karlheinrich biermann picasso und coatlicue. der spÄten

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Karlheinrich Biermann "PICASSO UND COATLICUE". DIE NICARAGUANISCHE VANGUARDIA-BEWEGUNG DER SPÄTEN ZWANZIGER UND DREISSIGER JAHRE Das ästhetische Programm der nicaraguanischen Vanguardia-Be- wegung resümiert einer ihrer wichtigsten Repräsentanten, Pablo An tonio Cuadra (*1912), noch im Jahre 1981 mit dieser Formel: [...] nuestra Vanguardia, dicha en ideograma fue: Picasso + Coatlicue. Es decir: la novedad hacia atrás sumada a la novedad hacia adelante. Picasso, simbolizando la revolución de lo europeo y de lo occidental abriéndose a todos los aportes, hasta los más primitivos, de la historia de la cultura. Y la Coatlicue, la escultura tremenda de la tierra hecha por los aztecas, simbolizando la recuperación de todo el mensaje indígena y terrestre de América. Schon diese Zeilen - nicht zuletzt die spezifische Deutung der Ästhetik Picassos - weisen daraufhin, daß die Theorien der Avant garde, die vor allem am Paradigma der avanciertesten europäischen Konzeptionen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts entwickelt wor den sind, nicht unbesehen auf lateinamerikanische Avantgarde-Be wegungen als Erklärungsmodelle übertragen werden können. Um mit D. Janik zu sprechen: Inwiefern konnten aber Intellektuelle außerhalb Europas diese Probleme zu ihren eigenen machen, sie selbständig verarbeiten und ihnen in charakteristischen Aus drucksformen Gestalt geben? Teilten sie wirklich die Denkvoraussetzungen, von denen die europäische reflexionsgesättigte und -übersättigte Dichtung ihre neuen Wege nahm? Sind denn originelle Antworten gegeben worden - als poetologische Reflexion oder in dichterischen Äußerungen von überzeugender Kraft? 1 P.A. Cuadra: "Relaciones entre la literatura nicaragüense y la francesa", in Boletín Nicaragüense de Bibliografía y Documentación , 50 (noviembre-diciembre 1982): 11-19 (hier S. 17). 2 D. Janik: "Vicente Huidobro und César Vallejo: Zwei Außenseiter der euro päischen Avantgarde aus Spanisch-Amerika”, in R. Warning/W. Wehle (Hrsg.): Lyrik und Malerei der Avantgarde, München 1982, S. 194.

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Page 1: Karlheinrich Biermann PICASSO UND COATLICUE. DER SPÄTEN

Karlheinrich Biermann

"PICASSO UND COATLICUE".DIE NICARAGUANISCHE VANGUARDIA-BEWEGUNG DER SPÄTEN ZW ANZIGER UND DREISSIGER JAHRE

Das ästhetische Programm der nicaraguanischen Vanguardia-Be- wegung resümiert einer ihrer wichtigsten Repräsentanten, Pablo A n­tonio Cuadra (*1912), noch im Jahre 1981 mit dieser Formel:

[...] nuestra Vanguardia, dicha en ideograma fue: Picasso + Coatlicue. Es decir: la novedad hacia atrás sumada a la novedad hacia adelante. Picasso, simbolizando la revolución de lo europeo y de lo occidental abriéndose a todos los aportes, hasta los más primitivos, de la historia de la cultura. Y la Coatlicue, la escultura tremenda de la tierra hecha por los aztecas, simbolizando la recuperación de todo el mensaje indígena y terrestre de América.

Schon diese Zeilen - nicht zuletzt die spezifische Deutung der Ästhetik Picassos - weisen daraufhin, daß die Theorien der Avant­garde, die vor allem am Paradigma der avanciertesten europäischen Konzeptionen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts entwickelt wor­den sind, nicht unbesehen auf lateinamerikanische Avantgarde-Be­wegungen als Erklärungsmodelle übertragen werden können. Um mit D. Janik zu sprechen:

Inwiefern konnten aber Intellektuelle außerhalb Europas diese Probleme zu ihren eigenen machen, sie selbständig verarbeiten und ihnen in charakteristischen A us­drucksformen Gestalt geben? Teilten sie wirklich die Denkvoraussetzungen, von denen die europäische reflexionsgesättigte und -übersättigte Dichtung ihre neuen W ege nahm? Sind denn originelle Antworten gegeben worden - als poetologische Reflexion oder in dichterischen Äußerungen von überzeugender Kraft?

1 P.A. Cuadra: "Relaciones entre la literatura nicaragüense y la francesa", in Boletín Nicaragüense de Bibliografía y Documentación , 50 (noviembre-diciembre 1982):11-19 (hier S. 17).

2 D. Janik: "Vicente Huidobro und César Vallejo: Zwei Außenseiter der euro­päischen Avantgarde aus Spanisch-Amerika”, in R. Warning/W. Wehle (Hrsg.): Lyrik und Malerei der Avantgarde, München 1982, S. 194.

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Vor allem ein Element der europäischen Avantgarde-Konzep­tionen (wie auch der kunst- und literarhistorischen Avantgarde- Theorien) bedarf einer kritischen Überprüfung, soll der Blick geöff­net werden für die spezifischen Entstehungsbedingungen und E r­scheinungsformen der neuen lateinamerikanischen Bewegungen. "Vom Futurismus bis zum Surrealismus", so W. Wehle, "von der ersten bis zur letzten ihrer Bewegungen, bedeutet Avantgarde eine lei­denschaftliche Negation all dessen, was Werten der Vergangenheit huldigt"3. Gewiß läßt sich auch in den lateinamerikanischen Lite­raturen jenes Evolutionsschema erkennen, demgemäß jeder Inno­vationsschub die Distanzierung von eingefahrenen Klischees zur Vor­aussetzung hat, eine umfassende Tendenz zum Traditionsbruch ist jedoch nur sehr partiell auszumachen. Es handelt sich dabei nicht allein um ein literar- und kunsthistorisches Phänomen, vielmehr deu­ten sich hierin kultur- und sozialgeschichtliche Zusammenhänge an. Dies hat nicht zuletzt - im Vergleich zu Europa - mit der "Ungleich­zeitigkeit" der gesellschaftlichen Entwicklungsphasen zu tun. Der Begriff "Nation" etwa erhält einen gänzlich anderen Stellenwert je nachdem, ob er im Rahmen eines bürgerlichen Nationalstaats (wie Deutschland und Frankreich zu Beginn des Jahrhunderts) oder aber im Kontext eines Landes benutzt wird, das seine nationale Identität und Souveränität erst herauszubilden im Begriffe steht, wie dies insbesondere für das Nicaragua der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre gilt. Auch das Verhältnis von Tradition und Fort­schritt ist in diesem Zusammenhang anderer Art als in den avancier­ten Industriegesellschaften Europas. Global betrachtet macht je ­doch erst die erkannte und akzeptierte Andersartigkeit der euro­päischen und lateinamerikanischen Avantgardebewegungen eine umfassende Theorie der Avantgarde möglich. Um noch einmal D. Janik zu zitieren:

W elche Verpflichtung haben wir als Europäer diesen geistigen Anstrengungen und Leistungen gegenüber? Genügt es in Anmerkungen festzuhalten, daß da in der Ferne auch Verwandtes, Ähnliches gedacht und gemacht wurde? Oder sind die Anstöße, die von der Peripherie kamen, so stark, daß sie im Zentrum aufgenom­men wurden, werden mußten - oder doch werden müssen?4

3 W. Wehle: "Avantgarde: ein historisch-systematisches Paradigma ‘moderner’ Lite­ratur und Kunst", in R. Waming/W. Wehle, op.cit., S. 13.

