mache. In jungen Jahren war sie eine legendäre Harpunenfischerin. Ihr Gehör ist immer noch scharf und ihre Stim-me kräftig. Vielleicht liegt das Geheimnis ihrer Gesundheit in ihrer allgemeinen, über Jahrzehnte erhaltenen Fitness. Und nicht zuletzt in der Ernährung. „Da ich nur das esse, was ich selbst frisch gefan-gen habe, kann ich ja nur gesund sein.“

Schwarze Schwimmflossen und runder Tewak-Korb (ausge-höhlter Kürbis) schweben wie Bojen auf dem Wasser. Aus

der Ferne wirken sie wie schwarze buddhistische Gebetsper-len unter der leidenschaftlichen Sonne des Südens. Nach einer Weile erscheint eine Gruppe von Haenyeo an der Meeresoberflä-che. Ihre Netztaschen sind voll mit Turbanschnecken, Seegurken und Braunalgen. Erst geraume Zeit später erscheint sie – wie der letzte Spieler auf dem Spielfeld – in ihrem schwarzem Taucheran-zug. Die Netztasche voller Braunalgen um die Schulter geschlun-gen, kommt sie, groß gewachsen und von kräftiger Statur, heran. Sie schiebt die Taucherbrille auf den Kopf, ihr Gesicht ist zu sehen. Das gesund-kräftige Erscheinungsbild verrät ihr Alter nicht: Das ist die 90-jährige Haenyeo Koh In-o. „Ich habe Braunalgen gesam-melt und brauchte ein bisschen von dem großen Felsen dahinten. Ich war so weit draußen, dass man die Stelle von hier aus gar nicht sehen kann.“ Tochter der Meeresgöttin YowangOhne eine Pause einzulegen, beginnt sie damit, die gesammelten Braunalgen Stück für Stück auf den Felsen auszubreiten. Im Nu verwandelt sich das Basaltgestein in ein natürliches Trockenge-stell: Koh In-os persönliches Braunalgenfeld. „Weiche und zarte Braunalgen schmecken am besten.“ Sie spricht in kurzen Satzstü-cken. Ihre alten Hände, mit denen sie die Braunalgen auslegt, glän-zen im Sonnenlicht. Die Algen werden in der klaren Meeresbrise und in der Sonne bald trocken sein und damit verkaufsfertig. „Das Meer hier ist zwar gut, aber es ist schwieriger geworden, was zu finden. Es gibt auch nicht mehr so viele Kraken und Seeohren.“Ihre Ernte mag karger geworden sein, aber für Koh ist das Meer das Leben an sich. Hier verbrachte sie ihre Jugendjahre und auch

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„Wenn die Krake in dem Moment, in dem ich sie mit dem Haken fangen möchte, in einem Loch verschwindet, habe ich keine Chance mehr. Mit etwas Glück kommt sie aber am nächsten Tag wieder heraus. ... Man kann nur so lange tauchen, wie der Atem reicht, mehr geht nicht. Man muss seinen Atem sparen. Wird man gierig, scheitert man. Wenn das Meer wild ist, sollte man nicht ins Wasser. Und man sollte nie länger als zwei Minuten den Atem anhalten.“

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Beim Tauchen trennt Leben oder Tod nur ein einziger Atemzug. „Man kann nur so lange tauchen, wie der Atem reicht, mehr geht nicht. Man muss seinen Atem sparen. Wird man gierig, scheitert man. Wenn das Meer wild ist, sollte man nicht ins Wasser. Und man sollte nie länger als zwei Minuten den Atem anhalten.“ Aber auch ihr Körper ist nicht mehr das, was er mal war. Er sei gealtert und sie fühle, wie sie zunehmend kurzatmiger werde, diese Kapi-tänin der Haenyeo. Sie sagt immer zu den anderen: „Braucht vor dem Auftauchen die Luft nie ganz auf. Auch wenn ihr überall See-ohren oder Kraken seht, taucht zunächst auf, holt Luft und geht erst dann wieder zum Sammeln runter. 30 Sekunden länger unter Wasser kann den Tod bedeuten.“ Vielleicht ist die Tatsache, dass es unter den Haenyeo von Saekdal-ri im Gegensatz zu anderen Haenyeo-Gemeinden bislang keinen einzigen Todesunfall gegeben hat, diesem Rat der alten Haenyeo zu verdanken. „Wenn man unter Wasser alleine loszieht, entfernt man sich automatisch ziemlich weit von den anderen. Man achtet nicht mal mehr auf die Kollegin neben sich. Wenn man sich so voll auf den Fang konzentriert, kann man sogar wilde Seeohren oder Rote Seegurken sammeln.“ Gera-de deshalb lauert für die Haenyeo immer überall Gefahr.Nur äußerst selten taucht die Veteranin Koh ohne Sauerstoffge-rät bis zu 20m tief. Sie hält dann etwa zwei Minuten ihren Atem an. „Wenn ich im Wasser bin, ist es wie eine hohe Klippe erklimmen. Schon bei 17m unter der Oberfläche fühle ich mich, als würde mir der Atem ausgehen, als würde ich ersticken. Es ist völlig anders als auf der Erde zu atmen. Das Geheimnis liegt im Wie des Luftan-haltens.“ Wenn sie endlich an der Oberfläche auftaucht, atmet sie automatisch tief aus, ohne es zu merken. Beim Auspusten der Luft erklingt das berühmten „Sumbi“-Luftausblas-Generäusch: „Ho-it, Ho-it“. Weil sie die Luft so lange angehalten hat, klingt es umso

klagender. Der Anblick des Himmels beim Auftauchen – das ist für sie der schönste aller Momente. Vielleicht ist es gerade die-ser besondere Reiz, der die alte Haenyeo immer wieder ins Meer zurückkehren lässt.

Das meer war ihr leben Mit 14, als sie noch Angst vor den Wellen hatte, ließ ihre Mutter sie jeden Tag den Kopf ins Wasser stecken, um sie zu lehren: „Du musst tauchen, um dein Brot zu verdienen. Hab keine Angst vor dem Wasser.“ Ihre Mutter brachte ihr auch die Kunst bei, wie man richtig die Luft anhält und ausatmet. Nur mit einem Kürbis als Schwimmhilfe begann sie in der Unterwasserwelt herumzustrei-fen, als ob es ihr Zuhause wäre. Ihr von Natur aus gesunder Körper und ihr großes Lungenvolumen dürften eine Hilfe gewesen sein. Alle an den Küsten Jeju-dos geborenen Frauen lernten auf diese Weise tauchen, als sei es ihre Bestimmung im Leben. Würde man sonst erstaunt fragen: „Die Haenyeo gehen schon drei Tage nach der Entbindung wieder ins Wasser?“ Jeder Tag ist ein Tag, an dem kaum Zeit zum Atemholen bleibt. Würde man sonst sagen, dass die „Haenyeo mit ihrem Sarg auf dem Rücken leben“?Koh ist die Größte unter den Haenyeo aus Saekdal-ri. Sie sei bereits als Kind groß gewesen. „Auf der Straße sagten die Leute: Schau mal, das große Mädchen da. Ich war schon immer kernge-sund. Meine Mutter wurde nicht alt, sie starb mit 74. Ich dachte, dass auch ich um dieses Alter herum sterben würde ...“Früher tauchte sie mit den „kleinen Augen“ (Schwimmbrille), heute mit den „großen Augen“ (Tauchmaske), so dass sie ein breiteres Blickfeld hat. Sie zieht Beifuß aus den Ohren. Beifuß verhindert, dass das Wasser ins Ohr dringt, und wenn man die Tauchmaske damit abreibt, beschlägt sie nicht. Heutzutage trägt sie Taucheran-züge aus Gummi, aber in ihren jungen Tagen hat sie in der Unter-wäsche getaucht, in einem dünnen Baumwoll-Oberteil und einer Unterhose. Mehr trug sie nicht. An ihrer Hüfte hingen schwere Metallgewichte, in den Händen trug sie ihre Ausrüstung: Tewak-Kürbiskorb, Netztasche, Speer, Hacke, kleine Bambusharpunen etc. Wenn sie an windigen, kalten Tagen in diesem Aufzug ins Was-ser ging, war ihr Körper nach dem Tauchgang rot geschwollen und sie zitterte wie Espenlaub. Es war hart, längere Zeit durchzuhalten. Daher machten die Haenyeo gleich ein Lagerfeuer auf den Felsen, um sich aufzuwärmen. Leider gibt es diese Feuerplätze wegen der mittlerweile angelegten Wellenbrecher nicht mehr. „Heute haben wir solche Taucherkleidung aus Gummi, besser geht‘s nicht. Es ist einfach wunderbar!“Die Haenyeo von Jeju-do: Symbol für Stärke und Selbstvertrau-en. Sie arbeiteten bereits vor langer Zeit in Japan, China und sogar Wladiwostok, um ihre Familie zu ernähren. Koh war zwar nicht im Ausland, aber früher streifte sie durch alle Meere um die kore-anische Halbinsel wie vor der Küste von Guryongpo und Gampo.

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1 An den Tagen, an denen Kang Myeong-seon nicht taucht, kümmert sie sich um die Instandhaltung ihrer Tauchausrüstung. Sie geht auch ins Büro der Fischer-Kooperative von Saekdal-ri, wo sie sich mit allem Möglichen beschäftigt, vom Putzen bis zum Tauchplan. 2, 3 Die Touristen auf Jeju-do strömen an die Küste, um die von den Haenyeo gesammelten frischen Meeresfrüchte zu kosten.

„Wenn ich ans Meer komme, fühle ich mich erfrischt und wenn ich hineingehe, bedeutet das Geld. Tauchen zu lernen, bringt einem nur Vorteile.“ Mit dem Geld, das sie durchs Tauchen verdiente, kaufte sie ein Haus und Felder. Das ist ihre Belohnung.

man muss tauchen, um lange zu leben und Geld zu verdienen Koh heiratete mit 16. Fünf Jahre später kam ihr Mann im Krieg um. Da war sie 22 und hatte eine Tocher. Nach vielen Aufs und Abs hei-ratete sie zum zweiten Mal. Bei den Aufständen auf Jeju-do, die in dem tragischen Massaker vom 3. April 1948 kulminierten, blieb ihr Mann, ein Polizist, verschont. Sie brachte ihren Töchtern, das Tauchen bei. Genau wie ihre Mutter es einst ihr beigebracht hatte. „Ihr müsst tauchen lernen, dann könnt ihr Geld verdienen und ein gesundes, langes Leben führen. Und euren Kindern eine Ausbil-dung geben. Ohne Tauchen könnt ihr nichts erreichen im Leben.“Ihre älteste Tochter Kang In-ja hat mit jetzt 72 immer noch keine ruhige Minute: Sie baut Mandarinen an und taucht. Vor der Hei-rat war sie eine gute Taucherin. Nach der Heirat in einen Ort, der hauptsächlich vom Mandarinenanbau lebte, war sie stärker auf die Landwirtschaft als Einkommensquelle angewiesen. Kohs zweite Tochter Kang Myung-seon (61) ist Leiterin der Fischer-Koopera-tive von Saekdal-ri. Auch ihre Schwiegertochter ist mit 36 Jahren Taucherfahrung eine Veteranin. Koh ist froh, dass ihre Töchter und Schwiegertochter in ihre Fußstapfen getreten sind. Daher freut es sie mehr, wenn Töchter oder Schwiegertochter an einem Tag einen reichen Fang gemacht haben, als wenn sie selbst viel gefangen hat.

Kang Myung-seon, Leiterin der Fischer-Kooperative von Saekdal-riTochter Kang Myung-seon ist kräftig gebaut und hat auch ohne

Beauty-Geheimrezepte eine schön glatte Haut. Seit elf Jahren ist sie Leiterin der Fischer-Kooperative, eine Position, die Verantwor-tungsbewusstsein und Leadership verlangt. Außerdem ist sie für den Betrieb des Haenyeo-Restaurants verantwortlich. Von den ca. 4.500 Haenyeo, die den 19 Fischer-Kooperativen auf Jeju-do ange-hören, sind nur 23 aus Saekdal-ri, was für eine familiäre Atmo-sphäre sorgt. Ursprünglich waren es einmal 31, aber einige muss-ten aus Gesundheitsgründen mit dem Tauchen aufhören. Kang Myung-seon legt fest, wer wann für die Strandreinigung zuständig ist und zieht jeden Morgen gegen das Wegwerfen von Abfall – und sei es auch nur ein Holzstäbchen – zu Felde. Dank dieser Kampagne sind Küste und Meer vor Saekdal-ri auch heute noch für ihre Sauberkeit berühmt. Turbanschnecken ernten die Haenyeo erst ab einer gewissen Größe und lassen die kleinen weiterwachsen. Die Haenyeo-Gemeinschaft lebt von gegenseiti-ger Hilfe und Rücksichtnahme, ohne die die harte, gemeinsame Arbeit nicht möglich wäre. Kang Myung-seon ist nach ihrer Mutter geschlagen: Sie hat deren optimistischen Charakter, sieht für ihr Alter jung aus, ist fingerfertig und schnell beim Rohfisch-Filetieren und geschickt beim Tauchen. Vielleicht ist auch ihr großes Lun-genvolumen, das sie problemlos bis zu 15m tief tauchen lässt, von der Mutter geerbt. „Selbst wenn ich nur eine einzige Seegurke, ein einziges Seeohr gefangen habe, freue ich mich. Es ist hart, aber es bringt Bewegung und ich gehe gerne ins Meer. An manchen Tagen mache ich viel Gewinn, an anderen gehe ich leer aus.“Das Tauchen unterteilt sich in 14 Tage Privatarbeit und 16 Tage Gemeinschaftsarbeit. Was die Haenyeo für sich selbst gesammelt haben, verkaufen sie direkt an die Touristen, den Verdienst kann jede behalten. Einige machen pro Tag 300.000 bis 400.000 Won (ca. 200-260 Euro), andere nehmen viel weniger ein. Was in Gruppen-

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arbeit geerntet wird, wird als Gruppe verkauft. Nehmen sie z.B. in einem Monat 15 Mio. Won (ca. 10.000 Euro) ein, erhält jedes Grup-penmitglied mindestens 700.000 Won (ca. 500 Euro). „Natürlich habe ich manchmal Stress, aber im Vergleich zu anderen Dorf-Kooperativen kommen wir hier recht gut miteinander zurecht.“ Gibt es etwas zu besprechen, werden Versammlungen einberufen. Ordnung ist in der Welt der Haenyeo äußerst wichtig. Es gibt auch Regelungen, die von der Koreanischen Küstenwache festgelegt wurden: Es sollte in Gruppen gearbeitet werden, wenigstens im Zweierteam, um in Gefahrensituationen Hilfe bekommen zu kön-nen. Ein Tauchgang sollte 1 Minute nicht überschreiten und pro Tag sollte unter 4 Stunden getaucht werden. Pro Monat maximal 8 Tage. Haenyeo über 70 sollten nur für maximal 2 Stunden pro Tag in seichten Gewässern tauchen. Allein 2014 sind auf Jeju-do bereits drei Haenyeo ums Leben gekommen, wahrscheinlich aus altersbedingten Gründen. Solche Nachrichten gehen jeder Haeny-eo so zu Herzen, als ob eine aus der eigenen Familie umgekom-men sei.

Die Schwiegertochter: Veteran-Haenyeo mit 36 Jahren Erfahrung „Ich sage Mutter immer wieder, dass sie mit dem Tauchen aufhö-ren soll, dass sie es wenigstens bei Kälte, Schnee oder Regen las-sen soll. Aber sie meint, zu Hause würde sie ja doch nur schlafen. Auch nach dem Mandarinenpflücken geht sie noch tauchen.“ Koh In-o hat Mitleid mit ihren beiden Töchtern und die beiden Töchter haben Mitleid mit der Mutter, die immer noch taucht. Aber die Mut-ter bleibt weiterhin ihr Sturmschutz, ihre ewige Meeres-Lehrmeis-terin.Als Tochter Kang Myeong-seon erzählt, dass die Eintragung in die

UNESCO-Liste des Immateriellen Kulturerbes das Ansehen der Haenyeo steigern dürfte, breitet sich ein helles Lächeln über ihr Gesicht. Sie selbst hat vier Töchter und einen Sohn. Allerdings hat keins der Kinder das Tauchen zum Beruf gemacht. Der Gedan-ke, dass die Haenyeo-Familienlinie mit ihr enden wird, stimmt sie traurig. Koh In-os Schwiegertochter kritisiert jedoch, dass man den Haeny-eo zwar Gummianzüge zur Verfügung stellt, dass das bislang aber die einzige Begünstigung sei. „Die UNESCO ist ja schön und gut, aber was wir brauchen, sind grundlegende Sozialleistungen.“ Nach dem Tauchen sind die Haenyeo so erschöpft, dass sie an dem Tag kaum mehr etwas unternehmen können. Die meisten leiden unter chronischen Kopfschmerzen. Auch Koh In-o und ihre Schwieger-tochter nehmen ständig Schmerzmittel. Aber Koh ist der Mei-nung, dass sie dem Meer ihre Gesundheit verdankt: „Das Tauchen hält mich gesund. Solange ich mich noch bewegen kann, werde ich tauchen.“ Dieses jungmädchenhaft strahlende Lächeln – wer würde schon denken, dass es einer Haenyeo gehört, die auf die 100 zugeht?“Ieoseona ieodona / Ieodo sana hei / Unser Boot fährt gut, ieodo sana / Mutter brachte mich zur Welt / an einem Tag ohne Sonne und Mond / Ieodo sana, es fährt gut, es fährt gut / Unser Leben ist gut, ieosana....”Ist es das Meer, das sie anzieht? Oder ist sie es, die das Meer anzieht? Koh In-o, die Große Haenyeo obersten Ranges, geboren auf der rauen Vulkaninsel Jeju-do, hat ihr ganzes Leben im Meer verbracht, stets an der Scheide zwischen Leben und Tod. Sie ist die Tochter des Vulkans. Sie ist die Tochter des Meeres, eine Göttin des Meeres.

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einmal probiert haben. Zunächst die Seeohren-Innereien gut zerkleinern und mit einem Löffel Sesamöl unter ständigem Rühren braten. Vorgeweichten oder rohen, gewaschenen Reis hinzugeben, bei rohem Reis etwas länger köcheln lassen. Wenn der Reis aufquillt, das Seeohrenfleisch hinzugeben. Den Brei nicht zu lange köcheln lassen, da die Seeohren sonst hart und zäh werden.Auch Rote Seegurken sollte man am besten roh essen. Auf dem Festland werden sie in Salzwasser gekocht, getrocknet und dann gegessen, nicht aber auf Jeju-do. Turbanschnecken, die einen weniger reichen Geschmack als Seeohren haben, können für Brei verwendet werden oder als Zusatz für Seeohrenbrei. Die Turbanschnecke aufbrechen, ausnehmen und waschen, in Öl braten und wie beim Seeohrenbrei mit Reis köcheln. Turbanschnecken schmecken auch gut roh oder in der Schale gegrillt. Blanchierte, klein geschnittene, mit Würzsoße abgeschmeckte Turbanschnecken sind ebenfalls eine Gaumenfreude.Braunalgen werden gründlich gewaschen, trocken getupft und in kochendem Wasser blanchiert, bis sie grün werden. Mehrmals in kaltem Wasser auswaschen, gut abtropfen lassen. Mit Sesamöl, Sojasoße und Schalottenlauch würzen, je nach Vorliebe etwas Essig und Zucker hinzugeben. Es gibt unzählige Braunalgen-Gerichte. Braunalgen können Fischsuppen hinzugegeben werden oder Suppen auf Sojabohnenpastenbasis. Im Sommer erfrischt einen kalte Braunalgensuppe: Braunalgen mit Sojabohnenpaste in kaltes Wasser geben, mischen und als kalte Suppe servieren.„Wenn‘s hiervon was gibt, ist das Essen erledigt.“ Koh zieht plötzlich eine Flasche aus der Tasche. Die weiße Flüssigkeit sieht aus wie Joghurt oder der trübe, gegorene Reiswein Makgeolli. Es ist aber Shwindari à la Koh In-o: Ein Vitalitätstrunk auf Milchsäurebakterienbasis, den man früher auf Jeju-do gern im Sommer herstellte. Als es noch keine Kühlschränke gab, machte man aus gekochten Reisresten, die man nicht verderben lassen wollte, Shwindari: Zwei Löffel zerkleinerte Nuruk-Weizenhefe mit drei Schalen gekochtem, abgekühltem Reis vermischen. Über Nacht gären lassen. Wenn das Ganze gut schäumt, Honig und Zucker hinzugeben und kochen. Abkühlen lassen und in Flaschen abfüllen.

Zubereitung von Jejudo-Meeresfrüchten nach Art von Koh In-o

Alles, was aus dem Meer kommt, ist gut.“ Auf den Teller von Koh In-o kommen

stets Meeresfrüchte: frisch gefangene, lebende Kraken, Seeohren, Seegurken, Braunalgen und Turbanschnecken. Wie bereitet sie diese zu? In ihren Rezepten muss wohl das Geheimnis ihres langen Lebens liegen. „Was für Rezepte? Nur einfach zubereiten.“ Mit einem Wort: Einfach und leicht. Auf dem Festland wird stark gewürzt, doch Koh In-o mag es nicht übermäßig gewürzt. Hier die Zubereitung von Krakenbrei, ein Wellness-Gericht für alle Jahreszeiten. Die Krake zunächst mehrmals in Wasser waschen, dann schnell auf dem Schneidbrett in Stücke schneiden. Die Krakenstücke bei mittlerer Hitze unter ständigem Rühren mit Sesamöl braten, anschließend Reis und Wasser hinzugeben und unter gelegentlichem Umrühren köcheln lassen. Der Reis kann vorgeweicht sein oder auch nicht. Mit einer Brise Salz abschmecken und servieren. Die teuren und seltenen Seeohren isst man am besten roh. Aber auch Seeohrenbrei mit seiner besonderen Geschmacksnote sollte man

„1 Koh In-o und Kang Myeong-seon, die in ihren Taucheranzügen an der Küste beeindruckend wirken, geben auf ihrem Heimweg in ihren normalen Alltag ein warmes Bild von Mutter und Tochter ab, wie es in jedem Dorf leicht zu sehen ist. 2 Koh In-os Meeresfrüchte-Gerichte sind wie sie selbst: bescheiden und geradeheraus und nicht übermäßig gewürzt.

