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INHALTSVERZEICHNIS 03 VORWORT 04 ZUR INSZENIERUNG

04 Besetzung 05 Der Regisseur – Sascha Hawemann 05 Die Bühnen- und Kostümbildnerin – Regina Fraas 06 Die Schauspieler

07 ZUM ROMAN 07 Der Autor – Wolfgang Herrndorf 07 Artikel: Tagebuch eines Todkranken 08 Interview – Wann hat es „Tschick“ gemacht, Herr Herrndorf?

10 Hintergrundwissen Theater: Romanadaption 12 FAMILIENPROBLEME (Alkoholismus der Mutter, Gewalt des Vaters)

13 Alkohol in Deutschland 14 Alkoholismus 15 Häusliche Gewalt 15 „Red Flags“ – Warnzeichen für häusliche Gewalt 16 Arbeitsblatt: Was kann Nadja tun? 17 Arbeitsblatt: Konflikte

18 TSCHICK, EIN RUSSLANDSEUTSCHER 19 Die Geschichte der Russlanddeutschen 21 Russlanddeutsche in der Gegenwart 23 Zahlen 24 Arbeitsblatt: Vorurteile und Klischees 25 AUßENSEITERTUM – MOBBING 26 Mobbing in der Schule 27 Schülerinformationen: Mobbing 28 Arbeitsblatt: Im Umkleideraum 29 Arbeitsblatt: Das Mobbinggeschehen verstehen 30 LANDFLUCHT 31 Landflucht – Aufbruch Ost 33 NACHWEISE, KONTAKT UND IMPRESSUM

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VORWORT Liebe Theaterbesucher, liebe Lehrerinnen und Lehrer! Jede Generation hat ihre Geschichte über das Erwachsenwerden. Vor 60 Jahren bewegte Salingers „Der Fänger im Roggen“ die Jugendlichen, und heute steht Wolfgang Herrndorfs „Tschick“ auf der Bestsellerliste bei jungen Lesern ganz weit oben. Jetzt kommt dieser Erfolgsroman des vergangenen Bücherjahres auf die Bühne der Reithalle. Die schräge „Coming-of-Age“-Geschichte, die in träumerischer Leichtigkeit ihren beiden Helden bei der ersten großen Prüfung ihres Lebens folgt, war 2011 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert und erhielt ebenfalls 2011 den Clemens-Brentano- sowie den Deutschen Jugendliteraturpreis. MAIK: Ich muss dir ein Geheimnis verraten. Ich bin der größte Feigling unter der Sonne.

Der größte Langweiler und der größte Feigling.“

Die Mutter in der Entzugsklinik, der Vater mit seiner Assistentin auf „Geschäftsreise“: Der 14-jährige Maik Klingenberg wird die großen Ferien allein am Pool der elterlichen Villa verbringen. Doch dann kreuzt Tschick auf. Tschick, eigentlich Andrej Tschichatschow, kommt aus einem der Plattenbauhochhäuser in Hellersdorf, hat es von der Förderschule irgendwie bis aufs Gymnasium geschafft und wirkt doch nicht gerade wie das Muster-beispiel gelungener Integration. Dass er einen geklauten Lada Niva zur Hand hat, macht das Bild nicht besser. Aber der Lada macht Maik und Tschick mobil für eine gemeinsame Reise, ohne Karte und Kompass durch das sommerglühende Brandenburg, eine Reise, unvergesslich wie die Flussfahrt von Huckleberry Finn. Das Stück, in der Bühnenfassung von Robert Koall, erzählt von den Problemen Heran-wachsender, wie der ersten Liebe oder der „Rangordnung“ in der Klassengemeinschaft. Gleichzeitig geht es aber auch um eine Vielzahl von Themen, die nicht nur Jugendliche sondern auch Erwachsene betreffen, wie zum Beispiel Alkoholismus. Für dieses Begleitmaterial haben wir Ihnen nützliche Informationen zum Stück und zu den Beteiligten zusammengestellt. Darüber hinaus finden Sie Texte zu den bereits ange-sprochenen Themen Alkoholismus, häusliche Gewalt, Russlanddeutsche, Mobbing und Landflucht. Diese Texte sind zur vertiefenden Vor- und Nachbereitung Ihres Theater-besuchs gedacht. Wir hoffen, dass Sie unsere Auswahl an Arbeitsblättern, Kopiervorlagen, Textauszügen, und der übrigen Materialien zu spannenden und diskursiven Unterrichtsstunden motiviert. Wir wünschen Ihnen und Ihren Schülern einen anregenden Vorstellungsbesuch im Hans Otto Theater Potsdam! Kerstin Kusch Stella Schwacke

Referentin Theater für Junge Mitarbeiterin Theater für Zuschauer und Theaterpädagogin Junge Zuschauer

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ZUM STÜCK

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Der Regisseur – Sascha Hawemann

Sascha Hawemann wurde 1967 in Berlin als Kind zweier Theaterregisseure geboren. Er wuchs in der DDR und in Jugoslawien auf und war Punk in Ostberlin. Von 1988 bis 1991 studierte Sascha Hawemann Schauspielregie in Belgrad und von 1991 bis 1993 an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin. Seitdem erarbeitete er zahlreiche Inszenierungen, darunter in Potsdam (wo er von 1995 bis 2000 als Hausregisseur, ab 1997 als Leitender Regisseur tätig war), in Cottbus, Weimar, Bielefeld, Chemnitz, Magdeburg und Berlin. Seit 2000 arbeitet Sascha Hawemann frei als Regisseur. Er ist Gastdozent für Schauspiel an der HfS „Ernst