4 Janik, op.cit., S. 194 f.

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Auf dem Wege zu einer Nationalliteratur

Als "vanguardia" bezeichnet sich eine Gruppe junger Männer in der Provinzstadt Granada spätestens ab dem Frühjahr 19315, die sich seit 1928 zu gemeinsamen Lesungen und Diskussionen zu treffen pflegt. Es sind dies vor allem: José Coronel Urtecho (*1906)6, Pablo Antonio Cuadra (*1912)7, Manolo Cuadra (1907-1957), Joquín Pasos (1914-1947)8 und Octavio Rocha (*1910). Aus Managua stößt Luis Alberto Cabrales (1901-1974) zu ihnen. Nach dem Vorbild euro­päischer Avantgarde-Bewegungen publizieren sie im April 1931 ein Manifest unter dem Titel "Ligera exposición y proclama de la Anti- Academia Nicaragüense"9, mit dem sie sich von der offiziellen Institu­tion der "Academia Nicaragüense de la Lengua" distanzieren, die wohl nichts anderes mehr repräsentiert als eine - kaum funktio­nierende - Filiale der "Real Academia de la Lengua". Schon der erste Punkt des Programms macht freilich deutlich, daß es ihnen nicht allein um die Negation und die Destruktion bestehender Institu­tionen, sondern vor allem um konstruktive Arbeit geht. Sie haben das Ziel, Perspektiven für eine "literatura nacional" zu öffnen und gleich­zeitig eine Art literarischer Hauptstadt ("capital literaria") zu schaf­fen, "que sea como el meridiano intelectual de la nación"10. Der Name ‘Anti-Academia’ werde nur gewählt, um ein gemeinsames Handeln der Gruppe zu ermöglichen. Die individuelle schöpferische Freiheit der einzelnen Autoren sei damit nicht berührt, heißt es später. Man will auch bestimmte Publikations- und Organisationsformen benut­zen, um das Programm in der Öffentlichkeit wirksam zu vertreten ("lecturas, batallas, banquetes, teatritos, cafés, peregrinaciones"). Schon hier wird deutlich, worum es den "vanguardistas" im Kern geht: Es stellt sich ihnen die Aufgabe, eine nationale, souveräne "Institution Kunst/Literatur", eine literarisch-politische Öffentlichkeit (im auf­

5 Cf. J.E. Arellano: Panorama de la literatura nicaragüense, Managua 51986, S. 57-84.6 Cf. seinen Gedichtband Pol-la d ’ananta, katanta, paranta, León (Nicaragua) 1970.7 Cf. die Obra poética completa , vol. I, San José de Costa Rica, 1983.8 Cf. seine Poemas de un joven, Managua 1983.9 Das Manifest ist abgedruckt in Cuadra: Torres de Dios, Managua 1985, S. 169-172

sowie in der umfangreichen Textsammlung: 5 0 años del m ovimiento de vanguardiade Nicaragua. 1928129-1978/79 ( = El Pez y la Serpiente, 22/23 invierno 1978/verano 1979), Managua 1979, S. 24-26.

10 Ibid., S. 169.

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klärerischen Sinne)11 überhaupt erst zu schaffen. Ihre Intentionen unterscheiden sich damit grundsätzlich von denen großer Teile der europäischen Avantgardebewegungen, die ihre Angriffe auf die bür­gerliche Institution Kunst schlechthin richten12. Den jungen Autoren von Granada steht nicht ein Bürgertum europäischen Zuschnitts gegenüber, das im Kontext der Industrialisierung entstanden und durch eine aufklärerische Tradition geprägt ist, sondern eine schmaleSchicht von "finqueros" und "comerciantes", die sich durch ihren

• • • • • 1 ^ Provinzialismus und ihre Kulturlosigkeit auszeichnet . Nur unterdiesen Kautelen läßt sich die Konzeption der "vanguardistas" als anti-bürgerlich bezeichnen. Vor diesem Hintergrund erklären sich manche Formen und Begleiterscheinungen ihrer öffentlichen Auf­tritte, die nicht selten zu lärmenden "Happenings" geraten14. Man wolle das Publikum erobern, heißt es in ihrem Manifest, und um diesen Zweck zu erreichen, seien alle Mittel recht, "hasta de la dinamita y del fusil literarios para emprender nuestra revolución incruenta"15. Aus der Rückschau beurteilt P.A. Cuadra die Haltung der Gruppe:

Para agitar la orunda burguesía de Granada, para construir un ambiente nuevo y culto, para combatir la deprimente mediocridad de ciertos círculos m onopo­lizadores de la literatura, nuestra actividad poética estaba condimentada con alegres críticas, recitales, polémicas, encuestas y manifiestos16

Die Provokation steht somit letztlich im Dienst einer überge­ordneten "didaktischen" Zielsetzung: Es geht darum, ein "kultur­räsonierendes" Publikum überhaupt erst zu "bilden".

Dieses Bemühen stößt offensichtlich selbst in Granada auf Inter­esse und erfährt wohlwollende Förderung: Die jungen Autoren erhal­ten Publikationsmöglichkeiten in der lokalen Presse. So verfügen sie etwa über eine "Página de vanguardia" in der Tageszeitung E l Cor­reo11.

11 Cf. J. Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit - Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied und Berlin 71975, passim.

12 Cf. P. Bürger: Theorie der Avantgarde, Frankfurt 1974, passim.13 Cf. S. Ramírez: Balcanes y volcanes, Managua 21983, S. 136.14 Cf. den Bericht von O. Rocha, abgedruckt in Arellano, op.cit., S. 67.15 Cuadra: Torres de Dios, S. 171.16 Ibid., S. 167.17 Cf. ibid., S. 160 sowie Arellano, op.cit., S. 66.

