kahl_sinn

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  • 7/26/2019 kahl_sinn

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    Aufklrung und Kritik 1/2001 63

    Dr. Dr. Joachim Kahl (Marburg)

    Die Frage nach dem Sinn des LebensEine philosophische Antwort

    aus der Sicht eines weltlichen Humanismus

    1. Die Dringlichkeit der Frage2. Der Sinn des Sinnbegriffs3. Das menschliche Leben eine wechsel-volle Mischung aus Sinn und Unsinn

    1. Die Dringlichkeit der Frage

    Die Frage nach dem Sinn des Lebens ge-hrt zu den ltesten und dringlichsten Fra-

    gen von Menschen. Seit jeher bemhensich Mythen, Religionen, Philosophien umAntworten darauf.Existentiell stellt sich fr jeden einzelnendie Frage nach dem Sinn des je eigenenLebens. Allgemein stellt sich die Fragenach dem Sinn des menschlichen Lebensim Verbund mit verwandten weltanschau-lichen Fragen nach dem Sinn des Todes,

    dem Sinn der Natur, dem Sinn der Ge-schichte, dem Sinn der Welt.Die Sinnfrage kann verschiedene Gestal-ten annehmen. Oft muss sie unter Verklei-dungen aufgesprt werden. In frherenJahrhunderten wurde sie gerne abgehan-delt als Frage nach der Bestimmung derMenschen und nach dem hchsten Gut.Heute im Zeitalter des gesellschaftlichen

    Individualisierungsschubs wird die Fra-ge besonders hufig und besonders direktgestellt. Mgen manche Intellektuelle dieSinnsuche auch als pubertre Grbelsuchtbesptteln, ich nehme sie ernst als legiti-me Frage nach dem eigenen Wozu undWarum, nach dem Woraufhin undWorumwillen des eigenen Tuns und Las-sens.Der Weg zu Selbstverwirklichung undSelbstbestimmung fhrt notwendig ber

    Selbstbefragung und Selbstbesinnung.Eng verwoben mit der existentiellen Sinn-frage ist die Identittsfrage: Wer bin ich?Was bewegt mich? Lohnt sich mein Le-ben? Ist es in sich stimmig, erfllt?Die Frage nach dem Sinn des Lebens be-zieht sich auf eine allgemeinmenschlicheProblematik, die sich bei einiger Nach-

    denklichkeit aufdrngt relativ unabhn-gig vom sozialen Status, relativ unabhn-gig von der Hhe des Einkommens, rela-tiv unabhngig vom Bildungsgrad frei-lich in enger Tuchfhlung mit den geisti-gen Entwicklungen als Persnlichkeit, mitcharakterlichen Reifungsvorgngen. DaSinn und Sinne zusammengehren, ist dieFrage unvermeidlich stark emotional ge-

    tnt.In der Sinnfrage steckt untergrndig einSinnwille, mindestens ein Sinnwunsch:ach, wre doch mein banales, begrenztesLeben sinnvoll, getragen von einer geisti-gen Sinn-Mitte, gebndelt in einer ideel-len Langzeitperspektive, so dass alle ein-zelnen Vorgnge und Entscheidungen dar-aus ihre Bedeutung und Rechtfertigung

    empfingen, ihre innere Kohrenz bezgen.Ach, wre doch mein Leben insgesamtbejahenswert! Je reifer die Persnlichkeitdesto hher der Sinnanspruch an die ei-gene Existenz.Es gibt zwei Anstze zum Nachdenkenber den Lebenssinn. Zwei eher gegen-stzliche Impulse regen die Sinnfrage an: Krisensituationen und besonders gesttigt erscheinende Daseinslagen.

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    Lebenskrisen knnen sich zu Sinnkrisenvertiefen, radikalisieren. Erfahrungen ei-genen und fremden Scheiterns, Verlustevon nahestehenden Menschen, Abschie-de, Trennungen, Brche und Umbrche,

    Niederlagen beruflicher, persnlicher undpolitischer Art, Leid und Langeweile, To-desgefahr dies alles kann die Frage pro-vozieren: Wozu das Ganze? Karl Jaspershat fr solche Lebenslagen, in denen wiruns unserer Grenzen bewusst werden, dieschne Bezeichnung Grenzsituationengeprgt. Sie inspirieren die Sinnfrage, dasPhilosophieren schlechthin.