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vergangenheit und gegenwart der Haenyeo von Jeju-do

spezIAl 2 Haenyeo: die Taucherinnen-Ikonen von Jeju-do

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Auf Jeju-do, der – abgesehen von der kleinen Insel Mara-do – am weitesten südlich gelegenen Insel Koreas, lebt eine einzigartige, über die Jahrhunderte tradierte Kultur weiter. Kernstück dieser Kultur sind die Haenyeo, die legendären Taucherinnen der Insel. Werfen wir einen Blick auf den Ursprung dieser Haenyeo, die seit jeher für die Stärke der Frauen von Jeju-do standen, um Lebensweise und geistige Werte der Bewohner von Jeju-do, die seit Generationen in enger Verbundenheit mit dem Meer leben, zu verstehen. Yoo Chul-in Professor für Anthropologie, Jeju National University | Fotos Kim Hung-ku, Ahn Hong-beom

Der Schritt der Haenyeo, die am frühen Morgen in der Hoffnung auf einen guten Fang ans Meer gehen, ist flott und energisch.

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Haenyeo“ (wörtl.: Meerfrauen) sind Berufstaucherinnen, die ohne Sauerstoffgeräte tauchen und Meeresfrüchte ern-

ten. Momentan gibt es noch ca. 4.500 aktiv tätige Haenyeo (auch „Jamnyeo“ oder „Jamsu“ genannt) auf der Insel Jeju-do, die 2007 unter der Bezeichnung „Jeju-Vulkaninsel und Lavatunnel“ in das UNESCO-Weltnaturerbe eingetragen wurde. Das Sammeln von Meeresfrüchten ohne jegliche Atemausrüstung ist zwar weltweit verbreitet, aber nur noch in Korea und Japan wird es als Beruf aus-geübt.Seit wann tauchen die Inselbewohner frei, um Meeresfrüchte zu ernten? Nach den Muschelabfallhaufen im Dorf Sangmo-ri zu urteilen, wo in rauen Mengen Schalentiere wie Seeohren und Tur-banschnecken ausgegraben wurden, lässt sich das Sammeln von Schalentieren auf Jeju-do bis auf das 3. Jh vor Christus zurückda-tieren. Ob das Sammeln durch Tauchen geschah, lässt sich jedoch nicht mit Bestimmtheit sagen.Laut Koreas Durchführungsverordnung zum Fischereigesetz wird die Freitaucher-Fischerei definiert als ein „Industriezweig, der sich mittels Sichel, Hacke, Messer u.ä. ohne Einsatz von Sauer-stoffgeräten mit Fang oder Ernte von Krustentieren, Meeresalgen und anderen Meerestieren bzw. -pflanzen ortsgebundener Arten beschäftigt“. Erst im 17. Jh während der Joseon-Zeit (1392-1910) erscheinen freitauchende Fischer, die auf dieselbe Art und Weise wie die heutigen Haenyeo Meeresfrüchte gesammelt haben sol-len, in den Aufzeichnungen über die Insel Jeju-do. Gab es in der Joseon-Zeit dann nur auf Jeju-do Haenyeo? In historischen Doku-menten über die lokalen Produkte der jeweiligen Regionen werden Seetang, Turbanschnecken und Seeohren nicht nur als von Haeny-eo geerntete Produkte von Jeju-do, sondern auch als Spezialitäten verschiedener anderer Küstenregionen der koreanischen Halbin-sel vorgestellt. Allerdings finden sich keine näheren Beschreibun-gen zur Erntemethode. Da in Küstenregionen mit besonders gro-ßem Tidenhub sogar Seeohren, die im tiefen Meer wachsen, ohne Tauchen geerntet werden können, herrscht die Annahme, dass es auch während der Joseon-Zeit nur auf Jeju-do Haenyeo gab.

Berufsmäßige Freitaucherinnen: die Haenyeo von Jeju-do Bis Ende des 17. Jhs gab es auf Jeju-do auch männliche Berufs-taucher, „Pojak“ genannt, die haupsächlich im tiefen Meer See-ohren ernteten, während die Haenyeo an relativ seichten Stellen Algen wie Seetang und Grünalgen (Codium fragile) sammelten. Aber ab dem frühen 18. Jh übernahmen die Frauen die Arbeit im tiefen Meer. Was war der Grund dafür? Stand dahinter der Gedan-ke, dass Frauen konstitutionsmäßig besser zum Tauchen geeignet seien als Männer? Oder war es vielleicht so, dass die männlichen Taucher aufgrund der übermäßigen Tributlasten das Weite suchten und die Frauen an Stelle ihrer Ehemänner für die Tributzahlungen aufkommen mussten? Nach verschiedenen Aufzeichnungen war

wohl eher das Letztere der Fall. Die heutzutage allgemein als Haenyeo bezeichneten Taucherin-nen von Jeju-do arbeiten aber nicht mehr in der abgabepflichtigen, sondern in der kapitalistischen Produktionsweise. Hintergrund für diesen Wandel ist v.a. das sog. „saisonale Tauchen“ (jap.: Dekase-ghi) fern von der Insel. Ab 1895 kamen Händler vom Festland nach Jeju-do, um die Haenyeo für bestimmte Zeiten zum Sammeln von Meeresalgen an den östlichen und südlichen Küsten der korea-nischen Halbinsel anzuheuern. Bis dahin waren Bangeojin und Pohang in der südöstlichen Region des Landes die Tauchreviere der „Ama“, der japanischen Taucherinnen aus Ise, die seit ungefähr 1883 in diese Gewässer zum Tauchen kamen. Mit dem Erscheinen der Haenyeo zogen sich die Ama nach und nach zurück und waren ab 1929 völlig von der Bildfläche verschwunden. Warum das?Die japanischen Ama aus Ise fuhren mit dem Boot aufs Meer hin-aus und verwendeten zum Tauchen ein Seil mit ca. 13 kg schweren Metallgewichten, um möglichst schnell den Meeresboden zu errei-chen. Das Seil musste zum Auftauchen vom Schiffer (meistens ihre Ehemänner) hochgezogen werden. Dieses Seil heißt auf Japanisch „Inochitsuna“, d.h. „Lebensseil“. Aber die Haenyeo von Jeju-do machten sich die Auftriebskraft einer Art Schwimmkissen, genannt „Tewak“ (früher aus Kürbis, heutzutage meistens aus Schaumpo-lystyrol) zunutze, mit dessen Hilfe sie weit ins Meer hinausschwim-men konnten, um dann aus eigener Kraft in die Tiefe zu tauchen. Die Haenyo waren daher nicht auf Schiffer angewiesen, was ihre Produktivität im Vergleich zu den Ama wesentlich erhöhte. Heutzutage sind die Haenyeo auch in einigen anderen Küstendör-fern des Festlands und auf anderen Inseln zu sehen, aber die Mehr-heit befindet sich immer noch auf Jeju-do. Das Freitauchen in den anderen Gebieten des Landes wurde von den Jeju-Haenyeo erlernt, die saisonal außerhalb von Jeju-do arbeiteten. Die Tauchergruppen in den Küstenregionen der koreanischen Halbinsel bestehen daher auch meistens aus Haenyeo von Jeju-do, die sich dort niedergelas-sen haben, und Einheimischen der jeweiligen Region.

Frauen von Jeju-do: leben als HaenyeoDie Haenyeo von Jeju-do tauchen ohne Sauerstoffgeräte 1 Minute lang in ca. 10 Meter Tiefe nach Meeresfrüchten. Im Sommer tau-chen sie pro Tag 6 bis 7 Stunden, im Winter 4 bis 5 Stunden, also rund 90 Tage im Jahr. Die Haenyeo besitzen aber keine besonde-re, angeborene Körperkonstitution. Erst langjähriges, wiederhol-tes Tauchtraining macht sie zu Haenyeo. In den 1960er Jahren, als die Zahl der Haenyeo auf Jeju-do ihren Höhepunkt erreichte, sah man in den Küstendörfern häufig junge Mädchen, die im seichten „Baby-Meer“ tauchen lernten. Sie wurden meist im Alter von 16 Haenyeo, galten aber erst als richtige Haenyeo, wenn sie sich unter den Älteren einigermaßen behaupten konnten und sich an den Feuerstellen „Bulteok“, an denen sich die Taucherinnen umzogen

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1, 2 Auf der Insel Jeju-do leben bei Weitem die meisten Haenyeo. Hier tauchen nicht nur jüngere Frauen, auch die älteren in ihren Siebzigern sind noch aktiv.

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und zwischen den Tauchgängen aufwärmten, einen eigenen Platz gesichert hatten. Bulteok, die „Freiluft-Garderoben“ an sonnigen Stellen des Stran-des, sind ein Symbol für den traditionellen Gemeinschaftsgeist der Haenyeo. Da die Haenyeo früher in groben Baumwoll-Anzügen lange Zeit tauchen mussten, richteten sie in der Nähe ihrer Tauch-plätze diese Feuerstellen zum Aufwärmen ein. In einigen Dörfern fuhren die Frauen mit dem Boot aufs Meer hinaus, wobei das Feuer dann auf dem Boot gemacht wurde. Ab Mitte der 1970er Jahre begannen sie dann, Taucheranzüge aus Gummi zu tragen. Um diese Zeit verschwanden die Feuerstellen an den Küsten und wur-den durch Umkleidekabinen ersetzt.

Tief verwurzelte Tradition des Gemeinschaftslebens Seit den 1970er Jahren ist der Haenyeo-Beruf für die Frauen von Jeju-do nicht länger ein vorbestimmter Lebensweg, sondern eine Frage der persönlichen Entscheidung. Da die Fischer-Kooperativen der jeweiligen Dörfer das Fischereirecht in den betreffenden Fang-gründen, in denen die Haenyeo arbeiten, kontrolliert, ist die Mit-gliedschaft in diesen Kooperativen Voraussetzung für die Berufs-ausübung. Die meisten werden nach der Heirat Haenyeo – und damit gleichzeitig Mitglied der Freiwilligenorganisation „Tauche-rinnenverein“, die der Fischer-Kooperativen als Dachorganisation unterstellt ist. Der Taucherinnenverein, den es in jedem Dorf gibt, entscheidet

z.B., wann was geerntet werden soll oder wie lange man bei einem Todesfall oder einer Hochzeit im Dorf Auszeit nehmen soll. Auf den Versammlungen wird immer einstimmig entschieden, da beim Tauchen die Zusammenarbeit wesentlich ist. Die Taucherinnen ste-hen zwar miteinander im Wettbewerb, aber sie schützen einander auch vor möglichen Gefahren im Wasser, weshalb die Rücksicht-nahme auf die Kolleginnen bei den Haenyeo ausgeprägt ist. Beim Tauchen bleiben sie immer in Augennähe voneinander. Unter den Haenyeo von Jeju-do gibt es den gängigen Spruch „In der Unterwelt verdienen, auf dieser Welt ausgeben“, der auf die Gefah-ren im Wasser anspielt. Die Haenyeo halten daher jeden Frühling ein schamanisches Ritual, ab, um Großmutter Yowang, die Göttin des Meeres, um Sicherheit im Wasser zu bitten. Bei diesem Ritu-al werden alle Haenyeo Nachfahrinnen dieser Urmutter, was ein enges Band zwischen ihnen schweißt. Sie verstreuen symbolisch Kolbenhirsesamen an der Küste und beten um einen guten Fang. Tauchen ist keine Technik, die man sich von heute auf morgen aneignen kann. Viel wichtiger als rein physische Faktoren wie Lun-genvolumen oder die Fähigkeit, langes Tauchen im kalten Wasser auszuhalten, sind dabei die am eigenen Leib gemachten Erfahrun-gen. Die Haenyeo von Jeju-do verfügen über kognitive Karten der Unterwasserwelt einschließlich der Vorkommen von Riffen und Meeresfrüchten und kennen sich auch mit den Gezeiten und Win-den bestens aus. All das ist einzig und allein Resultat langjährigen Trainings und Erfahrung.

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Tauchen ist dementsprechend auch keine einfache Arbeit, sondern verlangt besondere Techniken. Die Haenyeo von Jeju-do unter-teilen sich je nach Tauchfertigkeiten in drei Gruppen: Sanggun (Haenyeo obersten Grades), Junggun (Haenyeo mittleren Grades) und Hagun (Haenyeo untersten Grades). Die Sanggun-Haenyeo sind erfahrene Taucherinnen, die sich mit Riffen und Meeresfrüch-ten äußerst gut auskennnen. Wenn es um die Frage geht, ob die Wetterlage zum Tauchen geeignet ist oder nicht, vertraut man dem Bauchgefühl der Sanggun mehr als dem Wetterbericht. Wie eine Haenyeo betont, lernt man Tauchen durch das Entwickeln des entsprechenden Gespürs. Genau wie beim Jagen und Fischen lassen sich auch die für das Tauchen notwendigen Kenntnisse nicht gezielt-explizit erlernen. Vielmehr ist Lernen gleich Üben und Üben gleich Lernen. In den Umkleidekabinen, die die Haenyeo gemein-sam benutzen, lernen die Anfängerinnen von den Veteraninnen nicht nur etwas übers Tauchen, sondern auch über die Pflichten einer Haenyeo und den rücksichtsvollen Umgang mit den Kollegin-nen.

eine umweltfreundliche und nachhaltige lebensweise Die Haenyeo machen einen wichtigen Teil der Identität der Bewoh-ner von Jeju-do aus, gibt es doch kaum einen Einheimischen, des-sen Mutter oder Großmutter keine Haenyeo ist oder war. Das Bild einer Haenyeo, die furchtlos und nur mit ihrem Tewak als Hilfs-mittel in die rau gehende See hineintaucht, symbolisiert den Geist der Tapferkeit der Inselbewohner. Die unfruchtbare Vulkanerde von Jeju-do zwang die Frauen der Insel dazu, als Haenyeo für den Unterhalt der Familie zu sorgen. Die Einnahmen aus gemein-schaftlichem Tauchen in bestimmten Meeresgebieten wurden für die Belange des Dorfhaushalts zusammengelegt oder auch für den Bau von Schulen verwendet. Bei der Taucharbeit werden umweltfreundliche Sammel- und Erntetechniken angewendet, die gleichzeitig nachhaltig sind. Da die Zeit, die die Haenyeo mit angehaltenem Atem unter Wasser verbringen können, begrenzt ist, wird jeder persönliche Ehrgeiz, möglichst viele Meeresfrüchte sammeln zu wollen, von vornher-ein beschnitten. Die Fischer-Kooperative verwaltet nicht nur die Fischfanggründe des Dorfes freiwillig, sondern legt auch Erntezeit, Zeit per Tauchgang und Mindestgröße der sammelbaren Meeres-früchte fest und kontrolliert Tauchtechniken bzw. Tauchwerkzeug.

Für die Haenyeo ist das Meer, in dem sie arbeiten, ein „Feld“, wes-halb sie zwei oder drei Mal im Jahr an den Küsten und Wattenmee-ren gemeinsam das Unkraut beseitigen, so dass die Meeresalgen, die sie sammeln und die als Futter für die Krustentiere dienen, gut gedeihen können. Auch das Freilassen der gezüchteten Jungtie-re von Seeohren oder Turbanschnecken in die Fischfanggründe gehört zu den Pflichten der Haenyeo. Allerdings nimmt die Zahl der Haenyeo Jahr für Jahr ab, was lang-fristig gesehen ihre Existenz an sich in Frage stellt. 1965 gab es auf Jeju-do 23.000 Haenyeo, 1975 waren es nur noch 8.400, was den bislang dramatischsten Rückgang darstellt. Während dieser Zeit setzte die Provinz Jeju-do die Fördermaßnahmen für ihre Gamgy-ul-Mandarinen-Plantagen und die Tourismusindustrie ernsthaft um. Der Negativtrend ging weiter, so dass es laut Statistik 2012 nur noch 4.500 Taucherinnen gab.Parallel zu diesem Rückgang verläuft der demographische Wan-del. 1970 waren noch 31% aller Haenyeo unter 30. 2012 gab es laut einer Studie keine einzige Haenyeo unter 30 mehr und die Haenyeo in den 30ern und 40ern stellten zusammen nur 2 Prozent. Während heute kaum eine junge Frau noch Haenyeo werden möchte, gibt es für die Taucherinnen keine gesetzliche Altersgrenze, so dass sie so lange, wie es ihre Gesundheit erlaubt, arbeiten können, selbst bis in die 80er hinein. Damit die Tradition der Haenyeo von Jeju-do weiter erhalten blei-ben kann, sind Unterstützungsmaßnahmen vonnöten, die den Tau-cherinnen ein gesichertes Einkommen und den Erhalt der Gesund-heit sichern. Die Regierung der Provinz Jeju-do bemüht sich um entsprechende Maßnahmen. Dazu gehören die Versorgung der Dorf-Fischerkooperativen mit gezüchteten Jungtieren von Seeoh-ren und Turbanschnecken, die Bereitstellung von Taucheranzügen und kostenlose medizinische Untersuchungen für ehemalige und aktive Taucherinnen. Ebenfalls geplant sind diverse Fördermaß-nahmen für die Heranziehung des Haenyeo-Nachwuchses.Aber vor allem müssen die Haenyeo selbst ihre Arbeitszeit pro Tag und die Zahl der Tauchtage pro Jahr reduzieren. Wenn die Schutz-maßnahmen für die Haenyeo, die ihnen Gesundheit, Sicherheit und ein stabiles Einkommen gewährleisten sollen, unter ihrer aktiven Teilnahme und Zusammenarbeit entworfen werden, erhöht sich auch die Chance, dass die nachkommenden Generationen in ihre Fußstapfen treten.

Die Haenyeo von Jeju-do tauchen ohne Sauerstoffgeräte 1 Minute lang in ca. 10 Meter Tiefe nach Meeresfrüchten. Im Sommer tauchen sie pro Tag 6 bis 7 Stunden, im Winter 4 bis 5 Stunden, also rund 90 Tage im Jahr. Die Haenyeo besitzen aber keine besondere, angeborene Körperkonstitution. Erst langjähriges, wiederholtes Tauchtraining macht sie zu Haenyeo.

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Stärke und zähigkeit der frauen von Jeju-do, gewonnen durchs TauchenWie schwer muss es sein, unter Wasser den Atem für längere Zeit anzuhalten? Wenn die Haenyeo im Wasser freitauchen und zwischendurch kurz an die Wasseroberfläche kommen, stoßen sie mit dem charakteristischen „Ho-it“ die Luft aus. Das ist der Beweis, dass sie am Leben sind. Der Klang dieses übers Meer schallenden Atemgeräuschs ist Inkarnation des Chors des Lebens.Joo Kang-hyun Professor an der Jeju National University, Direktor des Asia-Pacific Ocean and Culture Center | Fotos Lee Sung-eun

spezIAl 3 Haenyeo: die Taucherinnen-Ikonen von Jeju-do

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Streng genommen taucht man nicht nur auf der Insel Jeju-do nach Meeresfrüchten. Schon lange vor dem Erscheinen des

heute so beliebten Gerätetauchens ernteten die Menschen die Res-sourcen aus Flüssen oder Meeren. Das Perlentauchen in Japan, Indonesien, Australien, Sri Lanka, Südindien und Oman war schon früh sehr berühmt. Auch das Schwammtauchen im Mittelmeer und in der Karibik, das Sammeln von roten Korallen in Italien, die Ernte von schwarzen Korallen im Roten Meer und in der Nähe von Hawaii sind ebenfalls weit und breit bekannt. Unter den Meeresfrüchten haben Miesmuscheln, Seeohren und andere Muscheln eine lange Erntegeschichte.Die Taucher ernten aber nicht nur Korallen, Schwämme und Weichtiere für sich selbst, sondern gehen auch anderen beim Fischen zur Hand. Sie spannen Netze im Wasser, treiben Fische in die Fangvorrichtungen und sammeln diese dann ein. All das erfolgt in kooperativer Arbeit.Überall auf der Welt begaben sich die Taucher schon immer ohne besondere Schwimmhilfen in die Tiefen und erledigten gefähr-lichste Arbeiten mit nichts anderem als ihrem Körper. Tauchen ohne Hilfsgeräte ist auch heutzutage noch weit verbreitet. Die Schwimmbrille ist noch keine 100 Jahre alt und Taucheranzüge aus Gummi, die vor Kälte schützen, fanden erst in jüngster Zeit größere Verbreitung.

Tauchen – von männerarbeit zu FrauenarbeitBedenkt man, dass Tauchen eher eine traditionelle Männerarbeit ist, kommt Korea in der Geschichte des Tauchens eine exponierte Stellung zu. Die Taucherinnen der Insel Jeju-do, die sog. Haenyeo, haben eine ganz besondere Geschichte und folgen bis heute eng und straff organisiert den alten Tauchtraditionen. Für viele Forscher war das Leben der Haenyeo an sich schon immer ein interessanter Untersuchungsgegenstand z.B. hinsichtlich der Beständigkeit und Systematik ihrer Berufstätigkeit, des starken Gemeinschaftscha-rakters der Taucherinnenorganisationen und der Koexistenz von Arbeit und Ritual. Die Haenyeo von Jeju-do haben eine traurige Geschichte: In der Vergangenheit mussten sie ihren Seeohren-Fang als Steuer an die zuständige Behörde des Königreichs abgeben. Bis Mitte des 17. Jhs war Tauchen aber nicht alleinige Pflicht der Frauen. Erst als die Zahl der männlichen Taucher, die in erster Linie für die in Form von Meeresfrüchten zu entrichtenden Tributzahlungen verantwortlich waren, immer mehr zurückging, ging diese Pflicht auf die Frauen über. Die Männer ertrugen die unbarmherzige Ausbeutung nicht länger und flüchteten aufs Festland, wo sie an den Küsten herum-streiften und mit dem Sammeln von Meeresfrüchten ihren Lebens-unterhalt verdienten. Die Zahl der aufs Festland geflüchteten Män-ner lag bei ca. 10.000, so dass Ende des 16. Jhs der Frauenüber-schuss auf Jeju-do zu einem ernsten Problem wurde.