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Dem Ziel der ästhetischen Bildung dient auch die Absicht der "vanguardistas", ihre Landsleute mit den zeitgenössischen Avant­garde-Bewegungen Europas sowie Nord- und Lateinamerikas ver­traut zu machen, um auf diese Weise vor allem jungen Autoren die Möglichkeit zu eröffnen, ihre individuellen Emotionen und ihr Na­tionalgefühl ("sentimiento nacional") mit größerer Spontaneität und Aufrichtigkeit auszudrücken, als es die toten Formen einer ver­brauchten Rhetorik noch erlauben könnten. Ohne Zweifel hat die nicaraguanische Vanguardia-Bewegung - gemessen an den Mög­lichkeiten einer zentralamerikanischen Provinzstadt von damals ca. 15000 Einwohnern - auf diesem Feld ganz Erstaunliches geleistet. Man publiziert - teilweise in eigenen Übersetzungen - neue nord­amerikanische Lyrik (insbesondere von E. Pound, W.C. Wilhams und T.S. Eliot), Texte aus dem Umkreis des französischen Dadaismus und Surrealismus bis hin zu Cendrars und Supervielle, ebenso jedoch neue spanische Lyrik der 27er Generation, schließlich Gedichte aus den verschiedenen Avantgarde-Bewegungen Lateinamerikas, vom chile­nischen "creacionismo" über die kubanische Gruppe "Origen" bis hin zu den mexikanischen "contemporáneos", um nur die wichtigsten zu nennen18. Gleichzeitig präsentiert man diese Autoren und "Schulen" in Essays und Rezensionen, wobei auch eine gewisse Arbeitsteilung unter den "vanguardistas" stattfmdet: Coronel Urtecho zeichnet vor allem für die nordamerikanische Dichtung verantwortlich, während sich P.A. Cuadra und L.A. Cabrales eher für die Vermittlung der französischen Lyrik einsetzen. Insgesamt läßt sich dieser Rezeptions­und Vermittlungsprozeß durchaus nicht im Sinne einer Übernahme fremder Muster und Modelle deuten, sondern als ein kreativer Aneig­nungsprozeß, mögen auch die Einflüsse etwa der nordamerikani­schen "new poetry" letztlich bedeutsamer sein als die des euro­päischen Surrealismus.

Begleitet wird diese Öffnung nach außen durch die Vertiefung in die eigene nationale Geschichte und autochthonen kulturellen Tra­ditionen. Das Manifest der Gruppe setzt sich die Erforschung der nicaraguanischen Folklore zum Ziel, denn die traditionellen Aus­drucksformen der eigenen Kunst ("arte nuestro") ließen, so heißt es, im Vergleich zu den Kunstwerken anderer Nationen nichts zu wün-

18 Cf. Cuadra: Tones de Dios, S. 166 ff.

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sehen übrig. Auf diese Weise solle eine Ästhetik entwickelt werden, die zur Wiedergeburt ("renacimiento") der nationalen Kunst und Literatur führen könne 9. Zum ersten Mal in der Geschichte Ni­caraguas beginnt damit eine umfassende "Aufarbeitung" der eigenen Traditionen, von den indigenen Kulturen über die Epoche der Chri­stianisierung bis hin zum "mestizaje", von Architektur und Skulptur über Tanz und Folklore bis hin zur nicaraguanischen Küche20. Dieses Programm wird über Jahrzehnte konsequent realisiert, noch die A r­tikelserie El Nicaragüense (1970) von P.A. Cuadra entspricht diesen Zielsetzungen. Ähnlich wie die postrevolutionären Essayisten in Me­xiko versucht der Autor, aus der Geographie, der Geschichte und denkulturellen Traditionen des Landes so etwas wie einen "synthetischen"

21Nationalcharakter abzuleiten .Eine Konzeption von Nationalliteratur, wie sie von den "vanguar­

distas" vertreten wird, läßt sich nicht ohne Bezug zum historisch­politischen Kontext entwickeln. Das Manifest der Gruppe unter­streicht die Absicht, eine Wiedergeburt der nationalen Kunst jenseits aller politischen und ökonomischen Hemmnisse zu betreiben ("fuera de todo entorpecimiento político, comercial y extranjero"). Die fried­liche Revolution ("revolución incruenta"), die man im Auge habe, sei "más noble, más gloriosa, que las sangrientas revoluciones partidaris­tas, más útil que las obesas hartazones comercialistas"22. Ein solcher Anspruch verbindet sich jedoch in der gegebenen politischen Situa­tion des Landes mit sehr widersprüchlichen Haltungen. Die späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre sind in Nicaragua eine Epoche heftiger innenpolitischer Konflikte, die gleichzeitig verschärft werden durch die Intervention der Vereinigten Staaten. In den bürgerkriegs­ähnlichen Auseinandersetzungen zwischen den Konservativen, die in Granada dominieren, und den Liberalen, deren Hochburg León ist, geht es jedoch weniger um politisch-ideologische Positionen als viel­mehr um Partikularinteressen der lokalen Oligarchien. Es sind vor allem die Granadiner Konservativen unter ihrem Caudillo Emiliano

19 Ibid., S. 171.20 Cf. J. Coronel Urtecho: "Elogio de la cocina nicaragüense", in id.: Prosa reunida,

Managua 1985, S. 101-114.21 Cf. Vf.: "‘Indigenismo’ und ‘mestizaje’ - Zur Theorie der Ateneístas im Kontext

der Mexikanischen Revolution", in K. Hölz (Hrsg.): Literarische Vermittlungen: Geschichte in der mexikanischen Literatur, Tübingen 1988, S. 151-169.

22 Cuadra: Torres de Dios, S. 171.

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Chamorro, die die Intervention der Vereinigten Staaten begrüßen, um einen reibungslosen Machtwechsel zu garantieren. Auf der Seite der Liberalen kämpft der "indio-hispano" Augusto C. Sandino mit seinem "Ejército defensor de la soberanía nacional": Er leistet - gleichsam ein Erfinder des modernen Guerrilla-Kriegs - dem Inter­ventionskorps sieben Jahre lang Widerstand, bevor er ein Opfer der Intrigen der traditionellen Parteien wird. Was ihm die Sympathie großer Teile der Bevölkerung einbringt, ist zum einen die Tatsache, daß er so etwas wie die nationale Würde repräsentiert und allen Versuchen der Korrumpierung widersteht, zum anderen sein Be­mühen, auch sozialreformerische Ziele in seinen Kampf aufzuneh­men23. Die jungen Granadiner "vanguardistas" empfinden ohne Zwei­fel große Sympathie für seinen Aufstand. So schreibt P.A. Cuadra rückblickend: "La bandera flameante de Sandino alzó vuelo entonces, como un quetzal mitológico, entre las verdes selvas del norte" . Der legendäre Guerrillero habe in ihrer Vorstellung eine "Ilíada nueva" vollbracht. Daß sie gleichwohl nur Sympathisanten bleiben, nicht zu aktiv Engagierten werden und eine Art literarischer Autonomie jen­seits der politischen und gesellschaftlichen Fronten reklamieren, die­se Tatsache verweist auf das komplexe Phänomen ihrer sozialen Herkunft und die subjektiven wie objektiven Schwierigkeiten, sich aus ihrem Umfeld zu lösen, um eine eigenständige politisch-ideologische Konzeption zu entwickeln. "Entonces no tuvimos ninguna visión política seria del país, después la tuvimos falsa", so Coronel Ur- techo25. Sie entstammen - bis auf Cabrales - alle dem Granadiner Bürgertum, das sie zwar wegen seiner Kulturlosigkeit und seines Klassenegoismus verachten, zu dem sie jedoch keine gesellschaftliche Alternative zu erkennen vermögen und von dem sie - sei es nur im Hinblick auf Publikationsmöglichkeiten - abhängig sind. So kann es nicht verwundern, daß Coronel Urtecho für Emiliano Chamorro in den Wahlkampf zieht, daß Manolo Cuadra gar am Krieg gegen Sandino teilnimmt, worüber er in Contra Sandino en la montaña berichtet.