    Aber auch gegenteilige Erfahrungen kn-nen die Sinnfrage ins Schwingen bringen.Lebenslagen, in denen die Grundbedrf-nisse gesttigt sind, in denen die elemen-tare Daseinsvorsorge geregelt ist, ja Ver-hltnisse, in denen berfluss herrscht,provozieren die berlegung: Soll dies dasganze Leben sein?Gibt es nicht noch geistige Werte, eine

    ideelle Dimension des menschlichen Da-seins? In der Tat!In der Sinnfrage artikuliert sich ein spiri-tuelles Bedrfnis, d.h. ein geistiges, ge-mthaft vertieftes Verlangen, das Verstandund Gefhl umgreift. Spirituelle Bedrf-nisse treten in religiser und nicht-religi-ser Gestalt auf und knnen religis odernicht-religis befriedigt werden. Ich ent-wickle hier eine nicht-religise, weltlich-humanistische Antwort auf die Sinnfra-ge.Der Sinn des Lebens verwirklicht sichnicht in Gedanken und Wnschen berden Sinn des Lebens, sondern im Lebens-vollzug selbst als dessen spirituelle Dimen-sion, die alle Lebensuerungen durch-

    zieht. Der Sinn des Lebens ist die innereArchitektur des Lebens, nicht sichtbar,aber sprbar.

    Wir Menschen sind sinnbedrftige undsinnfhige Lebewesen. Allerdings ent-spricht unserer Sinnbedrftigkeit undSinnfhigkeit keine Sinngarantie. Wirknnen den Sinn unseres Lebens sehr

    wohl verfehlen, verpassen und verpatzen.Das menschliche Dasein enthlt ein Sinn-potential ebenso wie ein Potential an Un-sinn, Widersinn, Sinnlosigkeit.Jeder Sinn ist zerbrechlich und gefhrdet.Im wirklichen Leben mischt sich beides:Sinnvolles und Sinnloses. Von daher istes klug, Sinnerwartungen mavoll zu hal-ten und mit sinnwidrigen Ereignissen al-

    ler Art zu rechnen. Der Fragment- undEpisodencharakter des menschlichen Da-seins ist auch hier allgegenwrtig.Sinn und Unsinn ereignen sich nur imReich der Menschen, nicht im Reich derNatur. Die Sinnproblematik ist eine spe-zifisch menschliche Problematik.Die Natur als Ganze ist sinnleer, sinn-indifferent, freilich nicht sinnlos im Sin-

    ne von sinnwidrig. Ein Tier sucht, weildurchgngig instinkgesteuert, keinen Sinnin seinem Leben. Die Sinnproblematiktaucht erst auf einer bestimmten Evolu-tionshhe auf. Erst wenn ein nach-denk-liches Wesen entstanden ist, das die eige-ne Lebensweise anhand selbstformulierterLeitbilder und Mastbe bewerten kann,bildet sich die Sinnproblematik heraus als charakteristischer Ausdruck mensch-licher Freiheit und Orientierungsbedrf-tigkeit.Wie immer sich ein Maulwurf und einLwe verhalten mgen, sie bleiben, wassie von Natur aus sind, ein Maulwurf undein Lwe. Ein Mensch dagegen kann ent-arten zum Un-menschen. Deshalb ist klug

    zu unterscheiden zwischen Tat und Un-tat, Geist und Un-geist, Vernunft und Un-vernunft, Sinn und Un-sinn.