Im Jeju-Reisebericht des Dichters Im Je aus der mittleren Joseon-Zeit findet sich diesbezüglich folgende Passage: „Rund 100 Männer von Jeju-do verlieren pro Jahr ihr Leben auf See beim Untergang ihrer Schiffe. Aus diesem Grund gibt es viele Frauen, aber wenige Männer, weshalb nur wenige Frauen, die dort auf dem Land leben, verheiratet sind.“ Es waren diese traurigen historischen Umstän-de, in denen sich sogar die Witwen gezwungen sahen, den Tribut-verpflichtungen ihrer Männer nachzukommen und selbst im kal-ten Winter nur spärlich bekleidet ins Meer zu tauchen. Dass Jeju-do landläufig als „Insel der Frauen“ bezeichnet wird, geht auf diese brutale historische Wirklichkeit zurück.

Weinende Babys im Babykorb, die mütter im meer Darüber hinaus mussten die Taucherinnen von Jeju-do soziale Benachteiligung und Verachtung hinnehmen. Selbst auf Jeju-do vermieden es die Angehörigen der adligen Obershicht, im Wasser zu arbeiten. Die Haenyeo, die die meiste Zeit im Salzwasser ver-brachten, konnten nur raue Haut bekommen, egal, wie sehr sie ihren Körper pflegen mochten. Zur Zeit von König Yeongjo (reg. 1724-1776) beschrieb Shin Gwang-su in seiner Anthologie Seok-bukjib einen Tauchgang in lebendigen Bildern:

Unvermittelt zieht sie das Wasser zu sich, treibt spielend hin und her, Als würd‘ eine Ente im Wasser schwimmen.Nur der Kürbiskorb schwebt auf dem Wasser.Plötzlich kracht sie wie eine blaue Welle steil in die Luft,Zieht hastig das Korbseil um die Taille hochUnd stößt einen langen Windzug aus. Das Geräusch dringt in inbrünstiger Bewegung tief in den Palast des Meereeskönigs.Leben heißt arbeiten, aber warum gerade diese Arbeit? Begehrst du den Gewinn so sehr, dass du das Leben ris-kierst?

Zur Zeit von König Sejong (reg. 1418-1450) machte Gi Geon, der damalige Ortsvorsteher von Jeju-do, an einem Tag mit hefti-gem Schneesturm seinen Patrouillengang. Da sah er, wie eine Schar spärlich bekleideter Frauen bei der Kälte ins Meer tauch-te. Es heißt, dass dieser Offizier dermaßen schockiert war, dass er danach aus Gewissensgründen nie mehr von den Haenyeo geern-tete Seeohren oder Turbanschnecken aß. In den Annalen von König Sunjo findet sich folgendes Bittschreiben an den König, verfasst vom damaligen Minister zur Rechten (heute: Vize-Ministerpräsident) Shim Sang-gyu, datiert von November 1824: „Bei den eisigen Temperaturen springen Frauen und Männer, zit-ternd vor Kälte, nackt ins Wasser, um Seeohren und Seetang zu sammeln. Dass sie nicht von den Wellen weggerissen werden und

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ihr Leben verlieren, ist an sich schon ein Glück. Wenn sie dann aus dem Wasser kommen, machen sie am Strand Feuer und braten sich geradezu, weshalb ihre Haut Risse und Falten bekommt, so dass sie hässlich wie Dämonen aussehen. Diese Drangsal bringt ihnen zwar ein paar Seeohren und einige Handvoll Braunalgen, aber von dem, was sie auf diese Weise verdienen, können sie nicht leben.“

Während das Leben in den typischen Fischerdörfern von extremem Elend und Armut geprägt war und viele sich durchs Land ziehend durchbetteln mussten, hatten die Taucher noch stärker zu leiden, wie diese Aufzeichnung deutlich belegt. Heutzutage tragen die Tau-cherinnen Taucheranzüge, die die Körpertemperatur einigerma-ßen bewahren helfen, aber früher mussten sie auch im Winter halb nackt ins eiskalte Wasser. Zu der Zeit, als Kleiderstoff so rar war, dass es nicht einmal für ordentliche Alltagskleidung reichte, wäre extra Taucherkleidung ein unbezahlbarer Luxus gewesen. Natür-lich dürften nicht alle ganz nackt gewesen sein, aber laut Aufzeich-nungen tauchten die Haenyeo barbusig in Unterhosen. Während sie im Wasser arbeiteten, schliefen ihre Babys in den Babykörben.

Haenyeo, verantwortlich für Tauch- und Feldarbeit Früher begannen die Frauen von Jeju-do mit 15 oder 16 Jahren mit dem Tauchen. Als Kinder übten sie sich im seichten Uferwasser im Sammeln von Bomal-Meeresschnecken (Omphalius rusticus) oder Agar-Agar (Rote Meeresalgenart). Das ganze Know-how des Tauchens – grundlegende Tauchmethoden und -stile, besonders zu Beachtendes, Etikette und Bräuche unter den Kolleginnen, Wis-sen über Sammeln und Verkauf des Fangs – wurde durch Erfah-rung gelernt und an die nächste Generation weitergegeben. Dieses Wissen entwickelte sich zu einer Art ungeschriebenem Gesetz und alle Haenyeo, die der Gemeinschaft angehörten, waren verpflichtet, sich daran zu halten. Sie hielten sich schon aus Gründen der eige-nen Sicherheit strikt an diese Regeln. In entferntere Gewässer fahren die Haenyeo mit dem Boot hinaus, zu den näher am Ufer gelegenen Erntegründen schwimmen sie. Sie sammeln hauptsächlich Seeohren, Turbanschnecken, Obunjagi (kleine Seeohrenart, Sulculus diversicolor supertexta), Bomal-Mee-resschnecken, Seeigel, Seegurken, Hijiki-Braunalgen (Sargassum fusiforme), Gamtae-Braunalgen (Ecklonia cava), Rotalgen (Meristo-theca papulosa) und Agar-Agar. Das Juwel unter all diesen Meeres-

früchten sind natürlich die Seeohren. Gamtae-Braunalgen werden im Sommer mit Harken gesammelt und als Dünger verwendet. Ein-mal mit diesem Dünger angereicherte Erde wird so fruchtbar, dass man drei Jahre lang nicht mehr zu düngen braucht. So beschränkt sich die Funktion der Haenyeo nicht auf die Arbeit im Meer. Normalerweise verbringen die Haenyeo die Hälfte ihrer Zeit im Meer und die andere Hälfte auf dem Feld. Alle Haenyeo mussten ohne Ausnahme auch auf dem Feld arbeiten. Mit dem aus dem Meer gewonnenen Dünger reicherten sie die unfruchtbare Vulkanerde an, säten aus und bauten Getreide an. Von der Arbeit im Meer zurück, mussten sie auf die Felder und von dort wieder ins Meer, wenn der Tidenhub gerade richtig war. Die Feldarbeit an sich war recht anstrengend. Auf den Inseln im Pazifischen Ozean gibt es zwar Tau-cher, die ähnliche Funktionen erfüllen, aber es ist sehr selten, dass sie Tauchen und Feldarbeit mit gleich hohem Einsatz und Aufwand betreiben. Zudem können die Haenyeo ohne Übertreibung als Vor-bild für eine ökofreundlichen Agrarkultur dienen, da sie Meeresalgen als Dünger einsetzen und so einen organischen, ökologischen Kreis-lauf geschaffen haben.

Berufsgemeinschaft und ritualgemeinschaftDie Haenyeo tauchen zehn bis zwölf Tage im Monat. Getaucht wird, wenn die Gezeiten stimmen, ganz nach dem Haenyeo-Sprichwort: „Bei Ebbe vertreiben wir uns irgendwie die Zeit, bei Flut springen wir ins Meer und arbeiten“. Besonders bei Stauwasser bei Spring-tide vermeiden sie das Tauchen. Wenn dazu noch der Wellengang hoch ist, ist das Tauchen besonders schwierig. An solchen Tagen verdoppelt sich die Wellenkraft proportional zur Höhe: Zwei Meter hohe Wellen wirken unter Wasser wie vier Meter hohe Wellen. Bei starkem Wellengang können die Haenyeo selbst die Seeohren vor ihrer Nase nicht zu fassen bekommen.Selbst in ihrer Taucherkleidung tragen die Haenyeo im tiefen Meer quasi nichts als ihre Haut und werden daher gelegentlich von Fischen verletzt, in manchen Fällen sogar von Haifischschwärmen umzingelt. Oder noch schlimmer: Eine Haenyeo stach beim Sam-meln von Seeohren zwischen die Muschelschalen, um sie zu lösen, wobei sich die Messerschnur, die sie um ihr Handgelenk gewickelt hatte, zwischen den Seeohren verhedderte. Sie schaffte es dann nicht mehr zum Atmen an die Meeresoberfläche und ertrank. So schwebt bei der Arbeit im Wasser immer der Schatten des Todes

Das ganze Know-how des Tauchens – grundlegende Tauchmethoden und -stile, besonders zu Beachtendes, Etikette und Bräuche unter den Kolleginnen, Wissen über Sammeln und Verkauf des Fangs – wurde durch Erfahrung gelernt und an die nächste Generation weitergegeben. Dieses Wissen entwickelte sich zu einer Art ungeschriebenem Gesetz und alle Haenyeo, die der Gemeinschaft angehörten, waren verpflichtet, sich daran zu halten.

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über ihnen. Das ist auch der Grund, warum sie viel Wert auf „Gut“, traditionelle schamanistische Rituale, legen und den Göttern ihr Schicksal anvertrauen. Jedes Jahr halten sie gemeinsam den Taucher-Gut ab. Die Berufsgemeinschaft hat also gleichzeitig die Funktion einer Ritualgemeinschaft.Die Haenyeo sind stark im Managen der Haushaltskasse. Mit dem Geld, das sie neben der Hausarbeit durchs Tauchen verdienen, kau-fen sie Felder und finanzieren sogar die Bildung ihrer Kinder bis zum Hochschulabschluss. Ihr gefährlicher Beruf wird natürlich von gefährlichen Berufskrankheiten begleitet. So ist die Taucherkrank-heit weit verbreitet. Bei den ersten Anzeichen von Kopfschmerzen nehmen die Haenyeo einfach Schmerzmittel oder Medikamente gegen Grippe. Im Rahmen der Haenyeo-Sozialleistungen haben sie zwar Anspruch auf eine spezielle Behandlung im Krankenhaus, aber eine völlige Heilung ist nicht einmal im Traum zu erhoffen. Der Tauchgebiet der Haenyeo war nicht auf die Gewässer der Insel Jeju-do beschränkt. Viele Haenyeo gingen nach Busan, auf Inseln wie Ulleung-do, Dok-do und Heuksan-do, manche wagten es sogar bis in nordostasiatische Länder wie China, Russland und Japan. Es gab einige, die im Frühling in fremde Länder zogen, dort über ein halbes Jahr tauchten und erst im Herbst wieder zurückkamen.

Andere ruderten sogar eigenhändig tagelang übers Meer nach Chingdao oder Dalian in China.Um Geld für eine Mahlzeit zu sparen, hatte diese Haenyeo immer Getreide wie Kolbenhirse dabei. Mütter trugen ihre Babys auf dem Arm und stillten sie zwischen den Tauchgängen. Es gab auch eine Haenyeo, die auf dem Weg zum Tauchen aufs Festland war und dann an Bord des Schiffes ihr Baby zur Welt gebracht hat.Bei der Taucharbeit wird unterschieden zwischen Tauchen in Ufer-nähe, bei dem die Haenyeo ins Meer hinausschwimmen, und Tau-chen unter Einsatz eines Bootes bei dem 15-20 Haenyeo aufs Meer hinausfahren. Wenn die Haenyeo die heimischen Gewässer verlie-ßen, um in fremden Meeren zu arbeiten, lebten sie die ganze Zeit auf ihren Booten, wo sie aßen und schliefen. Diese Haenyeo schrie-ben auch in der koreanischen Geschichte der Freiheitsbewegung des letzten Jahrhunderts ein wichtiges Kapitel. Die Arbeit der Haenyeo, die manchmal sogar in 20m Tiefe nach Meeresfrüchten suchen, übersteigt die normalen Grenzen des Menschen. Daher ist ohne Erwähnung der Haenyeo eine Diskussi-on über das Leben an den Gewässern von Jeju-do von vornherein ausgeschlossen. Denn die Haenyeo sind das A und O des Lebens der Menschen von Jeju-do.

Jedes Frühjahr halten die Haenyeo von Jeju-do Rituale ab, bei denen sie um Schutz und einen reichen Fang bitten. Dazu gehören kleinere Rituale in den einzelnen Dörfern, aber auch groß angelegte wie der Jeju Chilmeoridang Yeongdeunggut, der in die UNESCO-Liste des Immateriellen Erbes der Menschheit aufgenommen wurde.

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Dongdaemun, das Herz von seoulWährend des Joseon-Reichs (1392-1910) war Hanyang, wie Seoul damals hieß, eine im Vergleich zu heute wesentlich kleinere Stadt nur mit traditionellen Holzbauten mit schönen geschwungenen Ziegeldächern, den sog. „Hanok-Häusern“. In der von Ber-gen eingerahmten Stadt gehörten die Fes-tungsmauern, zu den wichtigsten Anlagen. In die Festungsmauer waren acht Tore eingelassen, von denen die vier Tore in die Haupthimmelsrichtungen als Hauptzugän-

ge zu Seoul fungierten. Das östliche Stadt-tor war das Heunginji-mun, allegemein als Dongdae-mun (Osttor) bekannt. Die Gegend um dieses Tor ist seit alters her ein Zentrum von Handel und Verkehr. Während des enormen Wirtschaftswachstums in den 1960er und 1970er Jahren entwickelte sie sich rasch zum Dreh- und Angelpunkt der Textilindustrie, der damals größten Export-branche Koreas. Als Resultat entstand hier ein Mega-Markt, wo die in den nahe gele-genen Fabriken produzierten Modeartikel vertrieben wurden. Daraus wurde schnell eine eigene Fashion-Town, wo Zehntausen-de von Arbeitern, Händlern und Designern tätig sind. „Dongdaemun-Fashion“ ist die Bezeichnung für die hier angefertigten Arti-kel.Das Dongdaemun-Viertel war zugleich die Heimat des koreanischen Sports. Von der Errichtung eines großen Mehrzweck-Stadi-ons (1925) während der japanischen Kolo-nialherrschaft bis in die 1980er Jahre war es die Bühne für wichtige nationale Sport-veranstaltungen. Das Nebeneinander von

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Der Dongdaemun Design Plaza & Park (DDP), der einen Platz als neues und repräsentatives Wahrzeichen von Seoul beansprucht, hat vor kurzem unter Applaus und Kritik seine Tore geöffnet. Das Dongdaemun-Viertel, wo diese interessante Anlage mit Investitionen in Höhe von 484 Mrd. Won (ca. 349 Mio. Euro) und einer Gesamtfläche von 86.574m² errichtet wurde, ist nicht nur das Herzstück der koreanischen Fashion-Industrie, sondern auch voller historischer Spuren von Seoul, einer Stadt mit über zehn Millionen Einwohnern und mehr als 600 Jahren Geschichte als Hauptstadt. Das DDP steht für das kühne Experiment, an einem bedeutungsträchtigen Ort neue Traditionen zu schaffen.Goo Bon-joon Architektur-Kolumnist, Reporter der Tageszeitung The Hankyoreh

Ein neues, zukunftsgerichtetes Wahrzeichen Seouls

1 Die Außenseite des DDP besteht aus 45.133 Aluminiumplatten unterschiedlicher Größe und Form. Nachts, wenn das Gebäude von innen beleuchtet ist, wirkt es wie eine gigantische Skulptur. 2 Das Innere des Gebäudes bietet wie auch das Äußere ein „Festspiel der Kurven”. Als weiße, völlig von der Außenwelt abgeschnittene Fläche, wirkt der Innenraum mit seinen von den Kurven geworfenen faszinierenden Schatten gleichsam wie eine andere Welt, in der die Zeit stehen geblieben zu sein scheint.

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Hinter dem DDP sind einige Gebäude als kleinere Räume der Kultur dorfartig angeordnet. Diese „Landschaft, in der Architektur und Topographie verschmelzen“, ist das Merkmal des DDP, auf das die Architektin Zaha Hadid besonders stolz ist. Die Existenz eines solch weitläufigen, sich horizontal erstreckenden Raums inmitten der von Hochhäusern und Einkaufszentren umzingelten Seouler Innenstadt ist an sich schon eine erfrischende Überraschung.

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Heunginji-mun, einem Aushängeschild der traditionellen koreanischen Architektur und Nationalschatz Nr. 1, dem Sportkomplex aus Beton und den von Menschen über-quellenden Großmarktgebäuden machte die Gegend zu einer der dynamischten und vitalsten Stätten wirtschaftlicher und kultu-reller Aktivitäten in Seoul.

raum ausschließlich für DesignDie Seouler Stadtverwaltung ließ das Stadi-on 2007-2008 mit dem Plan abreißen, hier einen speziellen Raum „rund ums Design“ zu schaffen. Verbunden mit der dem Sta-dion gegenüber liegenden Fashion-Town sollte das DDP das Zentrum des Designs - eines der künftigen Wachstumsmotoren Koreas - und eine touristische Attraktion werden. Bei den wichtigen Kunstmuseen und Ausstellungshallen der Welt macht sich zunehmend ein Trend hin zu Spezialisierung und Differenzierung bemerkbar, doch unter den Anlagen, die ausschließlich dem Design gewidmet sind, setzt das DDP internatio-nal neue Maßstäbe in Bezug auf Größe und Imposanz. Es war auch in Sachen Investi-tionen das bisher aufwändigste öffentliche Bauprojekt in Korea.Angesichts der Tatsache, dass es sich um

ein Mega-Bauwerk neuen Konzepts han-delte, war auch die Auswahl des Architek-ten von besonderem Interesse. Unter zahl-reichen großen Namen aus dem In- und Ausland fiel die Wahl schließlich auf Zaha Hadid (geb. 1950) als leitende Architektin. Sie hat mit ihrer „atypischen Architektur“ aus Kurven und Diagonalen, die im Gegen-satz zur durch gerade Linien und rechte Winkeln gekennzeichneten konventionel-len Architektur steht, ihre eigene Marke geschaffen und zählt zu den angesehens-ten Architekten der Welt. Hadid bewarb sich erfolgreich mit ihrem Konzept einer „metonymischen Landschaft“, in der eins-tiges Stadiongelände und Museumsbau, verbunden zu einem einzigen Körper, einen Park bilden. Der Bau sollte niedrig gehalten werden und sich wie sanft aus dem Boden aufsteigende Wellen weit über das Gelände ausbreiten.Baustart war 2009. Als der Bau dann all-mählich konkrete Gestalt annahm, zog das DDP genau so viel Interesse wie Kritik auf sich. Noch stehen sich Kritiker und Befür-worter unerbitterlich gegenüber: Wäh-rend die einen mokieren, dass das wie ein Raumschiff aussehende DDP sich nicht in die Stadtlandschaft von Seoul einfüge,

loben es die anderen als einen originären Raum, der neues Leben in die Stadt bringt.

Architektonische Ästhetik Das, was zuerst ins Auge springt, ist ohne Zweifel Hadids typische Designhandschrift. Abgesehen vom Boden weist die gesam-te DDP-Struktur keine geraden Linien und rechten Winkel auf. Es ist „das weltweit größte atypische Bauwerk“, in dem Wände, Dächer und Korridore in sanft fließenden asymmetrischen Kurven verlaufen. Das mit Metallplatten verkleidete Äußere ist eben-falls einzigartig: 45.133 einzeln angebrach-te Aluminiumplatten unterschiedlicher Größe und Form bedecken die Konstrukti-on, so dass die Innenbeleuchtung das Bau-werk nachts wie eine Monumentalskulptur erscheinen lässt.Der Innenraum ist nicht weniger phänome-nal als die äußere Gestalt. Im Inneren mit seinen sechs, in Reinweiß gehaltenen Flä-chen wird ebenfalls ein „Fest der Kurven“ gefeiert. Völlig von der Außenwelt abge-schnitten, wirkt der Innenraum mit seinen von den Kurven geworfenen faszinierenden Schatten gleichsam wie eine andere Welt, in der die Zeit stehen geblieben zu sein scheint.