23 Cf. dazu S. Ramírez: El pensamiento vivo de Sandino, La Habana 1980, passim, sowie F. Niess: Das Erbe der Conquista - Geschichte Nicaraguas, Köln 1987, S. 220-269.

24 Cuadra: Torres de Dios, S. 173.25 M. Tirado: Conversando con José Coronel Unecho, Managua 1983, S. 78.

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Aus diesen Erfahrungen ziehen sie Konsequenzen, die auf den ersten Blick gänzlich unverständlich erscheinen mögen, letztlich aber ihr politisch-ideologisches Dilemma dokumentieren. Unter dem Ein­fluß von Cabrales, der sie mit französischem Denken vertraut macht, beginnen sie, sich für die royalistischen Ideen von Charles Maurras und der "Action française" zu interessieren, erkennen freilich die Schwierigkeit, in Nicaragua eine monarchistische Lösung zu finden. Sie nennen sich absichtsvoll "reaccionarios" und publizieren (ab April 1934) ein Journal mit dem programmatischen Titel La Reacción26. Nach dem Vorbild der europäischen Faschisten, insbesondere der spanischen Falangisten, entwickeln sie eine antidemokratische, an­tiparlamentarische und autoritär-totalitäre Konzeption, in der sie die einzige Chance für die Behebung der politischen Misere ihres Landes sehen. Sie propagieren ein "gobierno estable", das den permanenten Kampf um die Macht zwischen Konservativen und Liberalen beenden

97soll, ein "gobierno para el pueblo" . Selbst ihr Bemühen um die Aktualisierung der Volkstraditionen, um Folklore und Kunsthand­werk, erhält nun eine reaktionär-populistische Note ("lo hispano, lo Occidental, lo católico"). Konsequent erscheint es daher, daß sie sich schließlich auf die Seite des Anastasio Somoza schlagen, der in ihren Augen diese Konzeption verkörpert: Als Chef der von den Vereinig­ten Staaten ins Leben gerufenen Nationalgarde verfügt er, nachdem er Sandino ausgeschaltet hat, faktisch über die politische Macht und läßt sich einige Jahre später zum Präsidenten wählen (1936). Ihm gelingt es, sowohl die Liberalen wie auch die Konservativen in sein Kalkül einzubinden. Unter den "vanguardistas" ist ihm wohl Coronel Urtecho am weitesten auf diesem Wege gefolgt. Er wird für mehrere Legislaturperioden Parlamentsabgeordneter und übernimmt zeitwei­se das Amt eines Unterstaatssekretärs für Erziehungsfragen. "Inventé la dictadura y la dinastía", so bekennt er später28. Erst nach einem langen Reflexionsprozeß sagt er sich schließlich vom somozistischen System los und wendet sich in den frühen siebziger Jahren der San- dinistischen Befreiungsfront zu. Deren Mitbegründer Carlos Fonseca macht ihn in einem Gespräch (1969) für den Zustand des Landes mitverantwortlich: "Usted es el mayor culpable, después de Somoza,

26 Cf. Arellano, op.cit., S. 73 f.27 Cf. Tirado, op.cit., S. 122 ff.28 Ibid., S. 129.

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de la desgracia de este país"29. Im Unterschied zu Coronel Urtecho setzt sich P.A. Cuadra in seinen Erinnerungen mit dieser reaktionär­faschistoiden Entwicklungsphase der Vanguardia nicht auseinander. E r betont lediglich ihren patriotischen Geist, die "preocupación sagrada por nuestro pueblo [...] que amorosamente estábamos des­cubriendo", und gesteht allenfalls: "Naturalmente aplicamos a lacrítica social y política el mismo termocauterio usado en literatura, y

r ,„30nos tue mal .

Eine neue Lyrik

Wenngleich die Vanguardia als Gruppe erst später auftritt, so läßt sich der Beginn ihrer Dichtung schon auf den 29. Mai des Jahres 1927 datieren. An diesem Tag erscheint in der Granadiner Tageszeitung El Diario Nicaragüense ein Gedicht, das Konsequenzen zeitigen wird. Es trägt den Titel "Oda a Rubén Darío", sein Verfasser ist der gerade zwanzigjährige José Coronel Urtecho, der einige Jahre zuvor seine Heimatstadt verlassen hat, um im kalifornischen San Francisco Li­teratur zu studieren. Die Leser der Zeitung reagieren mit Befremden und Unverständnis auf dieses Gedicht und es bedarf einiger Klarstel­lungen seitens des Autors und der Redaktion, um die Intentionen des Textes ins rechte Licht zu rücken31. Noch ein gutes halbes Jahr­hundert später gesteht der Verfasser: "Debe haber molestado a muchas personas serias de Granada, lo cual me gustaba mucho" . Demgegenüber unterstreicht P.A. Cuadra die befreiende Wirkung dieses Gedichts auf die jungen Literaten der Stadt. Es habe für die Entstehung einer "poesía nueva" in seinem Lande eine ähnliche Be­deutung gehabt wie Apollinaires Gedicht "Zone" für die Erneuerungder französischen Lyrik: "De sus versos salimos a un mundo nuevo y

33con un ojo nuevo" .Zwei Jahre später (1929) folgt mit dem Gedicht "A Don Rubén

Darío" von Manolo Cuadra ein weiterer Text, der in die gleiche

29 Cf. Tomás Borge: L a paciente impaciencia, Managua 1989, S. 360.30 Cuadra: Torres de D ios, S. 183.31 Cf. Arellano, op.cit., S. 97.32 Tirado, op.cit., S. 51.33 Cuadra: "Relaciones ...", S. 18.

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Richtung zielt. Diese Tendenz setzt sich fort in zahlreichen anderen Gedichten der "vanguardistas", die formal oder inhaltlich auf Werke des großen Modernisten ironisch anspielen. Die Auseinandersetzung mit Rubén Darío scheint die unabdingbare Voraussetzung für einen Innovationsschub in der nicaraguanischen Dichtung gewesen zu sein. Sie läßt sich gewiß als eine Distanzierung vom "rubendarismo" be­schreiben, d.h. als eine Absetzbewegung von der epigonalen Lyrik seiner Imitatoren - wie etwa Santiago Argüello und Manuel Mal- donado - , doch läßt sie sich auf diesen Aspekt nicht reduzieren34.

