juristische fallstricke in der arztpraxis und lösungsansätze

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| Der Internist 5•2001 M 90 bringen müssten. Zwar ließe sich eine Einschränkung durch vernünftige Erwä- gungen des Gemeinwohls begründen, jedoch dürfe die Grenze der Zumutbar- keit nicht unterschritten werden. Verschiedene Rechtsgrundlagen Problematisch ist die aufgeworfene Fra- ge deshalb, weil bei Vertrags- oder Kas- senärzten die Berufsausübung betref- fenden Regelungen aus unterschiedli- chen Rechtskreisen kommen und eine unterschiedliche Interpretation dieser Frage zulassen. Allgemeines Berufsrecht Das allgemeine Berufsrecht, welches auf den Kammergesetzen der Länder be- ruht, berechtigt den Arzt, ohne Berück- sichtigung von Wirtschaftlichkeitsge- sichtspunkten alle nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft vertretba- ren Behandlungsleistungen zu erbrin- gen. Verlangt wird gewissenhaftes Ar- beiten. Vertragsrecht Nach dem Vertragsrecht muss die Qua- lität und Wirksamkeit der Leistungen des Arztes dem allgemein anerkannten Gebührenrecht Mit den zur Verfügung stehenden Mit- teln kann der Bevölkerung eine qualita- tiv hochstehende und gut zugängliche medizinische Versorgung auf dem neuesten Stand der Wissenschaft wie bisher nicht mehr zur Verfügung gestellt werden. Seit Inkrafttreten des Gesund- heitsreformgesetzes 2000 (GRG) wird versucht, das System mit Maßnahmen wie Budgetierungen und Zuzahlungen zu erhalten. Insofern taucht auch die Frage auf, ob und inwieweit eine Be- handlungsmaßnahme unter Budgetie- rung und Wirtschaftlichkeitsgebot als „unwirtschaftlich“ unterbleiben darf, will sich der Arzt nicht gegenüber dem Patienten mit der Unterlassung einem erhöhten zivilrechtlichen (oder auch strafrechtlichen) Haftungsrisiko ausset- zen. Auf die Frage, ob der Arzt die ver- traglich und haftungsrechtlich geschul- dete Sorgfalt mit ihrem im Einzelfall ho- hen Aufwand anzuwenden hat, oder ob er die optimale ärztliche Behandlung wegen Unverhältnismäßigkeit der Kos- ten einschränken kann, gibt es bislang im Bereich des ärztlichen Gebühren- rechts keine Antwort. Ein Blick auf eine ähnliche Rechts- lage im Bereich des Notar-Gebühren- rechts zeigt aber die Tendenz des Bun- desverfassungsgerichts. Dieses hatte durch Beschluss vom 01.03.1978 – 1 BvR 768, 793/70, 168/71 und 95/93 festgestellt, dass es als verfassungsrechtliche Ein- schränkung der Berufsausübung zu be- urteilen ist, wenn Notare eine Leistung unter dem kostendeckenden Satz er- M. Broglie Juristische Fallstricke in der Arztpraxis und Lösungsansätze Arzt zwischen Wirtschaftlichkeitsgebot und Sorgfaltspflicht RA M. Broglie Hauptgeschäftsführer des Berufsverbandes Deutscher Internisten (BDI) e.V.,Wiesbaden In Zeiten zunehmend knapper werden- der Mittel, in denen alle am Gesund- heitswesen Beteiligten zu Einsparungen angehalten werden, stellt sich beson- ders die Frage nach dem Umfang ärztli- cher Leistungen unter gleichzeitiger Be- achtung des Wirtschaftlichkeitsgebotes.

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Page 1: Juristische Fallstricke in der Arztpraxis und Lösungsansätze

| Der Internist 5•2001M 90

bringen müssten. Zwar ließe sich eineEinschränkung durch vernünftige Erwä-gungen des Gemeinwohls begründen,jedoch dürfe die Grenze der Zumutbar-keit nicht unterschritten werden.

Verschiedene Rechtsgrundlagen

Problematisch ist die aufgeworfene Fra-ge deshalb, weil bei Vertrags- oder Kas-senärzten die Berufsausübung betref-fenden Regelungen aus unterschiedli-chen Rechtskreisen kommen und eineunterschiedliche Interpretation dieserFrage zulassen.