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Die durch die Struktur des Gebäudes bedingten Innenraumformen sind weite-re Sehenswürdigkeiten. Die stromlinien-förmige Masse des DDP schlängelt sich in sanften Bögen, so dass sich dazwischen verborgene Nischen finden. Der schma-le Korridor zwischen den silbernen Säulen führt zum weitläufigen Raum im Freien und über den abgesenkten Platz dort führt ein Schwimmbrücken-ähnlicher breiter Kor-ridor. Allein schon dieser offene, Innen und Außen verbindende Raum mit seinen vari-ierenden Bodenhöhen und Strukturen bie-tet Raumerlebnisse, die schwer woanders zu finden sein dürften. Er kann zudem noch auf vielfältige Weise genutzt werden, sei es als Bühne für Design oder Wettbewerbe.Für die größte Aufmerksamkeit sorgt jedoch, dass das Kangsong Art Museum, das älteste private Kunstmuseum Kore-as, eine ständige Ausstellungshalle im DDP eingerichtet hat. Die Exponate dieses Museums, die quasi zum Schatz der Schät-ze der traditionellen koreanischen Kunst gehören, waren der Öffentlichkeit bislang nur begrenzt zugänglich. Jetzt können sie in einem der bislang zukunftsorientiertes-ten und futuristischsten Gebäude besichtigt werden.

eine landmarke für die BürgerWie aus dem „P(ark)“ in „DDP“ ersichtlich, versteht sich das DDP nicht als Bauwerk im herkömmlichen Sinne, sondern als Park mit „integrierter Landschaft“ in Form eines Museums. Das Dach ist ein künstlich angelegter, grasbewachsener Hügel, der sich in sanftem Wellen zur alten Stadtmau-er und zu den archäologischen Überres-ten der städtischen Infrastruktur erstreckt. Hinter dem DDP sind einige, ebenfalls von Zaha Hadid entworfene Gebäude als klei-nere Räume der Kultur dorfartig angeord-net. Diese „Landschaft, in der Architektur und Topographie verschmelzen“, ist das Merkmal des DDP, auf das die Architektin besonders stolz ist. Die Existenz eines solch weitläufigen, sich horizontal erstrecken-den Raums inmitten der von Hochhäusern und Einkaufszentren umzingelten Seou-ler Innenstadt ist an sich schon eine erfri-schende Überraschung.Was Zaha Hadid zu einer der weltweit gefragtesten Star-Architekten gemacht hat, ist die Tatsache, dass ihre Werke die Besonderheiten unseres Zeitalters gut widerspiegeln. Ihre stromlinienförmigen Räume, die sich wie rollende Wellen verän-dern, stehen für die Freiheit und Flexibilität

der modernen Gesellschaft und regen die Fantasie des modernen Menschen in Bezug auf Hochtechnologie und die damit verbun-dene Zukunft an. Die sanft geschwungenen Linien der Wüste des Irak, der Heimat der Architektin, wurden in Seoul aus Metall und Beton neu erschaffen.In jüngster Zeit liegen Bauwerke im Trend, die als Wahrzeichen öffentliche Werte ver-folgen und für die Stadtbürger als Orte von Vergnügen, Erholung und Glück fungie-ren. Das DDP-Projekt liegt auf einer Linie mit dem Streben nach solch horizontalen Wahrzeichen, die der Augenhöhe der Bür-ger entsprechen und sich auf natürliche Weise in den öffentlichen Raum der Städte einfügen.Die Reaktion auf den gewaltigen und sen-sationellen Entwurf bleibt je nach Pers-pektive gespalten. Aber eindeutig ist, dass dieses interessante Bauwerk an sich die Eigenschaften von Seoul, einer Stadt voller Komplexität und Dynamik, voll und ganz in sich birgt und facettenreiche Kulturveran-staltungen und Sehenswürdigkeiten anbie-tet. Hier begegnet der Besucher Vergan-genheit, Gegenwart und Zukunft gleichzei-tig, und gerade darin liegt der Reiz des DDP.

1 Eine Sonderausstellung ausgewählter Kunstwerke und kultureller Artefakte des Kansong Kunstmuseums in der Design Exhibition Hall. 2 Design Experience ist ein Erlebnisraum für Kinder, in dem sie die Zukunft anhand von Design erleben und sich vorstellen können.

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„Ein Wunder von Linien“ – das ist der erste Gedanke beim Anblick der Werke von Kim Young-taek. Eine einzige, mit der Feder gezogene dünne Linie ist zwar schwach, aber Zehntausende dieser Linien sind zusammen ungemein stark. Die sich über Tage und Monate erstreckende mühsame Anhäufung von Linien lässt ein Haus erscheinen. Auf diese Weise restauriert Kim traditionelle Bauwerke, das große Erbe der Menschheit.Chung Jae-suk Kulturjournalistin, Tageszeitung The JoongAng Ilbo | Fotos Ahn Hong-beom

Kim Young-taek erweckt mit Federzeichnungen die koreanische Architektur zu neuem Leben

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cHunG: Von 2001 bis 2012 veröffentlichten Sie in der Tageszeich-nung The JoongAng Ilbo eine Kolumne mit dem Titel Kim Young-taeks Reisen mit der Federzeichnung. Mit über zehn Jahren dürfte es die längste Kolumnenserie in der Geschichte der koreanischen Zeitung gewesen sein.KIm: Ich war fest entschlossen, die Schönheit unseres traditionel-len Architekturerbes durch Federzeichnungen festzuhalten und der ganzen Welt zu zeigen. Ich strebte nach höchster Perfektion, damit die Menschen unsere Bauwerke sehen, fühlen, schätzen und etwas über dieses Kulturerbe lernen können. Häufig schaffte ich an einem Tag nicht einmal ein Zehntel der geplanten Zeichnung, obwohl ich pausenlos daran arbeitete. Wegen dieser Anstrengun-gen kam es dann wohl zu der Bewertung, dass in meinen Werken die Seele der koreanischen Architektur verborgen ist. .cHunG: Sie haben Design an der Hongik University studiert und waren ein erfolgreicher Designer. Dann haben Sie aber Ihre Kar-riere und damit das sichere Leben aufgegeben, um sich auf völlig unbekanntes Terrain zu begeben. Das muss sehr viel Mut gekostet haben.KIm: 1993 wurde ich als einer von weltweit 54 Grafikdesignern aus-gewählt, die vom International Trademark Center mit dem Titel „Design Ambassador“ ausgezeichnet wurden. 1994 wurde ich zur ersten World Logo Design Biennale eingeladen. Aber ich hatte immer das Gefühl, dass irgend etwas fehlte. Design erschien mir wie das Herstellen von Hüllen für die Sachen von anderen. Ich hatte nicht das Gefühl, etwas selbst und nur für mich zu machen und die Leidenschaft zur eigenen schöpferischen Tätigkeit packte mich.cHunG: Warum ausgerechnet Federzeichnungen?KIm: Schon in meiner Grundschulzeit hatte ich großes Interesse an detaillierten Zeichnungen. Als Mittelschüler war ich an Raumstruk-turen so sehr interessiert, dass ich sogar meine eigenen Baupläne entwarf. Ich zeichnete auch viele hyperrealistische Bilder. Einmal habe ich mit Wasserfarben einen koreanischen Geldschein gemalt und im Schreibwarenladen hat man mir dafür tatsächlich Wech-selgeld gegeben. Ich habe auch gerne alte Gegenstände gesam-melt, Fotos und Dokumente. Und irgendwann ließen mich dann die Federzeichnungen in alten europäischen Kalendern und die Kopien alter Bücher nicht mehr los. So sehr zogen sie mich an. Mitte der 1990er entdeckte ich auf einer Europareise, dass die Tradition der Federkunst, einer der wichtigsten Strömungen in der westlichen Kunstgeschichte, verschwunden war. Da kam mir der Gedanke, wie es wäre, Federzeichnungen zu schaffen und an europäische Käufer zu verkaufen. Sofort gab ich meine Stelle auf und griff zur Feder.

perspektive à la Kim und die koreanische FederkunstcHunG: Sie hätten andere Themen oder Objekte wählen können, warum haben Sie sich ausgerechnet für traditionelle Architektur entschieden?

Federkünstler Kim Young-taek bei der Arbeit in seinem Studio in Gyeonji-dong, Jongno-gu, in Seouler Stadtmitte. Die vielen mit Federn gefüllten Behälter und die zahlreichen altertümlichen Stücke, die Kim über die Jahre gesammelt hat, lassen das Studio wie einen Antiquitätenladen wirken.

Kim Young-taek gilt als Meister der Federzeichnung, der die Tradition dieser auch im Westen ausgestorbenen Kunst mit

koreanischem Ästhetiksinn neu erschafft. Insbesondere die Wie-dererschaffung von verschwundenen oder verunstalteten tradi-tionellen Bauten und Kulturgütern mit detaillierten Federzeich-nungen brachte ihm großes Ansehen. Für die Fertigstellung eines einzigen, auf nach vor Ort gemachten Skizzen gefertigten Werkes braucht es 500.000 Einzelstriche.Den Geist der koreanischen Architektur mit Federzeichnungen erfassen (Capturing the Spirit of Korean Architecture with Pen Dra-wings) (Verlag: Seoul Selection) ist ein Katalog über traditionelle koreanische Bauwerke und das Resultat von zehn Jahren des Rei-sens durchs ganze Land zwecks akkurater Dokumentation. Einge-teilt in die drei Kapitel Architektur umarmt Geschichte, Architek-tur umarmt Kultur und Architektur umarmt Religion, beinhaltet das Buch 91 Federskizzen. Vom Tor Gwanghwa-mun bis zur drei-stöckigen Holzpagode des Tempels Botap-sa sehen die Werke so lebendig aus, als stünde der Betrachter an Ort und Stelle davor. Zu jedem Bauwerk gibt es einen Begleittext mit Informationen über den historischen Hintergrund und Geschichten rund um den Bau, so dass es eine Art illustrierter Reisebericht ist.Als ich Kim in seinem Seouler Studio in Gyeonji-dong, Jongno-gu besuchte, schärfte er gerade seine Federspitzen mit Sandpapier. Wie sein Ruf als Antiquitätensammler erwarten ließ, ähnelte das Studio dem Lager eines Antiquitätenhändlers. Unter den Tausen-den, sich in allen Ecken stapelnden Artefakten stachen die um Kim herum stehenden Behälter mit Dutzenden von Federn besonders ins Auge.

meine Waffe ist die 0,03mm FederspitzecHunG Jae-suk: Die Federn in den vielen Behältern, das sind wohl Ihre Waffen.KIm Young-taek: Jede Federzeichnung ist eine ganz eigene Welt, die aus der Federspitze fließt. Die weltweit dünnste Federspitze ist 0,1mm. Ich schmirgle die Spitze bis auf 0,05mm oder 0,03mm ab. Damit kann ich auf einem Ein-Millimeter-Raum fünf Linien ziehen. Für ein einziges Bild braucht es mindestens 500.000 bis maximal 800.000 Striche. An der Grenze zwischen Sichtbaren und Unsicht-baren ziehe ich, mich von allen Gedanken frei machend, Linien über Linien. Manchmal seufze ich angesichts der Arbeit vor mir. Aber dann ziehe ich weiter Linie für Linie wie ein Mönch, der Sutren abschreibt.

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KIm: Die traditionelle koreanische Architektur ist von einer Schön-heit der Bescheidenheit gekennzeichnet. Sie lässt das Einssein mit der Natur spüren. Unsere Vorfahren besaßen zwar eine fortschritt-liche Bautechnik, aber sie unterdrückten den Drang zur großar-tigen Präsentation. Statt auf das Aussehen legten sie mehr Wert darauf, wofür ein Gebäude errichtet werden sollte. Und sie waren auch frei von dem Ehrgeiz, ein Werk als ihr eigenes zu deklarieren und Besitzanspruch zu erheben. Das ist wahrer Meistergeist. Und das ist meiner Meinung nach auch der Geist der Federzeichnung.cHunG: Ich habe gehört, dass Sie verschiedene Methoden ange-wendet haben, um eine historische exakte Darstellungsweise zu gewährleisten.KIm: Unsere Baumeister haben beim Bau eines Hauses Erde und Natur als lebenden Organismus betrachtet. Große Steine und alte

Bäume wurden aus Respekt an ihren ursprünglichen Standorten gelassen. Den im Sinne der Geomantik natürlichen Verlauf der „Energie-Kanäle“ von Bergen und Land zu unterbrechen, war ver-boten. Die Natur war kein Objekt, das es zu bezwingen galt, son-dern ein Kamerad, mit dem man gemeinsam lebte. Beim Feder-zeichnen habe ich mich bemüht, diesen unsichtbaren Geist zum Ausdruck zu bringen, ihn zum Leben zu erwecken und sichtbar werden zu lassen. Es ist sozusagen eine Art Wiederbelebung der koreanischen Bautechnik. Anders als im westlichen Konzept von Perspektive versuche ich, die vergleichweise wichtigeren Objek-te besonders deutlich darzustellen. In den Augen des Menschen erscheint Wichtiges größer als in Wirklichkeit, selbst wenn es weit entfernt ist. Darauf fokussiert habe ich meine eigene „Perspektive à la Kim Young-taek“ entwickelt.

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cHunG: Das ähnelt dem Gedanken der asiatischen konzeptuali-sierten Malerei. Deswegen sagen Kritiker, dass Ihre Federzeich-nungen dem „weißen Porzellan der Joseon-Zeit (1392-1910) glei-chen“ oder „den Stil der koreanischen Malerei aufweisen“.KIm: Westliche Federzeichnungen sind zwar akkurat wie Bauplä-ne, aber ihnen fehlt gewissermaßen die Schönheit einer inneren Ausstrahlung, was sie trocken und kalt wirken lässt. Ich möchte Federzeichnungen von distinktiv koreanischem Empfinden schaf-fen, bei denen sich in jedem einzelnen Strich wie in jeder Holzfa-ser der koreanischen Architektur reiche und reizende Geschichten verbergen.

Weltweit anerkannter Federzeichner aus IncheoncHunG: Sie haben in den letzten 20 Jahren insgesamt 160 Bauten

gezeichnet, darunter Bauwerke, die zum architektonischen Kul-turerbe Koreas oder zum Welterbe erklärt wurden. Wie sehen Ihre weiteren Pläne aus?KIM: Ich bin in Incheon geboren, und deswegen gaben meine jün-geren Kollegen der Ausstellung, die ich im April im Korean-Chi-nese Cultural Center eröffnete, den Titel „Weltweit anerkannter Federzeichner aus Incheon.“ Natürlich möchte ich auch in den ursprünglichen Hochburgen der Federskizzenkunst Anerken-nung gewinnen. Darüber hinaus hoffe ich, mit meinen Zeichnun-gen zur Entspannung der derzeit frostigen Beziehungen zwischen Korea und Japan beizutragen. Wenn dies auf politischer Ebene nicht möglich ist, dann könnte ein kultureller Ansatz eine Alterna-tive sein. Der größte Teil der Bevölkerung beider Länder hegt keine besonderen Ressentiments, aber die Politiker provozieren aus

Sukjeong-Tor und Festung Seoul (2005), 24 x 60 cm, Tusche auf Papier

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Eigeninteressen feindschaftliche Gefühle. Ich habe 16 architekto-nische Nationalschätze Japans mit der Feder skizziert und möchte diese Arbeit fortsetzen. Und vielleicht auch mal eine Ausstellung in Japan eröffnen.cHunG: Die Sammlung Ihrer Werke ist so groß, dass sie für ein privates Kunstmuseum reichen würde.KIm: Ich bin 1945 geboren und gehe auf die 70 zu. Mein Ziel ist, noch mindestens 200 Zeichnungen zu machen, so lange es mir meine Gesundheit erlaubt. Wenn jemand für mich ein Kunstmuse-um in Form eines traditionellen Hanok-Hauses baut, will ich gerne all meine Werke und Sammlungen stiften. Deswegen sammle ich weiterhin Objekte, mit denen die Gelehrten-Gemächer aus alter Zeit nachgebildet werden können.cHunG: Sie haben sich bislang dem Zeichnen der traditionellen Architektur gewidmet. Haben Sie kein Interesse daran, Ihren The-menbereich zu erweitern?KIm: Zurzeit meditiere ich häufig darüber, woraus die Welt besteht, wie außerirdische Zivilisationen beschaffen sein könnten und was die Mysterien des Universums und der Menschheit sind. Irgend-wann möchte ich diese Gedanken in einer Federzeichnung-Serie

behandeln. Mit meinen Federskizzen und Fotomaterialien könnte ich vielleicht einmal meine eigene Sicht der Zivilisationsgeschichte zu Papier bringen.Der Künstlername von Kim Young-taek ist „Neulsaem“. Dieser Name bedeutet „ein Leben wie eine Quelle, aus der ewig kla-res Wasser sprudelt“. Dieser Name wurde ihm vom Ehrwürdigen Mönch Seokjeong (1928~2012) aus dem Tempel Tongdo-sa gege-ben. Er beinhaltet auch noch den tieferen Sinn, dass Kim jeder-zeit wachen Sinnes sein möge und alles offen und ohne Vorurteile akzeptieren möge. Diese Bedeutung weist Parallelen zum Geist der koreanischen Federzeichnung auf. Neulsaem schrieb in sei-ner Zeichnung vom Pavillon Mandaeru der konfuzianistischen Aka-demie Byeongsan Seowon in Andong: „Wenn Sie auf den Pavillon steigen, schauen Sie zuerst zu den Querbalken hinauf. Jeder Bal-ken, der die Säulen verbindet, hat eine andere Form. Die natürliche Linienführung der Balken ist so schön wie die Linien der wogenden Wellen. Eine solche Schönheit lag in den Herzen der Zimmerleute aus der Joseon-Zeit.“Auf dass diese Schönheit für immer in den Federzeichnungen von Neulsaem bestehen bleiben möge.

1 Dabotap (Pagode der vielen Schätze) im Tempel Bulguk-sa in Gyeongju (2011), 41 x 58 cm, Tusche auf Papier 2 Die Brücke Seungseon-gyo im Tempel Seonan-sa in Suncheon (2010), 41 x 58 cm, Tusche auf Papier 3 Himmelshirsch auf der Brücke über den Verbotenen Fluss, Palast Gyeongbok-gung (2004), 36 x 48 cm, Tusche auf Papier 4 Kim Young-taek ist bei seiner Erforschung des architektonischen Erbes um Genauigkeit bemüht, weshalb er stets vor Ort Skizzen macht.

„Unsere Baumeister haben beim Bau eines Hauses Erde und Natur als lebenden Organismus betrachtet. Große Steine und alte Bäume wurden aus Respekt an ihren ursprünglichen Standorten gelassen. Den in Sinne der Geomantik natürlichen Verlauf der „Energie-Kanäle“ von Bergen und Land zu unterbrechen, war verboten. Die Natur war kein Objekt, das es zu bezwingen galt, sondern ein Kamerad, mit dem man gemeinsam lebte. Beim Federzeichnen habe ich mich bemüht, diesen unsichtbaren Geist zum Ausdruck zu bringen, ihn zu Leben zu erwecken und sichtbar werden zu lassen. Es ist sozusagen eine Art Wiederbelebung der koreanischen Bautechnik.“

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Die Errichtung der Pfeiffer Hall, eines Bauwerks aus der Frühgeschichte der koreanischen Hoch-

schulbildung, war das Ergebnis einer vierjährigen Spendensammelaktion. Annie Merner Pfeiffer, eine amerikanische Methodistin, die sich stark für Bil-dungs- und Missionarsarbeit engagierte, steuerte eine bedeutende Summe bei, sodass das Gebäude im März 1935 fertiggestellt werden konnte. Ihr zu Ehren wurde es „Pfeiffer Hall“ getauft.Entworfen wurde die Pfeiffer Hall von dem in Japan aktiven amerikanischen Architekten William Merrell Vories (1880-1964). Nach seinem Studienabschluss am Colorado College im Jahr 1904 begann Vories seine Missionarsarbeit als Englischlehrer in Japan. 1908 war er in den Bau des YMCA-Gebäudes in Kyoto involviert und gründete danach sein eigenes Architektenbüro. Im Rahmen seiner YMCA-Aktivitäten entwarf er viele Kir-chen und Krankenhäuser in Japan. Auch in Korea gibt

es mehrere Kirchen und Schulen von ihm, das reprä-sentativste Beispiel darunter ist die Pfeiffer Hall.1908, bevor das damalige Kaiserreich Joseon seine Souveränität verlor, reiste Vories nach Busan, Seoul und Pjöngjang. Unter den ausländischen Architekten, deren Werke sich in Korea finden, war Vories aufgrund sei-ner vergleichsweise häufigen Koreabesuche wohl am besten vertraut mit Lage und Brauchtum der koreani-schen Kirchen und kannte sich auch in der traditionel-len Architektur des Landes gut aus. Als er 1917 wieder einmal nach Korea kam, wurde er damit beauftragt, das Studentenwohnheim des Pierson Memorial Union Bible Institute (heutige Pyeongtaek University) und das Gebäude der Union Women‘s Theological School (heu-tige Methodist Theological University) zu entwerfen. Damit begann seine Architektenkarriere in Korea. Die Koreanische Methodistenkirche rief im Septem-ber 1918 unter dem Motto „Der Jahrhundertsprung“ eine Bewegung zur Weiterentwicklung der Kirchen ins Leben, bei der Vories für architektonische Fragen ver-antwortlich war. Im Zusammenhang mit dieser Bewe-gung besuchte er auch danach Korea noch mehrmals und entwarf Missionsschulen und Krankenhäuser an wichtigen Missionsstandorten wie Gaeseong, Pjöng-jang, Haeju, Chuncheon und Gongju. Die Planung des Ewha College Campus im Jahr 1932 bildete den Höhe-punkt seiner Berufslaufbahn in Korea. 1937 eröffnete er in Seoul eine Zweigstelle seines Büros und entwarf Pläne für 146 Bauten in Korea, von denen ca. 20 ver-wirklicht worden sein sollen.

zeitlose schönheitDie Pfeiffer Hall ist ein tudorgotischer Bau bestehend aus einem Untergeschoss und drei oberirdischen Stockwerken. Dieser während der Herrschaft des bri-tischen Hauses Tudor (1485-1603) beliebte Stil kombi-niert traditionelle gotische Stilelemente mit der Pracht der Renaissance. Im gleichen Zeitraum und im ähnli-chen Stil wurden z. B. auch die Hauptgebäude der Yon-sei University und der Korea University gebaut. Jedoch

Pfeiffer HallSymbol der modernen HochschulbildungIm Jahr 1910 wurden an Ewha Hakdang, der ersten Bildungseinrich-tung für Frauen in Korea (1886 von Mary Scranton als Missionsschule für Mädchen gegründet), Kurse für höhere Bildung eingerichtet. Spä-ter wurde Ehwa Hakdang gemäß der von der japanischen Kolonial-regierung erlassenen „Joseon-Verordnung für private Fachschulen“ in „Ewha College“ (1925) umbenannt, womit die erste koreanische Hochschulbildungseinrichtung für Frauen entstand. Die Gebäude der Mädchenschule Ewha Hakdang und der seit 1918 selbstständigen Ehwa-Mädchenoberschule standen ursprünglich im Seouler Viertel Jeong-dong, aber da die Schule mehr Platz brauchte, wurde 1932 im Stadtteil Sinchon mit der Anlage eines neuen Campus begonnen, der 1935 bezugsfertig war. So kam es zur Entstehung der Pfeiffer Hall, des Hauptgebäudes der heutigen Ewha Womans University und eines der repräsentativsten Bauten der modernen Architektur in Korea. Ahn Chang-mo Leiter des Denkmalschutzprogramms, Professor für Architekturdesign,

Kyonggi University Graduate School of Architecture | Fotos Cho Ji-young

Die Pfeiffer Hall, das Hauptgebäude der Ewha Womans University, ist ein tudorgotischer Bau mit einem Untergeschoss und drei oberirdischen Stockwerken. Er ist ein schönes Beispiel für klassisches westliches Quadermauerwerk, ein Stilelement, das der Architekt nach Korea brachte.

