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Zurich Open Repository and Archive University of Zurich Main Library Strickhofstrasse 39 CH-8057 Zurich www.zora.uzh.ch Year: 2005 Im Blickwinkel des Todes – Holbeins ‘Gesandte’ und die Malerei als exakte Wissenschaft Weddigen, Tristan Posted at the Zurich Open Repository and Archive, University of Zurich ZORA URL: https://doi.org/10.5167/uzh-74532 Book Section Published Version Originally published at: Weddigen, Tristan (2005). Im Blickwinkel des Todes – Holbeins ‘Gesandte’ und die Malerei als ex- akte Wissenschaft. In: Gaier, Martin; Nicolai, Bernd; Weddigen, Tristan. Der unbestechliche Blick/Lo sguardo incorruttibile. Festschrift zu Ehren von/in onore di Wolfgang Wolters. Trier: Porta Alba Verlag, 369-384.

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Page 1: ImBlickwinkeldesTodes–Holbeins‘Gesandte ...der von Holbein und Kratzer annotierten Vorzeich-3 Zum Bildnis Kratzers siehe: Otto Pächt, Holbein and Kratzer as collaborators, in:

Zurich Open Repository andArchiveUniversity of ZurichMain LibraryStrickhofstrasse 39CH-8057 Zurichwww.zora.uzh.ch

Year: 2005

Im Blickwinkel des Todes – Holbeins ‘Gesandte’ und die Malerei als exakteWissenschaft

Weddigen, Tristan

Posted at the Zurich Open Repository and Archive, University of ZurichZORA URL: https://doi.org/10.5167/uzh-74532Book SectionPublished Version

Originally published at:Weddigen, Tristan (2005). Im Blickwinkel des Todes – Holbeins ‘Gesandte’ und die Malerei als ex-akte Wissenschaft. In: Gaier, Martin; Nicolai, Bernd; Weddigen, Tristan. Der unbestechliche Blick/Losguardo incorruttibile. Festschrift zu Ehren von/in onore di Wolfgang Wolters. Trier: Porta Alba Verlag,369-384.

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Im Blickwinkel des Todes

Holbeins ›Gesandte‹ und die Malerei als exakte Wissenschaft*

Tristan Weddigen

Repräsentation

Seit Mary Herveys grundlegender Monografie von1900 ist über Die Gesandten (Abb. 1) viel geschriebenworden. Im Sinne der Maximen des Jubilars ist esjedoch nie umsonst, überkommene Deutungen in Fra-ge zu stellen.1 Das 1533 datierte Doppel- und Freund-schaftsporträt des 29–jährigen französischen Botschaf-ters in London, Jean de Dinteville (1504−1565), undseines 25–jährigen Freundes, Georges des Selve(1509−1542), entstand ein Jahr nach Ankunft HansHolbeins des Jüngeren (1497/8−1543) in England.2

Anlass war der vermutlich diplomatisch motivierteBesuch de Selves, Bischof von Lavaur, bei Dinteville,dem Auftraggeber des Gemäldes, im Frühjahr dessel-ben Jahres, als die Heiratspolitik König Heinrichs

* Wolfgang Wolters hat nicht nur in Rat und Tat akademischeVanitas stets verachtet (die Festschrift sei uns verziehen!), sondernder vorliegende Beitrag geht auf meine mündliche Magisterprü-fung über die Geschichte der Perspektive zurück, die er vor zehnJahren abnahm.

1 Mary F. S. Hervey, Holbein’s ›Ambassadors‹. The pictureand the men. An historical study, London 1900. Siehe Zusam-menfassung bisheriger Literatur in: Holbein’s Ambassadors (Ma-king & meaning), Ausstellungskatalog (London, National Gallery,5.11.1997−1.2.1998), hrsg. von Susan Foister, Ashok Roy undMartin Wyld, London 1997. Siehe kommentierte Bibliografie zuHolbeins Gesandten in: Erika Michael, Hans Holbein the Youn-ger. A guide to research (Artist resource manuals, 2), New Yorkund London 1997, S. 388−410. Zu den bisherigen Interpretations-ansätzen siehe: Peter Cornelius Claussen, Der doppelte Boden un-ter Holbeins Gesandten, in: Hülle und Fülle. Festschrift für Til-mann Buddensieg, hrsg. von Andreas Beyer, Alfter 1993,S. 177−202, hier S. 178. Siehe zuletzt: Oskar Bätschmann undPascal Griener, Hans Holbein, Köln 1997, S. 184−188; Susan Fo-ister, Holbein and England, New Haven 2004, S. 214−222; Jo-chen Sander, Hans Holbein d. J. Tafelmaler in Basel 1515−1532,München 2005.

2 Zur Frage der Gesandten als Freundschaftsporträt siehe: KateBomford, Friendship and immortality: Holbein’s Ambassadorsrevisited, in: Renaissance studies 18, 2004, Nr. 46, S. 544−581.

VIII. von England die konfessionellen und politischenSpannungen in Europa verschärfte.

Die beiden Porträtierten lehnen sich an eine brust-hohe Anrichte. Auf dem oberen, teppichbedecktenTablar stehen ein Himmelsglobus, ein zylindrischerKalender, zwei Quadranten, zwei Sonnenuhren, eintorquetum und ein geschlossenes Buch. Auf dem un-teren Brett sind ein Erdglobus, ein Messwinkel, eineLaute, ein Stechzirkel, ein fünfteiliger Flötensatz mitEtui sowie fünf Bücher, darunter Peter Appians Kauf-mannsrechnung von 1527 und Johannes Walthers lu-therisches Geistliches Gesangbüchlein von 1525, zuerkennen. Ähnliche mathematisch-physikalische Ge-räte hatte Holbein 1528 in seinem Bildnis NikolausKratzers präzise wiedergegeben.3 Während sie im Falldes königlichen Hofastronoms aus Nürnberg ikono-grafisch vor allem als Berufsattribute dienten, handel-te es sich bei Dinteville und de Selve höchstens umein adliges Steckenpferd.4 Die mathematischen In-strumente, die technikgeschichtlich als »neu, ziemlichteuer und deutsch« identifiziert worden sind, dürftenaus der Kollektion Kratzers, mit dem Holbein engenKontakt pflegte, und die beiden deutschsprachigenBüchlein vielleicht aus der Handbibliothek des Malersstammen.5

Die Etagere ähnelt einer jener Kredenzen, wie sieHolbein 1527 im Bildnis der Familie von ThomasMore dargestellt hat. Wie die Unterschiede zwischender von Holbein und Kratzer annotierten Vorzeich-

3 Zum Bildnis Kratzers siehe: Otto Pächt, Holbein and Kratzeras collaborators, in: The Burlington magazine 84, 1944, Nr. 495,S. 134−139.

4 Vgl. Hervey 1900 (wie Anm. 1), S. 80: Brief von 1533, indem Dinteville nach einem »portraitct du compas auvale« fragt.

5 Elly Dekker und Kristen Lippincott, The scientific instru-ments in Holbein’s Ambassadors: a re-examination, in: Journal ofthe Warburg and Courtauld institutes 62, 1999, S. 93−125.

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Abb. 1:Hans Holbein der Jüngere, DieGesandten, 1533, Öl auf Holz,207 × 209,5 cm, London,National Gallery.

nung und einer Kopie des verschollenen Gemäldes(Abb. 2) aufzeigen, veranlasste der Auftraggeber denMaler, Zinngeschirr, Blumenvasen, Saiteninstrumenteund Bücher auf das reich geschnitzte Büffet zu stellen,das dann in eine Etagere mit Baldachin und Teppichverwandelt wurde, die derjenigen in den Gesandtenähnelt.6 Dieses Stillleben diente weniger praktischenund dokumentarischen Absichten als ästhetischen undsymbolischen, nämlich als Hinweis auf Gastfreund-schaft, Wohlstand, Harmonie, Bildung und Blüte derMore’schen Familie.

In der frühen Neuzeit standen Kredenzen in Emp-fangsräumen und stellten an repräsentativen Anlässendas Familiensilber zur Schau.7 Dem Dekorum ent-

6 Zu Holbeins Bildnis der Familie von Thomas More siehe:Hans Holbein d. J. Zeichnungen aus dem Kupferstichkabinett derÖffentlichen Kunstsammlung Basel, Ausstellungskatalog (Basel,Kunstmuseum, 12.6.−4.9.1988), hrsg. von Christian Müller, Basel1988, S. 209−212, Nr. 65; Sander 2005 (wie Anm. 1), S. 132−140:Wandbehang wie in Gruppenbildnis des Familie More, Basel,Kunstmuseum, Kupferstichkabinett.

7 Siehe zu Kredenzen zum Beispiel Patricia Ann Waddy, Se-venteenth-century Roman palaces. Use and the art of the plan,New York 1990, S. 8.

sprechend scheinen sich Holbeins Gesandte, so wieMores Familie, in einer mit kostbarem Seidenbrokatausstaffierten grande salle zu inszenieren, die darüberhinaus mit dem mutmaßlichen Aufstellungsort der Ge-sandten im Dinteville’schen Schloss im französischenPolisy übereinstimmen dürfte. Der Etagere in den Ge-sandten kommt also eine repräsentative und symboli-sche Bildfunktion zu. So betrachtet erfüllte das Ge-mälde selbst einen ähnlichen Zweck wie die Kredenz:Es stellte sozusagen die credentials, die Referenzen,der Botschafter aus.