Busch“ und inszeniert regelmäßig am Deutschen Theater Berlin (darunter „Taking Care of Baby“ von Dennis Kelly und „Massensterben der Möglichkeiten“ mit Studenten der Berliner Universität der Künste). Am Centraltheater Leipzig (Inszenierungen u. a. „we are blood“ von Fritz Kater, „Die Nacht, die Lichter“ sowie, in der vergangenen Spielzeit, „Sirk the East –Traum von Hollywood“ von Clemens Meyer und „Hamlet Vers 6“ nach William Shakespeare) arbeitet er häufig als Hausregisseur. Am Hans Otto Theater inszenierte er zuletzt 2009 die Deutschsprachige Erstaufführung von „Die Aeneis“ von Olivier Kemeid.

Die Bühnen- und Kostümbildnerin – Regina Fraas

Regina Fraas wurde in Güstrow geboren und studierte Theatre Design an der Royal Academy of Dramatic Art in London, wo sie anschließend zwei Jahre freiberuflich arbeitete. Sie entwarf Bühne und Kostüme für „Fair Trade“ am Pleasance Theatre, „A Skull in Connemara“ am White Bear Theatre, „2 Step - City of London Festival“, St. Paul's Cathedral, sowie „The Lonesome West“ am Tabard Theatre (Critic's Choice des Time Out Magazin). Außerdem war sie Stellvertretende Kostümdirektorin für das Westend-Musical „Into the Hoods“. Am Hans Otto Theater entwarf sie die Bühne für „Der Junge mit dem Koffer“, „Ein Schaf fürs Leben“, „Die Kontrakte des Kaufmanns“, und „Adams Äpfel“. Desweiteren ist sie am Ballhaus Naunynstraße in Berlin als Bühnen-und Kostümbildnerin tätig. Mit der Produktion „Ein Volksfeind“ von Henrik Ibsen (Theater Bonn) in der Regie von Lukas Langhoff nimmt sie am Theatertreffen 2012 teil. „Tschick“ ist nach Strindbergs „Totentanz“ (Theater Magdeburg) ihre zweite Arbeit mit Sascha Hawemann.

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Die Schauspieler

Eddie Irle

Eddie Irle wurde in Herdecke bei Dortmund geboren. Er studierte von 2004 bis 2008 Medienspezifisches Schauspiel an der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ in Potsdam-Babelsberg. Schauspielerisch aktiv war er bereits als Student in Projekten an der HFF und in der Berliner Off-Szene. Mit dem Ensemble „Theater gegen den Mittelstand“ spielte er Aktionstheater. Als leidenschaftlicher Musiker war Eddie Irle Frontmann in verschiedenen Bands. Von 2008/09 an war er Ensemblemitglied am Theater Magdeburg. Seit der Spielzeit 2009/10 gehört Eddie Irle zum Ensemble des Hans Otto Theaters und spielte und spielt hier u. a. Jim in Tennessee Williams’ „Die Glas-

menagerie“ (R: Isabel Osthues), Shakespeares Romeo (R: Bruno Cathomas), Otto von Aigner in „Das weite Land“ von Arthur Schnitzler (R: Tobias Wellemeyer) und Dexter im Musical „High Society“ von Porter/Kopit (R: Nico Rabenald). Florian Schmidtke

Florian Schmidtke wurde in Münster/Westfalen geboren. Von 2003 bis 2007 besuchte er die Staatliche Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart. Schon während des Studiums übernahm Florian Schmidtke Aufgaben am Theater Magdeburg; 2007 wurde er dort Ensemblemitglied. Seit der Spielzeit 2009/10 ist er Ensem-blemitglied des Hans Otto Theaters und hier u. a. als Tom Wingfield in Tennessee Williams’ „Die Glasmenagerie“ (R: Isabel Osthues), Beaumarchais in Goethes „Clavigo“ (R: Annette Pullen), Bobtschinskij in Gogols „Der Revisor“ (R: Peter Kube), Adam in „Adams Äpfel“ von Anders Thomas Jensen (R: Lukas Langhoff) und Benvolio in Shakespeares „Romeo und Julia“ (R: Bruno Cathomas) zu erleben. Juliane Götz

Juliane Götz wurde in Wolgast geboren. Bis zu ihrem Abitur wirkte sie im Jugendtheater und bei den Freilichtfestspielen der Vorpommerschen Landesbühne Anklam mit. Von 2007 bis 2011 studierte sie an der Hochschule für Film und Fern-sehen „Konrad Wolf“ in Potsdam-Babelsberg Schauspiel. Seit der Spielzeit 2009/10 ist sie Mitglied des Hans Otto Theaters und spielt hier u. a. die Hedvig in „Die Wildente“ von Henrik Ibsen (R: Tobias Wellemeyer), das Mädchen Momo (R: Andreas Rehschuh), Sternchen in der Deutsch-sprachigen Erstaufführung „Wie hoch ist oben?“ von Brendan Murray, Shakespeares Julia (R: Bruno Cathomas), Jean in „Eine Familie“ von Tracy Letts (R: Barbara Bürk)

und Dinah Lord im Musical „High Society“ von Porter/Kopit (R: Nico Rabenald).