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Jede Ecke des Gebäudes trägt die Handschrift des Architekten und strömt den Odem einer fast 80-jährigen Geschichte aus. Die baumeisterliche Krönung ist jedoch im ersten Stock zu finden: das Ada Prayer Chamber. Dieser Gebetsraum ist zwar eher klein und wird selten besucht, strahlt jedoch eine Atmosphäre aus, die den Besucher gewissermaßen dazu drängt, sich hinzusetzen und zu beten.

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1 William Merrell Vories, ganz links, und Universitätsmitar-beiter bei der Grundsteinlegungsze-remonie im Jahr 1933. 2 Das kleine Auditorium im zweiten Stock des linken Flügels wurde in einen Büroraum umgewandelt. 3 In die Steinbank westlich des Hauptgebäudes ist eine Ehrung an Mrs. Philip Hayward Gray für ihren Beitrag zur Bildung koreanischer Frauen eingraviert. 4 Das Ada Prayer Chamber, das Juwel des Gebäudes. Das hölzerne gotische Dachskelett und die spitzen Bögen an den Seiten der Gebetsbänke schaf-fen eine Atmosphäre strenger Eleganz und gedämpfter Feierlichkeit.

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unterscheidet sich die Pfeiffer Hall von den beiden darin, dass es sich um Quadermauerwerk im klas-sischen westlichen Stil handelt. Der Bau ist frei von den typischen Elementen der Tudorgotik wie z. B. den hohen Türmen gotischer Kirchen oder den Spitzbögen, die mit prachtvollem Maßwerk (Dekoration aus skelet-tiertem Steinprofil, die Fenstern und anderen Öffnun-gen des Bauwerks aufgelegt werden.) versehen wur-den. Da die Pfeiffer Hall als Bildungseinrichtung nicht höher als gewöhnliche Wohnhäuser oder Schulgebäu-de konzipiert wurde, wurde der Spitzbogen, das Struk-tumerkmal der gotischen Architektur, flacher gehalten und für die Vorderseite rechteckige, statt spitz zulau-fende Fenster entworfen. Die gotischen Stilelemen-te wurden also mit Blick auf den Nutzungszweck als Schulgebäude mit einigen Modifikationen angewendet.An der Vorderseite des Gebäudes zieht in der Mitte des zweiten Stocks ein anmutiges Maßwerk aus Stein den Blick auf sich: Es ist das Fenster des Ada Prayer Chamber, der architektonischen Krönung der Pfeiffer Hall. Normalererweise ist die Rückseite eines Gebäu-des schlichter gehalten, aber Erkerfenster und Hinter-eingang mit Tudorbogen verleihen gerade der Rücksei-te der Pfeiffer Hall einen besonderen Reiz. In der Pfeiffer Hall waren ursprünglich Büros, Unter-richtsräume, Labors, eine Bibliothek und die Mensa untergebracht und im linken Flügel des zweiten Stocks befand sich ein Auditorium, das rund 300 Personen aufnehmen konnte, aber heute als Büro benutzt wird. Man mag jetzt annehmen, dass das Innere des Gebäu-des – vielleicht mit Ausnahme des Auditoriums – dem eines normalen Bürogebäudes ähnelt, aber das ist bei der Pfeiffer Hall nicht der Fall. Alle Türen und Fenster haben ihre ursprüngliche Form bewahrt und die Trep-

penaufgänge an den Flurenden weisen die Spuren der verflossenen Zeit auf. Vor allem lassen sich an dem Gebäude keine Zeichen der Leichtsinnigkeit, das Alte gedankenlos abzureißen und mit neuen Materialien zu ersetzen, erkennen. Auch wenn die schönen Muster der unregelmäßigen fünfeckigen Bodenfliesen und die rosa Terrazzo-Sockelfliesen heute hier und da einige Kratzer zeigen, haben sie ihr ursprüngliches Erschei-nungsbild bewahrt. Im Büro des Dekans für Akademi-sche Angelegenheiten im Erdgeschoss ist außerdem die elegante Linienführung des Flachbogens erhalten geblieben.

Juwel der pfeiffer Hall: das Ada prayer chamberJede Ecke des Gebäudes trägt die Handschrift des Architekten und strömt den Odem einer fast 80-jäh-rigen Geschichte aus. Die baumeisterliche Krönung ist jedoch im ersten Stock zu finden: das Ada Prayer Chamber. Dieser Gebetsraum ist zwar eher klein und wird selten besucht, strahlt jedoch eine Atmosphäre aus, die den Besucher gewissermaßen dazu drängt, sich hinzusetzen und zu beten. Vorne in der Mitte befin-det sich das dreiteilige Fenster mit dem schönen Stein-maßwerk an der Fassadenseite, darunter steht ein kleiner Altar. Die Spitzen an den Enden der Sitzbänke vervollständigen zusammen mit dem hölzernen Dach-skelett, einem der charakteristischen Strukturmerk-male der Gothik, das Bild des Gebetsraums. Da der erste Stock während des Koreakriegs niederbrannte, wurde auch das Ada Prayer Chamber nach dem Krieg wiederaufgebaut. Um das Gebäude herum finden sich auf dem Campus die Spuren der Dankbarkeit gegenüber denjenigen, die sich für die Bildung der Frauen in Korea eingesetzt haben. So steht westlich der Pfeiffer Hall eine Stein-bank mit folgender Ehrung: „In dankbarer Anerken-nung von Frau Philip Hayward Gray aus Detroit, Michi-gan, die es ermöglicht hat, dass diese Hügel und Täler der christlichen Bildung von koreanischen Frauen gewidmet werden konnten, 31. Mai 1935.” Am 31. Mai 2002 wurde die Pfeiffer Hall zum Regist-rierten Kulturgut Nr. 14 bestimmt. Es bleibt zu hoffen, dass das Gebäude aufgrund seiner architektonischen Exzellenz und der historischen Bedeutung der Ewha Womans University als erste Hochschuleinrichtung für Frauen in Korea bald als Historische Stätte klassifiziert wird, so dass es noch sorgfältiger geschützt werden kann.

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unTerWeGs

In meinem zwanzigsten Lebensjahr spazierte ich an einem Frühsommertag einen Fluss entlang. Flussgrüne Sonnenstrahlen fielen auf das Wasser, der Wind duftete süß. Damals war die Poesie das alles beherrschende Thema in meinem Leben. Ihr wollte ich alle 24 Stunden des Tages, alle seine 864.000 Sekunden widmen. Da begann ich, meinen Poesie-Traum zu weben: Ich würde alle Dörfer im Lande besuchen und in jedem eine Nacht verbringen, um nach Inspiration für meine Gedichte zu suchen.Gwak Jae-gu Dichter | Fotos Lee Han-koo, Cho Ji-young

Heimat von Literatur und Tee

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Das Gebirge Jiri-san ist berühmt für seine mystische Landschaft, die sich zu jeder Jahreszeit in einem anderen Gewand zeigt. In der Morgendämmerung bieten die reifbedeckten Bergspitzen einen fantastischen Anblick. Das Jirisan-Gebirge ist ein von Legenden durchdrungener Nationalpark im Süden des Landes, der sich über fünf Landkreise in drei Provinzen erstreckt: die Provinz Gyeongsangnam-do und die Provinzen Jeollanam-do und Jeollabuk-do.

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Der Unterlauf des Seomjin-gang ist berühmt für seine Wollhandkrabben und Körbchenmuscheln – Krustentiere, die nur in sauberen Gewässern leben - sowie für seine Seilfähre, bei der der Fährmann das Boot an einem Seil, das die beiden Ufer verbindet, über den Fluss zieht, anstatt Ruder zu verwenden.

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I ch wollte sehen, was für Blumen in welchem Dorf blühen, wel-ches Dorf den schönsten Nachthimmel hat, was für Geschichten

die Leute am Dorfbrunnen erzählen und was für Lieder die Dorf-bewohner an Festtagen singen. Ich glaubte, dass ich die Gedichte, von denen ich geträumt hatte, nur schreiben könnte, wenn ich alles einmal mit eigenen Auge gesehen habe, statt nur davon zu hören. Mit meinen eigenen Füßen wollte ich durch die Dörfer gehen und ihren Duft einatmen. Es war für mich selbstverständlich, den Fluss Seomjin-gang, das Gebiet um das Gebirge Jiri-san und den Kreis Hadong-gun in der Provinz Gyeongsangnam-do zu Zielen meiner ersten Wandertour zu machen. Von Suncheon, wo ich wohnte, bis Hadong waren es nur rund 40 Kilometer und ich hatte noch deutli-che Erinnerungen an eine frühere Reise nach Hadong, so dass es mich wieder dorthin zog.

Den seomjin-gang entlangIn den 1970er Jahren besuchte ich zum ersten Mal Hadong. Damals wie heute erstreckte sich das Gebirge Jiri-san den Seom-jin-gang entlang. Ich wanderte herum und mit Anbruch der Abend-dämmerung schlug ich am Flussufer mein Zelt auf. Ich legte mich auf die Sandbank und blickte zu den Sternen am Himmel hinauf. Bäuchlings lag ich im Mondlicht auf dem hell beschienenen Ufer-sand und schrieb einen Brief an einen Freund: „Der Mond ist so hell, dass ich in seinem Schein sogar Rabindranath Tagore und Hermann Hesse lesen kann. Der überwältigende Duft der in voller Blüte stehenden Rispenrosenbüsche, die häuserhoch am Fluss-ufer wachsen, lässt mich nicht einschlafen.“ Für mich war Hadong fast ein Utopia oder ein Shangri-La.In den 1970er Jahren war die gesellschaftliche Realität in Korea weit entfernt von der Wärme und dem Frieden, den ich in Hadong empfunden hatte. Korea litt unter der autoritären Faust der Mili-tärregierung und es war eines der ärmsten Länder in ganz Asien. Überall auf den Straßen der Städte gab es Checkpoints und Bar-rikaden. Polizeibeamte, Walkie-Talkie in der Hand, marschierten durch die Straßen und Polizisten in Zivilkleidung hielten willkürlich Passanten an, führten Körpervisitationen durch und durchsuch-ten die Taschen. Mit Zwanzig liebte ich zwar die Poesie und sah im Gedichtschreiben meine Berufung fürs Leben, aber das ging nicht soweit zu glauben, dass die Poesie unser Leben retten könnte. Würde ich bis zum letzten Atemzug Gedichte schreiben können? Warum wurde ich in einem solchen Land geboren? Diese Wander-reise im Alter von zwanzig Jahren war wahrscheinlich eine intensi-ve Auseinandersetzung mit dieser Verzweiflung.

Vom Hwagae-markt bis zum Tempel ssanggye-saFünf Tage nach dem Beginn meiner Reise kam ich an der Hwagae-Anlegestelle an. Dort nahm ich eine Seilfähre, bei der der Fähr-mann das Schiff an einem Seil, das die beiden Ufer verbindet, über

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den Fluss zog. Faszinierend war dabei, dass die Fähre die Provinz Jeolla-do auf der einen und die Provinz Gyeongsang-do auf der anderen Seite verband, also Regionen, die bis heute ein historisch verwurzelter Antagonimus trennt. Daher war es schön zu sehen, wie Personen aus diesen unterschiedlichen Regionen in derselben Fähre fuhren. Von der Hwagae-Anlegestelle machte ich mich zum Hwagae-Markt auf, einer berühmten Sehenswürdig-keit von Hadong. Obwohl heutzutage alle Einrichtungen und Gebäude von einst verschwunden sind, erinne-re ich mich noch lebhaft an das Bild des alten Mark-tes: Marktbuden aus mit Steinkohlenteer versiegel-ten Holzbrettern säumten beide Seiten der Straße. Ich fühlte mich wohl, als ich zwischen den von der Sonne verblassten Buden spazierte. Gibt es etwas Aufregen-deres als einen Marktbummel? Es gab Stoff-, Getreide- und Heilkräuterläden, Läden für landwirtschaftliche Geräte, traditionelle Tavernen, Brauereien und auch alte Gasthäuser. Im Zuge der in den 1990er Jahren in Angriff genommenen Sanierung wurden die herun-tergekommenen Bretterbuden ausnahmslos durch moderne Gebäude ersetzt. Hätte man den traditionel-len Markt mit seiner Authentizität erhalten und neben-an einen neuen Markt eingerichtet, wäre Hwagae als traditioneller Marktfleck heute noch berühmter.Vom Hwagae-Markt ging es zum Tempel Ssanggye-sa in Unsu-ri, Hwagae-myeon, Landkreis Hadong-gun. „Hwagae“ (花開) bedeutet „Blumen blühen“ und „Unsu“ (雲樹)„ Wolken und Bäume“. Gibt es eine noch poetischere Adresse als die des Ssanggye-sa? Als ich

durch das Tempelgelände mit den in voller Blüte ste-henden Sträuchern des Gewöhnlichen Schneeballs wanderte, sprach mich ein junger Mönch an: „Was bringt Sie hierher?“ Ich antwortete: „Gedichte schrei-ben.“ Dieser Dialog, kurz wie ein Koan, weckte wohl die Neugier des Mönchs. Jedenfalls lud er mich zu einer Tasse Grüntee ein, was ich mit einem Kopfni-cken annahm. In seinem Zimmer beobachtete ich aufmerksan, wie er den Tee zubereitete. Er gab eine Handvoll Teeblätter in eine elfenbeinfarbige Teescha-le und goss gekochtes Wasser darüber. Dann fragte er: „Warum schreiben Sie Gedichte?“ Das war und ist für mich immer noch die am schwersten zu beantwor-tende Frage. Ich konnte den gelbgrünen Tee, den der Mönch mir eingeschenkt hatte, nicht einfach so trin-ken. Die Farbe des Tees war so schön, dass ich einen Moment zögerte, bevor ich die Teeschale hob und zum ersten Mal in meinem Leben Grüntee trank. Viel später erfuhr ich, dass in der Nähe dieses Tempels die ersten Teepflanzen in Korea angebaut wurden. Auf dem Rück-weg dachte ich sogar, dass ich mein ganzes Leben in den Bergen verbringen könnte, betört vom Duft des grünen Tees.

ein Dorf, eingehüllt in den odem der literaturPyeongsa-ri, ein Dorf in Hadong, erlangte nach der Veröffentlichung des Romans Land (Toji), geschrie-ben von Park Kyung-ni (1926-2008), Berühmtheit. Die darin thematisierte enge Verbundenheit mit dem Land und die atemberaubenden Liebesgeschichten zwi-schen den Protagonisten hinterließen bei vielen kore-

Der Hwagae-Markt ist ein traditioneller Markt, der alle fünf Tage stattfindet. Einst Drehkreuz des Handels, das über Jahrhunderte die umliegenden Bergdörfer verband, ist er heute eine beliebte Touristenattraktion.

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Das Teeanbaugebiet in Hadong ist aufgrund seiner Nähe zum Fluss Seomjin-gang neblig und feucht. Dank der für den Teeanbau idealen natürlichen Bedingungen ist der Tee von den Hadong-Plantagen von exzellentem Geschmack und hoher Qualität. Die zwischen Ende April und Anfang Mai per Hand gepflückten Teeblätter besitzen einen milden, tief aromatischen Geschmack.

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anischen Lesern ein tiefes emotionales Echo. Als ich vor 40 Jah-ren Pyeongsa-ri zum ersten Mal besuchte, hing der Duft der reifen Gerste über dem Dorf. Damals sah ich zum ersten Mal einen Gong-nu, einen Getreidespeicher im Pavillon-Stil. Die meisten Getreide-bauern besaßen einen solchen Gongnu. Von dort bot sich ein frei-er Blick auf den Fluss Seomjin-gang und die weitläufigen Felder. Nach der Feldarbeit saßen die Familien in der Abenddämmerung in dem mit Holz wie z. Bambus ausgelegten Speicher zusammen und plauderten beim Abendessen – ein herzerwärmender, friedli-cher Anblick.Das Haus mit dem schönsten Gongnu stand ganz links am Weg über den Hügel. Dieser Gongnu im oberen Stock direkt neben dem Tor des Anwesens strömte eine friedliche und reine Energie aus, verstärkt durch die schöne Flusslandschaft und die Agyangbeol-Ebene. Als ich Hadong später wieder besuchte, war der Gongnu weg. Vielleicht sind mit dem Verfließen der Zeit all die schönen Landschaften in unserer Erinnerung zum Verschwinden verurteilt.Plötzlich waren die Lichter des Dorfes zu sehen. Sie ähnelten glitzernden Kieseln im Wasser oder auch einer Gedichtzeile, die die ganze Nacht weinend mit Mühe zu Papier gebracht wurde. Da erkannte ich: Die schönsten, vom Menschen auf dieser Welt geschaffenen Kunstwerke sind die glänzenden Lichter eines Dorfs am Abend. Picasso, van Gogh und Chagall schufen alle, fasziniert von den Lichtern des Dorfes, großartige Bilder. Das gilt wohl auch für die Poesie. Da Gedichte aus dem Herzen des Menschen gebo-ren werden, sollten sie vor allem an den Ursprung, nämlich an die mondäne Welt, in der der Mensch sein Leben fristet, erinnern. So armseling und qualvoll das Leben auch sein mag, so dürfte darin doch die ultimative Welt, von der die Menschen träumen, existie-ren. Auf der Straße fühlte ich mich allmählich frei.

Pyeongsa-ri, berühmt als Schauplatz des epischen Romans Land (Toji) von der Grand Dame der koreanischen Literatur Park Kyung-ni, ist ein gesegnetes Stück Erde. Das Gebiet ist bekannt für sein Literaturdorf und für seine vielen malerischen Orte von großer Naturschönheit. Das Anwesen von Choe Champan ist ein Nachbau des Anwesens des gleichnamigen Romanhelden. Vor dem Küchenbau hängen fermentierte Sojabohnenblöcke und Getreide zum Trocknen.

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Seomjin RiverDer Seomjin-gang ist mit einer Länge von 212,3 km der viertgrößte Fluss in Südkorea. Er fließt durch die drei Provinzen Jeollanam-do, Jeollabuk-do und Gyeongsangnam-do. Von Hadong aus gesehen dient der Fluss als Grenze zwischen der Gyeongsang- und der Jeolla-Region. Ein Spaziergang am Ufer entlang bietet einen malerischen Blick auf Berge, Felder und Bergdörfer.

Hwagae MarketplaceDer Hwagae-Markt ist ein traditioneller Markt, der für die Einwohner aus Hadong, Gyeongsang-do, und aus Gurye, Jeolla-do, als Knotenpunkt dient. Mit knapp 50 m Länge und einer Fläche von 132-165 m2 ist er relativ klein. Im 18. Jh war der am Zusammenfluss der Wasserstraßen Hwagae-cheon und Seomjin-gang gelegene Markt Zentrum das Handels, das die Dörfer im Gebirge Jiri-san verband. Der Seomjin-gang war der wichtigste Transportweg, so dass die Einwohner aus Gyeongsang-do und Jeolla-do auf diesem Markt

zusammenkamen, um Forst- und Agrarprodukte aus dem Binnenland gegen Meeresfrüchte aus dem Südmeer zu tauschen. Heutzutage ist der Markt eine Touristenattraktion von historischer Bedeutung und kulturellem Wert.

Anwesen von Choi Champan in Pyeongsa-riLand von Park Kyung-ni ist ein fünfteiliger Familienroman, dessen Handlung hauptsächlich in Pyeongsa-ri, Agyang-myeon, Hadong spielt. Das Anwesen von Choi Champan (Champan: Vizeminister) in Pyeongsa-ri ist ein Nachbau des Wohnsitzes der Protagonistenfamilie und besteht aus zehn Holzbauten mit traditionellen Dachziegeln, gelegen auf einer Fläche von ca. 508 m2. Es ist ein repräsentatives, frei zugängliches Touristenziel, das verschiedene Land-bezogene Kulturveranstaltungen und diverse literarische Erlebnisprogramme anbietet.

Tempel Ssanggye-saDer Tempel Ssanggye-sa liegt am südlichen Fuß des Gebirges Jiri-san und wurde 722 vom Ehr-

würdigen Mönch Sambeop (661-739), Schüler des Ehrwürdigen Mönchs Uisang (625-702) errich-tet. Wie der Name andeutet – „ssang“ meint „zwei,doppelt“ und „gye“ bedeutet „Tal“ – liegt der Tempel im Grenzgebiet zweier Täler. Im April bie-tet die Gegend einen prächtigen Anblick: In voller Blüte stehende Kirschbäume, klare Gebirgsbäche, fantastische Felsformationen und uralte Bäume zaubern ein Landschaftsbild von atemberauben-der Harmonie.

Die erste Teeplantage KoreasDie erste Teeplantage in der Nähe des Ssanggye-sa steht als „Gyeongsangnam-do Naturdenkmal Nr. 61“ unter Schutz. Die Plantage, die bis ins 9. Jh zurückreicht, erstreckt sich über rund 12km. Der wild in den Bergen wachsende Tee und der auf den Feldern angebaute Tee geben einen Eindruck von der hohen Qualität, für die grüner Tee aus Hadong berühmt ist. Zurzeit ernten die Bewohner von Hadong und Gurye die Teeblätter dieser historischen Plantage drei Mal im Jahr, und zwar im Mai, Juli und August.