Mathematisches Stillleben

In der Forschung herrscht Konsens darüber, dass diedargestellten Gegenstände als Pars pro Toto für dasmathematisch fundierte Quadrivium stehen. Wie dieJuxtaposition von Himmels- und Erdglobus andeutet,thront die Astronomie auf dem oberen Tablar über denWissenschaften auf dem unteren Brett, nämlich überArithmetik (Rechenbüchlein), Musik (Gesangbuchund Musikinstrumente) und Geometrie (Zirkel und

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Abb. 2:Rowland Lockley nach HansHolbein dem Jüngeren, Bildnisder Familie von Thomas More,1590er Jahre, Öl auf Leinwand,zirka 245 × 399 cm. Wakefield,Nostell Priory, Sammlung SaintOswald.

Winkeleisen). Die mathesis universalis präsentiertsich hier als Fundamentalwissenschaft, und ihre no-belste Anwendung, die Astronomie, gilt als Leitwis-senschaft, die es erlaubt, die harmonisch gestimmteWeltenmaschine zu vermessen, darzustellen und zuverstehen.8 Ob das ausstehende Trivium − Grammatik,Rhetorik, Dialektik − von den beiden Diplomatenselbst verkörpert wird oder nicht, die Etagere dientjedenfalls der Ausstellung ihres humanistischen, ratio-nalistischen und naturwissenschaftlichen Bildungs-ideals als eines Teils ihrer sozialen und beruflichenReferenzen.9

In diesem mathematischen Stillleben hat die For-schung zudem Allusionen auf die politische Zeitge-schichte und den Anlass des Gemäldeauftrags erken-nen wollen. Das lutherische Gesangbuch mit derHymne auf den Heiligen Geist und die universell gül-tigen Zehn Gebote drückten die Hoffnung der beiden

8 Zur Symbolik der Geometrie siehe: Raymond Klibansky, Er-win Panofsky und Fritz Saxl, Saturn und Melancholie. Studien zurGeschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion undder Kunst (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 1010), übers.von Christa Buschendorf, Frankfurt am Main 1992 (Originalaus-gabe dies., Saturn and melancholy, London 1964), S. 462−485.

9 Zum Trivium siehe: Hervey 1900 (wie Anm. 1), S. 231. ZumQuadrivium siehe: Kenneth Charlton, Holbein’s ›Ambassadors‹and sixteenth-century education, in: Journal of the history of ideas21, 1960, S. 99−109.

französischen Reformkatholiken auf eine friedlicheRückkehr der Protestanten in den Schoß der römi-schen Kirche aus, wofür de Selve sich stark gemachthatte, und umgekehrt deute die gesprungene Saite derLaute − mit Rückgriff auf Andrea Alciatis Emblem-buch von 1531 − sowie die Division im Rechenbüch-lein auf die imminente Gefahr weltpolitischer Dishar-monie und Fraktionierung hin.10 Es ließe sich viel-leicht auch allgemeiner behaupten, dass die Instru-mente zur Messung von Raum und Zeit jene rationaleMäßigung oder Vorsicht symbolisieren, die humani-stisch gebildete Diplomaten als eine wichtige Tugendkultivieren und vorzeigen mochten.11

Dass aber die astronomischen Geräte den Zeitpunkteines bestimmten politischen Ereignisses oder auchnur des Treffens der beiden Freunde anzeigten, wirdgerne behauptet, obwohl sich keine präzise Zeitangabe

10 Hervey 1900 (wie Anm. 1), S. 228; Foister, Roy und Wyld1997 (wie Anm. 1), S. 40−42.

11 Zur Ikonografie mathematischer Geräte siehe: Jutta Göricke,Greifbare Vernunft: zur Ikonographie mathematischer Instrumen-te, in: Erkenntnis Erfindung Konstruktion. Studien zur Bildge-schichte von Naturwissenschaften und Technik vom 16. bis zum19. Jahrhundert, hrsg. von Hans Holländer, Berlin 2000,S. 255−295; Peter-Klaus Schuster, Melencolia I. Dürers Denkbild,2 Bde., Berlin 1991 (Dissertation Universität Göttingen 1975), I,S. 246−251.

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Abb. 3: Schädelanamorphose, Detail aus Abb. 1.

von den gemalten Zifferblättern ablesen lässt.12 Abge-sehen davon, dass den Betrachter/innen kein geringerintellektueller Aufwand zugemutet würde, um ihnenein einfaches Datum zu vermitteln, ist eine solcheastronomische Fetischisierung schon deswegen un-wahrscheinlich, weil sie nahtlos in die Astrologieübergeht, die von allen humanistisch und naturwissen-schaftlich Gebildeten jener Zeit geächtet wurde. Auchin der kunsthistorischen Forschung kann astronomi-scher und geometrischer Formalismus, der Konstella-tionen, Korrespondenzen, ja romanhafte ›Geheimnis-se‹ sucht und findet, an Aberglauben grenzen.13

Vanitas vanitatum

Der berühmte, perspektivisch verzerrte Totenkopf(Abb. 3), der den Bildvordergrund in Holbeins Ge-sandten versperrt, wird seit Herveys Studie als ein tra-ditionelles Symbol der Vanitas interpretiert, das dashumanistische Bildungsideal der Porträtierten konter-

12 Zur ungenauen Darstellungsweise siehe: Frederick A. Steb-bins, The astronomical instruments in Hobein’s ›Abassadors‹, in:The journal of the royal astronomical society of Canada 56, 1962,April, Nr. 2, S. 45−52; Dekker und Lippincott 1999 (wie Anm. 5).

13 Ein Beispiel dafür ist: John David North, The Ambassadors’secret. Holbein and the world of the Renaissance, London undNew York 22004 (Erstausgabe London 2002). Vgl. auch: DanielCarmi Sherer, Anamorphosis and the hermeneutics of perspectivefrom Leonardo to Hans Holbein the Younger, 1490−1533, AnnArbor 2005 (Dissertation Harvard University 2000).

kariere, indem es daran erinnere, dass jedes mensch-liche Streben eitel und vergänglich sei: »Vanitas va-nitatum, et omnia vanitas« (Prediger Salomo 1,2 und12,8).

Wie Angelica Dülberg gezeigt hat, sind Toten-schädel oft auf dem Verso bürgerlicher Privatporträtszu finden, wo sie als memento mori und Kehrseite derMedaille die Eitelkeit der Porträtierten ausbalancie-ren.14 Im eigenen zukünftigen Spiegelbild konnte mankontemplieren, wie die Individualisierung, die geradeim Privatporträt stattfindet, durch den Tod, den großen›Gleichmacher‹, vernichtet wird. Handelte es sich da-bei um Trompe-l’Œils mit reliefartiger oder perspek-tivischer Raumtiefe, so rühmten sie vielleicht auch diedidaktische Wirksamkeit und Nützlichkeit der Malereiund rügten zugleich deren Materialität und Diesseitig-keit als bloße Sichtbarkeit und Täuschung. Wenn Hol-bein um 1520 zwei illusionistische Totenköpfe in einerFensternische mit Kreuzgitter malte (Abb. 4), so umanzudeuten, dass es nicht für die Augen, sondern al-lein für die Seele Aussicht auf ein Jenseits dieses leib-lichen und trügerischen Kerkerfensters gebe.15

Die perspektivisch verkürzte Brosche an DintevillesKopfbedeckung zeigt vermutlich das Wappen des To-des, wie es Holbein um 1526 für seine Holzschnitts-erie des Totentanzes entworfen hatte.16 Die impresabesteht aus dem Totenschädel als visuellem corpo,dem vielleicht eine schriftliche anima zukam, abervielleicht gerade keine, um die Vergeblichkeit jedenKommentars zu unterstreichen. Nimmt man Dintevil-les devise ernst, die er als sein ›wahres‹ Porträt amHut trägt, statt sie auf der Gemälderückseite zu ver-bergen, muss man seine Selbstdarstellung im Be-wusstsein des Todes betrachten. Die bisherige For-

14 Angelica Dülberg, Privatporträts. Geschichte und Ikonologieeiner Gattung im 15. und 16. Jahrhundert, Berlin 1990 (Disser-tation Universität Köln 1985), S. 153−163.

15 Zu Holbeins Zwei Totenköpfen siehe: Die Malerfamilie Hol-bein in Basel, Ausstellungskatalog (Basel, Kunstmuseum,4.6.−25.9.1960), hrsg. von Joseph Gantner u. a., Basel 1960,S. 132−133, Nr. 91; Christian Müller, It is the viewpoint that mat-ters: observations on the illusionistic effect of early works byHans Holbein, in: Hans Holbein. Paintings, prints, and reception,Tagungsakten (Washington, National gallery of art,21.−22.11.1997), hrsg. von Mark Roskill und John Oliver Hand,Washington 2001, S. 16−35, hier S. 28−29.

16 Siehe Holbeins Totentanz in: Hans Holbein, Totentanz, Wies-baden 2003. Vgl. dazu: Frank Petersmann, Kirchen- und Sozial-kritik in den Bildern des Todes von Hans Holbein d. J., Bielefeld1983 (Dissertation Universität Osnabrück 1983); Peter Parshall,Hans Holbein’s Pictures of death, in: Roskill und Hand 2001 (wieAnm. 15), S. 82−95.