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    Sinn ist an ideelle Normen gebunden: sosoll es sein. Das heit: Sinn ist an Freiheitund Bewusstheit gebunden. Ein Erdbeben,ein Vulkanausbruch, eine Sonnenfinster-nis haben keinen Sinn, sondern eine na-

    trliche Funktion, exakt erklrbar in ei-nem greren Zusammenhang.Naturvorgnge sind sinnleer, stehen jen-seits von Sinn und Sinnlosigkeit. Sie ent-ziehen sich der Sinngebung, weil ihnender geistige Sinnhorizont fehlt, der erst mitdem Menschen in die Welt gekommen ist.Ein Erdbeben in sich sinnleer kannallerdings den Lebenssinn vieler Men-

    schen vernichten, die seine Opfer werden.Die Natur dafr anzuklagen, wre sinn-los und vernunftlos. Zeigt das Erdbebendoch nur, dass die Natur nicht um unse-retwillen existiert, nicht fr uns gemachtist. Allein der vom Menschen bewohnteund verantwortete winzige Weltausschnittist sinnoffen. In einer sinnleeren Natur, diean Wohl und Wehe ihrer Geschpfe kei-

    nen Anteil nimmt, kann es menschen-freundliche Sinninseln geben.Lebenskunst heit: ohne berschwng-liche Sinnerwartungen, die sich auf einenletzten Gesamtsinn der Welt bezgen,auskommen und Sinnstiftung als lebens-lange Aufgabe begreifen.Lebenskunst heit: mglichst intelligentund konstruktiv umgehen lernen mit alldem Sinnleeren und Sinnlosen, das unsdabei unvermeidlich begegnet.Aufgabe der Philosophie ist es, den allge-meinen Sinnhorizont der menschlichenExistenz aufzuzeigen. Aufgabe des ein-zelnen Menschen ist es, den Sinn des jeeigenen Lebens zu finden, zu formulie-ren, zu verwirklichen. Dem allgemeinen

    Sinnhorizont entspricht ein Mglichkeits-feld, eine Bandbreite von Optionen. Derindividuellen Sinnstiftung entspricht es,

    daraus diese oder jene Variante zu ergrei-fen und gem den Mglichkeiten zuverwirklichen.Individuelle Sinnstiftung gehrt zu jenenelementaren Funktionen des Krpers und

    Geistes, die nicht delegierbar sind. Wennich hungrig und durstig bin, muss ich sel-ber essen und trinken, obwohl andere dieLebensmittel eingekauft haben mgen.Wenn ich Zahnschmerzen habe, muss ichmich selber zum Zahnarzt begeben, wo-bei andere mir den Zahnarzt empfohlenhaben und mich dorthin begleiten knnen.So auch bei der Sinnfrage: ich selbst muss

    sinnvoll leben, kann mich aber dabei aufSinnangebote und Sinnentwrfe anderersttzen und sie mir anverwandeln.

    2. Der Sinn des Sinnbegriffs

    Was ist Sinn? Um die Begrifflichkeit mg-lichst trennscharf und verstndlich zu ent-wickeln, nhern wir uns der Frage schritt-weise. Der Sinn einer Sache ergibt sich

    aus zwei Elementen:

    aus der Beschaffenheit der Sache selbst, aus ihrer Bezogenheit auf etwas ande-

    res auerhalb ihrer, aus ihrer Relationauf eine Bezugsgre, einen Bezugs-punkt, einen Bezugsrahmen, auf einengreren Zusammenhang.

    Zwei einfache Beispiele mgen das Ge-meinte verdeutlichen:

    Der Sinn eines Fahrrades. Als erstes mussdas Fahrrad tauglich sein, intakt sein, umals Fahrzeug dienen zu knnen. Sodannmssen verschiedene Bezugsgren stim-men. Es muss berhaupt als wnschens-wert und machbar gelten, sich auf zwei

    Rdern im Freien fortzubewegen. Fr ei-nen beinamputierten Rollstuhlfahrer hatein Fahrrad offenkundig keinen Sinn.

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    Weiter mssen die rtlichen Voraussetzun-gen gegeben sein. In einer Sandwste wreein Fahrrad nur hinderlich, in einer Ort-schaft mit ausgebautem Wegenetz dage-gen hchst willkommen.