Bedeutsamer erscheinen zwei andere Seiten der Auseinanderset­zung mit dem "caudillo poético", wie Coronel Urtecho Rubén Darío nennt . Zum einen geht es um die Art und Weise, wie sein Werk und seine Person von den herrschenden gesellschaftlichen Kreisen be­nutzt und "instrumentalisiert" werden, zum anderen aber auch um gewisse Tendenzen innerhalb seiner poetischen Konzeption, die die "vanguardistas" infragesteilen zu müssen glauben. Schon die Wahl der Gattungsform bei Coronel Urtecho (aber letztlich auch bei Manolo Cuadra) ist paradigmatischen Charakters. Die Ode gilt in der li­terarischen Tradition als eines der erhabensten lyrischen Genres und zugleich als eines der öffentlichsten. In der Form der direkten Anrede drückt sie Bewunderung und Verehrung für eine gesellschaftlich und gleichzeitig moralisch hochstehende Persönlichkeit aus. Dabei soll es sich nicht nur um ein subjektives Gefühl des Autors (resp. des lyri­schen Ich), sondern vor allem um ein kollektives Anliegen handeln. Diese Tradition wird von Coronel Urtecho (und ebenso von M. Cuadra) kritisch-innovativ angeeignet: Auf der einen Seite ist die Bewunderung des jungen Autors für das große Vorbild ("maestro") unverkennbar, auf der anderen Seite tritt seine ikonoklastische Ab­sicht zutage, in der sich Ironie und Melancholie miteinander verbin­den. Schon die ersten Verse des Gedichts machen diese wider­sprüchliche Haltung deutlich:

34 Wie dies Arellano zu tun versucht. Cf. id., op.cit., S. 69 f.35 Tirado, op.cit., S. 91.

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Burlé tu león de cemento al cabo,Tú sabes que mi llanto fue de lagrimas, y no de perlas. Te amo.Soy el asesino de tus retratos.36

Der Beginn des Textes spielt auf die Art und Weise an, wie die Person Darios in Nicaragua "benutzt" worden ist. Sein Grab befindet sich zu Füßen der Statuen der Zwölf Apostel, genauer zu Füßen der Statue des Apostels Paulus, in der Kathedrale von León. Das Grab­mal wird "gekrönt" von einem Löwen aus Zement: Ein Ensemble von unüberbietbarem Pomp und Kitsch. Die Inbesitznahme des ersten weltweit anerkannten Schriftstellers Nicaraguas durch die herrschen­den Kreise des Landes findet hier ihren Höhepunkt. Um zu verstehen, worum es Coronel Urtecho geht, ist es notwendig, an einige Fakten zu erinnern. Dario verließ Mitte der achtziger Jahre seine Heimat aufgrund der Erkenntnis, daß es in Nicaragua keine Kultur gebe, d.h. keine Strukturen einer funktionierenden literarischen Öffentlich­keit37. Stationen seiner Karriere als Schriftsteller waren Chile, Argen­tinien, Spanien und Frankreich. Als er schließlich im Jahre 1907 in sein Land zurückkehrte, bereitete man ihm einen triumphalen Emp­fang. Im Hafen von Corinto begrüßte ihn ein eigens zu diesem Zweck gegründetes Komitee, dessen Sprecher sich mit folgenden Worten an ihn wandte: "Querido poeta: venimos en representación de la intelec­tualidad nicaragüense, a daros la bienvenida en el momento dichoso para vuestra patria en que volvéis a ella coronado de laureles"38. Eine begeisterte Menschenmenge bejubelt auf allen Bahnhöfen den Son­derzug, der ihn nach León bringt. Dort richtet der Dichter Santiago Argüello einige Verse an den "maestro":

El señor de la victoria por fin a su patria llega más tarde dirá la historia que dejó a su patria ciega con el fulgor de su gloria.

Darío geht auf dieses Spiel ein und antwortet gleichfalls in Versen:

36 Der Text ist abgedruckt in C. Rincón/G. Schattenberg-Rincón (Hrsg.): Moderne Lyrik aus Nikaragua, spanisch und deutsch, Leipzig 1981, S. 38^14.

37 Cf. R. Darío: Autobiografías, Buenos Aires 1976, S. 165.38 Cf. E. Torres: L a dramática vida de Rubén Darío, Managua 1982, S. 286.

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Ninguna frase mejor que la que ahora interpreta él que es su mejor poeta^ lleno de gloria y honor.

Zu einer ähnlichen Apotheose des Dichters geraten auch die Begräbniszeremonien nach seinem Tode im Februar 1916, die mit der Grablegung in der Kathedrale von León enden. Was die jungen Granadiner Autoren wie Coronel Urtecho kritisieren, ist die Tat­sache, daß diese Glorifizierung Darios ohne positive Folgen für die Entwicklung einer literarischen Öffentlichkeit geblieben ist. Der Kult um seine Persönlichkeit kann sie nicht darüber hinwegtäuschen, daß auch die nachfolgende Dichtergeneration - zu nennen sind vor allem Azarias Pallais (1885-1954), Salomón de la Selva (1893-1958) und Alfonso Cortés (1893-1969) - entweder wie Dario ihre Heimat ver­lassen mußten, um sich durchzusetzen, oder aber in ein selbstzer­störerisches inneres Exil getrieben wurden. Die "vanguardistas" wer­fen Dario vor, er habe durch sein Verhalten dem Fortbestand dieser Verhältnisse Vorschub geleistet. In diesem Sinne ist die Zeile in Coronel Urtechos Ode zu verstehen: "Soy el asesino de tus retratos": Zu zerstören sind die "Bilder", die man im Lande vom "maestro" gemacht hat, zu zerstören sind aber auch die "Bilder", die er von sich machen ließ.

U nter diesen Voraussetzungen deuten sie seinen Kosmopolitis­mus als eine Flucht aus den konkreten Existenzbedingungen Ni­caraguas: "¿Por qué has huido, maestro?" heißt es bei Coronel U r­techo. "Libertador te llamaría,/si esto no fuera una insolencia/contra tus manos provenzales." Im Gedicht "A Don Rubén Darío" von Ma­nolo Cuadra findet sich Entsprechendes, der Vorwurf nämlich, er habe nur "frutos ajenos" hervorgebracht:

A sí entiendo.cuando en tierras del Cid te preguntaron:- Nicaragua?Y tú:- N o la conozco!Luego, el Támesis, el Ganges,Eulalia y Clitemnestra

40para olvidar el caso.

39 Ibid., S. 287.40 Der Text ist abgedruckt in E. Cardenal (Hrsg.): Poesía nueva de Nicaragua, Buenos

Aires 1974, S. 77-80.

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Wie Dario vor diesem Hintergrund auch sein Verhältnis zu Nicaragua kosmopolitisch poetisiert, illustriert sein Gedicht "Retorno", entstan­den 1907 aus Anlaß der Rückkehr in die Heimat41. Das Bemühen, sein persönliches Schicksal in das Gewand antiker Mythologie - insbesondere der Ilias und der Odyssee - zu kleiden, ist ein ambivalen­tes Unterfangen: Einerseits erfährt das kleine Vaterland auf diese Weise eine symbolische Aufwertung ("Si pequeña es la patria, uno grande la sueña"), andererseits verschwimmt das autochthone und spezifisch nationale Element (einschließlich der indigenen und me- stizischen Ursprünge) in der vermeintlich zeitlos gültigen Univer­salität humanistischer Bildungstradition. Die "vanguardistas" erken­nen Darios Leistung insofern an, als sie ihm zugestehen, er habe bewiesen, daß auch ein Nicaraguaner im vollen Sinne Dichter sein könne und universale Bedeutung zu erlangen vermöge. Die neue Generation jedoch müsse sich die Aufgabe stellen, "a buscar la realidad nicaragüense". Nach P.A. Cuadra lautet der zentrale Lehr­satz ihrer Poetik: "Lo original era lo originario"42.