Von einem Getreidespeicher im Stil eines Pavillons aus bot sich ein freier Blick auf den Fluss Seomjin-gang und weitläufige Felder. Nach der Feldarbeit saßen die Familien in der Abenddämmerung in dem mit Holz wie z.B. Bambus ausgelegten Speicher zusammen und unterhielten sich beim Abendessen – ein herzerwärmender, friedlicher Anblick.

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Den eIGenen WeG GeHen

In Fotos das Zeitalter festhalten - Fotograf Kim Nyung-manFür den Fotografen Kim Nyung-man, der über 40 Jahre lang die moderne Geschichte Koreas mit der Kamera eingefangen hat, ist Fotografieren ein Mittel zur Dokumentation des Zeitalters und zum Selbstausdruck. Über den reinen Broterwerb hinaus ist es zu seinem Leben geworden und dieses, so sagt er, sei glücklich gewesen, weil er das tun konnte, was er am liebsten macht und am besten kann: nämlich Fotografieren.Yoon Se-young Chefredakteurin, Monatszeitschrift für Fotokunst Sajinyesul

Man sagt, dass die Geschichte in der Hand der Geschichts-schreiber liegt, denn die Vergangenheit wird durch Aufzeich-

nungen belegt und anhand von Aufzeichnungen rekonstruiert. Mit dem Aufkommen der Fotografie, dem realitätsgetreuesten und objektivsten Medium, können wir heute gestützt auf deren leben-dige „Zeit-Festhaltefunktion“ auf die Vergangenheit zurückbli-cken. Kim Nyung-man (geb. 1949), einer der führenden Fotografen Koreas, hat die einzelnen Momente der modernen Geschichte des Landes mit der Kamera festgehalten. Er hat die Dokumentarfunk-tion der Fotografie schon früh erkannt und virtuos zum Einsatz gebracht. 

Fotografieren geboren aus GeschichtserforschungIn der in der Provinz Jeollabuk-do gelegenen Stadt Gochang, der Heimatstadt von Kim Nyung-man, gibt es eine Festung, von der man lange nicht wusste, wann sie gebaut worden war. Daher schrieb die Stadt Gochang 1969 einen mit einem Geldpreis dotier-ten Wettbewerb für die Ermittlung des Baujahrs aus. Auch Kim, der sich nach seinem Oberschulabschluss Gedanken über seinen künftigen Berufsweg machte, nahm daran teil.Um Hinweise auf das Alter zu finden, machte er mehrere Rund-gänge um die Festung, inspizierte die Mauern und fotografier-te jedes einzelne, ins Mauerwerk gravierte Schriftzeichen. Dann suchte er in der Bibliothek nach Aufzeichnungen aus der Joseon-Zeit (1392-1910), die Aufschluss über die fotografierten Schriftzei-chen geben konnten. Schließlich fand er heraus, dass das ehema-lige Festungsdorf 1453, im ersten Regierungsjahr von König Dan-jong (reg. 1452-1455), gebaut worden war.„Wenn in einem Geschichtsbuch auch nur eine Zeile über das Bau-jahr gestanden hätte, hätte ich mir die ganze Mühe sparen können.

Da wurde mir klar, wie wichtig Aufzeichnungen sind. Außerdem war ich dem Charme der Fotografie verfallen, nachdem ich bei die-sem Projekt mit Fotos gearbeitet hatte. Daher zog ich mit meinem Geldpreis nach Seoul, um das Fotografieren zu lernen.“Nachdem er in Seoul die grundlegenden Techniken der Fotogra-fie erworben hatte, ging er wieder zurück in seine Heimatstadt, wo er Aufnahmen von der 1970 von Präsident Park Chung-hee (1917-1979) gestarteten Saemaeul-Bewegung (Bewegung Neues Dorf) zur Entwicklung der ländlichen Gebiete machte. Er hielt fest, wie die ländlichen Gegenden, die sich über Jahrhunderte kaum ver-ändert hatten, von der Modernisierung erfasst wurden. Zwei Jahre später schrieb er sich an der Chung-Ang University ein, um ernst-haft Fotografie zu studieren. Wenn er damals die Semesterferien in seiner Heimatstadt ver-brachte, zogen ihn seine Freunde mit der Frage auf, warum er immer nur wie ein Landei Fotos vom Land mache. Kim trieb es aber immer wieder nach Hause, weil er es traurig und bedauerlich fand, dass uralte Traditionen über Nacht verschwanden. Er wollte sie wenigstens fotografisch verewigen.Nach seinem Abschluss im Jahr 1978 wurde Kim Fotoreporter bei der Tageszeitung Dong-A Ilbo, für die er 23 Jahre arbeitete. Er war auf allen Hauptschauplätzen der modernen Geschichte Koreas prä-sent, darunter in Gwangju bei der Demokratisierungs- und Wider-standsbewegung im Mai 1980, in Seoul bei den heftigen Demonstra-tionen der 1980er Jahre, im Waffenstillstandsdorf Panmunjeom und im Blauen Haus, dem Sitz des koreanischen Staatsoberhauptes.Kim betrachtet sich selbst als vom Glück begünstigt, da er durch seine Arbeit als selbstständiger Fotograf die künstlerische Pers-pektive des Metiers und später als Fotoreporter dazu noch die jour-nalistische entwickeln konnte.

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In Fotos das Zeitalter festhalten - Fotograf Kim Nyung-man

© K

won H

youk-jae

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1 Bereitschaftspolizisten bei einer Verschnaufpause nach dem Abflauen der Demonstrationen. (Haengdang-dong, Seoul, 1982) 2 Während des Reispflanzens stillt eine Bäuerin ihr Kind, das von der älteren Schwester auf dem Rücken getragen wird. (Gochang, Provinz Jeollabuk-do, 1974) 3 Im Waffenstillstandsdorf Panmunjom, wo stets Anspannung herrscht, interssiert sich ein nordkoreanischer Soldat für das Teleobjektiv eines südkoreanischen Reporters. (Panmunjom, 1990)

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Dokumentiertes ausnahmslos in Buchform veröffentlichtKim Nyung-man zieht deshalb Aufmerksamkeit auf sich, weil er auch als Fotojournalist nie seine persönliche Perspektive als Foto-graf verlor. Auch wenn es nur um ein einziges Foto ging, das letzt-endlich in der Zeitung erschien, machte er daraus immer unver-kennbar „sein“ Foto. Das Ergebnis ist eine Reihe von Bildbänden: Der Tag in Gwangju (1994), eine Dokumentation des Gwangju-Auf-stands, Panmunjeom (Pan Mun Jom, 1993), eine Dokumentation der Teilung Koreas, Was bedeutet Präsidentschaft? (2002), ein Überblick über Kims sechsjährige Arbeit als Reporter des Blauen Hauses, und 20 Jahre des Aufruhrs (A tumultous twenty years 1999), ein Bild-band über seine 20-jährige Karriere als Fotojournalist. Für 20 Jahre des Aufruhrs mit Fotos aus dem Korea der turbulenten 1980er und 1990er Jahre, erhielt er 2005 den renommierten japanischen Higas-hikawa Preis in der Kategorie Ausländische Fotografen.Auch nach Aufgabe seiner Laufbahn als Fotojournalist im Jahr 2001 machte er weiterhin Aufnahmen von seiner Heimatstadt

Gochang, von Seoul und Panmunjeom als Ort der nationalen Tei-lung. Diese Fotos sind in diesem Jahr als Bildband mit dem Titel Porträt der Zeiten (Portrait of the Times) erschienen. Das Buch enthält eine Sammlung von Fotos, die die koreanische Gesellschaft in den letzten 40 Jahren porträtieren, und ist ein Resümee der foto-grafischen Welt des Autors. Die 271 Fotografien dokumentieren auf lebendige Weise die moderne Geschichte, darunter den Wandel, den die ländlichen Gebiete und Seoul im Zuge der Industrialisie-rung erfahren haben, den politischen Umbruch wie zum Beispiel die Demokratiebewegung in Gwangju und die Demonstrationen in Seoul, und zuletzt die Teilung des Landes in Nord und Süd als Resultat der ideologischen Konfrontation.„Während ein Einzelfoto nur Dokumentation eines flüchtigen Moments ist, schafft ein Fotoband ganze Sätze, ganze Geschichten aus einzelnen Fotos, die für sich allein nur Einzelwörter sind. Daher habe ich nicht nur fleißig fotografiert, sondern mich auch bemüht, meine Fotografien in Buchform zu bringen.“

Auf diesem Foto aus der Zeit, als die Modernisierung in die ländlichen Gebiete hereinbrach, steht die Rückenansicht einer Landfrau, die nach dem Einkaufen auf dem Markt die staubige Straße entlang läuft, in eklatantem Kontrast zu dem Taxi, das Staubwolken aufwirbelnd vorbeirast. (Gochang, Provinz Jeollabuk-do, 1976)

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Ein alter Mann, der vor langer Zeit seinen Heimatort in Nordkorea verlassen hat, klammert sich in tiefem Gebet an den Stacheldrahtzaun südlich der DMZ. Zuvor hat er anlässlich der Feier von Neujahr nach Lunarkalender seinen Vorfahren im Imjingak Pavillon Respekt bezeugt. (Imjingak, Provinz Gyonggi-do, 1993)

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Nach der koreanischen Spruchweisheit, dass Glasperlen erst dann zur Kostbarkeit werden, wenn man sie aneinander reiht, hat Kim seine Fotografien zu wertvollen historischen Dokumenten zusam-mengestellt.

„Han“ und HumorKims Fotos strahlen wahre Wärme aus. Aus allen spricht unab-hängig vom Thema ein gewisser Humor, sei es das Foto eines Bau-erndorfes, das eines Armenviertels in Seoul, ja selbst das von Pan-munjeom, eines Ortes frostiger Spannung. Jedes seiner Fotos lässt weinen und lachen zugleich. Dass er „Han“, dieses nationale Gefühl des inneren Grolls durch Humor auflöst, ist das herausstechendste Merkmal der Fotografien von Kim Nyung-man.Das Bild einer Bauersfrau, die während des geschäftigen Pflan-zens von Reissetzlingen eine Pause einlegt, um ihrem Kind, das die ältere Tochter auf dem Rücken trägt, die Brust zu geben, hat etwas Traurig-Rührendes und lässt den Betrachter gleichzeitig lächeln. Die Mutter, die keine Zeit hat, in Ruhe zu Hause zu stillen, und die erschöpft von der Feldarbeit ist, stützt mit schlammverschmierter Hand den Kopf des Kleinen, um es ihm so bequem wie möglich zu machen – eine Geste, aus der mütterliche Liebe spricht.Obwohl Kims Fotos von Demonstrationen der Geruch beißenden Tränengases entströmt, ist der Anblick des Kampfpolizisten mit den Wattestöpseln in der Nase und der Passanten, die sich mit Plastiktüten überm Gesicht vor dem Gas zu schützen versuchen, traurig und erheiternd zugleich. Auch die Fotos von Panmunjeom, wo eisige Konfrontation zwi-schen Nord- und Südkorea herrscht, zeigen Kims Sinn für Humor. Die Aufnahme eines nordkoreanischen Soldaten, der sich aus schierer Neugier über die Kamera eines südkoreanischen Repor-ters gebückt hat, lässt den Betrachter lächeln. Denn sie bringt die menschliche Seite des Soldaten hervor, bei dem die pure Neugier über die stärkste ideologische Indoktrinierung gesiegt hat.„Meine Heimatstadt Gochang ist die Wiege des epischen Sologe-sangs Pansori. Hören Sie sich doch einmal die traditionellen kore-anischen Pansori-Stücke wie Chunhyangjeon, Heungbujeon oder Simcheongjeon an. Die Protagonisten verlieren nie ihren Humor, selbst nicht in den Momenten der Hoffnungslosigkeit und des Elends. Im Humor ist eine viel stärkere Wehmut zu spüren. Ich wünsche mir, dass meine Fotos dieselbe Ausdruckskraft besitzen,

dass sie nicht nur das äußere Erscheinungsbild abbilden, sondern die darin verborgene wahre Seele.“Kims humorvolle Fotografien haben natürlich etwas mit seinem eigenen Sinn für Humor zu tun, was durch seine Fähigkeit bewie-sen wird, an jeder Situation das humorvolle Etwas ausmachen zu können. Das hat das Humorvolle zu einem unverwechselbaren Kennzeichen von Kims fotografischem Werk werden lassen.

ein nicht abgeschlossenes Thema: die Teilung des landesDie Teilung des Landes ist für Kim Schwerpunkt seiner Arbeit. Schon die letzten 30 Jahre über hat er Panmunjeom und die DMZ fotografiert, aber er sagt, dass er diese Arbeit weitermachen wolle, bis das Land wiedervereinigt ist und seine Fotos zu Relikten der Geschichte werden.„Eins meiner Fotos zeigt einen alten Mann, der nicht mehr in sei-nen Heimatort in Nordkorea zurückkehren kann, das Gesicht von tiefen Falten durchzogen, die Hände an den Stacheldrahtzaun geklammert. Das Foto wurde zum Symbol für den Schmerz der Teilung des Landes und man kann es sehen, wenn man zum Imjin-gak-Pavillon oder in die DMZ fährt. Es ist übrigens schon 20 Jahre her, dass ich den alten Mann fotografiert habe. Er dürfte kaum noch am Leben sein, aber das Land ist immer noch geteilt.“Kim Nyung-man – ein Fotograf, der Momente von Freude, Wut, Trauer und Glück im Leben einzelner Personen erfasst, die im Laufe der Zeit einfach in der Geschichte verloren gehen. Er möch-te Geschichte nicht nur aus makro-, sondern auch aus mikros-kopischer Sicht dokumentieren. Mehr als 40 Jahre lang hat er immer wieder neue Schauplätze aufgesucht und in seiner warmen fotografischen Sprache vom Leben verschiedenster Menschen erzählt und auch davon, wie sie gemeinsam gelebt und Geschichte geschrieben haben. Eine Geschichte darunter ist noch nicht abge-schlossen: die Teilung des Landes. Und Kim wird sie bis zum Tag der Wiedervereinigung dokumentieren.Er sagt, er sei glücklich gewesen, weil er sein ganzes Leben das tun konnte, was er am liebsten macht und am besten kann: näm-lich Fotografieren. Und er werde als Fotograf aktiv bleiben, solan-ge er noch die Kraft habe, seine Kamera zu halten. Die von ihm erfassten einzelnen Momente werden in Zukunft als wertvolles Fotoarchiv dienen, das reiche Geschichten über das Zeitalter, in dem wir gelebt haben und heute leben, erzählt.

Anfang 2014 veröffentlichte Kim Nyung-man den Fotoband Portrait of the Times . Die 271 Fotografien dokumentieren auf lebendige Weise die moderne Geschichte Koreas, darunter den Wandel, den die ländlichen Gebiete und Seoul im Zuge der Industrialisierung erfahren haben, den politischen Umbruch wie z.B. die Demokratiebewegung in Gwangju und die Demonstrationen in Seoul, und zuletzt die Teilung des Landes in Nord und Süd als Resultat der ideologischen Konfrontation.

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Arirang ist weit mehr als nur ein kla-gendes Volkslied, das seit Jahrhun-

derten das Lieblingslied der Koreaner ist: Es steht für Korea als solches und seine Kultur. Als Reaktion auf das steigende Inte-resse an Arirang veranstalteten die Aca-demy of Korean Studies und die Korean Traditional Performing Arts Foundation im

Dezember 2011 die Internationale Arirang-Konferenz. Der vorlie-gende Band ist eine Sammlung von Vorträgen, die auf dieser Kon-ferenz präsentiert wurden. Das Buch ist in sechs Abschnitte unterteilt. Abschnitt 1 enthält die Grundsatzrede, in der Cho Dong-il dafür plädiert, Arirang, aus der Perspektive von Musik, Literatur, Folklore, Geographie und Geschichte zu betrachten. Im 2. Abschnitt werden die musika-lischen Aspekte von Arirang diskutiert. Lee Bo-hyung und Kim Young-un verfolgen, wie sich Arirang von der Provinz Gangwon-do aus im ganzen Lande verbreitete. Während Lee sich mit den musikalischen Aspekten des Liedes beschäftigt und musikalische Notationen für verschiedene Versionen behandelt, erläutert Kim,

wie das Volkslied von Komponisten der Moderne adaptiert wurde. Min Eun-gi wiederum diskutiert die Rolle von Arirang im Korea von heute. Abschnitt 3 behandelt das Thema aus Sicht der Literatur und Populärkultur. Kang Deung-hag fragt, welche Rolle der Film in Bezug auf die Popularisierung von Arirang spielte und wie das Lied zur Quelle der Kraft für die Armen und Unterdrückten wurde. Kim Ik-doo beschäftigt sich mit der Verwendung von Arirang in der Literatur. Park Ae-kyung skizziert, wie Arirang durch K-Pop in der Welt bekannt gemacht wurde, wobei positive und negative Aspekte dieser Entwicklung angesprochen werden. Der nächste Abschnitt führt über Südkorea hinaus: Jung Pal-yong, ein nordkoreanischer Flüchtling, der an der Universität der Künste in Pjöngjang studier-te, analysiert die Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen den nordkoreanischen und den südkoreanischen Versionen des Liedes und schlägt Arirang als Nationalhymne für ein vereinigtes Korea vor. Zhang Yishan beschreibt, welchen Niederschlag Arirang in der chinesischen Kultur gefunden hat und was es für die ethnischen Koreaner in China bedeutet. Gim Ban Bohi fragt nach den Erinne-rungen, die Arirang bei den Auslandskoreanern hinterlassen hat.Abschnitt 5 schließlich wendet sich Asien zu: Yukio Uemura unter-sucht das japanische Volkslied Lullaby of Itsuki Village und verfolgt dessen Ursprung bis zum Arirang, während Wang Yingfen und Tran Quang Hai zeigen, wie Arirang nach Taiwan bzw. Südostasien wei-tergegeben wurde. In diesem Beitrag finden sich auch vietnamesi-sche Arirang-Versionen. Der letzte Abschnitt befasst sich mit der Welt außerhalb Asiens: Lee Byong-won berichtet von Hawaii und zeigt, wie sich Symbolik und Einsatzweisen von Arirang in den USA verändert haben. Simon Mills gibt einen Überblick über Arirang in Europa mit Fokus auf Interpretationen des Liedes durch nicht-koreanische Musiker. Jean Kidula befasst sich mit Volksliedern als Symbole für ein Volk und zieht unter dem Aspekt von Kolonialherr-schaft und Bewahrung der Kultur Vergleiche zwischen Korea und Kenia.Es handelt sich zweifelsohne um die vollständigste und diver-sifiziertste Untersuchung von Arirang, die auf bislang Englisch erschienen ist.

Ab den frühen 1960er Jahren begann in den USA die sog. „Pop-musik für Erwachsene“ – als selbstständiges Genre Fuß zu

fassen. Auf den Weg gebracht wurde sie von den Hörfunksendern, die für die älteren Jahrgänge, die sich mit dem Aufkommen des auf junge Leute abzielenden Rock’n‘ roll an den Rand gedrängt fühlten, Pop, Balladen und Rockmusik anboten. Dieses Genre wird vertre-ten von Interpreten wie Barbra Streisand und Lionel Richie, die für ihre superbe Gesangskunst und lyrische Melodien bekannt sind, und dem derzeit beliebten kanadischen Sänger Michael Bublé.Seit in Korea in den 1960er Jahren die westliche Popmusik aus USA und GB Einzug fand, hat die Musik der Jungen den Mainstream

Hello 19. Album von Cho Yong-pil (2013), Universal Music Korea, 18.300 KWSerendipity 15. Album von Lee Sun-hee (2014), Loen Entertainment, 16.500 KWFall to Fly - Before 11. Album von Lee Seung-hwan (2014), kt music, 16.500 KW

Arirang in Korean Culture and Beyond kompiliert von Sheen Dae-cheol, 309 Seiten, 25.000 KW, Soul: Academy of Korean Studies Press

Adult Contemporary, Popmusik für Erwachsene

Umfassendste englischsprachige Studie über Arirang

Charles La Shure Professor, Seoul National University Kim Young-dae Musikkritiker

eine Liebesbeziehung zu der Ärztin, die ihn während seiner Krank-heit gepflegt hatte. Er war also nicht unerfahren in Herzensdingen. Das Buch besteht aus vier Teilen, die wiederum in kleinere Kapi-tel unterteilt sind, was den Seriencharakter des Romans in seinem ursprünglichen Veröffentlichungsformat widerspiegelt. Im 1. Teil verlässt der Protagonist Heo Sung seinen Heimatort auf dem Land und geht zum Jura-Studium nach Seoul, wo er schließlich Anwalt wird und Yoon Jeong-seon, die Tochter einer adligen Yangban-Familie, heiratet. In Teil 2 kehrt Heo in seinen Heimatort zurück, um die Aufklärungsbewegung zu unterstützen. Teil 3 beschreibt Yoons kurze Affäre mit einem ehemaligen Verehrer und ihren anschließenden Selbstmordversuch. Im 4. Teil werden die Konflikte zwischen den Dorfbewohnern dargestellt, die durch die Verleum-dung von Yoo Jeong-geun, Sohn des reichen Dorfwucherers, aus-gelöst werden.Das Werk ist nicht nur literarisch von großer Bedeutung, sondern gewährt auch einen Einblick in den ideologischen Hintergrund der Aufklärungsbewegung auf dem Lande. Jedoch thematisiert der Roman nicht die historische Realität der Zeit, sondern vielmehr ein Korea, das aus der Perspektive des intellektuellen Protagonisten idealisiert wird. Dieser wird durchgehend beschrieben als edler Mensch ohne Fehler, der seine Verzweiflung über die Zustände auf dem Land zum Ausdruck bringt. Auch wenn der Roman nicht die historische Wahrheit widerspiegelt, so beleuchtet er doch das Inne-re eines intellektuellen Idealisten, der mit der Realität der japani-schen Kolonialherrschaft konfrontiert ist. Die englische Übersetzung bleibt dem Original treu und bewahrt gut die emotionale Dimension der koreanischen Literatur. The Soil wurde 2013 von World Literature Today unter die 75 beachtens-wertesten Übersetzungen gewählt. Wegen des fremden histori-schen Hintergrunds mag das Werk weniger leicht zugänglich als zeitgenössische koreanische Literatur sein. Da es jedoch ein wich-tiger Bestandteil der koreanischen Literaturgeschichte ist, dürfte es aufschlussreich für alle Leser sein, die sich für die geschicht-lichen Wurzeln interessieren, aus denen das heutige Korea und seine Kultur gewachsen ist.