    Der Sinn einer Kopfschmerztablette. EineKopfschmerztablette muss, um sinnvoll zusein, als erstes unabdingbar eine wirk-same Substanz enthalten, die Kopfwehbeseitigt. Sodann muss sie von jemandemeingenommen werden, der die Befreiungvon Kopfschmerzen anstrebt. Das heit:die objektive Beschaffenheit der Tablette,ihr heilender Wirkstoff, und der subjektiv

    gesetzte Zweck der Schmerzfreiheit ms-sen zusammenkommen.Verallgemeinert und dichter an die Fragenach dem Sinn des Lebens heranfhrend:Sinn ist an ein System von Zwecken undZielen, von Werten und Bedeutungen ge-bunden. Dieses ideelle System, hervorge-bracht von Menschen fr Menschen, ent-springt aus und orientiert sich an realen

    Bedrfnissen und Interessen, etwa denender Mobilitt und der Schmerzfreiheit.Dabei erhlt ein Einzelnes dann das Pr-dikat des Sinnvollen beigelegt, wenn essich im Horizont der Zwecke als funktio-nal erweist, wenn es sich in die normativeStruktur einfgt.

    Dies ist nicht immer so einfach wie beiden beiden Beispielen von Fahrrad undSchmerztablette. Der Sinn des Lebens, derSinn eines Lebens erschliet sich nichtunmittelbar. Er springt nicht sofort insAuge, er ist unsichtbar. Gleichwohl ist ereine reale Dimension, allerdings hoch-komplex, weil er sich auf das Ganze desDaseins bezieht. Da eine Aussage ber

    den Sinn eines bestimmten Lebens eineArt Bilanz, mindestens eine Art Zwischen-bilanz zieht, erfordert solch ein Gesamt-

    urteil ein besonderes Feingefhl undProblembewusstsein.Der Sinn des Lebens bemisst sich an derLeitidee vom guten, vom richtigen Leben.Um diese Leitidee kreisen die Anstrengun-

    gen der Philosophie seit Aristoteles undKonfuzius. Die Summe ihrer berlegun-gen mache ich mir in meinen eigenenWorten so zu eigen: Du gibst deinemLeben Sinn, wenn du es in ein greresGanzes einfgst, einbringst. Dein Lebenempfngt seinen Sinn, seinen Wert, seineBedeutsamkeit durch bewusste Teilhabean einem bergreifenden Ganzen.

    Dieses bergreifende Ganze, in das sichdas sinnsuchende Subjekt eingliedert, ist in letzter Distanz, vermittelt ber ver-schiedene Zwischenstufen die Welt: dieWelt in ihrer doppelten Gestalt als auer-menschliche Natur und als menschlicheGesellschaft. Ihnen knnen wir ohnehinnicht entrinnen, da unser Leben in jedemAugenblick von ihnen abhngt.

    Sich ins Ganze der Natur einfgen heit:sich als Naturwesen erkennen, naturver-bunden leben, die Naturkrfte so weitmglich aktiv nutzen und bei allem dieeigene Winzigkeit, Verwundbarkeit, Sterb-lichkeit beachten. Ein Blick in die Erdge-schichte mit ihren Zeitaltern, die Jahr-milliarden umfassen, und ein Blick in diegrenzenlosen Weiten des Kosmos beleh-ren uns darber: der Sinn des Lebens kannnicht in der Quantitt liegen, sondern nurin der Qualitt: in der Dichte, der Intensi-tt, dem Gehalt der kurzen Zeitspanne, dieuns unwiederholbar gewhrt ist.Sich ins Ganze der Gesellschaft einfgenheit: sich als gesellschaftliches Wesenverstehen und einen artgerechten Lebens-

    entwurf als Mensch pflegen Selbstbe-hauptung und Selbstbegrenzung versh-nen, Eigeninteresse und Fremdinteresse

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    verbinden, das eigene Recht und das Rechtder anderen wahren. Wer auf diese Weiseeinen persnlichen Beitrag zu einem men-schengerechten Umgang mit anderen lei-stet, der haucht seinem Leben eben damit