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Abb. 4: Hans Holbein der Jüngere, Zwei Totenköpfe, um1520, Tempera auf Lindenholz, 33 × 25 cm. Basel,Kunstmuseum.

schung sieht daher im anamorphotischen Vanitasmo-tiv der Gesandten eine klare und unwiederbringliche,wenn auch optisch zeitverzögerte Verneinung der wis-senschaftlichen und musischen Ideale der Porträtier-ten, eine Art monastische oder stoische Selbstvernei-nung im höfischen Festgewand, die beide betrifft, denBotschafter und den Kleriker, die vita activa und dievita contemplativa.17 Dieser Interpretationsansatzstützt sich auf die spätmittelalterliche Todesikonogra-fie, die in Holbeins Werk noch präsent ist.

Lob der Torheit

Im Reigen der Totentänze waren immer auch Gebil-dete, Philosophen oder Wissenschaftler dargestellt, die

17 Vgl. dazu: Edgar E. Samuel, Death in the glass − a new viewof Holbein’s ›Ambassadors‹, in: The Burlington magazine 110,1963, Nr. 727, S. 436−441.

Abb. 5: Hans Lützelburger nach Hans Holbein dem Jün-geren, Der Astronom, um 1526, Holzschnitt,6,5 × 5 cm aus: Melchior und Gaspar Trechsel,Les simulacres et historiees faces de la mort, au-tant elegamment pourtraictes, que artificiellementimmaginee, Lyon 1538.

durch einen Astronomen vertreten sein konnten.18 DieKritik am wissenschaftlichen Streben des Menschenhatte Holbein in seinem Totentanz aufgenommen: DerAstronom oder Sterndeuter (Abb. 5) glaubt, die kos-mische Maschine in der geozentrischen Armillar-sphäre zu erkennen, und übersieht dabei jenen Kerndes Irdischen, nämlich den Schädel, der ihm vom Todpersönlich dargeboten wird, der den Astrologen hä-misch auffordert, seine eigenen verbleibenden Tagevorausrechnen.19 Hingegen positiv konnotiert und alsein Vorbild für klerikale Humanisten konnte der To-

18 Zur Ikonografie der Astronomie siehe: Sabine Krifka, ZurIkonographie der Astronomie, in: Holländer 2000 (wie Anm. 11),S. 409–448.

19 Siehe Holbeins Totentanz in: Holbein 2003 (wie Anm. 16),Nr. 27, S. 98−99. Vgl. dazu: Parshall 2001 (wie Anm. 16),S. 82−95.

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Abb. 6:Hans Holbein der Jüngere,Der Mathematiker, 1515/6,Federzeichnung aus: Eras-mus von Rotterdam, Enco-mium moriae i. e. Stultitiaelaus, Basel 1515. Basel,Kunstmuseum, Kupferstich-kabinett.

tenkopf in der Hieronymusikonografie, etwa bei Alb-recht Dürer, als ein Moment der Meditation eingesetztwerden.20 Dass die Künste und Wissenschaften nurScheinweisheit seien und lediglich eine Etappe aufdem Tugendpfad zum wahren Heil darstellten, ist imhumanistischen Gedankengut der Zeit verbreitet undbeispielsweise in der so genannten Kebestafel zusam-mengefasst, die Holbein 1521 und 1522 illustrierte.21

Auch Erasmus von Rotterdam, mit dem Holbeinbefreundet war, zog in seinem Lob der Torheit von1510 über jedes menschliche Wissensstreben her. Un-ter anderen verhöhnte er die langbärtigen Naturphilo-sophen, die ihre Mitmenschen für bloße Schatten hiel-ten, obwohl sie selbst phantasierten, wenn sie ihreWelten bauten und die Gestirne »auf Daumenbreiteund Fadendicke ausmessen, wenn sie den Blitz, denWind, die Finsternisse und andere unerklärliche Er-

20 Zur Hieronymusikonografie siehe: Foister, Roy und Wyld1997 (wie Anm. 1), S. 44−57.

21 Zur Kebestafel siehe: Hans Holbein d. J. Die Druckgraphikim Kupferstichkabinett Basel, Ausstellungskatalog (Basel, Kunst-museum, Kupferstichkabinett, 14. 5.−7. 9. 1997), hrsg. von Chri-stian Müller, Basel 1997, S. 46, Nr. 28 und S. 48, Nr. 30; ReinhartSchleier, Tabula Cebetis oder ›Spiegel des Menschlichen Le-bens/darin Tugent und untugent abgemalet ist‹. Studien zur Re-zeption einer antiken Bildbeschreibung im 16. und 17. Jahrhun-dert, Berlin 1973; Tristan Weddigen, Italienreise als Tugendweg −Hendrick Goltzius’ Tabula Cebetis, in: Nederlands kunsthistorischjaarboek 54, 2005, Jg. 2004, S. 90−139.

scheinungen erklären, ohne zu stocken, als hätten sieder Natur beim Weltbau als Geheimschreiber ge-dient«.22 Dass ihre Wissenschaft unsicher sei, bewie-sen ihre ewigen Meinungsstreitigkeiten: »Obgleich siegar nichts wissen, behaupten sie, alles zu wissen; ob-gleich sie sich selbst nicht kennen und oft den Graben,den Stein auf dem Wege nicht sehen, weil ihre Augennichts wert sind oder ihr Geist auf Reisen gegangen«,rühmten sie sich, recht luftige Dinge zu schauen, »diezu sichten kaum einem Lynkeus glücken dürfte«.23

Mit ihren Schriften, ihren mathematischen Formelnund Figuren und mit ihren Wahrsagereien beeindruck-ten sie nur den Pöbel. Erasmus folgte hierin SebastianBrant, dessen Narrenschiff von 1495 auch die Geo-grafie und Astronomie als vermessene Narretei ver-ballhornte.24

Seine bekannten Randzeichnungen zu Erasmus’Lob der Torheit orientierte Holbein 1515/6 an denZwischentiteln des Kommentars von Gerardus Listri-us.25 Im Abschnitt über die Nichtigkeit der Naturphi-losophie illustrierte er daher nicht nur die Philosophi,sondern auch eine Mischung von Mathematici undPrognostae (Abb. 6): Der Naturphilosoph im Huma-nistengewand und in der Postur eines vermeintlichenWeltenherrschers nennt das Quadrivium und die ma-thematischen Künste sein Eigen, nämlich Arithmetik(Zahlentafel), Geometrie (Messzirkel), Astronomieund Astrologie (Armillarsphäre), Musik (Harfe) sowieGeografie (Erdglobus).26 Betrachtete man vor dieser

22 Erasmus Desiderius (Erasmus von Rotterdam), ΜωριαζΣγχωµιον sive Laus stultitiae. Das Lob der Torheit, in: ders.,Ausgewählte Schriften. Ausgabe in acht Bänden. Lateinisch undDeutsch, hrsg. von Werner Welzig, 8 Bde., Darmstadt 1975, II,S. 1−212, hier S. 129.

23 Ebd.24 Sebastian Brant, Das Narrenschiff. Nach der Erstausgabe

(Basel 1494) mit den Zusätzen der Ausgaben von 1495 und 1499sowie den Holzschnitten der deutschen Originalausgaben, hrsg.von Manfred Lemmer, Tübingen 1968 (Originalausgabe ders.,Das Narrenschyff, Basel 1495), S. 165−169, Fol. 66 R.

25 Siehe Randzeichnungen in: Erasmus Desiderius (Erasmusvon Rotterdam), Erasmi Roterdami Encomium moriae i. e. Stul-titiae laus. Praise of folly. Published at Basle 1515 and decoratedwith the marginal drawings of Hans Holbein the Younger. Nowreproduced in facsimile, hrsg. von Heinrich Alfred Schmid, Basel1930.

26 Siehe dazu: Jurgis Baltrusaitis, Anamorphoses ou Thauma-turgus opticus (Les perspectives depravees, 2), Paris 31984 (Erst-ausgabe ders., Jeu savant. Anamorphoses ou perspectives curie-uses, Paris 1955), S. 132−134; Erika Michael, The drawings byHans Holbein the Younger for Erasmus’ ›Praise of folly‹ (Out-standing dissertations in the fine arts), New York und London1986 (Dissertation University of Washington 1981), S. 113−116,Nr. 41.

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erasmischen Folie, die die Sehmetapher einsetzt undauf den Brunnensturz des Thales aus Platons Theätetanspielt, Holbeins Gesandte als naturphilosophischDilettierende, würde die Schädelanamorphose dasje-nige darstellen, welches die verblendeten Philosophenbei ihrer Himmelschau übersehen, obwohl es − wieder Stein, der Graben, der Brunnen − vor ihren Füßenliegt, nämlich die Endlichkeit der Welt und ihrerselbst.27

Zum intellektuellen Kontext von Erasmus und Hol-bein ließen sich weitere Schriftquellen anführen, wieetwa die von Jurgis Baltrusaitis herangezogene, 1530erschienene Schrift De incertitudine et vanitate scien-tiarum et artium excellencia verbi dei declamatioAgrippas von Nettesheim.28 Auch hier werden dieKünste und Wissenschaften, etwa Astronomie, Geo-metrie und Mathematik sowie Malerei und Perspekti-ve, im Vergleich zu Gottes Wort als Blendwerk undAberglaube abgetan. Dieser bisherige ›negative‹ Deu-tungsansatz erklärt jedoch nicht, warum Holbein denSchädel als Anamorphose gestaltete.