Y i Kwang-su (1892-1950), oft als „Vater der modernen Lite-ratur Koreas“ bezeichnet, lebte in Zeiten des historischen

Umbruchs. Er studierte in Japan, war aber zu Beginn der japa-nischen Kolonialherrschaft ein leidenschaftlicher Unterstützer der koreanischen Unabhängigkeitsbewegung. Gegen Ende der Besatzungszeit wurde er jedoch vorsichtig und versuchte nichts zu schreiben, was die Japaner verstimmen könnte, weshalb er schließlich als japanfreundlich kritisiert wurde. Daher herrscht unter den koreanischen Literaturwissenschaftlern Uneinigkeit über Yis Werk. Unbestritten ist, dass Yi eine sehr wichtige Figur in der Literatur der Zeit der Kolonialherrschaft war.The Soil erschien ursprünglich von April 1932 bis Juli 1933 in Fort-setzungen in der Tageszeitung The Dong-A Ilbo. Das Werk thema-tisiert die Aufklärungsbewegung, die auf dem Glauben basierte, dass der einzige Ausweg für Korea in der Aufklärung der Landbe-völkerung liege. Dabei werden kompliziert verwickelte mensch-liche Beziehungen beschrieben, und die sich überschneidenden Dreiecksbeziehungen machen den Leser neugierig auf die Fort-setzung der Geschichte. Yi selbst ließ sich von seiner Frau, die er durch Vermittlung geheiratet hatte, scheiden und unterhielt später

Der erste moderne Roman Koreas dem internationalen Publikum vorgestellt

bestimmt. Vor allem der jüngste Boom des K-Pop und der Idol-Gruppen führte dazu, dass es für ältere Musikliebhaber kaum noch Gelegenheiten zum Musikgenuss gab. Freude an der Musik gewannen sie dann wieder, als Ich bin Sänger, der Profi-Wettbewerb eines öffentlichen TV-Sen-ders, zum Erfolg wurde. Die 2011 gestar-tete Sendung bestätigte, dass es in Korea immer noch eine Popmusik gibt, die auch dem verfeinerten Geschmack erwachse-

ner Musikfreunde gerecht zu werden ver-mag. In besonderer Erinnerung bleiben Cho Yong-pil und sein spektakuläres Comeback inmitten des Idol-Gruppen-Fiebers. Das Besondere an diesem Oldtimer ist, dass er seine hohen musikalischen Ansprüche weiterhin verfolgt und seine Musik den-noch das gewisse Etwas hat, das ihn nicht nur mit Fans seines Alters, sondern auch mit der jungen Generation kommunizieren lässt. 2014 kehrten weitere Pop-Veteranen

auf die Bühne zurück. Lee Sun-hee, deren Musik jede Generation anspricht, und Lee Seung-hwan, der durch seine regelmäßi-gen Konzerte stets mit den Fans in Berüh-rung blieb, haben anspruchsvolle Musik herausgebracht, die eine breite Palette von Genres wie Pop, Jazz, R&B und Rock har-monisch vereint, anstatt dem K-Pop-Trend zu folgen. So sucht sich jetzt, wenn auch mit etwas Verspätung, die koreanische Adult Contemporary ihren Weg.

The Soilvon Yi Kwang-su, übersetzt von Hwang Sun-ae und Horace Jeffery Hodges, 512 Seiten, $16.00, Champaign, Ill., U.S.; London; Dublin: Dalkey Archive Press

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enTerTAInmenT

Laut Statistiken der Korea Internet & Security Agency hatten in Korea 2013

82 von 100 Haushalten Internetanschluss, 79 Haushalte besaßen Smartphones, und 98 Haushalte nutzten das Internet. Auf-grund der steigenden Zahl der Smartpho-ne-User wird das festverkabelte Internet immer weniger genutzt, während die Rate der mobilen Internetnutzung bei den Haus-halten von 58 im Jahr 2012 auf 91 von 100 Haushalten im Jahr 2013 emporschnellte.Mit der Verbreitung des Smartphones ist die Zahl der Wireless-Nutzer explosions-artig gestiegen, was mit enormen Verän-derungen in den relevanten Industriebran-chen und Dienstleistungsbereichen einher-ging. Während die Zahl der verkauften PCs zurückging, stieg der Verkauf von Smart-phones und Tabletcomputern drastisch an. Im Dienstleistungsbereich ging die E-Mail-Nutzungsrate zugunsten des Instant Mes-saging (2013: 82 von 100 Haushalten) über z.B. KakaoTalk und LINE zurück. Auch der Anteil der Internetnutzung für Mobile-Banking (65 Haushalte) und Mobile Shop-ping (43 Haushalte) hat stark zugenom-men. Dieser Wandel im informations- und kommunikationstechnologischen Umfeld

Konvergenz von Massenverbreitung von Personal Computing, Multimedialität des Internets und Hochgeschwindigkeitsnetz ermöglicht. Während YouTube eine Video-plattform für User-created Content (UCC) zur Verfügung stellte, haben koreanische Internetfirmen wie Naver und Daum nach der Millenniumwende eine Bühne für Comic-UCC bereitgestellt. Yahoo Korea zog die Aufmerksamkeit auf sich, als es beliebte Comic-Autoren wie Joo Ho-min, Lee Mal-nyun, Keean84 und Mind-C prä-sentierte, verlor jedoch an Boden, weil es nicht rechtzeitig auf den schnellen Wandel von Umfeld und Regulierungen im Infor-mations- und Kommunikationsbereich reagierte. Nach 2010 verpasste es völlig den Anschluss, als sich das Internetnut-zungsparadigma sehr schnell vom Fest-netz auf mobile Geräte verlagerte. Naver bot seinen Usern Smartoons mit einer neuen Art des Seitenübergangs an Stel-le des traditionellen Herunterscrollens an und Daum brachte eine Applikation spezi-ell für iPads heraus. Während die korea-nischen Portalriesen auf diese Weise ihre mehr und mehr auf drahtloses Internet umsteigenden Nutzer an sich binden konn-

führte auch zu großen Veränderungen in den individuellen Kultur-Konsummustern. Nicht zuletzt hat die Entwicklung der IT-Technologie auch das Paradigma des Man-hwa, der schon viele Innovationen erlebt hat, revolutioniert.

Webtoons: comics mit über 10 mio. leser pro Tag! Über 10 Mio. Menschen am Tag lesen die von den Portalseiten angebotenen Web-toons. Die beliebte Webtoon-Serie Misaeng (Incomplete Life), 2012 gestartet, erreichte 2013 eine Milliarde Aufrufe, die Print-Aus-gabe verkaufte sich über 500.000 Mal. Das dazugehörige sechsteilige Mobile-Drama Incomplete Life: Prequel, 2013 (Misaeng Prequel) erzielte insgesamt rund 3 Mio. Hits von Mobilgeräten, was dann in ver-schiedenen Branchen zum Aufkommen neuer Lizenzprodukte führte. Auch der Film Secretly Greatly (2013) war ursprüng-lich ein Webtoon und lockte in Korea fast 7 Mio. Besucher an. Das zeigt, wie Webtoons über ihre Beliebtheit als Comic-Contents hinaus auch ein Antriebsmotor der korea-nischen Populärkulturindustrie sind.Die Geburt des Webtoons wurde durch die

From Webtoon to SmartoonTransformation des koreanischen ManhwaDer „Webtoon“ (Web + Cartoon) ist ein koreaspezifisches Comic-Genre, das durch die Massenverbreitung von Personal Computing in Kombination mit dem Hochgeschwindigkeitsnetz hervorgebracht wurde. Während die herkömmlichen Print-Comics horizontal von links nach rechts gelesen werden, entfaltet sich bei Webtoons die Geschichte vertikal von oben nach unten und die Bilder sind meistens alle in Farbe statt schwarzweiß. Kreative Köpfe, die in verschiedenen Gebieten tätig sind, nutzen die neue Plattform des Webtoons, um „ihre eigene Geschichte“ in Comicform darzustellen. Webtoons haben sich zu einem repräsentativen Kultur-Content entwickelt, das als neuer Hoffnungsträger der Koreawelle Hallyu in Erscheinung tritt.Park Seok-hwan Professor, Korea University of Media Arts; Comic and Cartoon Critic

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ten, vermochte Yahoo Korea nicht Schritt zu halten und musste letztendlich das Geschäft aufgeben.Als Yahoo 2012 vom koreanischen Markt abzog, hagelte es Beschwerden von Nut-zerseite. Da das international agierende US-Unternehmen verschiedene individu-elle Dienste wie E-Mails, Fotoalben und Blogs zur Verfügung gestellt hatte, mach-ten sich viele Sorgen darüber, wie die Übertragung der Nutzerdaten gehandhabt werden würde. Entgegen allen Erwartun-gen war dann aber das am heftigtsten im Internet diskutierte Thema die Webtoons auf der Comics-Seite von Yahoo. So ver-rückt waren die Koreaner danach.

paradigmenwechsel bei print-comicsDer weltweit berühmte amerikanische Comic-Künstler und -Theoretiker Scott Cloud äußerte ebenfalls sein Erstaunen über diesen Wandel in der koreanischen Comic-Landschaft und stellte auf seinem Blog (scottmccloud.com) den koreanischen Webtoon Der Geist von Bongcheon-dong (Bongcheon-dong Guisin) vor. Dieses Werk besteht weitgehend aus in herkömmli-chen Webtoons zu findenden Bildern, nur die Szenen, in denen der Geist erscheint, wurden mit speziellen Bewegungseffek-ten ausgestattet, die die Illusion eines aus dem Bildschirm herausspringenden Geis-tes erzeugen. Videoclips, die die Gesichter der dadurch erschreckte Webtoon-Leser zeigen, wurden auf YouTube gestellt und weckten das Interesse bei Menschen in verschiedenen Ländern. Danach verbrei-tete sich auch die englische Übersetzung und die Dubbing-Version des Comics durch YouTube, sodass er weltweit an Beliebtheit gewann.Webtoons entwickeln sich zu immer neuen Formen von der Kontrolle des Zeitflusses der Geschichte über Scrollen mit der Maus und Berührung des Touch-Bildschirms durch die Nutzer bis hin zur Beeinflus-sung durch den Autor selbst. Die Elemente, die ursprünglich dem Umfeld des draht-

gebundenen Internets angepasst waren, wurden zur Nutzung für die kleineren Bild-schirme der mobilen Geräte angepasst. Da viele Nutzer ihr Mobilgerät mit Ohrhörer verwenden, wurde bei den neuen digita-len Comics auch an Sound-Effekten nicht gespart. Anders als bei den herkömmli-chen Internet-Comics, bei denen die Nut-zer die Seiten herunterscrollen oder stän-dig per Touch umblättern mussten, steht nun eine neue Generation von Webtoons zur Verfügung, bei der der Leser mit nur wenigen schnellen Berührungen dramati-sche Szenen und Effekte erleben kann.

Vom smarten manhwa zum smartoonIn den ersten Jahren nach der Millennium-wende wurde der koreanische Webtoon mit Werken wie Snowcat, Marine Blues und Pape Popo gestartet und dann von Künst-lern wie Kang Full, Kang Do-ha und Yang Young-sun weiterentwickelt. Autoren wie Cho Seok und Kim Gyu-sam zogen weitere Fans an. Nun macht der bereits 10 Jahre alte Webtoon einen weiteren Sprung zum Smartoon. Gleichzeitig erweitern sich die Profitmöglichkeiten, deren Fokus bislang auf der Werbung lag: Die bislang kostenlos angebotenen Web-Comics sind heute zum Teil kostenpflichtig und auch Charakter-Produkte werden hergestellt und direkt bzw. indirekt verkauft. Dies zeigt eine ver-änderte Haltung in der Webtoon-Indust-rie, die in den Anfangszeiten Konflikte mit den bestehenden Print-Comic-Verlagen befürchtete und die Webtoon-Sparte nicht als gewinnbringenden Geschäftszweig

behandelte. Wahrscheinlich ist dies dar-auf zurückzuführen, dass die Internet-Unternehmen heute mehr Vertrauen in das Potential des Webtoon-Markts haben. In letzter Zeit kümmern sie sich sogar selbst um den Webtoon-Service im Ausland. Sie bieten ihre Web-basierten Comics auf Eng-lisch nicht länger auf Tapastic, dem ers-ten Webtoon-Portal in der nordamerika-nischen Region, an, sondern launchen die Web-Werke im Ausland über ihre eigenen Netzwerke.Da die Nachfrage nach Webtoon-Contents weiterhin steigt, wird auch größerer Wert auf Vielfalt an Inhalten und Formen gelegt. Immer mehr Arten von Webtoons erschei-nen, seien es auteuristische Werke, Gesell-schaftsparodien oder Webtoons für den ganz speziellen Geschmack und erweitern so den Content-Bereich des koreanischen Webtoons.

1 Misaeng, ein beliebter Webtoon, auf dem Lizenzfilme und –serien beruhen. 1

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GourmeT

Eisdessert auf SiegeszugBingsu ist eine koreanische Süßspeise, die aus fein geschabtem Eis und verschiedenen Garnierungen besteht. Das Gericht, das zuvor lediglich im Sommer als abkühlende Erfrischung genossen wurde, gewinnt immer mehr an Beliebtheit als Nachtisch für alle Jahreszeiten. Betrachten wir etwas näher, welche Bingsu-Sorten den derzeitigen Boom anführen, und wie der geschichtliche Hintergrund dieses Desserts aussieht.Yoon Duk-no Food Columnist | Fotos Lim Hark-hyoun, Cho Ji-young

Kaum einer wird je einmal Antarktis-Bingsu probiert haben: In der Südpolregion, wo nicht einmal Viren die Temperaturen

von minus 50 Grad und weniger überleben, wird reichlich Erdbeer-sirup über eine Eismasse gegossen, die dann kräftig mit einem Löffel abgekratzt und gegessen wird. Ein solches Bingsu kön-nen nur die auf den Forschungsstationen der Antarktis lebenden Forscher probieren, wie in dem japanischen Film The Chef of the South Pole zu sehen ist. Doch zum Südpol kommt man als Nor-malsterblicher nicht so leicht. Ist diese Art von Bingsu daher etwa nur eine Fantasie-Süßspeise aus der Filmwelt?Nein. Vor rund 2.000 Jahren haben die Menschen nämlich genau auf diese Weise ihre Eisdesserts gegessen. Der einzige Unter-schied besteht darin, dass dafür nicht das Eis aus der Antarktis, sondern das aus den Alpen und dem Himalaya verwendet wurde. Zu den frühen Eisgenießern gehörte auch der römische Kaiser Nero. Entlang der Via Appia, einer der großen römischen Straßen, die „alle nach Rom führen“ sollen, ließ er Schnellläufer in eine Reihe aufstellen, die dann das Eis aus den Schneegebirgen bis zum Bankettsaal transportieren mussten, wo es schließlich zusammen mit Honig, Fruchtsaft und Wein verspeist wurde. Diese wie eine Legende überlieferte Geschichte, bei dem es wahrscheinlich um den Archetypus des Sorbets gehen dürfte, findet jedes Mal Erwäh-nung im Zusammenhang mit der Frage nach dem Ursprung des Speiseeises.

Bingsu: renaissance der gefrorenen DessertsIn Korea hat, könnte mansagen, eine Renaissance der Eisspeisen begonnen. Das Eisdessert von Kaiser Nero bzw. die reiche Kul-tur kulinarischer Genüsse aus Fruchtsaft und Schnee im Ostasien (ausgehend von China) des 11. Jhs wird nun in Korea wiederge-boren. Die Varianten sind unzählbar: Neben Pat-Bingsu, bei dem

das fein geschabte Eis mit Adzukibohnen (Pat) garniert wird, klas-sischem Obst-Bingsu wie Erdbeer-Bingsu oder Mango-Bingsu und Bingsu mit Fruchtsirup, gibt es nun auch Grüntee-Bingsu aus geschabtem Grüntee-Eis, Kaffee-Bingsu, Wein-Bingsu, Schneeflo-cken-Bingsu mit fein zerstoßener, gefrorener Milch, Käse-Bingsu, mit Bohnenmehl gepudertes Injeolmi(Klebreiskuchen)-Bingsu usw. Eisblöcke zu schneefeinem Eis zu schaben und garniert mit Adzukibohnen, Obst oder Fruchtsaft zu essen, ist also eine Art Rückkehr zu den Ursprungsformen des Eises. Cremeeis, bei dem die Crememischung aus Milch und Eigelb gefroren wird, wurde wahrscheinlich zum ersten Mal im 17. Jh vorgestellt. Das Wort „Eiscreme“ dürfte erst Mitte des 18. Jhs aufgekommen sein, Ende des 17. Jhs sprach man noch von „geeister Creme“.Bevor Eiscreme auf der Bildfläche erschien, genoss die Ober-schicht der europäischen Gesellschaft Sorbet als Nachtisch. Sor-bet (in den USA: ohne Milchzusatz) oder auch Sherbet (in den USA: mit Milchzusatz) war eine Art Getränk auf Basis von eisgekühltem oder gefrorenem Obst bzw. Fruchtsaft. Davor hatte man im alten Griechenland und Rom Schnee aus den Bergen oder im Winter gehauene Eisblöcke, die dann gelagert und bei Bedarf zerkleinert wurden, verwendet und das Eis mit Fruchtsaft, Gewürzen oder Wein verfeinert als Dessert gegessen.

Die speiseeiskultur in ostasienIm Osten genoss man Eis hauptsächlich in Form von Bingjeup, zerstoßenem Eis mit dickem Fruchtsaft oder Gewürzen, bzw. Bingsu, wobei v.a. Bingsu in Ostasien seit alters her beliebt ist. In Song Shi (Geschichte der Song-Dynastie; 960-1279) steht z. B., dass „der Kaiser an den Hundstagen den wichtigsten Hofbeamten Milsabing (feines Eis mit Honig) gewährte“. Es wird vermutet, dass es sich um Bingsu mit Honig und Adzukibohnen handelte. Bei

Bingsu-Boom

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Das typische koreanische Dessert zum Abkühlen an heißen Sommertagen: Pat-Bingsu aus fein geschabtem Eis mit einer Garnierung aus gut gekochten roten Bohnen, Klebreiskuchen-Stücken und knusprigen getrockneten Fruchtscheiben oder Nusssplittern.

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Und wer lieber Eis und Topping pur genießen möchte, kann auch das. Auf jeden Fall hat jedes Bingsu seinen eigenen, individuellen Reiz. Daher ist Bingsu ein „maßgeschneidertes“ Gericht, betörend schlicht von der Zubereitung her und vielfältig in Bezug auf die kreativen Kombinationsmöglichkeiten.

es, dass im Sommer das Eis zerstoßen und mit Obst als Frucht-punsch zubereitet wurde, oder dass Obst auf einem Eistablett gekühlt als Binggwa, „Eisfrüchte“, serviert wurde.Wie konnten sich so unterschiedliche Arten von Bingsu und Bing-gwa entwickeln? Kühllager für die Aufbewahrung von im Winter gehauener Eisblöcke, die dann im Sommer Verwendung fanden, gibt es zwar schon seit Jahrtausenden, aber erst um das 11. Jh wurde die Lagertechnik revolutioniert, was die Nachfrage nach Eis in die Höhe schnellen und die Preise sinken ließ und zur Entwick-lung weiterer Bingsu-Varianten führte. Selbstverständlich blieben diese geeisten Gaumenfreuden immer noch ein Luxus, den sich nur die Oberschicht der Adligen und Wohlhabenden leisten konnte. So wie sich Eiscreme im Westen dann schließlich im 18. Jh im gan-zen Volk verbreitete, wurde Bingsu im Osten Ende des 19. Jhs zur Massenerfrischung, als in Japan, das in Asien die Modernisierung anführte, der Eisschaber erfunden wurde.

slow Food mit einfachem rezeptNachdem Bingsu mit dem Erscheinen der westlichen Eiscreme verdrängt wurde und lange ein Schattendasein als billige Süß-speise für Kinder fristete, erfreut es sich heutzutage im Asien des 21. Jhs erneut gro-ßer Beliebtheit. Nicht nur das koreanische Pat-Bingsu, sondern auch das japanische Kakigori und das chinesische Baobing sind

weit und breit beliebt. Auch wenn sie alle anders heißen, handelt es sich lediglich um Bingsu-Varianten und Korea steht im Mittelpunkt dieses Trends. Bingsu scheint sich vor allem in Korea weiterent-wickelt zu haben, weil die Koreaner, im Gegensatz zu den Chine-sen, die auch im Sommer heißen Tee trinken, eine Vorliebe für kalte Speisen haben - sogar Nudeln werden in Korea auf Eis serviert.Aber warum Bingsu und nicht Eiscreme? Die Bingsu-Renaissance in Asien, ist wahrscheinlich in einem Merkmal des 21. Jhs begrün-det, nämlich dem Übergang von Fast Food zu Slow Food. Während Eiscreme eine Art Fast Food ist, gehört Bingsu zum Slow Food. Zer-stoßenes Eis wird einfach mit verschiedenen Zutaten garniert. Das können eine, zwei oder mehrere Zutaten sein, darunter Adzukiboh-nen, Bohnenreiskuchen, Nüsse wie Erdnüsse, Mandeln oder Wal-nüsse, Gelee, Obst, dicker Fruchtsaft und auch Eiscreme. Je nach Geschmack und Wunsch kann man sich die Toppings aussuchen und mit dem Eis vermischt essen. Und wer lieber Eis und Topping pur genießen möchte, kann auch das. Auf jeden Fall hat jedes Bing-su seinen eigenen, individuellen Reiz. Daher ist Bingsu ein „maß-geschneidertes“ Gericht, betörend schlicht von der Zubereitung her und vielfältig in Bezug auf die kreativen Kombinationsmöglichkei-ten. Eiscreme hingegen ist eher ein gebrauchsfertiges Massenpro-dukt.