    Sinn ein.Jeder Mensch muss fr sich selbst denSinn seines Lebens verwirklichen. Den-noch handelt es sich dabei nicht um einindividualistisches Projekt. Durch diewesenhafte Bezogenheit auf ein greresGanzes ist in ihm unvertilgbar ein berin-dividuelles Element enthalten.Man kann sich auch blo einbilden, ein

    sinnvolles Leben zu fhren, und es den-noch verfehlen. Die bloe Selbstauskunftreicht nicht. Lebenssinn und Lebenslgeknnen unmerklich ineinander bergehen.Dies sei gerade in Zeiten postmodernerBeliebigkeitsfantasien und eines wohl-feilen Wertepluralismus betont.Zwar muss jeder seinen eigenen Lebens-faden spinnen, sich auf selbstgewhlte

    Ziele einlassen, aber er kann dabei leichtins Bodenlose strzen (bemerkt oder un-bemerkt), wenn er nicht einen objektivenSinnrahmen wahrt.Sinn ist durch subjektive und objektiveKriterien definiert. Die subjektive Seitebetone ich, wenn ich sage: Ich selbst stif-te den Sinn meines Lebens. Die objektiveSeite betone ich, wenn ich sage: Ich ent-decke und ergreife den Sinn meines Le-bens. Beides sind zwei Aspekte desselbenVorgangs, der in philosophischer Fach-sprache auch als Subjekt-Objekt-Dia-lektik bezeichnet wird. Damit ist die Ver-schrnkung, die Verklammerung des sub-

    jektiven und des objektiven Elements ge-meint.

    Viele verfallen heute der Gefahr, das sub-jektive Element zu verabsolutieren. Sieerliegen dem Irrtum, den Sinn ihres Le-

    bens nicht nur finden, sondern auch er-finden, aus sich selbst hervorbringen zuwollen. Aber als Sinn-Instanz unsererselbst sind wir hoffnungslos berfordert.Kein Mensch kann sich selbst gebren

    weder krperlich noch geistig. KeinMensch kann aus sich allein heraus denSinn seines Lebens hervorzaubern. Sinnentsteht nur als produktive Beziehung zuNatur und Gesellschaft.Doch Vorsicht: es reicht nicht, ein groesZiel zu verfolgen. Das Ziel muss auch insich selbst gut sein! Viele groe Ziele,denen sich Menschen verschrieben haben

    und verschreiben, gengen diesem huma-nistischen Mastab nicht.Ich nenne drei Beispiele fr derartige Zie-le, die Menschen anstreben knnen: or-ganisiert in einer greren Gemeinschaft,geleitet von einem internen Ehren- undVerhaltenskodex, motiviert zu disziplinier-tem und opferbereitem Auftreten, gleich-wohl verstrickt in Irrtum und Gewalt.

    In einer Stadt innerhalb von zwei Jah-ren bestimmten Gastwirten Schutz-gelder abpressen.

    Deutschland und Europa juden-freimachen.

    Alle Gegner des Sozialismus (in derDDR) einschchtern, zermrben, zer-setzen.

    Wer mchte sich dazu versteigen, den In-halt solcher Lebenslufe gleichzusetzenmit ihrem Sinn? Sinn und Inhalt einesLebens sind zwei verschiedene Dinge. DerSinn eines Lebens ist an seine moralischeSubstanz gebunden. Kein Sinnhorizontohne humanistische Wertebasis!

    Nicht der Mafioso lebt sinnvoll, der zurhheren Ehre eines Paten Gelder ein-treibt, sondern die Staatsanwltin, die

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    mutig diese Machenschaften verfolgt, be-straft und ihren Opfern Genugtuung ver-schafft.Sinnvoll lebt nicht, wer sich eine Privat-moral zurechtlegt oder einer Gruppen-

    moral folgt. Sinnvoll lebt, wer sein Tunund Lassen an universalen ethischen Nor-men orientiert, deren grundlegende lautet:leben und leben lassen.Eben dagegen verstie Heinrich Himmler,der Reichsfhrer SS, als er in einer be-rhmt-berchtigten Rede 1943 ausfhrte:Ein Grundsatz muss fr den SS-Mannabsolut gelten: ehrlich, anstndig, treu und

    kameradschaftlich haben wir zu den An-gehrigen unseres eigenen Blutes zu seinund zu sonst niemandem. (Zitiert nach:Der Nationalsozialismus. Dokumente1933-1945. Herausgegeben und kommen-tiert von Walther Hofer. Fischer Taschen-buch 6084, S.113)Sinn und Wrde ihres Menschseins wahr-ten damals jene, die nicht dem mrderi-