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ZUM ROMAN Der Autor – Wolfgang Herrndorf

Wolfgang Herrndorf wurde 1965 in Hamburg geboren. Nach Abschluss der Schule studierte Herrndorf Malerei in Nürnberg. Er arbeitete als Illustrator u. a. für den Haffmans Verlag und für die Zeitschrift Titanic. Darüber hinaus stammten von ihm einige Beiträge im Fanzine Luke & Trooke. 2002 erschien im Zweitausendeins-Verlag sein Debütroman „In Plüschgewittern“. 2010 erschien mit „Tschick„ ein weiterer Adoleszenzroman. Das Buch stand wochenlang auf der Bestsellerliste. Nachdem bereits „Tschick“ für den Preis der Leipziger Buchmesse 2011 nominiert gewesen war, erhielt Herrndorf diesen Preis schließlich 2012 für seinen 2011 erschienen Roman „Sand“.

[Quelle 1] Artikel: Tagebuch eines Todkranken - 04.03.2011

Wolfgang Herrndorf ist Schriftsteller und er hat einen Hirntumor. Seine Ärzte geben ihm 17 Monate. Zwölf sind schon um und Herrndorf führt Tagebuch im Internet. Gleichzeitig arbeitet er wie besessen an neuen Werken. Aus dem Internettagebuch von Wolfgang Herrndorf, 8.3.2010, 13 Uhr: „Gestern haben sie mich eingeliefert. Ich trug ein Pinguinkostüm.“ Wolfgang Herrndorf ist nicht irre. Er ist tödlich erkrankt. Der Schriftsteller trägt einen bösartigen Tumor in seinem Hirn. 13.3.2010, 11 Uhr: „Gib mir ein Jahr, Herrgott, an den ich nicht glaube, und ich werde fertig mit allem. (geweint)“. Wolfgang Herrndorf lebt. Noch. Die aufgekratzten Zeilen zu Beginn des Tagebuchs beruhigen sich schnell, werden wieder zu einem nüchternen Stil, der Herrndorfs bisherigen Romanen ähnelt. Mit dem im September erschienenen Jugendroman „Tschick“, geschrieben und montiert aus bereits vorhandenen Ideen unter dem Einfluss des Tumors, gelang ihm, wovon er immer geträumt hatte: Er stand hoch in den Bestsellerlisten, steht auf der Shortlist der Leipziger Buchmesse. „Ich schreibe auch schnell, ungefähr dreimal so schnell wie sonst und zehnmal so viel“, notiert er im ersten Tagebucheintrag. Und, das sei der Ehrlichkeit halber erwähnt, nicht besser oder schlechter als zuvor. Zurzeit, so entnehmen wir seinem Internet-Tagebuch, verbringt er seine Tage auf Fuerteventura. Er arbeitet an seinem Wüstenroman, bisheriger Titel „Sand“. Es geht um einen Mann, der ungeheure Kopfschmerzen hat. Wie Herrndorf selbst, seit der Tumor da ist. „Kopfschmerzen, Übelkeit, schließlich Zittern und Angst. Wovor? Unklar. Nicht vor dem Tod“, notiert er am 26.1.2011. Und: „Arbeite wieder wie eine Maschine“ am 21.2. Der Wüstenroman soll ja noch fertig werden. Doch egal wie gut das Buch ist, es kann nicht so sehr unter die Haut gehen wie sein Internet-Tagebuch.

[Quelle 2]