Anamorphose als symbolische Form

Baltrusaitis’ einflussreiches Buch von 1955, das imRahmen der surrealistischen Wiederentdeckung der›Manierismen‹ steht, hat Holbeins Gesandte in dentechnikgeschichtlichen Kontext der frühneuzeitlichenMode der Anamorphose gestellt.29 Baltrusaitis’ gehtallerdings ebenso wenig über die Vanitasikonografiehinaus, die er als ein Wahrnehmungserlebnis in zweiAkten beschreibt. Angeregt durch dieses Anamor-phosenbuch deutete Jacquas Lacan 1964 an − abge-sehen von einem weniger erhellenden, psychoanalyti-schen Vergleich des anamorphotischen Schädels miteinem tätowierten Penis und einer schwebenden Ba-guette von Salvador Dalı −, dass es sich bei HolbeinsGesandten um eine selbstreflexive ›Blickfalle‹ handle,die das Sehen sich selbst vor Augen stelle (»se voir sevoir«).30 Erst seit den 1970er Jahren und in der Post-

27 Siehe den Brunnensturz des Thales in: Platon, AusgewählteWerke, hrsg. von Friedrich Schleiermacher, 5 Bde., München1919, II, S. 608.

28 Baltrusaitis 1984 (wie Anm. 26), S. 136−141.29 Ebd. Siehe auch: Martin Kemp, The science of art. Optical

themes in western art from Brunelleschi to Seurat, New Haven1990, S. 208−210.

30 Jacques Lacan, Le seminaire de Jacques Lacan. Livre XI. Lesquatre concepts fondamentaux de la psychanalyse, 1964 (Lechamp freudien), hrsg. von Jacques-Alain Miller, Paris 1973,S. 75−84.

moderne wird die Bildgattung der Anamorphose alseine Panofsky’sche ›symbolische Form‹ verstanden,die die frühneuzeitliche kopernikanische Wende zumSubjekt in den Bildkünsten und der Literatur sowie diekulturelle Konstruktion von Realität verkörpert.31 Sohat beispielsweise Jean-Francois Lyotard 1971 dieAnamorphose als eine strukturelle Kritik des Darstel-lenden − und nicht des Dargestellten − am Signifikan-ten, als eine selbstreflexive oder selbstkritische Bild-form, ins Spiel gebracht.32

In seiner profunden religionsgeschichtlichen Studiehat Konrad Hoffmann 1975 die Antithetik der zweiBlickpunkte in Holbeins Gesandten allegorisch inter-pretiert, nämlich als einen Schritt vom Leben zumTod, den die Betrachter/innen durch den Standort-wechsel optisch nachvollziehen würden.33 Den Gegen-satz zwischen den mathematischen Gerätschaften undder Anamorphose hat Hoffmann mit dem Hinweis aufdie fideistischen Schriften und Reden de Selves be-stärkt. Darin vertritt der Kleriker, dass nicht die Wis-senschaften, sondern nur die Selbst- und Gotteser-kenntnis angesichts des Tode sowie die Gottes- undNächstenliebe Vollendung und Seligkeit versprächen.

1980 machte Stephen Greenblatt die Anamorphoseliteraturhistorisch fruchtbar und verglich Holbeins Ge-sandte mit Thomas Mores De optimo reipublicae statudeque nova insula Utopia von 1516.34 So wie Dinte-villes goldene Brosche mit dem Totenschädel ein Zei-chen von Selbsterhöhung und Selbstverneinung zu-gleich sei, relativiere die Anamorphose, nämlich derTod als ›blinder Fleck‹ im Blickfeld diesseitsgewand-ter Weltanschauung, das selbstbewusste Auftreten derGesandten. Die Anamorphose zwinge den ›normalen‹Blickpunkt zu verlassen, und diese Standpunktände-rung defiguriere die Gestalten, verwandle sie in bloße

31 Erwin Panofsky, Die Perspektive als ›symbolische Form‹, in:Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, hrsg. von HariolfOberer und Egon Verheyen, Berlin 1992, S. 99−168 (ErstausgabeLeipzig und Berlin 1927). Zur literaturwissenschaftlichen Ana-morphoserezeption siehe zum Beispiel: Ernest B. Gilman, The cu-rious perspective. Literary and pictorial wit in the seventeenthcentury, New Haven 1978; David R. Castillo, (A)wry views ana-morphosis. Cervantes, and the early picaresque (Purdue studies inromance literatures, 23), West Lafayette 2001. Siehe auch denaktualisierten Anhang in: Baltrusaitis 1984 (wie Anm. 26),S. 291−305.

32 Jean-Francois Lyotard, Discours, figures, Paris 1971, S. 378.33 Konrad Hoffmann, Hans Holbein d. J.: Die Gesandten’, in:

Festschrift für Georg Scheja zum 70. Geburtstag, hrsg. von Alb-recht Leuteritz u. a., Sigmaringen 1975, S. 133−150, hier S. 137.

34 Stephen Greenblatt, Renaissance self-fashioning. From Moreto Shakespeare, Chicago 1980, S. 17−27.

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376 Tristan Weddigen

Pigmente und Figmente, lasse sie verschwinden undsterben. Dass Holbein gerade den Tod, der jedemenschliche Kunstfertigkeit vernichte, mit herausra-gender Fertigkeit dargestellt habe, sei ein beabsichtig-tes Paradox, dass einen grundlegenden Zweifel an denwissenschaftlichen und künstlerischen Realitätskon-struktionen bezwecke. Holbeins Gesandte ließen sichdaher mit den literarischen Techniken der Verfrem-dung (estrangement) und des Perspektivwechsels ver-gleichen, die More in seiner Utopia einsetzte, um diekonventionellen Weltanschauungen seiner Zeit radikalzu hinterfragen. Für Greenblatt sind allerdings beideWerke gebildete Denk- und Wahrnehmungsspiele, de-nen der christliche Glaube − das den Tod bezwingendeKruzifix im Gemäldehintergrund − ein sicheres undpositives Ende setze.

Für den Vergleich der Holbein’schen Anamorphosemit Mores ›Umwertung aller Werte‹ sei hier ein Text-passage aus Utopia angeführt, die den Gesandten aufden Leib zugeschnitten scheint. Zur didaktischen Il-lustration der Entwährung des Goldes und aller edlenMaterialien erzählt More von den drei Gesandten derAnemolier, die die Sitten der Utopier schlecht kanntenund sich daher den Fauxpas leisteten, materiellenPrunk zur Schau zu stellen. Bei dieser fiktiven Anek-dote könnte es sich um eine Kritik Mores am römi-schen Hof handeln, wo 1514 jene äußerst prunkvolleObedienzerweisung der portugiesischen Gesandten,unter ihnen Tristan da Cunha, inszeniert worden war,welche in ganz Europa für Aufsehen gesorgte hatte.35

Was bei More als tadelnswert erscheinen soll, ist ebenjene renaissancetypische, höfische Repräsentation,welche Holbeins Gesandte so beeindruckend macht:

So hielten denn die drei Gesandten ihren Einzug mit einemGefolge von hundert Mann, alle in buntfarbiger Kleidung,die meisten in Seide, die Gesandten selbst (da sie zu Hausezum Adel gehörten) in goldbestickten Gewändern, mit gro-ßen goldenen Halsketten und Ohrringen, dazu mit golde-nen Fingerringen an den Händen, ja obendrein auch nochdie Hüte mit Agraffen besteckt, die von Perlen und Edel-steinen funkelten, kurzum, mit all den Dingen geschmückt,die bei den Utopiern als Strafmittel oder als Schandmal derEhrlosen oder als Kindertand Verwendung finden.36

35 Zu da Cunhas Schmuck und Kleidung mit Perlen und Gold,die den Reichtum aus den portugiesischen Eroberungen vorzeigensollten siehe: Ludwig von Pastor, Geschichte der Päpste seit demAusgang des Mittelalters, 16 Bde., Freiburg im Breisgau8–131891−1933, IV.1, S. 51−53; Matthias Winner, Raffael malt ei-nen Elephanten, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutesin Florenz 11, 1964, S. 71−109.

36 Thomas More, Utopia, hrsg. von Eberhard Jäckel, übers. von

Cornelius Claussen hat 1993 den Widerspruch undDekorumsbruch zwischen der Repräsentation der Por-trätierten und der Vanitasikonografie mit dem Argu-ment aufzulösen versucht, dass der Hinweis auf dieEitelkeit des menschlichen Lebens den Verdacht per-sönlicher Eitelkeit der Dargestellten neutralisiere.37

Diese Dialektik von Affirmation und Negation,Selbstdarstellung und Demut, wie sie in Vanitasbil-dern zu finden ist, funktioniert durchaus, wie schonallein das Todeswappen Dintevilles zeigt: So wie dersilbergraue Schädel die goldene Brosche als nutzlosenSchmuck negiert und zugleich als nützliche, mahnen-de Negation rechtfertigt, so scheint auch die beingraueSchädelanamorphose das unbescheidene Auftreten desreichen, gebildeten, schönen, jungen Adligen durchNegation zu rechtfertigen oder zumindest zu entschul-digen.38 Hans Belting sieht konsequenterweise im›Stolperstein‹ der Anamorphose einen bewussten Ge-stus der Antirepräsentation, nämlich eine Kritik so-wohl am Dargestellten als auch am Darstellen selbst,die sich beide als Illusion entpuppten.39 Allerdingswürde eine große, bunte und aufwändige prophylak-tische Entschuldigung für die eigene Eitelkeit, als diedie Gesandten zu verstehen wären, etwas vordergrün-dig wirken.