    schen Rassenwahn verfielen, sondern sicham Leitfaden elementarer Menschlichkeitorientierten: womglich Opfern halfen,protestierten, gar Widerstand leisteten,selbst wenn sie schlielich unterlagen. Wirlernen daraus: Sinn und Erfolg eines Le-bens sind nicht notwendig identisch. Auchein scheiterndes Leben kann sinnvoll sein.Das dritte Beispiel eines groen, aber tr-gerischen Ziels, das Lebenssinn nur vor-gaukelt, fhrt uns auf die Zweck-Mittel-Problematik. Kein Zweck heiligt die Mit-tel. Ein Ziel erledigt sich selbst, wenn eszu seiner Verwirklichung unannehmbarer,gar verbrecherischer Mittel bedarf.Zusammenfassend lsst sich festhalten:Das gewissenhafte und selbstkritische

    Nachdenken ber den eigenen Lebenssinnist unverzichtbar. Geschichte und Alltags-leben zeigen, wie leicht Menschen auf

    Tuschungen und Selbsttuschungen her-einfallen. Wir knnen uns nicht nur ver-laufen, wir knnen uns auch verrennen.Gegen eine Welt autosuggestiver Verblen-dung ist mir kein unfehlbares Mittel be-

    kannt. Auch das Gesprch mit Freunden,so hilfreich es sein kann, gibt keine Ga-rantie, da auch Freunde sich tuschen kn-nen und es auch falsche Freunde gibt. Dieeigenverantwortliche Suche nach Wahr-heit und Klarheit bleibt uns aufgegeben,solange wir leben.

    3. Das menschliche Leben eine wech-

    selvolle Mischung aus Sinn und UnsinnDer menschliche Lebenssinn ist nirgend-wo vorgegeben, nirgendwo aufgeschrie-ben: in keinem Buch des Lebens, in kei-nem Buch der Natur. Es gibt keine unzer-strbare, ideale Sinnstruktur der Welt, derwir uns nur vertrauensvoll, glubig, ein-zufgen htten und dann darin geborgenwren.

    Das Sinnpotential der menschlichen Exi-stenz ist gnzlich an menschliche Einsichtund Ttigkeit gebunden und deshalb stetsgefhrdet ohne jede biologische, gesell-schaftliche, metaphysische Garantie desGelingens. Vollkasko-Angebote gibt es nurbei Autoversicherungen und sind auchdort in der Regel mit einem Eigenanteilverbunden.Wo und wann immer etwas Sinnhaftes imLeben geschieht, ist es verknpft mit ei-ner (relativen, nie absoluten) Selbst-steuerung, Selbstbestimmung der Subjek-te, die sich auf ein greres Ganzes hinberschreiten, entwerfen. Die sich darausentwickelnden Handlungsziele sind frei-lich nicht beliebig, sondern brauchen um

    sinnvoll zu sein eine universale Werte-basis. Sie mssen ethischen Normen ge-ngen.

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    Umgekehrt ist der stets mgliche Einbruchdes Sinnlosen, Sinnwidrigen, Sinnzer-strenden verbunden mit der Erfahrungder Ohnmacht, des Ausgeliefertseins, derWehrlosigkeit, des Kontrollverlusts. Den-

    ken wir an Opfer eines Zugunglcks, ei-nes Flugzeugabsturzes, eines Verbrechens,einer Naturkatastrophe, einer unheilbarenKrankheit. Menschen werden heimge-sucht von Ereignissen, die unberechenbarsind und innerhalb von Sekunden le-gitime Projekte vereiteln, Lebenslufe zer-stren knnen.Ich erzhle ein Beispiel, das ich der tgli-

    chen Zeitungslektre entnehme: RubrikGeschichten, die das Leben schrieb. EinHandwerker klingelt an einer Haustr. Alsihm geffnet wird, strmt ein Kampfhundan ihm vorbei ins Freie und beit einemMdchen, das gerade zufllig auf Roll-schuhen vorbei kommt, tiefe Wunden insGesicht. Das Mdchen ist fr sein weite-res Leben entstellt und traumatisiert.