Allgemeines Berufsrecht

Das allgemeine Berufsrecht, welches aufden Kammergesetzen der Länder be-ruht, berechtigt den Arzt, ohne Berück-sichtigung von Wirtschaftlichkeitsge-sichtspunkten alle nach dem Stand dermedizinischen Wissenschaft vertretba-ren Behandlungsleistungen zu erbrin-gen. Verlangt wird gewissenhaftes Ar-beiten.

Vertragsrecht

Nach dem Vertragsrecht muss die Qua-lität und Wirksamkeit der Leistungendes Arztes dem allgemein anerkannten

Gebührenrecht

Mit den zur Verfügung stehenden Mit-teln kann der Bevölkerung eine qualita-tiv hochstehende und gut zugänglichemedizinische Versorgung auf demneuesten Stand der Wissenschaft wiebisher nicht mehr zur Verfügung gestelltwerden. Seit Inkrafttreten des Gesund-heitsreformgesetzes 2000 (GRG) wirdversucht, das System mit Maßnahmenwie Budgetierungen und Zuzahlungenzu erhalten. Insofern taucht auch dieFrage auf, ob und inwieweit eine Be-handlungsmaßnahme unter Budgetie-rung und Wirtschaftlichkeitsgebot als„unwirtschaftlich“ unterbleiben darf,will sich der Arzt nicht gegenüber demPatienten mit der Unterlassung einemerhöhten zivilrechtlichen (oder auchstrafrechtlichen) Haftungsrisiko ausset-zen. Auf die Frage, ob der Arzt die ver-traglich und haftungsrechtlich geschul-dete Sorgfalt mit ihrem im Einzelfall ho-hen Aufwand anzuwenden hat, oder ober die optimale ärztliche Behandlungwegen Unverhältnismäßigkeit der Kos-ten einschränken kann, gibt es bislangim Bereich des ärztlichen Gebühren-rechts keine Antwort.

Ein Blick auf eine ähnliche Rechts-lage im Bereich des Notar-Gebühren-rechts zeigt aber die Tendenz des Bun-desverfassungsgerichts. Dieses hattedurch Beschluss vom 01.03.1978 – 1 BvR768, 793/70, 168/71 und 95/93 festgestellt,dass es als verfassungsrechtliche Ein-schränkung der Berufsausübung zu be-urteilen ist, wenn Notare eine Leistungunter dem kostendeckenden Satz er-

M. Broglie

Juristische Fallstricke in der Arztpraxis und LösungsansätzeArzt zwischen Wirtschaftlichkeitsgebot und Sorgfaltspflicht

RA M. BroglieHauptgeschäftsführer des Berufsverbandes

Deutscher Internisten (BDI) e.V.,Wiesbaden

In Zeiten zunehmend knapper werden-der Mittel, in denen alle am Gesund-heitswesen Beteiligten zu Einsparungenangehalten werden, stellt sich beson-ders die Frage nach dem Umfang ärztli-cher Leistungen unter gleichzeitiger Be-achtung des Wirtschaftlichkeitsgebotes.

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Stand der medizinischen Erkenntnisseentsprechen und den medizinischenFortschritt berücksichtigen. Die Leis-tungen dürfen aber lediglich ausrei-chend, zweckmäßig und wirtschaftlichsein (das Zauberwort „Wirtschaftlich-keit“ hat den Gesetzgeber so sehr in denBann gezogen, dass es fast überall imSGB V auftaucht,wohingegen die grund-gesetzlich postulierte Berufs- und The-rapiefreiheit fehlt).

Ziviles Haftungsrecht

Im zivilen Haftungsrecht wird gefragt,ob der Arzt unter Einsatz der von ihmgeforderten Kenntnisse im Behand-lungsfall vertretbare Entscheidungenüber die diagnostischen und therapeuti-schen Maßnahmen getroffen und diesesorgfältig durchgeführt hat. Der Sorg-faltsmaßstab erfordert objektive Sorg-falt, die subjektive Situation des Arzteszum Zeitpunkt der Behandlung ist un-erheblich. Die Sorgfalt bestimmt sich al-so nach dem medizinischen Standarddes jeweiligen Fachgebietes. Der Arztmuss diejenigen Maßnahmen ergreifen,die von einem gewissenhaften und auf-merksamen Arzt aus Sicht seines Fach-gebietes vorausgesetzt und erwartetwerden.