Weg aus der Melancholie

Die doppelgesichtige Bildstruktur der Gesandten wirdimmer wieder malerisch daran festgemacht, dass derSchlagschatten des Schädels von der Lichtführung imGesandtenporträt abweiche und so die frontal sicht-bare Bildwirklichkeit verneine. Dieses hartnäckigeVersehen stammt daher, dass der Schatten des Schä-dels frontal betrachtet wird, wo doch die Lichtführung

Gerhard Ritter, Stuttgart 1964, S. 88; Thomas More, Utopia. Latintext and English translation, hrsg. von George M. Logan, RobertM. Adams und Clarence H. Miller, Cambridge 1995, S. 151−153.

37 Claussen 1993 (wie Anm. 1), S. 182.38 Die Frage, ob Holbeins Gemälde zuerst nur Dinteville dar-

stelle und ob das Bildnis de Selves erst an einem späteren Zeit-punkt hinzugefügt wurde, müsste nochmals gestellt werden, zumaldie linke Hälfe des Bildes kompositionell autonom erscheint undbeträchtliche Schäden an der rechten Kante der fünften Latte derTafel zu sehen sind. Siehe Restaurierungsbericht in: Foister, Royund Wyld 1997 (wie Anm. 1), S. 88−96.

39 Hans Belting, Repräsentation und Anti-Repräsentation. Grabund Porträt in der frühen Neuzeit, in: Quel corps? Eine Frage derRepräsentation, hrsg. von dems., Dietmar Kamper und MartinSchulz, München 2002, S. 29−52, hier S. 36−39. Zur Metapherdes ›Stolpersteins‹ siehe: Jeannette Zwingenberger, Holbein derJüngere, Bournemouth 1999.

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377Im Blickwinkel des Todes

nach dem jeweiligen Standpunkt zu beurteilen wäre.Wenn der Schädel perspektivisch korrekt betrachtetwird und das Gesandtenbildnis hingegen zu einem un-förmigen Fleckenteppich mutiert, ergibt sich für beideBlickpunkte dieselbe relative Lichtführung aus demoberen rechten Realraum. Die Ausrichtung des Schä-dels entspricht in etwa derjenigen des Kopfes von Ge-orge de Selve. Erst dann ist zu beobachten, wie tech-nisch raffiniert Holbein die helle Seite des Schädelsauf einen verdunkelten Boden gelegt hat und umge-kehrt dessen verschattete Seite auf einen hellen Vor-dergrund. Die Anamorphose und die porträtiertenMänner sowie ihre Gerätschaften gehören − ganz imGegenteil − zu derselben diesseitigen Bildrealität.40

Die bisherigen dualistischen Deutungen sind nichtfalsch, doch erklären sie nicht, warum die mathema-tischen Instrumente und die Anamorphose eingesetztwurden, hätte doch die traditionelle Kombination vonPorträt und Totenkopf genügt. Ein solches zweiseiti-ges Bedeutungsgefüge wird zudem durch den halbverborgenen Kruzifix aufgebrochen und verkompli-ziert, bezieht er sich doch sowohl auf die Wissen-schaften als auch auf den Tod. Im Gegensatz zu an-deren Allegorien der Vanitas der Wissenschaften, etwaDürers Melencolia I, ist in Holbeins Gesandten auchnicht der leiseste Anflug von Melancholie zu erken-nen, weswegen eine Briefstelle Dintevilles von 1533immer wieder bemüht wird, worin er sich selbst, desLondoner Wetters überdrüssig, als »le plus melanco-lique fasche et fascheux ambassadeur« bezeichnet.41

Psychologie und Biografik können jedoch im Falleeines feinmechanisch konstruierten Repräsentations-porträts nicht zu Rate gezogen werden. Auch würdeder bloße Hinweis auf das Illusionäre und Irreale derMalerei in jener Zeit offene Türen einrennen, dennKünstler/innen hatten dieses Argument schon längst ineine Stärke ihres Handwerks umzumünzen verstanden.Weder ein explizites schizoides Selbstverständnis desAuftraggebers noch eine vordergründige Kritik desMalers an den Repräsentationsansprüchen der Patrone

40 Zudem könnte der Schatten des gemalten Schädels auf eineder möglichen Herstellungstechniken der Anamorphose verweisen(ohne dass dies aus einer technischen Notwendigkeit resultierenwürde): Falls Holbein ein Punktlicht und einen durchstochenenKarton für die Projektion des Schädelgrundrisses auf das waag-recht gelegte Gemälde benutzt haben sollte, würde der fiktiveSchatten des Schädels mit dem realen des Kartons übereinstim-men.

41 Hervey 1900 (wie Anm. 1), S. 80: »Je vous advise bien queje suis le plus melancolique fasche et fascheux ambassadeur quevistez oncques«.

sind in diesem historischen Kontext zu erwarten. Essoll daher ein neuer, einfacher Weg gesucht werden,Anamorphose und Repräsentation ›positiv‹ aufeinan-der zu beziehen.

Malereiwissenschaft

Anamorphosen sind − das wird in der Kunstwissen-schaft oft vergessen oder missverstanden − keine »ent-arteten Perspektiven«, wie sie Baltrusaitis nennt, son-dern lineare Zentralprojektionen wie jede andere ›nor-male‹ Zentralperspektive auch.42 Perspektivbilder wir-ken erst dann anamorphotisch, wenn der dargestellteGegenstand außerhalb des Blickfelds des auf denFluchtpunkt fixierten menschlichen Auges (∼ 45°)liegt oder auch wenn unkonventionelle, vom frontalbetrachteten Tableau abweichende Projektionsflächenzum Einsatz kommen. Während klassische zentralper-spektivische Bilder ›blickpunkttolerant‹ sind, weil diegeschulte Wahrnehmung auch leicht verzerrte rechteWinkel zu korrigieren weiß, zwingen Anamorphosendie Betrachter/innen hingegen dazu, den korrektenBlickpunkt einzunehmen, um den Darstellungsgegen-stand überhaupt identifizieren zu können.43 Anamor-phosen bilden dann eine künstlerische Bildgattung,wenn diese Wahrnehmungsbedingung so explizit undintentional eingesetzt wird, dass sie zum Witz des Bil-des gehört. Wie im Fall von Holbeins Gesandten kön-nen mehrere Bilder mit je verschiedenen Blickpunktenauf einem Träger kombiniert werden und formal wieinhaltlich mehr oder weniger aufeinander bezogenwerden. Anamorphosen sind keine Anomalien, son-dern höchstens ›Randbereiche‹ von Zentralperspekti-ven − im Gegenteil sogar: Sie sind praktische Beweis-mittel für die optisch-geometrische Gültigkeit undKorrektheit der perspektivischen Punktprojektion.

42 Siehe den Serientitel von: Baltrusaitis 1984 (wie Anm. 26).43 Zur Wahrnehmungspsychologie der Perspektivkonstruktion

siehe: Ernst Gombrich, Kunst und Illusion. Zur Psychologie derbildlichen Darstellung, Zürich 1978 (Originalausgabe: ders., Artand illusion. A study in the psychology of pictorial representation,Washington und London 1960); Michael Kubovy, The psychologyof perspective and Renaissance art, Cambridge 1986. An dieserStelle sei auf die wenig beachtete kommentierte Bibliografie zurPerspektive erwähnt: Luigi Vagnetti, Prospettiva. De naturali etartificali perspectiva. Bibliografia ragionata delle fonti teoriche edelle richerche di storia della prospettiva. Contributo alla for-mazione della conoscenza di un’idea razionale, nei suoi sviluppida Euclide a Gaspard Monge (Studi e documenti di architettura,9−10), Firenze 1979.

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Seit Leon Battista Albertis De pictura von 1435/36galt die Perspektivkonstruktion als das euklidischeFundament, das die Malerei zu einer ars liberalis, zueiner Wissenschaft der optischen Mimesis, erhebensollte.44 Perspektive als naturwissenschaftliche Nobi-litierung der Malerei war zudem eine jener Errungen-schaften, die die Renaissance − auch im Bewusststeinder Zeitgenossen − von der Antike abhob und zurNeuzeit machte.45 Es ist kein Zufall, dass die ersteheute noch erhaltenen Anamorphosen sich unter Leo-nardo da Vincis technischen und naturwissenschaftli-chen Notizen des Codex atlanticus finden.46 Das na-turwissenschaftliche Mimesisparadigma gilt auch fürden Feinmaler Holbein, der sich in seinen Fassaden-dekorationen als Perspektiviker und Quadraturist ei-nen Namen gemacht hatte. In seinen Gesandten istnicht nur die Materialität der gegenständlichen Räum-lichkeit präzis imitiert, sondern die in der Etagere lie-gende, verkürzte Laute und ihr schwarzer Kasten dar-unter fungieren − ähnlich dem florentinischen mazzoc-chio − seit Dürers Schlussillustration der Unterwei-sung zur Messung von 1525 als ein ›Meisterstück‹ undSymbol der Perspektivkunst.47 Diese ist daher in je-nem mathematischen Stillleben impliziert, dessen Ge-rätschaften nicht nur für Dintevilles, sondern auch fürHolbeins naturwissenschaftlich geprägtes Weltbildstehen, zumal dieser sich in seinen Basler Jahren zwi-schen den zwei Englandaufenthalten intensiv mit derHerstellung wissenschaftlicher Bilder und mit den ma-thematischen Künsten beschäftigt hatte, nämlich mitder Herstellung von Welt- und Sternenkarten, ge-druckter Sonnenuhren und wissenschaftlicher Buchil-lustrationen für den Kosmografen Sebastian Mün-ster.48

44 Leon Battista Alberti, Das Standbild − Die Malkunst −Grundlagen der Malerei. De statua − De pictura − Elementapicturae, hrsg. von Oskar Bätschmann, Christoph Schäublin undKristine Patz, Darmstadt 2000, S. 194−233, Rudimenta.