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Interview – Wann hat es „Tschick“ gemacht, Herr Herrndorf? 31.01.2011 - Kathrin Passig […] Dann sprechen wir jetzt über „Tschick“. Warum ein Jugendroman? Ich habe um 2004 herum die Bücher meiner Kindheit und Jugend wieder gelesen, „Herr der Fliegen“, „Huckleberry Finn“, „Arthur Gordon Pym“, „Pik reist nach Amerika“ und so. Um herauszufinden, ob die wirklich so gut waren, wie ich sie in Erinnerung hatte, aber auch, um zu sehen, was ich mit zwölf für ein Mensch war. Und dabei habe ich festgestellt, dass alle Lieblingsbücher drei Gemeinsamkeiten hatten: schnelle Eliminierung der erwachsenen Bezugspersonen, große Reise, großes Wasser. Ich habe überlegt, wie man diese drei Dinge in einem halbwegs realistischen Jugendroman unterbringen könnte. Mit dem Floß die Elbe runter schien mir lächerlich; in der Bundesrepublik des einundzwanzigsten Jahrhunderts als Ausreißer auf einem Schiff anheuern: Quark. Nur mit dem Auto fiel mir was ein. Zwei Jungs klauen ein Auto. Da fehlte zwar das Wasser, aber den Plot hatte ich in wenigen Minuten im Kopf zusammen. Mit generationsspezifischen Ausdrücken und Angewohnheiten sind Sie dabei sparsam umgegangen. Trotzdem muss man ja herausfinden, was 1995 Geborene so mit ihrer Zeit und ihrem Geld anfangen. Sie sind Jahrgang 1965, woher wissen Sie das? Ich weiß es nicht. Aber das kam mir gar nicht so problematisch vor, dass es sich um Jugendliche handelt – oder jedenfalls nicht problematischer als Handwerker, Ärzte oder Lokführer, wenn man die im Roman auftauchen oder sprechen lässt. Ich glaube nicht, dass Jugend ein spezielles Problem darstellt, auch wenn Scheitern da oft spektakulärer wirkt. Wobei ich mir nicht einbilde, es perfekt gemacht zu haben. Ich habe meinem Erzähler einfach zwei Wörter gegeben, die er endlos wiederholt, und den Rest über die Syntax geregelt. Wenn man erst anfängt, mit Slang um sich zu schmeißen, wird man doch schon im nächsten Jahr ausgelacht. […] Versetzen wir uns ins Jahr 2030. Ihr Buch ist seit zehn Jahren Schullektüre. Neuntklässler stöhnen, wenn sie den Namen Wolfgang Herrndorf hören. Welche Fragen zum Buch müssen in Aufsätzen beantwortet werden? Ich fürchte, man wird sich im Deutschunterricht am Symbolträchtigen aufhängen, an der Schlussszene… …in der Maik unter Wasser in einem Swimmingpool die Hand seiner Mutter hält, während oben die Polizei wartet… …oder an der Szene mit dem Elixier. Das bin ich jetzt auch schon häufiger gefragt worden: Was das für ein Elixier ist, das der Alte mit der Flinte den beiden da aufdrängt? Aber das weiß ich ja auch nicht. Das war nur, weil mich beim Schreiben jemand auf die „Heldenreise“ aufmerksam machte, ein Schema, nach dem angeblich fast jeder Hollywood-Film funktioniert. Da müssen die Protagonisten unter anderem immer ein solches Elixier finden. Habe ich natürlich gleich eingebaut. Nur damit Ihre Helden es eine Minute später aus dem Fenster schmeißen. Ist das eine subtile Kritik an irgendwelchen Erzählformen? Nein, bestimmt nicht. Allgemeine Ansichten zur Literatur habe ich nie gehabt und nie verstanden. Mehr Engagement! Mehr Realismus! Mehr Relevanz! Ist doch alles Quatsch. Sobald Schriftsteller irgendeine Form von Theorie ausmünzen, läuft sie immer sofort darauf hinaus, dass zum allgemeinen Ziel erklärt wird, was der Autor selbst am besten kann und schon seit Jahren praktiziert. Das sind keine Theorien, das ist das, was sich heranbildet in kleinen Hasen, wenn es nachts dunkel wird im großen Wald.

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Was hat es mit den Landschaften auf sich, die Maik und Tschick durchreisen? Wo gibt es diese Mondlandschaften, wo die Berge, „ungeheuer hoch und mit Steinzacken obendrauf“? Im Gegensatz zu meinen Helden bin ich nie in Ostdeutschland gewesen und habe die Reise nur mit Google Maps unternommen. Da kann man von oben nicht sehen, wie hoch die Berge sind. Aber ich war nie ein großer Freund der Recherche. Ich habe versucht, Gegenden zu beschreiben, wie Michael Sowa sie malt: Auf den ersten Blick denkt man, genauso sieht es aus in der Natur! Und wenn man genauer hinschaut, sind es vollkommen durchkonstruierte Sachen, die archetypischen Landschaften wie in idealen Tagträumen. Maiks Mutter ist Alkoholikerin, auch Tschick hat ein Alkoholproblem. Warum gleich zwei Trinker? Das liegt daran, dass ich das Buch mit einer großen Unterbrechung in zwei Zügen geschrieben und das nicht gemerkt habe. Also, es ist mir dann natürlich selbst aufgefallen, aber ich hab' es auch nicht mehr geschafft, es ganz rauszuschmeißen. […] Aber die Sache mit dem Bestseller hat „Tschick“ ja jetzt erledigt. Ich kann mir auch nicht erklären, woran das liegt. Buchhandel, Werbung, Rezensionen – keine Ahnung. Mein Lektor warf neulich die Theorie ein: „Es könnte auch am Buch liegen.“ Aber ich bin vom Literaturbetrieb so gründlich desillusioniert, dass ich das nicht glaube. Welche Illusionen haben Sie da verloren? Illusionen ist vielleicht übertrieben, ich komme ja schon von der Malerei, da ist es ähnlich oder noch schlimmer. Roger Willemsen hat neulich etwas Kluges dazu gesagt, dass es im Literaturbetrieb etwa ein Dutzend Gruppen gibt in Deutschland, meistens Kritikerzusammenballungen mit ein paar Autoren, die der Kritiker immer wieder bespricht und die auch untereinander auf ungute Weise zusammenhängen und dann auch das Übliche mit den Preisvergaben… Aber das ist uninteressant. Fragen Sie Willemsen, der konnte das so formulieren, dass es interessant war. Sie haben Malerei studiert – und aufgegeben. Warum? Ich konnte nicht das, was ich wollte. Außerdem war man mit Realismus und Lasurmalerei an einer Kunsthochschule in den Achtzigern nicht wirklich gut aufgehoben. Ich habe am Ende nur noch Comics gemacht. Bei denen wurden dann irgendwann die Bilder immer kleiner und der Text immer größer, und irgendwann gab es überhaupt keine Bilder mehr. Und ich war auch froh, mit bildender Kunst nichts mehr zu tun zu haben. Was ist besser an der Literatur? Die Kundenfreundlichkeit. Es ist ein großer Nachteil der bildenden Kunst gegenüber der Literatur, dass man sich auch viele Quadratmeter Unsinn schmerzfrei ansehen kann. Man kann die Augen schließen und nach zwei Sekunden weitergehen. Als Leser, der in einem Tausend-Seiten-Roman feststeckt, ist man sehr lange sehr allein. Das hat in der Evolution der Literatur etwas Grundsolides und angenehm Konventionelles wie den Roman hervorgebracht. Da wird es die bildende Kunst nicht mehr hinbringen. Maik und Tschick lassen beim Aufbruch in die Walachei ihre Handys zurück. Warum? Ich habe mir überlegt, Spannung, ich kann keine Spannung, und wenn ich jetzt noch ein Handy habe, mein lieber Mann, wie soll ich das denn regeln? Ich will Verfolgungsjagden in der Wüste!