Schon bei der Diagnose kann derPatient verlangen, dass der Arzt alle ihmzur Verfügung stehenden Erkenntnis-quellen ausschöpft, deren Anwendungunter Berücksichtigung des Stands dermedizinischen Erkenntnisse und derverfügbaren Mittel möglich ist. So hatder Bundesgerichtshof (BGH) im so ge-nannten „Halsrippenurteil“ (BGH Ver-fR 1975, 43 ff) festgestellt, dass auchwenn bei Operationen nur in 1% der Fäl-le Schäden auftreten, die durch vorsorg-liche Untersuchungen vermieden wer-den können, der Patient einen Anspruchauf eine solche Untersuchung hat, auchwenn diese bisher nicht üblich war.

Normhierarchie

Auch wenn es mittlerweile eine Band-breite ärztlicher Behandlungsstandardsgibt (z. B. in Universitäts- oder Spezial-kliniken oder im allgemeinen Kranken-haus), so kommt es aufgrund der unter-schiedlichen Anforderungen zu Kollisio-nen, die sich nur mit dem Grundsatz derEinheit der Rechtsordnung lösen lassen.Danach ist die Normhierarchie entschei-

dend, so dass zum Beispiel das gesetzli-che zivile Haftungsrecht unter demAspekt der Normhierarchie gegenübereiner vertraglichen Wirtschaftlichkeits-forderung im ärztlichen Gebührenrecht(als untergesetzliche Norm) den Vor-rang hat.

Gebot der Wirtschaftlichkeit

Dennoch kann die finanzielle Entwick-lung in der GKV nicht unberücksichtigtbleiben. Vielmehr sind aufgrund desAuseinanderklaffens von Behandlungs-standards und finanzierbarer Behand-lung die wirtschaftliche Behandlungs-weise, Standard und Haftung in ein neu-es Verhältnis zu setzen. Ärzte dürfen nurdort verantwortlich gemacht werden,wosie selbst Einfluss auf die Mittelvertei-lung haben. Grenzen der Finanzierbar-keit des derzeitigen Systems muss derPatient als sein Krankheitsrisiko tragen.

Die derzeitige Situation soll an ei-nem Beispiel verdeutlicht werden:

Ist ein bestimmtes Mittel bei einerKrankheit besonders wirksam und imVergleich mit anderen Arzneimitteln soeffektiv, dass diese weit erkennbar zu-rücktreten, so liegt bei Nichtanwendungdes effektiveren Mittels ein Behand-lungsfehler vor (RGST 74, 16). Ist diesesArzneimittel aber besonders teuer, danntrifft den Arzt ein Arzneimittelregressinnerhalb der Wirtschaftlichkeitsprü-fung (BSG vom 26.04.1978 – 6 RKa 9/77und 19/77).

Die vertragsärztliche Wirtschaft-lichkeitsprüfung wird deshalb kritisiert,weil sie sich am statistischen Fachgrup-pendurchschnitt, nicht jedoch an derFrage nach der dem medizinischenStandard entsprechenden Behandlungs-methode, die nach dem Wirtschaftlich-keitsgebot notwendig und zu vergütenwäre, orientiert. Im Ergebnis werden sounwirtschaftliche Leistungen honoriertund wirtschaftliche gekürzt. Bei der der-zeitigen Erarbeitung von Richtgrößen,die einer am medizinischen Standardhonorierte Orientierung ärztlicher Leis-tungen gewährleisten soll, verdeutlichtsich diese Problematik.

Trotzdem haben in den letzten bei-den Jahrzehnten die forensischen Anfor-derungen an die ärztliche Sorgfalt zuge-nommen und zu einer defensiven Medi-zin aus „forensischer Indikation“ ge-führt. Dieses hat auch zur Kostenerhö-hung im Gesundheitswesen beigetragen.

Die Notbremse des Gesetzgebers inForm des GSG hat die Situation insofernverschärft, als die Mittel auf dem Standdes Jahres 1992 eingefroren wurden.Hier wurde von unzutreffenden Ratio-nalisierungsreserven ausgegangen.

In dem Zusammenhang muss kriti-siert werden, dass die Haftungsrecht-sprechung wirtschaftliche Überlegun-gen nicht in ärztliches Handeln einflie-ßen lassen will. Es wurde sogar entschie-den, dass der erforderliche Standard derBehandlung wegen fehlender personel-ler oder apparativer Ausstattung nichtheruntergesetzt werden könne (BGHNJW 1983, 2081). Die Rechtsprechungfordert also den Sieg der Therapie überdas Budget, Regressforderungen dürfenin solchen Fällen dann nicht drohen.