45 Zur antiken Raumkonstruktion siehe unter anderem: JohnWhite, The brith and rebirth of pictorial space, Cambridge, Mass.31987 (Erstausgabe London 1957).

46 Zur Leonardo siehe: Kim H. Veltman, Linear perspective andthe visual dimensions of science and art (Studies on Leonardo daVinci, 1), München 1986, S. 157.

47 Albrecht Dürer, Underweysung der messung mit dem zirckelund richtscheyt in Linien ebnen unnd gantzen corporen, Nürnberg1525. Siehe dazu: Baltrusaitis 1984 (wie Anm. 26), S. 128−133.

48 Siehe dazu: Müller 1997 (wie Anm. 21), S. 179−180, Nr.115m−115q: verschiene Sonnenuhren (um 1530). Ebd.,S. 176−178, Nr. 115a−115l: Sternbilder (um 1530/2) für SebastianMünsters Rudimenta mathematica, Basel 1551. Ebd., S. 181−186,Nr. 116a−116f: Illustrationen für Münsters Canones super novum

Ob die Schädelanamorphose eine wortspielerischeSignatur sei (hohl’ Bein), lässt sich nicht belegen,doch ist sie, so besehen, als ein Kunststück zu lesen,mit dem Holbein, wie mit den Messinstrumenten, sei-ne Kenntnisse in den Naturwissenschaften vorführtund das er als ein Siegel seiner ›Malereiwissenschaft‹einsetzt.49 Die Anamorphose ist ein Produkt desQuadriviums, zu dem sich die Malerei in jener Etageregesellt, und stellt eine visuelle Schnittmenge der Bil-dungshorizonte von Auftraggeber und dem sich selbstnobilitierenden Künstler dar. Die Anamorphose führtdasjenige noch deutlicher vor, was nach Erwin Pa-nofsky das klassische zentralperspektivische Bild lei-stet, nämlich eine »Objektivierung des Subjektiven«.50

Im dem Moment, in dem die Betrachter/innen den›rückverwandelten‹ Schädel wahrnehmen, erkennensie die Vanitas des Sichtbaren und werden zugleich alsSubjekte objektiviert. Dies geschieht einerseits, indemeine optisch-geometrische ›Bildfalle‹ zuschnappt, undandererseits, indem der Totenschädel, der da verstecktauflauerte, sie mit Sehpfeilen trifft, sobald sie in seinBlickfeld treten.

Tod und Mimesis

Holbeins erasmisches Kunstverständnis ist vom Para-digma der Mimesis bestimmt.51 Dies kommt beispiels-weise in seinem Bildnis des Humanisten (Abb. 7) von1523 zum Ausdruck, in dem der Maler seine eigeneNachahmungskunst inschriftlich als unnachahmlichbezeichnet. Seine mimetische dexteritas und diligentiawill er nicht nur als herkulisch-bürgerlichen labor ver-standen wissen, sondern paradoxerweise auch als Si-gnatur. Während er im Erasmusbildnis seine auktoria-le Präsenz hinter die ästhetische Grenze des Vorhangssetzt, signiert Holbein seine ›nekrologischen‹ Gesand-

instrumentum luminarum, Basel 1534. Ebd., S. 173, Nr. 114a:Weltkarte (um 1532) für Münsters Novus orbis regionum ac in-sularum, Basel 1537.

49 Zu ›hohl Bein‹ im Sinne von ›hohler Knochen‹ und ›Toten-schädel‹ als Anspielung auf ›Holbein‹ siehe: John Marshall, TheLongford Castle Holbein, in: The times 10. November 1890, S. 3.

50 Panofsky 1992 (wie Anm. 31), S. 123.51 Sie dazu: Bätschmann und Griener 1997 (wie Anm. 1),

S. 22−35. Siehe auch: Jürgen Müller, The eye of the artist: HansHolbein’s theory of art, in: Roskill und Hand 2001 (wie Anm. 15),S. 141−153. Zu den Erasmusbildnissen siehe: Stefan Gronert,Bild-Individualität. Die ›Erasmus‹-Bildnisse von Hans Hobeindem Jüngeren, Basel Schwabe 1996 (Dissertation Universität Bo-chum 1993).

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379Im Blickwinkel des Todes

Abb. 7: Hans Holbein der Jüngere, Bildnis von Erasmusvon Rotterdam, 1523, Öl auf Holz, 73,6 × 51,4cm. London, National Gallery.

ten in einem Akt der humilitas auf dem Boden und mitdem verschatteten, kaum mehr sichtbaren ›faciebat‹des Apelles. Einerseits zeugt diese Rhetorik ›objekti-ver‹ und ›stilloser‹ Naturabbildung vom Anspruch ei-ner Verwissenschaftlichung der Malerei, die Präsenzmit Authentizität gleichsetzt und Originalität in denintellektuellen concetto verlagert.52

Andererseits, wie im Falle des Toten Christus imGrab von 1521/2, dessen Sterblichkeit mit skalpellar-tiger Präzision der Linie nachvollzogen wird, verehrtder Künstler durch scheinbar ›selbstlose‹ und daringerade schöpfergleiche Naturdarstellung, durch einewörtlich verstandene imitatio Christi, das Werk undden Heilsplan Gottes.53 Es ist jener selbstreflexive, po-sitivistische Blick, der eine Selbstauslöschung der

52 Siehe dazu: Bätschmann und Griener 1997 (wie Anm. 1),S. 149−193.

53 Siehe dazu: dies., S. 88−97.

auktorialen Handschrift mit sich führt und der Holbeinso modern macht.

Die Anamorphose der Gesandten ist nicht ein blo-ßes technisches Kunststückchen, das einen beliebigenGegenstand verzerrt, sondern sie stellt einen Schädelanatomisch präzis dar, der für den Tod an sich steht.Betrachtet man Holbeins Kunst als ›wissenschaftlicheMalerei‹, die sich an der mathesis universalis misst,erscheinen umgekehrt, wie die gemalten Messinstru-mente andeuten, die Naturwissenschaften als künstle-risch, darstellend und grafisch, das heißt als Werke desdisegno, wie Federico Zuccaro später behauptenwird.54 Beide, sowohl die Naturwissenschaften, etwaAstronomie und Geografie, als auch die perspekti-visch fundierte Malerei, sind Messkünste. Der Natur-philosoph und der mimetische Künstler können nichtsanderes, als die sichtbare Welt beobachten, vermessen,beschreiben und abbilden. Nur das Endliche könnendie Philosophen mit ihren Messinstrumenten und dieMaler mit ihrer Perspektivkunst begreifen. Jede neueErkenntnis, jedes neues Bild, jede Linie bestätigt dieEndlichkeit des Menschen, seiner Erkenntnismittel,seiner Wissenschaften und Künste. Tod und Vergäng-lichkeit sind die äußerste Grenze von Kunst und Wis-senschaft und ihre letzte Erkenntnis.

In Holbeins Anamorphose decken sich Darstellungund Dargestelltes. Ein Produkt der Wissenschaft führtvor, was Wissenschaft eigentlich sei: Ausmessung derEndlichkeit. Diese Funktion der Malerei lässt sich mitErasmus von Rotterdams Devise des Terminus (Abb.8) vergleichen, die der Totenschädeldevise Dintevillesverwandt ist und die Holbein mehrmals dargestellthat.55 Wie das dazugehörige Motto mors ultima linearerum besagt, ist der Tod die äußerste Grenzlinie allerDinge.56 Holbeins Schädelanamorphose zeigt, dass dieMalerei nur die Umrisse und die Endlichkeit dieserWelt wiedergeben kann: In jedem Strich malt der Todmit.

54 Federico Zuccaro, L’idea de’ pittori, scultori, et architetti, 2Bde., Turin 1607.

55 Zu Erasmus’ Imprese siehe: Edgar Wind, Aenigma Termini,in: Journal of the Warburg and Courtauld institutes 1, 1937−1938,S. 66−69. Die paraphrasierte Bedeutung der Devise sei nachWind: »He who looks upon death as the boundary of life andkeeps the ultimate end of life in view may well take Terminus ashis emblem, for he refuses to place his temporal welfare higherthan his eternal one.« Siehe dazu auch: Matthias Winner, Hol-bein’s Portrait of Erasmus with a Renaissance pilaster, in: Roskillund Hand 2001 (wie Anm. 15), S. 155−173.