[Quelle 3]

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Hintergrundwissen Theater: Romanadaptionen

Romane erobern die Bühnen. Romane im Theater sind nicht neu. Ihre Anzahl auf deutschen Bühnen stieg im vergangenen Jahrzehnt jedoch kräftig an. Diese Saison ist ein vorläufiger Höhepunkt zu verzeichnen. Kaum eine Bühne, die sich nicht an Romanadaptionen versucht und mit der Bearbeitung epischer Stoffe nicht auch schon Schiffbruch erlitten hätte.

„Das Zuhören lässt uns nachdenken und fühlen, und es schärft unsere Aufmerksamkeit. In dieser Zeit der rasend schnellen Bildkultur habe ich im Theater ein Bedürfnis nach Zuhören, nach Stillstand von dem, was nicht benannt und sicher nicht gezeigt werden kann“, so Perceval, der 2010 mit seiner Inszenierung des Stücks „Kleiner Mann – was nun?“, nach dem Roman von Hans Fallada aus dem Jahre 1932, zum Berliner Theatertreffen eingeladen war. Das Theater von Simons [Intendant der Münchner Kammerspiele] und Perceval verbindet eine gewisse Kargheit. Es legt seinen Schwerpunkt auf das Wort, während das eigentliche Bild oft erst im Kopf des Zuschauers entsteht. Es will Geschichten erzählen, die die Fantasie des Rezipienten erwecken können. Während die Verkaufszahlen von Büchern seit Jahren nahezu unverändert sind, ist der Markt für Hörspiele rasant gewachsen. In Zeiten von Internet, 3D-Kino und voll animierten Computerspielen ist dies durchaus bemerkenswert und stützt Percevals These, der damit in der Theaterlandschaft nicht alleine steht: unsere heutigen Lebensumstände rufen bei vielen scheinbar eine Sehnsucht nach dem gesprochenen Wort hervor. Ein Roman auf der Bühne kann derer viele haben. Romanautoren können über hunderte von Seiten epische Bögen spannen, ein anfänglich nur angedeutetes Motiv zuerst einmal ruhen lassen, es dann plötzlich aber wieder aufnehmen. Sie haben die Möglichkeit, eine konkrete Situation zu unterbrechen und eine geschichtliche Episode wie eine kurze Erzählung einfließen zu lassen. Vor allem aber können sie eine Figur derart knapp charakterisieren und aus ihr das Thema einer epischen Episode machen, wie das in einem Theaterstück nie möglich wäre. Romanciers spielen mit unterschiedlichen Möglichkeiten der Figurenzeichnung. Manche Figuren bleiben lange geheimnisvoll, andere, nicht so interessante, werden kurz und knapp charakterisiert. In allen Fällen allerdings gilt: Im Gegensatz zum dialogischen Theatertext kann vieles direkt gesagt werden. Ein Romanautor muss nicht kunstvoll in Dialogen verstecken, was er sagen will. Ist er ein begnadeter Dialogschreiber, kann er wie Thomas Mann in langen Wortgefechten Zeitgeschichte mit philosophischen Exkursen mischen. Er muss das allerdings nicht tun und ächzt nicht wie der Autor eines Stückes im Joch des Dialogs.

Befragt man eine der umtriebigsten Dramaturginnen des deutschen Stadttheaters nach Gründen für den derzeitigen Boom von Romanadaptionen großer epischer Stoffe für die Bühne, sagt sie, „Romane können eine wesentlich komplexere Perspektive der Welt und des Individuums bieten“. Damit meint Viola Hasselberg vom Freiburger Theater unter anderem, dass das Theater derzeit eine große Sehnsucht hat, Figuren zu präsentieren, die in der dritten Person über sich selbst, die Welt und historische Zusammenhänge sprechen. Während ein Drama für das Spiel geschrieben wird, ist der Roman ursprünglich der Lektüre vorbehalten. Soll er als Theatertext dienen, muss er dafür in eine andere Form gebracht werden. Der Dramaturg Koen Tachelet, der sich 2001 an seine erste Romanbearbeitung wagte und als Spezialist auf dem Gebiet gilt, erklärt den Vorteil derzeitiger Romanadaptionen: „Wenn nun ein Schauspieler nicht nur seinen Text spricht, sondern auch darüber, was er denkt oder sieht, dann kann sich das Publikum viel eher mit einer Gedankenwelt identifizieren. Sie ist das Bindeglied zwischen Schauspieler und Zuschauer und beide können sich jederzeit dort treffen. Diese Art von Kommunikation macht eine gelungene Romanbearbeitung so heutig und aktuell.“