Gleichzeitig - und dies zeigen auch die Gedichte "Oda a Rubén Darío" und "A Don Rubén Darío" - wenden sich die "vanguardistas" gegen die Konzeption des "maestro" von poetischer Schönheit. Sie repräsentiert in ihren Augen noch gleichsam "lo bello renacentista" (P.A. Cuadra), d.h. eine Konzeption, die in platonisch-idealistischer Tradition sowohl die subjektive Erfahrung wie auch die äußere Rea­lität durch Sublimierung in ein lebensfernes Konstrukt verwandelt. In diesem Sinne spricht die "Oda a Rubén Darío" von "tus sabrosas frutas de cera" oder sie resümiert: "Rubén fue un mármol/griego." In diese Richtung zielen auch schon der zweite und dritte Vers des Gedichts (s.o.). Der Angriff der "vanguardistas" gilt damit auch der Konzeption des "artepurismo", die sich Dario in den achtziger und neunziger Jahren zu eigen machte nach dem Vorbild der Parnassiens, denen die Skulptur als die höchste Form künstlerischen Ausdrucks (und damit auch der Schönheit) erschien. Was die jungen Autoren fordern, ist nichts anderes als die Integration der Literatur in die individuelle und

41 Der Text ist abgedruckt in Daño: Poesías completas, Madrid 1967, S. 782-784.42 Tirado, op.cit., S. 55.

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soziale Lebenspraxis43, und mit dieser Forderung stehen sie den europäischen Avantgarde-Bewegungen sehr nahe.

Hieraus ergeben sich weitere Konsequenzen für ihre schriftstel­lerische Praxis. Sie benutzen zwar traditionelle lyrische Gattungsfor­men - wie Ode, Elegie, Stanze, Sonett, Romanze - doch zumeist in ironisch-ikonoklastischer Verfremdung. Ähnliches gilt für themati­sche Elemente, so etwa das Schwanenmotiv, das O. Rocha gleichsam parodistisch entzaubert, indem er es historisch-gesellschaftlich re­lativiert ("El cisne aristocrático", "El cisne burgués", "El cisne romántico" etc.) oder das Parzenmotiv, das Coronel Urtecho in die banale Alltagswelt einer Provinzstadt "überträgt" ("Los Parques"). Die Chinfonía burguesa von J. Pasos und Coronel Urtecho markiert eine weitere Etappe auf dem Weg zu einer eigenständig-kreativen Dichtung: Dominiert hier einerseits die antibourgeoise Attitüde, so werden andererseits schon sprachliche und metrische Elemente aus der Volkspoesie aufgenommen44.

An subjektivistischer Lyrik haben die "vanguardistas" kaum Inter­esse. W erden individuelle Stimmungen ausgedrückt, so geschieht dies entweder in Gestalt ironischer Verfremdung ("Yo soy triste como un policía") oder aber es handelt sich um Trauer angesichts der ver­zweifelten Lage des Landes in der Zeit des Bürgerkriegs und der ausländischen Intervention. Aus ähnlichen Gründen kann auch der französische Surrealismus in ihren Augen kaum ein Modell für poeti­sche Innovationen abgeben: Die Befreiung des Unbewußten, die "Entfesselung" des psychischen Automatismus steht nicht auf ihrem Programm. Zum Vorbild wird ihnen eher die nordamerikanische New Poetry mit ihrem "modo directo de tomar la realidad"45. "Queríamos", so Coronel Urtecho, "llamar a las cosas por su nombre, al pan, pan y al vino, vino y no caer tampoco en el uso de un lenguaje que se suponía hablaban los campesinos o los indios nuestros" . Es geht also nicht um einen vorschnellen ästhetischen Populismus, gleichwohl soll die poetische Sprache sich mit der Alltagssprache

43 Zur Korrektur der "vanguardistas" muß hier angemerkt werden, daß diesen V er­such auch Dario schon unternahm, spätestens mit seinem Werk Cantos de v iday esperanza (1905).

44 D ie Chinfonía burguesea existiert in zwei Formen: als Ensemble von lyrischen Texten und als Theaterstück. ("Opera bufa").

45 Tirado, op.cit., S. 76.46 Ibid, S. 87.

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verbinden ("el lenguaje de la calle, del pueblo, mas o menos coloquial, conversacional"4^)- Im Gedicht "Ars poética" von P.A. Cuadra heißt es entsprechend:

Volver es necesariodonde cantó sus versos el pueblo poblador,hablar para cualquieracon el tono ordinario

i 48que se usa en el amor.

Auch geht es nicht um einen photographischen Objektivismus,vielmehr soll die Wirklichkeit durchaus poetisch transformiert wer-

49den zu einer "realidad cargada de sueños y poesía .Zu diesem Zwecke verwenden sie Stilmittel, die auch aus der

europäischen Avantgarde-Lyrik bekannt sind: die Simultaneität, die Vielstimmigkeit, die Montage, die syntaktische Reihung, sowie eine neue typographische Disposition bis hin zur "Kalligrammie".

Doch entscheidend ist in ihren Augen, daß der Blick geöffnet wird für die zeitgenössische und historische Wirklichkeit ihres Landes, und das heißt zuallererst für die Situation Nicaraguas in einer Epoche des Bürgerkriegs und der nordamerikanischen Intervention. So entsteht - zumindest in Ansätzen - eine neue Form von Widerstandsdichtung. Von exemplarischem Charakter sind hier die folgenden Gedichte: "Desocupación pronta, si es necesario violenta" von J. Pasos, "Poema del momento extranjero en la selva" von P.A. Cuadra und "Sólo en la compañía" von Manolo Cuadra. Am direktesten drückt das erst­genannte die patriotische Stimmung gegen die Nordamerikaner aus:

Yankees, váyanse, váyanse, váyanse, yankees.Váyanse, váyanse, váyanse, váyanse, váyanse, yankees.Ésta es tierra con perfume sólo para nosotros.

Typisch für Pasos wie für die anderen Autoren erscheint dabei, daß die Identifikation mit dem eigenen Volk sich über die Landschaft, über die Natur vollzieht, eine noch weitgehend "freie", "nicht unter­

47 Ibid., S. 47.48 Zitiert nach Cuadra: Torres de D ios, S. 164.49 Tirado, op.cit., S. 76.50 Der Text ist abgedruckt in Cardenal (Hrsg.), op.cit., S. 109.