56 Vgl. dazu: Bätschmann und Griener 1997 (wie Anm. 1),S. 155−158.

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380 Tristan Weddigen

Messung und Vermessung

Schädelanamorphose und Instrumentenstillleben,Kunst und Naturwissenschaft, finden ihre gemeinsameGrundlage in der Mathematik als Methode, das Dies-seits zu begreifen und darzustellen. Der Tod ist in derWelt, und der Dualismus besteht daher nicht zwischender Anamorphose und den Messinstrumenten, sondernzwischen ihnen und dem Kruzifix am linken oberenBildrand. Als Symbol der Menschwerdung Gottes undder Bezwingung des Todes durch das Blutopfer Christiverhält sich das Kruzifix komplementär zur Vanitas-thematik und definiert die Endlichkeit erst als solche.Wiederum fragt sich hier, ob jenes kleine Kruzifix dieFunktion haben könne, die Repräsentation der Ge-sandten nicht nur zu relativieren, sondern gänzlich zunegieren. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass jeneeindrucksvolle und aufwändige Selbstdarstellung derbeiden Porträtierten allein ihren Zweck darin habenkönne, sich selbst als bloße Eitelkeit zu demaskieren.Das Verhältnis zwischen dem Glauben und den freienKünsten muss daher hinterfragt werden.

Im Rahmen seiner Auslegung der Melencolia I Dü-rers hat Peter-Klaus Schuster angedeutet, dass in Hol-beins Gesandten kein Antagonismus zwischen denGeräten der Wissenschaft und dem Totenschädel alsVanitassymbol geben müsse, da das Bewusstsein derEndlichkeit als tugendhafte Selbsterkenntnis ausgelegtwerden könne.57 Im Bewusstsein ihrer Endlichkeit an-gesichts der göttlichen Weisheit sei Wissenschaft, ins-besondere auch die Naturphilosophie, nach DürersAuffassung, wie seine Schriften belegen, eine tugend-hafte und nützliche Tätigkeit. Sich mit Hilfe gottge-gebener Begabung und der mathematischen Künste −also auch der Malerei − der Schöpfung erkennend zunähern, die Gott als lesbar geschaffen habe, sei einkreatives Bemühen des alter deus um Ebenbildlichkeitund somit auch eine Art imitatio Christi.

In dieser Perspektive betrachtet, würde in HolbeinsGesandten ein ›positives‹ Verständnis der freien Kün-ste vertreten, das sie vor einem wissenschafts- undbilderfeindlichen Radikalismus bewahrt. Es wäredemnach gerade die Aufgabe der freien Künste, dasSichtbare, die Endlichkeit, die Schöpfung zu erfor-schen, nachzuvollziehen und zu loben. Himmelsglo-

57 Schuster 1991 (wie Anm. 11), I, S. 123−159. Vgl. dazu: Hart-mut Böhme, Albrecht Dürer. Melencolia I im Labyrinth der Deu-tung (Kunststück), Frankfurt am Main 1991.

Abb. 8: Quentin Massys, Medaille von Erasmus von Rot-terdam, 1519, Verso. Basel, Historisches Museum.

bus, Sonnenuhr, Musik und Malereikunststück preisendie Schöpfung und warnen zugleich vor Vermessen-heit. Die Nützlichkeit, der Zweck und die Nobilität derMalerei bestünden darin, Gott und sein Werk zu ehrenund den Menschen zugleich an die eigene Endlichkeitund die eigenen Erkenntnisgrenzen zu erinnern. WennBilder und Bildhaftigkeit eitel und nichtig sind, ist esauch die Malerei − außer sie thematisiert und illu-striert paradoxerweise eben ihre Endlichkeit, um aufdas ewige Leben und den deus artifex zu verweisen.Holbein, Maler in Zeiten konfessionellen Umbruchs,macht eine Tugend aus der Not und aus einer mime-tischen Malerei ein Instrument zur ›Unterweisung derMäßigung‹.

Utopie einer fröhlichen Wissenschaft

Humanisten wie Erasmus von Rotterdam waren sichder Renaissance der Künste und Wissenschaften in ih-rem Zeitalter bewusst, verteidigten sie gegen religi-ösen Fundamentalismus und Ikonoklasmus und ver-suchten, Humanismus und Religion in Einklang zubringen.58 Ein ›positives‹ Verständnis von Wissen-

58 Erwin Panofsky, Erasmus and the visual arts, in: Journal ofthe Warburg and Courtauld institutes 32, 1969, S. 200−227. Zum

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381Im Blickwinkel des Todes

schaft, wie es in den Gesandten zu vermuten ist, lässtsich in Thomas Mores Utopia wieder finden, die Hol-bein durch persönlichen Kontakt zu More bekannt warund für deren Basler Ausgabe von 1518 sein BruderAmbrosius eine imaginäre Landkarte entworfen hat-te.59

In Utopia werden die Naturwissenschaften explizitals etwas Positives und gegen religiösen Fundamen-talismus verteidigt. More unterstreicht, dass die Uto-pier Naturphilosophie betreiben würden, aber vor al-lem die schönen und nützlichen mathematischen Wis-senschaften wie Musik und Arithmetik, und zwar ohnejeden scholastischen Firlefanz. In der Astronomie sei-en sie besonders weit, obwohl auch hier Meinungsun-terschiede herrschten. Die nötigen Messinstrumentehätten sie erfunden, doch blieben sie der Astrologievöllig fern.60

Ihre vernunftgeleitete Moralphilosophie würden dieUtopier mit ihrer sinnenfreudigen Religion zu verei-nen wissen. Friedlich koexistierten die unterschied-lichsten Glaubenrichtungen, die alle darin übereinkä-men, dass eine einzige göttliche Kraft als Schöpferindes Weltalls erkannt werde, von allen Bewohner/innen›Mythras‹ genannt. Der erste Grundsatz der Utopiersei, dass die Seele unsterblich und durch Gottes Gütefür die Glückseligkeit geschaffen sei. Glückseligkeitbestehe in ehrbaren Vergnügen, und Tugend sei, na-turgemäß zu leben, das heißt der Vernunft zu gehor-chen. Diese entzünde die Liebe und Verehrung dergöttlichen Majestät und sporne an, ein glückliches Le-ben zu führen und anderen zu helfen. MitmenschenFreude zu bereiten, sei das oberste Gebot der Mensch-lichkeit.61

Die Vergnügen seien leiblicher und seelischer Art.62

Zu den körperlichen gehörten die natürlichen Sinnes-reize, etwa essen und abführen, sowie Gesundheit und

erasmischen Kunstverständnis Holbeins siehe: Vgl. dazu: PaulGerhard Schmidt, Zur Ästhetik des Erasmus von Rotterdam, in:Literatur, Musik und Kunst im Übergang vom Mittelalter zur Neu-zeit. Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung derKultur des Spätmittelalters 1989 bis 1992 (Abhandlungen derAkademie der Wissenschaften in Göttingen, philologisch-histori-sche Klasse, dritte Folge, 208), hrsg. von Hartmut Boockmannu. a., Göttingen 1995, S. 36−46; Oskar Bätschmann und PascalGriener, Hans Holbein d. J. Die Solothurner Madonna. Eine ›Sa-cra Conversazione‹ im Norden, Basel 1998, S. 111−125.

59 Gantner u. a. 1960 (wie Anm. 15), S. 156, Nr. 120−121.60 More 1964 (wie Anm. 35), S. 91−92; ders. 1995 (ebd.),

S. 151−153.61 More 1964 (ebd.), S. 92−94; ders. 1995 (ebd.), S. 159−165.62 More 1964 (ebd.), S. 100−105; ders. 1995 (ebd.),

S. 167−179.

Schmerzfreiheit. Die Freuden der Seele, die sie amhöchsten schätzten, bestünden in der Verstandestätig-keit und Betrachtung der Wahrheit, im Bewusstseineines rechtschaffenen Lebenswandels und in der Hoff-nung auf das zukünftige Heil. Ihr Wissen ginge auf diealten Griechen zurück und unter den nützlichen Wis-senschaften, durch die sie viele Erfindungen machten,zögen sie aus der Medizin das größte Vergnügen.Wenn sie mit der Naturphilosophie die Geheimnisseder Natur erforschten, würden sie nicht nur sich selbstVergnügen bereiten, sondern auch den Urheber undWerkmeister der Natur preisen: Naturwissenschaft seiGottesdienst:63

Denn sie meinen, dieser habe, ähnlich wie andere schaf-fende Künstler, den bewundernswerten Mechanismus die-ses Weltalls dem Menschen, den er allein befähigt hat, einso riesenhaftes Kunstwerk in sich aufzunehmen, zur Be-trachtung hingestellt; und darum habe er lieber einen wiss-begierigen und eifrigen Betrachter und Bewunderer seinesWerkes, als einen Menschen, der wie ein vernunftlosesTier ein so gewaltiges und wundervolles Spektakel stumpfund unbewegten Herzens unbeachtet lässt.64

Ein ähnlicher Glaube an das friedliche Zusammenle-ben unterschiedlicher Konfessionen, an die Nützlich-keit und Legitimität der mechanischen und freienKünste, an die vernunftgeleitete und gottgegebeneGlückseligkeit des Menschen scheint Holbeins Ge-sandte zu beseelen.