genauerer Befassung mit Bingsu erkennt man, dass das Bingsu von einst und das Bingsu von heute ganz ähnlich sind. Im Makura no Soshi, dem Kopfkissenbuch der Dame Sei Shonagon aus dem frühen 11. Jh, wird geschildert, dass an Japans Kaiserhof das Eis zuerst mit dem Messer abgeschabt und danach mit aus Kudzu-wurzel gewonnenem Saft garniert in einem Metallgefäß serviert wurde, damit es nicht schnell schmolz. Das Gericht, bei dem Eis-splitter mit Sirup garniert wurden, weist große Gemeinsamkeiten mit dem heutigen japanischen Wassereis Kakigori auf, während das koreanische Bingsu eher dem Milsabing-Honigeeis der Song-Dynastie ähnelt.Es scheint also in alter Zeit bereits mehrere Bingsu-Varianten in Ostasien gegeben zu haben. Dazu gehört natürlich Pat-Bingsu mit Adzukibohnen, aber auch Joghurt-Bingsu aus gefrorenem Joghurt, Früchte-Bingsu mit Korea-Kirschen und Bingsu aus Pflaumenblü-tenwein, das dem heutigen Wein-Bingsu ähnelt. Außerdem heißt

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1 Ein Mango-Bingsu aus gefrorener Milch mit Mangogeschmack2 Bingsu, lange nur eine kühlende Erfrischung für heiße Sommertage, ist heute als feines Dessert zu allen Jahreszeiten beliebt.3 Bingsu ist auf den individuellen Geschmack des Kunden zugeschnitten, der nach Belieben Garnierungen wählen und kombinieren kann.4 Schwarztee-Bingsu mit Syrup auf Eiscreme auf einem Bett aus fein geschabtem Eis

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BlIcK Aus Der Ferme

A rchitektur ist ein zentraler Bestandteil der Kultur eines jeden Landes, denn sie ist das Form gewordene Ergebnis

der kulturellen und materiellen Bedürfnisse einer Gesellschaft. In ihrer Gesamtheit ist Architektur eine sich bis in die Gegenwart erstreckende und Jahrtausende umfassende Akkumulation von Geschichte und Kultur, was sie so bedeutend für die kulturelle Iden-tität einer Gesellschaft macht. Architektur und Gesellschaft prägen sich gegenseitig und es ist lohnend, sich damit auseinanderzuset-zen. Zu dieser Auseinandersetzung gehört auch die Frage, welche Stellung das traditionelle koreanische Hanok-Haus in der moder-nen koreanischen Gesellschaft einnimmt. Korea hat eine Jahrhunderte alte Bautradition. Die historische Holzskelettbauweise hat ihre Wurzeln wahrscheinlich im chinesi-schen Kulturraum, jedoch hat die koreanische Architektur im Laufe der Jahrhunderte ihre ganz eigenen, deutlich distinktiven Merk-male entwickelt. Das Hanok ist entstanden aus einer Kombination der im winterkalten Norden üblichen Räume mit Ondol-Fußboden-heizung und dem „Daechong“ des sommerheißen Südens, also den offenen Räumen mit unterlüftetem Holzfußboden. Damit ist es ideal an das Kontinentalklima Koreas angepasst. Das ländliche Hanok wurde im Laufe der Urbanisierung des Joseon-Reiches ab Ende des 19. Jhs und während der japanischen Kolonialzeit kom-primiert, woraus sich das urbane Hanok entwickelte, welches einen Großteil des erhaltenen Hanok-Bestands v.a. in Seoul ausmacht.Angesichts des Hochhauswaldes in Korea ist es heute kaum vor-stellbar, dass die traditionelle Architektur noch bis vor wenigen Jahrzehnten dominierte. Bis in die frühen 60er Jahre bildete das Hanok mit Abstand die häufigste Form des Wohnbaus. Mitte der 60er Jahre kam es mit dem staatlich forcierten hochgeschossigen Massenwohnbau dann zu einer folgenschweren politischen Wei-chenstellung. Ausschlaggebend waren dabei weniger Baugrund-mangel als die Effizienz in Planung und Bauausführung, die es ermöglichte, dem akuten Mangel an städtischem Wohnraum in

relativ kurzer Zeit zu begegnen. Diese ursprünglich von der Bevöl-kerung nur zögerlich angenommene Bauform ist heute dominant.Ein Apartment ist jedoch weniger privater Rückzugsraum mit iden-titätsstiftender Funktion als ein Nutz-, Konsum- und Statusgut. Im modernen Korea haben bisher weniger die persönliche Gestal-tung der eigenen vier Wände, also der „Nestbau“, im Vordergrund gestanden, als eher pragmatische Beweggründe wie die Lage – vor allem welche Schulen im Einzugsgebiet liegen – und auch der angebotene Service. Der „Heimwerker“ - eine wohl typisch deut-sche Erscheinung ist hier bislang noch eher die Ausnahme. Inte-ressant für den europäischen Besucher ist das unter diesen Rah-menbedingungen entstandene Phänomen der Markenbildung im Wohnungsbau.In Seoul ist man aus stadtstruktureller Sicht nun jedoch an einem Punkt angelangt, an dem der Anteil des Massenwohnungsbaus an der gesamten Bausubstanz einen kritischen Wert erreicht hat. Zum einem scheint die Nachfrage keine großflächigen Entwicklungspro-jekte mehr zu rechtfertigen, zum anderen braucht Seoul als histo-risch gewachsene Stadt ihre kleinteiligen organischen Viertel, die wichtige Funktionen im Stadtgefüge erfüllen und auch nicht uner-heblich zur Attraktivität dieser Stadt beitragen. Dessen ist man sich mittlerweile bewusst geworden und ein politisches Umdenken hat eingesetzt. So wurde in Seoul in der Stadtentwicklungspolitik der letzten Jahre der Schwerpunkt immer stärker von großflächigen Entwicklungsprojekten auf bestandserhaltende „Soft-Maßnah-men“ gelegt. Dem interessierten Beobachter mag sich gar der Eindruck auf-drängen, dass der traditionellen Architektur innerhalb der Stadt-politik mittlerweile eine bevorzugte Stellung eingeräumt wird, was auch bis zu einem gewissen Grade der Fall ist. In Bukchon bei-spielsweise, den Stadtvierteln zwischen den alten Königspalästen mit vielen Hanok, wurde durch eine Subventionspolitik ein Sanie-rungsschub ausgelöst, der das Gesicht des Viertels veränderte und

Zwischen K-culture und Betonwüste

Die Stellung des Hanok im modernen Korea

Daniel Tändler Architekt

* Der Autor ist Sohn einer deutsch-koreanischen Famile, lebt und arbeitet in Seoul. Er ist Mitbegründer von Chamooree architectural coop. (Baufirma für traditionelle koreanische Architektur) und Architekturbüro urban detail, Seoul

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aus Bukchon ein attraktives und stark frequentiertes Touristenvier-tel machte. Für die Stadt Seoul hat dieses Viertel eine wichtige Vorreiterfunk-tion, da es in Korea bisher nur wenig Erfahrungen im Umgang mit historischen Stadtvierteln als Ganzes gab. Auch wenn sich die Arbeit als Architekt durch die sich häufig ändernden Subventionsauflagen manchmal etwas schwierig gestaltet, ist dies ein notwendiger Pro-zess, der wichtige Erkenntnisse für weitere Viertel erbringt. West-liche Architekten und Bauhistoriker werden sicher an dem derzei-tigen Vorgehen so manchen Punkt kritisch bewerten, jedoch sollte man sich über einige Zusammenhänge im Klaren sein, bevor man ein Urteil fällt. Fragen nach dem Umgang mit Originalsubstanz und Original-funktionen werden in Korea mittlerweile vermehrt debattiert. Ein Ansatz nach westlichen Maßstäben erscheint mir aufgrund der grundverschiedenen bau- und entwicklungshistorischen Hinter-gründe jedoch nur bedingt brauchbar. So findet man z.B. auf Erklä-rungstafeln vor Baudenkmälern oft den Hinweis, unter welchem König das Bauwerk abgetragen und identisch wieder aufgebaut wurde. Der Erhalt eines Bauwerks nicht in seiner Substanz, son-dern durch Rekonstruktion, die durch Pflege und Erhalt von Bau-technik und Wissen an sich ermöglicht wird, scheint hier, wie in anderen ostasiatischen Ländern auch, eine Rolle zu spielen. In Japan findet dieser Ansatz seine Perfektion z.B. in der zyklischen Rekonstruktion der Ise-Schreine, die seit vielen Jahrhunderten alle 20 Jahre abgetragen und komplett identisch rekonstruiert werden.Auch die Begriffe „historisch“ und „traditionell“ im deutschen Ver-ständnis lassen sich nicht ohne Weiteres auf die koreanische Archi-tektur übertragen. In Deutschland beispielsweise haben histori-sche Fachwerkbauten in viel größerem Umfang überlebt als histo-rische Holzbauten in Korea, die traditionelle deutsche Fachwerk-bauweise jedoch ist kein obligatorischer Bestandteil der Berufstä-tigkeit des modernen Zimmermanns mehr. „Traditionell“ ist in die-sem Zusammenhang größtenteils deckungsgleich mit „historisch“. In Korea hingegen gibt es den traditionellen Zimmermann als eige-nen Berufsstand mit spezialisierter Ausbildung. Die traditionelle Bauweise ist somit zwar historisch verwurzelt, aber nicht historis-tisch im Sinne der Imitation oder Neubelebung einer vergangenen Bauepoche, sondern ein lebendiges, tradiertes Handwerk.

Für die Restaurierung eines Hanok benötigt man für einen großen Teil der Gewerke traditionell ausgebildete Handwerker. Die tragen-de Holzkonstruktion mit ihren komplizierten Holzverbindungen, die kunstvollen Holzfenster und das elegant geschwungene Dach mit seinen dunklen Ziegeln sind allesamt Bereiche, die Handwerker der modernen Ausrichtung nicht bewerkstelligen können, da sie hier-für nicht hinreichend ausgebildet sind. Unabhängig von der Frage, in welcher Weise das Hanok sich als traditionelle Bauweise weiterent-wickeln und modernisieren sollte, gilt es, diese unschätzbar wert-vollen traditionellen Handkwerkstechniken unbedingt zu erhalten.Wegen des hohen Anteils an Handarbeiten liegen die Kosten für den Bau eines Hanok vergleichsweise hoch, teilweise pro Grund-flächeneinheit fast doppelt so hoch wie für einen entsprechenden modernen Bau. Aufgrund des kulturellen Wertes dieser Architek-tur und der Handwerksarbeiten scheinen die Subventionen für die Sanierung bzw. den Bau von Hanok in Seoul und anderorts aber voll gerechtfertigt.Die erläuterten Zusammenhänge sollen einen Eindruck von den kulturellen Besonderheiten traditioneller koreanischer Bauwei-se im Unterschied zur „westlichen“ Wahrnehmung vermitteln. Selbstverständlich sollte dieser Aspekt nicht als Vorwand für einen subventionierten Totalumbau oder gar Abriss bauhistorisch wert-voller Hanok verstanden werden. Vielmehr muss von Fall zu Fall abgewogen werden, wie stark ein Eingriff in ein altes Gebäude sein darf, um einerseits modernen Bedürfnissen gerecht zu werden und andererseits den Ursprungscharakter möglichst authentisch zu bewahren. Das gesteigerte Interesse an traditioneller Architektur lässt ins-gesamt hoffen, denn viele Koreaner sehnen sich mittlerweile nach einem Wohnhaus, das stärker kulturelle und persönliche Identität verspricht, als es ein Apartment könnte. Allerdings zeichnet sich für meine persönlichen Begriffe derzeit eine Entwicklung ab, deren Auswirkungen auf das Hanok noch nicht leicht abzuschätzen sind. Obwohl der Begriff „Hanok“ selbst fast noch ein Neologismus ist, der gemeinsam mit vielen weite-ren „Han“-Begriffen wie z.B. „Han-sik“ (koreanisches Essen), oder „Han-bok“ (koreanische Tracht) als abgrenzendes, identitätsstiften-des sprachliches Element zu Beginn des 21. Jhs eingeführt wurde, breiten sich in letzter Zeit die „K-Begriffe“ à la „K-Pop“ aus, unter der die moderne Populärkultur des Landes als Konsumgut inter-national erfolgreich vermarktet wird. Es ist zu hoffen, dass dieser in anderen Bereichen der koreanischen Kultur wie Musik, Mode oder Essen erfolgreiche Vermarktungsmechanismus nicht unüber-legt auch auf das Hanok angewandt wird. Ich hoffe, dass sich die Koreaner einfach auf sich selbst und ihre eigene kulturelle Identität besinnen, denn das Hanok als solches kann meiner Meinung nach auch ohne solche Promotionsstrategien als originäre Architektur überzeugen und die Welt begeistern.

Moderner Wohnkomfort: Küche in einem sanierten Hanok

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reIsen In DIe KoreAnIscHe lITerATur

Alles, was der Protagonistin Jeong, Werbetexterin bei einer Regionalzeitung, passierte, begann mit einem trivialen „Irr-

tum“: Da sie beim Verfassen eines Werbetextes den Namen des Geschäftes falsch geschrieben hat, muss sie den Fehler in den bereits an 100 Distributionsstellen gelieferten 5.000 Zeitungsexem-plaren einzeln mit Stickern korrigieren. Die Buchstaben auf einem Schild falsch zu lesen, ist ein kleiner Fehler, der jedem unterlau-fen kann, wie z.B. versehentlich in Linienbus Nr. 08 statt Nr. 04 ein-zusteigen, aber die Protagonistin gerät durch diesen Irrtum eines Augenblicks aus den normalen Bahnen des Alltags. Wenn Sie ein Leser sind, der schon mal wie die Protagonistin in der Erzählung ein Schild an der Straße falsch gelesen hat und dadurch in eine wild-ausgefallene Vorstellungswelt geraten ist, dann dürften die Begebenheiten in dieser Erzählung Sie wie eine persönliche Ange-legenheit ansprechen. Es ist die grundlegende Narrationsstrategie dieser Erzählung, etwas Trivial-Vertrautes, das jeder schon ein-mal erfahren haben wird, sprunghaft zu ziemlich ernsthaften und befremdenden Vorstellungen zu entwickeln und so auf eine subtile Weise eine mitfühlende Verbundenheit zwischen den Figuren in der Erzählung und dem Leser zu schaffen. Es ist nicht nur bei der Erzählung The Chef’s Nail der Fall, dass die Autorin Yun Ko-eun die Dinge, denen wir in unserer Umge-bung oft begegnen, an denen wir aber in der Hektik des Alltags gedankenlos vorbeigehen, aufmerksam betrachtet und sich auf die Flügel der Fantasie begibt. Diese Verfahrensweise ist auch in anderen ihrer Werken oft zu beobachten. Einige Beispiele für die Fülle ihrer Übertreibungskunst und ihres Geistreichtums: In Inva-der Graphic (in: Munhak Sasang, 2009) entpuppen sich Fliesenstü-cke mit seltsamen Mustern, wie sie manchmal auf der Straße zu sehen sind, als Zeichen des Widerstandes, die von gesellschafts-kritischen Kräften hinterlassen wurden; als der Protagonist in Der süße Urlaub (in: Quarterly Chanbi, 2009) tote Wanzen unter seinem Bett oder in den Ecken des Kleiderschrankes entdeckt, startet er aus Angst vor einem Wanzenangriff auf die Erde eine Wanzenver-nichtungsoperation; in dem Roman Das Schwerelosigkeitssyndrom (2008) teilt sich der Mond am Himmel in sechs Monde und verur-sacht die neuartige Epidemie „Schwerelosigkeitssyndrom“. Dass

auch in The Chef’s Nail, erzählt in einem konsequent ruhigem Ton, hier und da ein schiefes Lächeln hervorrufende Scherze erschei-nen, um den bedrückt-stillen Alltag der Protagonistin Jeong zu beschreiben, steht ebenfalls damit im Einklang.

„Als sie nach der ersten Runde, dem gemeinsamen Abteilungs-essen, das Restaurant verließen, um zur zweiten Runde, dem gemeinsamen Trinken, überzugehen, fand sich Jeong vor dem Aquarium des Sushi-Restaurants wieder. Obwohl sie in Begleitung ihrer Kollegen war, kam es ihr so vor, als ob sie allein da stün-de. Die Makrelen im Aquarium kreisten in hoher Geschwindigkeit immer nur in eine Richtung. Die Strömung war so kräftig, dass sie nicht anders konnten, als im Kreis zu schwimmen, weshalb Jeong die Strömung noch frischer erschien. Vielleicht dachten die Makre-len ja, dass sie aus eigener Kraft schwimmen würden. Um heraus-zufinden, ob ihre Schwimmbewegungen aktiv oder passiv waren, gab es nur zwei Möglichkeiten: Entweder musste die Strömung gestoppt werden, oder die Makrelen mussten aus dem Aquarium springen. Aber draußen gab es nur harten Asphaltboden.“ Die etwas verstiegene und doch lebendig-frische Fantasie von Yun ist stets überlagert vom Schatten einer erbärmlichen Wirk-lichkeit. Die Erzählung, die mit einem „kleinerem“ Fehler beginnt, geht bei der Betrachtung der Makrelenschar im Aquarium eines Sushi-Restaurants zu einer ernüchternden Warnung vor einem „schwerwiegenden Fehler“ über. Während sie schnell immer nur in eine Richtung kreisen, glauben die Makrelen, aus eigener Kraft zu schwimmen, aber in Wirklichkeit werden sie lediglich von der Strö-mung mitgerissen. Man wird zwangsläufig an die Geschichte vom Schmetterlingstraum von Zhuangzi, an den Film Matrix oder Die Truman Show erinnert. Die Erzählung wirft die Frage auf, ob wir inmitten der Hektik des Alltags und der vom Kapital beherrschten Wirklichkeitslogik nicht „einen großen Irrtum leben“. Was die Erzählung thematisiert, sind jedoch nicht etwa ontologi-sche Erkenntnisstrukturen oder den modernen Menschen, der seine Subjektivität verloren hat, sondern das Gefühl der „Einsam-keit“ an sich, mit dem man konfrontiert wird, wenn man vom All-

Kleinere Fehler lösen Mitfühlen aus

rezensIon

Chang Du-yeong Literaturkritiker

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tag abweicht. Das Gefühl, „als ob sie allein da stünde“, „obwohl sie in Begleitung ihrer Kollegen war“. Die Kollegen werden mor-gen wieder in dem Irrtum leben, in schneller Strömung selbst zu schwimmen, Jeong ist aber wie eine Makrele, die auf den harten Asphaltboden geworfen wurde. Da die Strömung im Aquarium zu wild und schnell ist, haben die Kollegen nicht die Muße, Jeong Ver-ständnis oder Mitleid entgegenzubringen. Vielleicht war sie aber auch schon einsam, als sie noch im Aquarium war. Es ist wohl so, dass die Unterscheidung des Raums innerhalb des Aquariums und des Raums außerhalb, die erst durch Jeongs Entlassung möglich wurde, zu der verspäteten Erkenntnis führt, dass sie in Wirklich-keit schon sehr lange einsam gewesen war. Das Band der Empa-thie, das die Figur in der Erzählung und den Leser - beginnend mit einem kleinem Irrtum über einen wahren Sprung der Vorstellungs-kraft - schließlich verbindet, ist die „Einsamkeit“, die die auf den Boden geworfene Makrele empfindet.In einer anderen Erzählung (Der Tisch für eine Person, in: Silcheon Munhak, 2009) erscheinen Leute, die ein privates Lerninstitut besuchen, weil sie Angst davor haben, alleine in einem Restaurant zu essen. Die Protagonistin, die es nach dreimonatigem Kursbe-such immer noch nicht geschafft hat, die Einsamkeit zu überwin-den, sagt: „Das, was ich lernen wollte, war eigentlich, ohne Befan-genheit alleine zu essen, aber das, was ich während des Kurses bekam, war nur der Trost, dass ich nicht die einzige bin, die alleine isst: Wir sind so etwas wie Kettenläden aus Einzelpersonen.“Auch auf die Erzählung The Chef’s Nail trifft diese Wahrheit wohl unverändert zu. Während wir Jeongs Schritten folgen, die, begin-nend mit einem kleineren Fehler in bodenlose Einsamkeit versinkt, müssen wir weiterlesen und sie begleiten in ihre Einsamkeit und Entfremdung. Die Erzählung fragt, ob wir nicht am Ende doch Trost dadurch bekommen können, dass wir der Einsamkeit der Men-schen um uns herum Aufmerksamkeit schenken, mit ihnen fühlen und sie trösten. Sie sagt uns, dass Mitfühlen und Trösten die Pflicht von uns Makrelen, die wir im Aquarium leben, ist, auch wenn Empathie und Trost nicht die Kraft haben, die Realität oder das Leben der Figuren in der Erzählung zu ändern. Auch wenn selbst das noch eine Art Irrtum sein sollte.

Yun Ko-eunHaben Sie schon einmal einen dieser

Ministicker gesehen, den man zur Korrektur

eines Druckfehlers benutzt hat? Also

einen jener Sticker, den man als Notbehelf

verwendet, um die zeitliche und finanzielle

Belastung eines Neudrucks zu vermeiden.

Wenn Sie je in ihrem Leben, und sei es auch

nur einmal, einen solchen Sticker abgelöst

haben, dann werden Sie von der Erzählung

The Chef’s Nail (2011) der Autorin Yun Ko-

eun (geb. 1980), die den ganz normalen

Alltag zur Quelle vielfältiger Fantasien

macht, in den Bann gezogen werden.

Sie werden sich vielleicht so tief darin

versenken, dass Sie zu einem undeutlichen

„Fleck“ zwischen den Zeilen werden.

© P

ark Jae-hong

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