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worfene" Natur, in der - wie vor allem das Gedicht von P.A. Cuadra illustriert - die Eindringlinge zu Gefangenen werden:

500 norteamericanos van huyendo, maláricosrastros perdidos de pantano en pantano delirantes [...]En el corazón de nuestras montañas [...]sus blancos huesos delicadamente pulidos por las hormigas.51

Die Fremdheit dieser - gleichsam "nationalen" und "patriotischen" Natur wird poetisch auch dadurch akzentuiert, daß jede Metapho- risierung vermieden wird, die ihre Sublimierung und vor allem ihre Subsumierung unter die klassisch-abendländische Tradition erlauben könnte; stattdessen benutzt man eine Fülle einheimischer Namen für Pflanzen und Tiere, die nur dem Nicaraguaner vertraut sind. In diesen Gedichten ist die tropische Natur eines der wichtigsten "Vehikel" nationaler Identität, die auch dem Autor ein neues Selbstbewußtsein schenkt: "Allí, anterior a mi canto/anterior a mí mismo invento [...]52.

Es mag so aussehen, als könne auf dieser Basis eine neue politische Nationaldichtung, vielleicht gar eine neue Art von Nationalepos ent­stehen. Doch wie schwierig diese Intention zu realisieren ist, zeigt schon das Gedicht "Sólo en la compañía" von M. Cuadra. Der Autor ist gegen Sandino und seine Guerrilleros in den Krieg gezogen, wird sich jedoch gerade in diesem Kampf des tragischen Konflikts bewußt, der sein Land zerreißt, und vor allem der Situation der Indios, die zu Fremden im eigenen Lande geworden sind:

Hoy por hoy voy de caza contra el indio furtivo, extranjero en sus propias selvas americanas [...]yo, Manolo Cuadra, indio hijo de indios,de pies electrizados por un amor de gleba y ojos en los que asoma el orto de un sol nuevo, repito que ibasólo.53

51 Ibid., S. 85-87.52 Ibid., S. 85.53 D er Text ist abgedruckt in F. de A sis Fernández (Hrsg.): Poesía política

nicaragüense, Managua 1986, S. 47 f.

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Aus diesen Widersprüchen kommen die "vanguardistas" nicht heraus, die neu entdeckten Spuren einer nationalen Identität ver­mögen sie nicht zu einer kohärenten Konzeption zusammenzufügen, einer gleichzeitig poetischen und politischen "visión". Die einzelnen innovativen, nach vorne weisenden Elemente ihrer Poetik treten gleichsam auseinander und entwickeln sich in unterschiedliche Rich­tungen: Das indigenistische Element erscheint in zahlreichen Gedich­ten von J. Pasos (zusammengefaßt in dem Band El Misterio indio) mit einer deutlichen Tendenz zum apolitischen Folklorismus oder allen­falls zum sozialrom antischen Miserabilismus; präkolumbische, christlich-katholische und patriotische Züge tragen - freilich ihrer­seits voneinander isoliert — manche Gedichte von P.A. Cuadra; Aspekte der nicaraguanischen Landschaft und Natur tauchen in vielen Texten von Manolo Cuadra und J. Pasos auf; aus der ursprüng­lichen Konzeption der "vanguardistas" leitet Coronel Urtecho einen Stil ab, den er später "exteriorismo" nennt und vor allem auf private Sujets anwendet ("Pequeña biografía de mi mujer"), bis er sich in den achtziger Jahren einer neuen Form politisch-epischer Dichtung zu­kehrt ("Conversación con Carlos")54.

Innovationen in der Erzählliteratur

Die innovativen Leistungen der Vanguardia-Lyrik sind - trotz aller inneren Widersprüche - unbestritten. Schwieriger ist ihre Be­deutung für die Erneuerung der Prosa, insbesondere der Narrativik zu beurteilen. In der Tradition der "modernistas" privilegieren sie geradezu selbstverständlich die Lyrik, mögen sie sich ansonsten auch in mancherlei Hinsicht von Dario distanzieren. Dies dürfte damit zu tun haben, daß der Roman zu diesem Zeitpunkt in Nicaragua eine nahezu "unterentwickelte" Gattung ist. Die narrative Großform setzt Strukturen der literarischen Öffentlichkeit voraus, die in dem kleinen Land noch nicht vorhanden sind, insbesondere ein "aufgeklärtes", "kulturräsonierendes" Lesepublikum, d.h. genau jene soziale Trä­gerschicht, die im 19. Jahrhundert den Aufstieg des Romans in Euro­pa ermöglichte. Das Fehlen der Narrativik macht sich in mancherlei

54 Cf. Nicaráuac, No 13 (diciembre 1986): 69-77.

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Hinsicht als Mangel bemerkbar. So schreibt Sergio Ramírez, einer der Initiatoren des "neuen" Romans in Nicaragua seit den siebziger Jahren:

Pero donde las deficiencias y vacíos de la narrativa nicaragüense se hacen mas patentes, es en lo que pudiéramos llamar una narrativa social; la obscura y doliente realidad de Nicaragua es, en este sentido, una realidad sin testigos55.

Auch die "vanguardistas" unternehmen keinen Versuch, dem Ro­man in ihrem Lande den Boden zu bereiten. Allerdings gehen narra­tive Elemente in ihre Lyrik ein - in viel größerem Maße als dies in den europäischen Avantgarde-Bewegungen der Fall ist. Aber darüber hinaus tun sie wichtige Schritte in Richtung einer neuen Erzählprosa. Monolo Cuadras autobiographische Berichte Contra Sandino en la montaña (ersch. 1945) und Itinerario de Little Com Island (1936) initiieren in Nicaragua die Gattung des "testimonio", der "literatura testimonial", in der sich die subjektive Erfahrung - der Tradition der Autobiographie entsprechend - mit der nüchternen und gleichsam objektiv registrierenden Haltung der Reportage verbindet. Ihm gebühre, so L. Chävez Alfaro, der Titel des "primer narrador nicaragüense", da er derjenige gewesen sei, "que había superado las estrecheas del costumbrismo y la evasión de la realidad nacional por las vías de lo vernáculo-pintoresco o de la franca extranjería te­mática"56.

Das Verdienst, eine gesellschaftskritische Narrativik geschaffen zu haben, kommt jedoch vor allem Coronel Urtecho zu. Für die von ihm geschaffene Gattungsform führt er die Bezeichnung "noveleta" ein. Die wichtigsten Werke dieses Typs sind Narciso und La muerte del hombre-símbolo (beide 1938). Sie beleuchten und demaskieren jeweils unterschiedliche Aspekte der nicaraguanischen Realität aus der kritischen Perspektive der Vanguardia-Generation.

Narciso ist die Geschichte eines Ästheten, von ihm selbst in Tage­buchform erzählt. Gleichsam ein später Wahlverwandter von Huys- mans’ Des Esseintes - er selbst rechnet sich dem "movimiento neo- romántico" zu - fühlt er sich in der als vulgär empfundenen A t­mosphäre der nicaraguanischen Hauptstadt wie im Exil: "En Ma-

55 Cf. Ramírez (Hrsg.): Cuento nicaragüense, Managua 1981, S. 13.56 Cf. L. Chávez Alfaro: "Perfil de nuestro primer narrador", en Manolo Cuadra: Sólo

en la compañía, Managua 1982, S. 15.