Durch den Vorhang, durch das Fleisch

In den Gesandten betrachtet Holbein die Künste undWissenschaften sub specie aeternitatis. So wie dasmathematische Stillleben und die Anamorphose dientdas kaum wahrnehmbare, an einem unwahrscheinli-chen Ort angebrachte Kruzifix (Abb. 9) nicht primäreiner realitätsgetreuen Inszenierung der Porträtierten,sondern der allegorischen Reflexion sowie als zweiter,unendlich weit entfernter Blickpunkt − als Sicht vomKreuz herab. Sowohl auf Grund seiner marginalen Po-sition und seines kleinen Formats als auch seiner be-scheidenen Materialität und Formensprache ist dasSilberkruzifix stark zurückgenommen. Totenschädelund Kruzifix: So wie den Tod als Grenze des irdischenLebens kann der wissenschaftliche Maler auch das

63 More 1964 (ebd.), S. 139; ders. 1995 (ebd.), S. 229.64 More 1964 (ebd.), S. 108; ders. 1995 (ebd.), S. 183.

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382 Tristan Weddigen

Abb. 9: Kruzifix, Detail aus Abb. 1.

ewige Leben nur als sichtbaren Gegenstand, als bloßeIllusion, als Bild eines Bildes, darstellen. Dass dasmaterielle Symbol für den Glauben mit solcher hu-militas ins Bild gesetzt wird, deutet darauf hin, dass esnicht um den sichtbaren Glauben im Bild, sondern umden wahren Glauben jenseits des Bildes gehen soll.

Der Vorhang hilft, die zweite ›Anamorphose‹ desGemäldes wahrzunehmen, nämlich jene moralischeUmwertung, die sich ergibt, wenn das Kruzifix als der›wahre‹ symbolische Blick- und Fixpunkt auf das trü-gerische Bild der todgeweihten Welt eingenommenwird. Der Wandbehang gewinnt aber im Zusammen-hang mit dem Kruzifix auch eine religiöse Dimension,die auf den Vorhang des mosaischen Stiftszelts an-spielt, den auch Holbein in seinen Bibelillustrationenvon 1538 dargestellt hat.65 Der Vorhang der Stiftshüttediente als Scheidewand zwischen dem Heiligen unddem Allerheiligsten − dahinter die Bundeslade, davor

65 Siehe Bibelillustrationen in: Müller 1997 (wie Anm. 21),S. 162, Nr. 54−55.

der Tisch −, so dass die nebulöse Erscheinung JahvesMoses und Aaron vorbehalten war (Exodus26,31−35). Im Moment, als Christus am Kreuz starb,sei der Stiftsvorhang, der im Salomonischen Tempelhing, in zwei Stücke gerissen (Matthäus 27,51, Mar-kus 15,38, Lukas 23,45), denn Gottvater war in seinemSohn erschienen und hatte damit seine alttestamentli-che Unsichtbarkeit abgelegt. Im Paulus zugeschriebe-nen Hebräerbrief wird das Vorhangmotiv in diesemSinne kommentiert. Die in der mosaischen Stiftshütteund im Zeitalter des Gesetzes vollzogenen Opfer hät-ten keine Gnade gebracht, sondern nur der KreuztodChristi. Der Eingang in das Heilige sei durch das BlutJesu nun geöffnet, »welchen er uns bereitet hat zumneuen und lebendigen Wege durch den Vorhang, dasist durch sein Fleisch« (10,20). Der Wandbehang inHolbeins Gesandten, der das Kruzifix fast verdeckt,steht einerseits für die Physis, für den bildlichenSchein des Diesseits, der die dahinter liegende über-sinnliche Ewigkeit vor dem leiblichen Blick verbirgt.Andererseits ist der Vorhang auch das Fleisch, in demsich der verborgene Gott sichtbar macht, um den Men-schen zu erlösen. Das Fleisch Christi ist dasjenige, indas Gott sich hüllt, um sich zu offenbaren.

Folgerichtig stellt Holbein den Tod nicht, wie etwaBartholomäus Bruyn der Ältere in einem Männerbild-nis, hinter dem Vorhang dar, sondern vor den Vor-hang, nämlich als Essenz des Diesseits.66 Durch dasEinfügen des Vorhangs als Metapher für das Sichtbareund Bildliche invertiert Holbein die üblichen Verhält-nisse und Realitätsebenen: Die Vanitas ist nicht dieKehrseite des Bildnisses, sondern dessen eigentlichesSubstrat, wohingegen das Heil hinter, dass heißt jen-seits des Bildes, im Glauben zu suchen ist. So wie derWeg zum ewigen Leben durch das Fleisch und durchden Vorhang führt, so kann die Wahrheit nicht im Bildgefunden, sondern nur durch das Bild hindurch ge-sucht werden. Die Künste und Wissenschaften, in die-sem Fall auch die Malerei als exakte Wissenschaft,sind daher kein Götzendienst, wenn sie den Zweckhaben, auf ihre eigenen Grenzen und ex negativo aufdasjenige zu verweisen, das sich jenseits ihrer selbstbefindet.

Die Bildstruktur der Gesandten, die die Sphäre desDiesseits derjenigen des Jenseits klar gegenüberstellt

66 Siehe Bruyn Männerbildnis in: Altdeutsche Gemälde. Kölnund Nordwestdeutschland. Vollständiger Katalog, hrsg. von Gi-sela Goldberg und Gisela Scheffler, 2 Bde., München 1972, I,S. 79−81, Inv. WAF 97.

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383Im Blickwinkel des Todes

Abb. 10:Hans Holbein der Jüngere,Gesetz und Gnade, um 1535,Öl auf Holz, 50 × 60 cm.Edinburgh, National Galleryof Scotland.

und die Porträtierten an einem Scheideweg aufstellt,ähnelt jener didaktischen Bildform von Gesetz undGnade, die Martin Luther um 1529 erfand und die sichüber Lukas Cranach den Älteren schnell verbreitete.Eben ein solches Lehrbild sollte Holbein, im Rück-griff auf einen Holzschnitt Geofroy Torys, um 1535malen (Abb. 10).67 Links ist die alttestamentliche Weltsub lege dargestellt, in der der sündige Mensch keineRettung vor Tod und Teufel finden kann, rechts dieneutestamentliche sub gratia, in der der Mensch dankGottes Gnade und Christi Opfertod erlöst wird. In die-sem Gemälde werden Moses mit den Gesetzestafelnund das Skelett im Sarkophag dem Gekreuzigten unddem Auferstandenen gegenübergestellt, der den Todsowie den Satan mit dem Globus in den Klauen be-siegt. Dementsprechend dürften die Schädelanamor-phose, die Messinstrumente und die lutherischen ZehnGebote den Bildvordergrund der Gesandten als dasLeben unter dem Gesetz − auch den Naturgesetzen −markieren, in dem der Tod regiert. Der Bildhinter-grund hingegen erschiene als das Reich der Gnade,

67 Zum ›Prager‹) Bildtypus Gesetz und Gnade siehe: Luther unddie Folgen für die Kunst, Ausstellungskatalog (Hamburg, Kunst-halle, 11. 11. 1983−8. 1. 1984), hrsg. von Werner Hofmann, Mün-chen 1983, S. 210−216.

das durch den Glauben an den Gekreuzigten offensteht und den Tod besiegt. Das Vorher und Nachheraus Gesetz und Gnade wäre hier in ein Davor undDahinter, ein Diesseits und Jenseits des Vorhangs, um-gewandelt worden.

Es wäre zu fragen, ob Holbein, der 1530 an einemreformierten Abendmahl teilnahm, bereits drei Jahrespäter in den Gesandten mit einer Luther’schen Bild-konzeption experimentierte und wie sehr sie den Vor-stellungen der porträtierten evangelikalen Reformka-tholiken entsprochen haben mag.68 In Holbeins Ge-sandten suchen jedenfalls drei Humanisten für die blü-henden Künste und Wissenschaften einen Weg durchdas konfessionelle Chaos ihrer Zeit und involvierendie Betrachter/innen performativ in den Erkenntnis-prozess. Holbein scheint sich für einen erasmischenMittelweg zu entscheiden, für eine didaktisch nützli-che, moralisch und wissenschaftlich selbstreflexive,ansatzweise agnostische und nicht zuletzt intellektuellvergnügliche Malerei, die unter der bildrhetorischenTarnkappe der docta ignorantia die Wahrheit erstrebt.

68 Zur de Selve als evangelique siehe: Hoffmann 1975 (wieAnm. 33), S. 134.

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Bildnachweis: Abb. 1: Foister u. a. 1997 (wie Anm. 1),Faltblatt; Abb. 2: Foister 2004 (wie Anm. 1), S. 251; Abb.3: Foister u. a. 1997 (wie Anm. 1), S. 49; Abb. 4: Gantneru. a. 1960 (wie Anm. 15), Abb. 52; Abb. 5: Holbein 2003(wie Anm. 19), Nr. 27, S. 98−99; Abb. 6: Desiderius 1930(wie Anm. 25), unpag.; Abb. 9: Foister u. a. 1997 (wieAnm. 1), S. 45; Abb. 7: Foister 2004 (wie Anm. 1), S. 173;Abb. 8: Gantner u. a. 1960 (wie Anm. 15), S. 158; Abb.10: Foister 2004 (wie Anm. 1), S. 81.