    Zufallsgewalt, Gewalt des Zufalls einqulender Tatbestand, der die Menschenseit jeher begleitet. Heute widmet dieSozialwissenschaft ihm unter der engli-schen Bezeichnung random violenceeine gesteigerte Aufmerksamkeit. Gemeintist damit der eigentmliche Umstand, dasssich Verbrechen hufen, bei denen dieTter ihre Opfer gar nicht kennen, garnicht kennen wollen.Junge Mnner werfen groe Steine vonAutobahnbrcken auf Fahrzeuge und ver-letzen oder tten Reisende, die ihnen vl-lig unbekannt sind. hnlich der sich wie-derholende Vorgang in rechtsextremenMilieus, wo Angetrunkene nach einemDisko-Besuch noch schnell spontan

    Auslnder und Farbige aufklatschengehen, egal wen.

    Philosophisch betrachtet sind das Beispie-le fr den Einbruch des Sinnlosen, Sinn-widrigen, Sinnzerstrenden.Es ist abwegig, ja absurd zu behaupten,alles habe irgendwo und irgendwie einen

    Sinn, wir mssten ihn nur entdecken.Nichts geschehe umsonst. Dieser Sinn-huberei, in der Regel religis auftretend,sei hier ausdrcklich widersprochen. Al-les hat eine Ursache, aber nicht alles hateinen Sinn.Ehrlicher und auf Dauer auch hilfrei-cher ist es, das Sinnlose als Sinnloses ste-hen zu lassen, statt krampfhaft einen h-

    heren oder tieferen Sinn hineinzugeheim-nissen. Gestehen wir durchaus verstrt unsere Ohnmacht und Ratlosigkeit ein!Gleichbedeutend mit der hier empfohle-nen Haltung ist die Anerkennung des Zu-falls als unseres stndigen Begleiters, jaals eines wesentlichen Faktors in allemnatrlichen und menschlichen Geschehen.Zugegebenermaen ist dies ein weites

    Feld, zu dem viele aus ihrer Lebenserfah-rung beisteuern knnten.Das Verhltnis von Zufall und Notwen-digkeit, von Freiheit und Widerfahrnis istein Schlsselproblem der Philosophie.Meine Antwort auf die Frage nach ihremVerhltnis steht in der Tradition des Ari-stoteles und des Epikur. Ich setzte sie hier(notgedrungen) ohne weitere Errterungvoraus. Die Kerneinsicht lautet: Beidessind wirkliche, eigenstndige Elementeder Wirklichkeit, die sich durchdringen,verschrnken.Niemand ist unverwundbar. Deshalb sindwir trostbedrftig und hilfsbedrftig. Al-lerdings mssen wir uns abfinden mitTrostlosem und Sinnlosem. Der Einbruch

    des Grauens in die vertraute Sinnwelt desAlltags kann jederzeit erfolgen, und zwarin allen gesellschaftlichen Milieus. Um

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    dies besttigen zu knnen, mssen wirnicht erst selbst Opfer eines Amokscht-zen werden.Wie stellen sich diese Sachverhalte ausreligiser Sicht dar? Schicksalsschlge

    ereilen gleichermaen Menschen aller spi-ritueller Orientierungen: Glubige undUnglubige, religis Motivierte und welt-liche Humanisten. Jeweils unterschiedlichversuchen sie, ihre existenziellen Erscht-terungen zu verarbeiten. Glubige bem-hen sich, den Dingen irgendwie dochnoch einen Sinn abzugewinnen.Sie klammern sich an die Zuversicht, dass

    das, was jetzt noch als sinnlos erscheint,in Wahrheit doch einen Sinn habe, der sicheinst vor Gott offenbaren werde. Sie ret-ten sich in den Wunschtraum, eine hhe-re gttliche Weisheit, eine berlegene Vor-sehung werde schlielich alles zum Gu-ten fgen. Kein blindes unpersnlichesSchicksal beherrsche den Weltlauf, son-dern selbst das Unbegreifliche zeuge noch