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Seit Urzeiten besitzt das Theater jenen entscheidenden Bonus gegenüber anderen Künsten: es ist live. Kein Fernseher, kein Kino, kein Museum und kein Buch kann eine solche Art von Aktualität herstellen. Die banal klingende Tatsache birgt unendliche Möglichkeiten, sie schenkt dem Theater die totale Freiheit. Es darf sich vor allem seine Ideen und Stoffe selbst aussuchen. Wenn dies eben ein Roman ist: bitte, kein Drama. In einer globalisierten und höchst komplex gewordenen Welt sind wir tagtäglich damit beschäftigt unser Leben nicht nur zu leben, sondern gleichzeitig einzuordnen, zu verstehen, zu reflektieren. Und so verwundert es nicht, dass Tachelet, genauso wie andere Theatermacher, heutige, erzählenswerte Themen oftmals eher in einem Roman als in einem Drama findet.

Voraussetzung für eine erfolgreiche Romanadaption für die Bühne ist jedoch die Bereitschaft, die Literaturvorlage mitsamt eigenen Leseerfahrungen hinter sich zu lassen und den inszenierten Roman als unabhängiges Kunstprodukt mit ganz eigenem Recht zu betrachten. Will sagen: selbst wenn Autor, Titel und Thema gleich klingen, so gelten für ein- und dieselbe Erzählung auf der Bühne völlig andere Regeln als in ihrer ursprünglichen Buchform. Beides sollte nicht miteinander verglichen werden. „Ein Roman lässt sich nie eins-zu-eins auf die Bühne übertragen, ganz einfach weil er nicht für sie geschrieben wurde. Eine Romanbearbeitung kann nicht bedeuten, nur genügend Wörter und Sätze zu streichen. Es ist ein theatralischer Vorgang. Wenn man zu sehr im Roman bleibt, spürt das Publikum sofort eine Distanz. Die Literatur bleibt dann auch auf der Bühne bloße Literatur“, beschreibt Tachelet die Schwierigkeiten der Textbearbeitung. Oder ganz einfach: eine gelungene Romanbearbeitung findet für die Sprache des Autors und den Inhalt der Erzählung eine für die Bühne passende Übersetzung. Ob ein Roman nacherzählt, ob er interpretiert oder episiert wird, spielt demnach keine Rolle. Es ist ein Zugewinn. Die Bühne erhebt den Roman zum Spektakel. Ein entscheidender Vorteil von einem Roman als Stückvorlage gegenüber einem Drama lässt sich am Beispiel eines Eisbergs zeigen. Von diesem sind nur etwa zehn Prozent über Wasser sichtbar. Im Theater entspräche das dem Text. Während ein Drama meist nicht mehr als diesen Text und vielleicht ein Vor- und Nachwort und Regieanweisungen besitzt, stehen Schauspieler und Regisseur bei einem Roman von vornherein stets die 90 Prozent unsichtbare Masse als Arbeitsmaterial zur Verfügung. Doch nicht nur ihre Fülle an Hintergrundinformationen macht eine literarische Erzählung für das Schauspiel attraktiv, sondern auch ihr „Bewusstseinsbonus“ gegenüber dem Drama, wie es Tachelet formuliert: „Als Bearbeiter sehe ich es als meine Aufgabe, die Tragik des modernen Selbstbewusstseins in Figuren zu zeigen, die handeln und denken, erfahren und analysieren.“

Der Roman auf der Bühne ist der derzeit beliebteste Importartikel des deutschsprachigen Theaters und hat es sogar geschafft, den zwischenzeitlich überaus beliebten Importschlager „Filmadaption“ zu vertreiben. [Quellen 4]

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FAMILIENPROBLEME In Maiks Familie läuft so einiges schief: die Mutter ist alkoholabhängig (Textausschnitt 1), der Vater hat eine Affäre und verprügelt seinen Sohn (Textausschnitt 2).

Textausschnitt 1:

MAIK Meine Eltern waren fast nie zu Hause. Mein Vater fuhr von Gläubiger zu Gläubiger. Er hat sich irgendwie verspekuliert, mit Bauland. Und jetzt sind wir pleite und das Haus, das uns gehört, gehört uns wahrscheinlich schon gar nicht mehr. Und meine Mutter war auf der Beautyfarm. Und da hab ich dann eben auch den Aufsatz drüber geschrieben: Mutter und die Beauty-farm. Von Maik Klingenberg. In der nächsten Stunde durfte ich ihn vor-lesen. Oder musste. Ich wollte ja nicht. Mutter auf der Schönheitsfarm. Die ja nicht wirklich eine Schönheitsfarm war. Sie ist ja Alkoholikerin. Sie hat Alkohol getrunken, solange ich denken kann, aber der Unterschied ist, dass es früher lustiger war. Normal wird vom Alkohol jeder lustig, aber wenn das eine bestimmte Grenze überschreitet, werden die Leute müde oder aggressiv, und als meine Mutter dann wieder mit dem Küchenmesser durch die Wohnung lief, stand ich mit meinem Vater oben auf der Treppe, und mein Vater hat gefragt „Wie wär’s mal wieder mit der Beautyfarm?“ […] Und das alles hab ich in meinen Aufsatz reingeschrieben. Wegen der Spannung habe ich noch die Episode mit dem Küchenmesser dazugenommen, und weil ich gerade so in Fahrt war, auch noch, wie sie morgens die Treppe runtergekommen ist und mich mit meinem Vater verwechselt hat.