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nagua - pequeño campamento de proletarios y mercaderes - se desconoce el arte, el idealismo, el savoir vivre."57 Auf seinem Landsitz, den er "Castalia" nennt, hat er sich, seinen französischen Vorbildern folgend, eine ästhetische Ersatzwelt geschaffen. Sein ganzes Leben möchte er wie ein Kunstwerk gestalten: "Trato de ejecutarme a mí mismo como una fuga de Bach"58. Den Kontakt zur Umwelt, die Beziehung zu anderen Menschen empfindet er als deformierend für einen "hombre de sensibilidad refinada". Nun stößt er auf eine Frau, die seinem ästhetischen Ideal zu entsprechen scheint. Ihren Namen - Clara Fonte - ändert er zu Fonte-Clara: Sie ist jenes Wesen, das ihm -w ie einst die Quelle dem Narziß - das eigene Bild, in das er verliebt ist, zurückwerfen soll. Nicht der Person der Frau gilt seine Zuneigung, sondern der Idee der "femenidad", die sie verkörpert. Doch da die Frau dem "momento burgués", d.h. der Aussicht auf Eheschließung ("vulgaridad y rutina") nicht zu widerstehen vermag, verliert er sie schließlich an einen ganz normalen Menschen ("hombre corpulento, redondo, y rubicondo").

Narciso ist die Diagnose der Existenz "aus zweiter Hand". Demas­kiert wird die Illusion, gerade die Nachahmung importierter Verhal­tensmuster sei das Originelle. Die Erzählung dokumentiert somit auf ihre Weise das Bemühen der Vanguardia-Generation um eine "au­thentische" Kultur, die den Bedürfnissen der eigenen historischen Situation entspricht. Auf den ersten Blick rein privaten Charakters, enthüllt die "Fabel" gleichwohl die gesellschaftlichen Bedingungen individueller Lebensentwürfe.

Unmittelbar auf die politischen Herrschaftsverhältnisse zielt die zweite "noveleta", La muerte del hombre-símbolo59. Auch sie ist in der ersten Person verfaßt. Der Ich-Erzähler hat die Geschichte seines "padrino" aufgezeichnet, der ihm kurz vor seinem Tode die Wahrheit über sein Leben "gebeichtet" und ihn gleichzeitig gebeten hat, dieses Geständnis erst zwei Wochen nach seinem Tode zu veröffentlichen.

Der Patenonkel war eine der bedeutendsten Persönlichkeiten des gesellschaftlichen Lebens. Als Begründer des "Partido Moderado" war er die anerkannte Führergestalt der "gente honrada", gleichsam ein Garant der öffentlichen Moral und der bestehenden Verhältnisse.

57 Cf. Coronel Urtecho: Prosa reunida, Managua 1985, S. 22.58 Ibid., S. 23.59 Der Text ist abgedruckt in Coronel Urtecho, op.cit., S. 45-74.

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Nun gesteht er dem jungen Mann, daß er an nichts von all dem glaube, was er sein Leben lang vertreten habe: nicht an die Partei, nicht an die Demokratie ("porque es la peor de las opresiones: la opresión de la masas ignorantes"), nicht an seine Kampagnen für die öffentliche Moral. Nur an das Leben glaube er, und wenn er die Möglichkeit hätte, noch einmal von vorn zu beginnen, dann möchte er leben wie der junge Mann, ohne Lüge und falsche Moral.

Sein Begräbnis ist das größte, das je im Lande stattgefunden hat, und in Anbetracht seiner Verdienste erhebt man ihn zum "Hombre- símbolo". Als der junge Mann zwei Wochen später die Wahrheit enthüllt, kommt es zum Skandal. Doch nicht sein "padrino" gerät ins Visier, sondern er selbst - wegen Verunglimpfung des Toten. In Haft genommen und die Verurteilung vor Augen widerruft er eingedenk der Mahnung seines "padrino", sich nicht zum Märtyrer machen zu lassen. Zum eigenen Schutz begibt er sich ins Ausland, um dort seine Geschichte aufzuschreiben.

Beide "noveletas" sind Dokumente des Scheiterns, Diagnosen verfehlter Identitätssuche. Weder der in sich selbst eingeschlossene narzißtische Ästhet noch der in seiner gesellschaftlichen Rolle gefan­gene Politiker findet "zu sich selbst". Die Ich-Erzählung erweist sich als eine diesem Befund angemessene Ausdrucksform: Sie legt ein Geständnis des Scheiterns ab, hebt diese Erfahrung zugleich ins kollektive Bewußtsein und hält somit die zukünftige Möglichkeit einer Überwindung der aufgezeigten Konflikte offen.

Schlußbemerkung

Will man die historische Bedeutung der nicaraguanischen Van­guardia angemessen würdigen, so kann dies nicht primär aus der Perspektive der europäischen Avantgarde-Bewegungen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts geschehen. Gemessen an deren ästheti­schen "Revolutionen" mögen sich die Innovationen der "vanguardis­tas" eher bescheiden ausnehmen. Im Rahmen des Prozesses einer Ausbildung nationaler kultureller Identität markieren sie jedoch, wie gezeigt werden sollte, eine wichtige Entwicklungsstufe - trotz aller inneren Widersprüche, denen sie nicht zu entgehen vermochten. Im Unterschied zum Modernisten Dario wurde ihnen nur wenig interna­tionale Anerkennung zuteil, was sich ohne Zweifel nicht auf ihre

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mangelnde literarische Kompetenz zurückführen läßt, sondern auf ihre bewußt getroffene Entscheidung, sich primär die poetische An­eignung der nationalen Realität - in Geschichte und Gegenwart - zum Ziele zu setzen. Auf ihren Neuerungen aufbauend und von ihren Erfahrungen lernend, wird die nachfolgende "generación del 40" - insbesondere ihr wichtigster Repräsentant, Ernesto Cardenal - den Versuch unternehmen, die Aspekte nationaler Identität wieder in eine umfassende Konzeption lateinamerikanischer und universaler Kulturidentität zu integrieren.

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RESUMEN

La autollamada Vanguardia nicaragüense se inscribe dentro del marco de las "revoluciones" literarias iniciadas tanto en Europa como en America desde los comienzos del siglo veinte. Sin embargo tiene rasgos específicos e intenciones particulares. Los jóvenes autores "vanguardistas" se proponen fomentar un renacimiento de las artes y las letras nacionales basado en la historia del país y sus tradiciones populares. Surgidos algún tiempo después de todas las corrientes de vanguardia fuera de Nicaragua, efectúan una sintesis original asimilando las inovaciones "técnicas" realizadas por las más avan­zadas poéticas europeas (francesas) y norteamericanas, y rechazando al mismo tiempo el cultivo epigónico del modernismo rubendariano. Profundam ente nacionalistas y embebidos de un espíritu anti­burgués, simpatizan con la lucha anti-intervencionista y patriótica de Sandino antes de hacer un viraje ideológico hacia la extrema derecha anti-parlamentaria y fascista. Desde una perspectiva histórica, la originalidad del movimiento de vanguardia nicaragüense no reside en su pensamiento político ni en sus influencias, sino en sus creaciones literarias, tanto h'ricas como narrativas.