    von Gottes gtiger Handschrift. So werdees mglich, selbst das grte Leid wennauch unter Trnen geduldig zu ertragen.Die von mir entwickelte Auffassung istemotional herber, freilich auch gedanklichklarer und intellektuell redlicher. Siedurchschaut die eitle Selbstbezogenheitderartiger Phantasien, die ein spter Nach-hall der jdisch-christlichen Lehre von derMittelpunktstellung des Menschen in dergttlichen Schpfung sind.Sind sie plausibel, sind sie berzeugend?Weshalb blieb ich bei dem Zugunglckunversehrt und kam mit dem Schreckendavon, whrend mein Nachbar zeitlebensein entstellter Krppel bleiben wird? Undhtte es nicht ebensogut umgedreht aus-

    gehen knnen: ich wre der Krppel undder Nachbar bliebe unversehrt?

    Hier von Vorsehung oder heute belieb-ter von Fgung zu sprechen, hilft nichtnur nicht weiter, sondern steigert die Sinn-losigkeit zur Rtselhaftigkeit , ja zur Ab-surditt. Das Haschen nach religisem

    Sinn greift vollends ins Leere, wenn wiran die Grueltaten und Massenverbrechender Geschichte, zumal des zwanzigstenJahrhunderts denken.Statt von einem gttlichen Heilsplan odereinem weltlichen Geschichtsgesetz zutrumen, in dessen Rahmen der bisherigeWeltlauf als notwendiges bel zugunsteneiner hheren Harmonie verstehbar wr-

    de, sei nchtern festgestellt: Zum Welt-bestand gehren sinnlose bel, brutal,rechtfertigungslos, unvermittelbar. Es gibtLebenslagen ohne Sinn, Heimsuchungenohne Trost, Widerfahrnisse ohne Hilfe,Begebenheiten ohne Rettung, Ereignisseohne Vershnung.Kein Mensch bleibt vor dieser Erfahrungbewahrt, dass immer wieder Sinnvolles

    von Sinnlosem durchkreuzt wird. Lernenwir, soweit mglich, uns damit zu arran-gieren und zu improvisieren.Wer Sorgen hat, hat auch Likr. Die-sem Kommentar Wilhelm Buschs in derFrommen Helene stimme ich gerne zu.Allerdings gestatte ich mir die Frage, obes denn auch etwas anderes als Likr seindarf.Abschlieend verweise ich wieder ganzernsthaft auf die antike Philosophie derStoa. Fr den sinnvollen Umgang mit demSinnlosen hlt sie manche hilfreiche An-regung bereit,. und zwar gerade durch ihreSchlsselunterscheidung zwischen dem,was in unserer Macht steht, und dem, wasnicht in unserer Macht steht.

    Ohne mir ihre pantheistischen Begrn-dungszusammenhnge weder zu verheh-len noch zu eigen zu machen, entwickle

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    ich daraus eine Haltung zum Leben, dieich konstruktive Resignation nenne. Ge-meint ist keine Resignation allberall, son-dern nur die Einwilligung in das wirklichUnvermeidbare, Unabnderliche. Gemeint

    ist die Haltung stoischer Gelassenheit, diees ermglicht, Erfahrungen des Sinnwid-rigen selbstvershnt zu bestehen: zu ber-stehen, vielleicht sogar zu meistern.Dies gelingt uns leichter, wenn Menschenuns begleiten, die uns Beistand leisten, undwir bereit sind, uns helfen zu lassen.Dieses stoische Leitbild menschlicherExistenz erfordert stndige stille Arbeit an

    uns selbst. Es belohnt damit, dass wir unsirgendwann im Gehuse unseres Lebenszurecht finden und die tgliche Gemenge-lage von Sinn und Unsinn mit einem hu-morvollen Trotzalledem ertragen lernen.

    Bemerkung:

    Der vorliegende Essay, wiederholt mnd-

    lich vorgetragen, ist eine Kostprobe aus

    einem neu entstehenden Buch des Verfas-

    sers, in dem er sein eigenes philosophi-

    sches System darstellt.