Textausschnitt 2:

VATER Gar nichts ist dir klar! Er denkt, es geht um Worte. Ein Idiot!

MAIK Ich bin kein Idiot, nur weil ich zum hundertsten Mal –

Der Vater schlägt ihn.

MUTTER Josef, lass doch.

[…] Ein brutaler Schlag ins Gesicht, dass Maik zu Boden geht. Die Mutter schreit.

MAIK Ich erzähl dem Richter, was passiert ist. Der ist doch nicht blöd.

Die Situation eskaliert. Der Vater packt Maik und prügelt ihn zur Tür raus. Die Mutter zeternd hinterdrein.

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Alkoholismus der Mutter Alkohol in Deutschland

Alkoholismus wird in Deutschland inzwischen schon zu den Volkskrankheiten gezählt. Es ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Besonders Senioren und Jugendliche landen im-mer häufiger mit akutem Rausch im Krankenhaus. Weltweit liegt Deutschland beim Alkoholkonsum auf Platz fünf. Mehr wird nur noch in Luxemburg, Irland, Ungarn und Tschechi-en gesoffen, wie ein Vergleich der Weltgesundheitsorganisa-tion WHO von 2003 zeigt.

Alkohol wird oftmals von den Menschen als „Problemlöser“ definiert. Für viele ist z.B. ein Bier, ein Glas Rotwein oder auch ein Cognac eine angenehme Möglichkeit sich zu „ent-spannen“ und durch Alkohol meinen viele, kann man Ärger besser bewältigen und Nieder-geschlagenheit und auch Depressionen besser überbrücken. Alkohol, so sagen Betroffene, stärkt das Selbstvertrauen und macht das Leben alles in allem erträglicher. Nach Angaben der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) trinkt der statistische Durchschnittsdeutsche im Jahr fast 20 Liter Wein, 3,8 Liter Schaumwein und 5,8 Liter Spirituosen. Der Bierkonsum in Deutschland lag 2004 bei knapp 116 Litern pro Person und damit international an 2. Stelle. Insgesamt konsumieren 9,5 Millionen Bundesbürger Alkohol in gesundheitlich riskanter Weise. Davon spricht man, wenn Frauen mehr als 12 Gramm reinen Alkohol – etwa ein kleines Bier – und Männer mehr als 24 Gramm trinken – und zwar täglich.

Wie das Statistische Bundesamt mitteilt, starben im Jahr 2005 über 12.000 Männer und über 4.000 Frauen in Deutschland im Zusammen-hang mit dem Konsum von Alkohol. Das sind rund 2 % aller Sterbefälle. Im Jahr 2005 starben damit mehr Menschen im Zusammenhang mit Alkohol als durch Suizide (rund 10.000) und tödliche Verkehrsunfälle (rund 5.500) zusammen. Die Todesfälle, bei denen Alkoholkonsum mit zum Tode beigetragen hat, jedoch nicht als Hauptursache (Grundleiden) erkannt wurde, sind in den Zahlen über Alkohol als Todesursache nicht berücksichtigt. In vielen Ländern ist der Alkoholmissbrauch nach Kreislauf- und Krebskrankheiten die dritthäufigste Todesursache.

Gewalt und Autoaggression sind unter Alkoholeinfluss wahrscheinlicher. Die meisten Fälle von häuslicher Gewalt sind auf exzessiven Alkoholkonsum zurückzuführen und auch für ca. ein Viertel aller Selbsttötungen in Amerika ist eine Alkoholabhängigkeit verantwortlich. 7 % aller Straftaten in Deutschland werden unter Alkoholeinfluss begangen. In 67 % aller Mordfälle und bei 60 % der Verurteilungen wegen Straftaten im Straßenverkehr spielte Trunkenheit eine Rolle.

Nach einer Studie des Krankenhauses „Charité“ in Berlin trinken 58 % aller Frauen während der Schwangerschaft Alkohol. Etwa jedes 306. Neugeborene (2.200 im Jahr) kommt in Deutschland mit Alkohol-Embryopathien zur Welt. Die Säuglinge sind zu klein und zu leicht, haben Fehlbildungen im Gesicht und Störungen im Gehirn. Die Kinder alkoholabhängiger Eltern haben meist größere Schwierig-keiten beim Lernen, neigen zu Depressionen, Ängsten und einem verringerten Selbstwertgefühl.

41 % der Kinder von Alkoholikern leiden lebenslang unter psychischen Störungen. Laut Schätzungen der Guttempler leben 1,8 bis 2,0 Millionen Kinder mit alkoholkranken Eltern.