Somit verbleibt als Fazit, dass auchdas Wirtschaftlichkeitsgebot die medi-zinischen Qualitätsstandards nicht au-ßer Kraft setzen kann. Die Aussage desSozialrechts, dass eine Leistung „ausrei-chend und zweckmäßig“ sein muss, hatsich gemäß dem Grundsatz der Einheitder Rechtsprechung mit der haftungs-rechtlichen Forderung nach „Indiziert-heit der Leistung“ zu decken.

Somit haben Indikation und Wirk-samkeit einer eingeleiteten Maßnah-me stets den Vorrang vor dem Wirt-schaftlichkeitsaspekt. Kostendämp-fungsmaßnahmen und Einsparver-pflichtungen finden dort ihre Grenzen,wo sie mit einer konkreten Gefahrer-höhung für den Patienten verbundensind.

Dennoch muss die anzustrebende recht-liche Lösung der Konfliktsituation darinbestehen, zu einer harmonisierendenAuslegung zu kommen. Die nach demHaftungsrecht erforderlichen Leistun-gen müssen auch wirtschaftlich sein.Den durch das Wirtschaftlichkeitsgebotgeschützten Interessen könnte umge-kehrt durch das Prinzip des erlaubtenRisikos Rechnung getragen werden. Beider Höhe des erlaubten Risikos gilt esaber zu bedenken, dass bei jedem Ein-zelfall die Schwere und Wahrscheinlich-keit einer abzuwendenden Gefahr nebendem Kostenaspekt abzuwägen ist.

Behandlungsverpflichtung

Schließlich stellt sich auch die Fragenach der Behandlungsverpflichtung.

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Ausgehend vom Grundsatz der Privat-autonomie, wonach es keinen Kontra-hierungszwang gibt, sind Fallkonstella-tionen denkbar, in denen eine Behand-lung abgelehnt werden kann. Beispiels-weise gilt dies dann, wenn das erforder-liche Spezialwissen oder die notwendi-gen Geräte oder Medikamente nicht vor-handen sind.Auch das Verhalten des Pa-tienten kann die Ablehnung der Be-handlung rechtfertigen. Möglicherwei-se kann diese Reihe künftig um das Ar-gument “Budgeterschöpfung” ergänztwerden. Andererseits darf die ärztlicheLeistung nicht verweigert werden, wennder Patient dringender Behandlung be-darf, seine Abweisung also mit ernst zunehmenden Gefahren verbunden undeine rechtzeitige Hilfeleistung an einemanderen Ort nicht gesichert wäre. Hier

muss zumindest eine stabilisierendeErstversorgung erfolgen, will sich derArzt nicht dem Vorwurf der unterlasse-nen Hilfeleistung aussetzen.

Im Zusammenspiel mit den Rege-lungen des Krankenversicherungsrech-tes ergibt sich, dass der Kassenpatientauch nur einen Anspruch auf medizi-nisch allseits anerkannte Leistungen hat.Außenseitermethoden, denen die gene-relle Anerkennung nicht erteilt wurde,fallen nicht in die Leistungspflicht derKrankenkassen und dürfen vom Patien-ten nicht verlangt werden. Aus der Re-duzierung des Behandlungsanspruchsauf die Schulmedizin folgt für den Arztauch eine wirtschaftliche Beratungs-pflicht für den Patienten (z. B. möglicheNichterstattung von Kosten für eine ge-wünschte Wahlleistung).

Fazit

◗ Auch Kostendruck und Engpässe dürfennicht zur Einschränkung des ärztlichenSorgfaltsmaßstabes führen.

◗ Ärzte müssen aber unter Beachtung desBudgets sicherstellen, dass eine gleich-bleibende Erfüllung des Heilauftragesgewährleistet ist.

◗ Aus Engpässen ergeben sich gesonderteAufklärungspflichten für den Arzt ge-genüber dem Patienten.

◗ Ist mit dem Unterlassen einer bestimm-ten ärztlichen Maßnahme aus Gründender Wirtschaftlichkeit für den Patienteneine Gefahr verbunden, geht der Heil-auftrag allen wirtschaftlichen Überle-gungen vor. Ein Unterlassen würde hierzu zivil- oder strafrechtlichen Konse-quenzen führen. Regressforderungendrohen in solchen Fällen nicht.

Aufgrund der schwierigen Materie sowieder kaum zu übersehenden Rechtspre-chungsvielfalt sollte sich ein Arzt durcheinen auf das Arztrecht spezialisierten An-walt beraten lassen, wenn er in ein haf-tungsrechtliches Verfahren oder eine Wirt-schaftlichkeitsprüfung verwickelt wird.