[Quellen 5]

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Alkoholabhängigkeit

Nach Angaben des DRK sind in Deutschland etwa 2,5 Millionen Menschen alkoholsüchtig. Andere Quellen beziffern die Zahl der Alkoholabhängigen auf 1,5 bis 1,7 Millionen (2,4 % der Bevölkerung ab 18 Jahren). Etwa weitere 2,7 Millionen betreiben Alkoholmissbrauch. Nach Aussage des Essener Biologen Dr. Axel Leibstein dauert es durchschnittlich 10 bis 12 Jahre, ehe es zu einer Abhängigkeit kommt, wenn der Alkoholmissbrauch mit 25 Jahren startet. Beginnt der Missbrauch dagegen schon mit 15 Jahren, dauert der Übergang in eine Abhängigkeit im Mittel nur fünf bis sechs Monate. Der Alkoholmissbrauch und Alkoholismus geht quer durch alle Bevölkerungsschichten, be-trifft genauso den Arzt, Rechtsanwalt, den Unternehmer, den Beamten, die Politiker und Menschen in prekären Lebenslagen gleichermaßen. Männer begeben sich im Schnitt erst etwa 10 Jahre nach Beginn ihrer Abhängigkeit in eine Behandlung (Frauen nach etwa 7 Jahren), denn es gibt bei Betroffenen eine lange Zeit des Selbstbetruges. Sie wissen eigentlich, dass sie ohne Alkohol den Tag nicht überstehen wür-den, dass sie ihn brauchen, wie die Luft zum Atmen und erkennen aber ihre Krankheit erst an, wenn es gar nicht mehr weiter geht. Das ist dann oft in der chronische Absturzphase, mit Verlust von Freunden, Familie, des Arbeitsplatzes und oft auch der Wohnung. Der Alkoholiker hat im Laufe seiner Krankheit eine zunehmende Alkoholtoleranz, er ver-trägt immer größere Mengen, ohne sich betrunken zu fühlen. Dies ist besonders gefährlich für die Gesundheit des Betroffenen selbst und im Straßenverkehr. Man schätzt, dass etwa 250.000 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene unter 25 Jahren stark alkoholgefährdet oder schon abhängig sind. Nach einer Befragung aus dem Jahre 2008 konsumieren 6,8 % der Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren eine selbst für Erwachsene riskante Alkoholmenge. 60 % der jungen Patienten sind „Spaßtrinker“. Zu 95 % wird mit Gruppen Gleichaltriger getrunken und überwiegend in privaten Wohnungen. Arbeitgeber und Krankenkassen reagieren heute schneller und sensibler auf Alkoholpro-bleme. Krankgeschriebene werden bei ersten Anzeichen einer Sucht zur Beratung ge-schickt, bekommen Kontrollen auferlegt. Doch wer nicht schnell den richtigen Weg zur Entwöhnung finde, werde gnadenlos ausgesondert, mit Kürzung des Krankengeldes und Ausgrenzung aus der Arbeitswelt bestraft. Danach beginnt für viele der freie Fall. Jährlich unterziehen sich weniger als 50.000 Deutsche einer stationären Entwöhnung. Wer sich in eine abstinenzorientierte Alkoholklinik begibt, entscheidet sich damit zweifel-los für die zurzeit am besten erprobte Behandlung und hat eine etwa 50-prozentige Chance, noch zwei Jahre später trocken zu sein.

[Quellen 6]

15

Gewalt des Vaters Häusliche Gewalt

Kinder werden von ihren Eltern und anderen Fürsorgepersonen immer wieder missbraucht, misshandelt und vernach-lässigt. Im Allgemeinen sind kleinere Kinder der körperlichen Misshandlung am stärksten ausgesetzt, während die höchsten Raten des sexuellen Miss-brauchs unter Kindern in der Pubertät oder unter Jugendlichen zu finden sind.

Gewalterlebnisse durch Eltern sind insbesondere in der Kindheit recht häufig. Während bezogen auf die Kindheit lediglich 42,1 % der Befragten 15-Jährigen

keinerlei gewalttätige Übergriffe der Eltern berichten, sind dies im Hinblick auf die letzten zwölf Monate vor der Befragung immerhin 73,4 %. Mit dem Heranwachsen der Kinder geht also das Ausüben von Gewalt durch die Eltern deutlich zurück. Insgesamt 15,3 % der Befragten geben an, vor ihrem zwölften Lebensjahr schwerer Gewalt ausgesetzt gewesen zu sein; von diesen können 9 % als Opfer elterlicher Misshandlungen in der Kindheit bezeichnet werden. In der Jugend nimmt der Anteil der von schwerer Gewalt Betroffenen auf 5,7 % und der von Misshandlung Betroffenen auf 4,1 % ab (Baier/Pfeiffer 2009, S. 52).

Nach den vorliegenden Studien befürworten und praktizieren heute noch etwa 10 % der Eltern eine „Tracht Prügel“ als ein angemessenes Erziehungsmittel, weitere etwa 40 % wenden andere Formen der physischen Gewalt wie etwa Schläge und Ohrfeigen an. Viele Eltern zwingen sich vernunftmäßig, körperliche Gewaltformen zu unterdrücken, verfügen aber oft nicht über adäquate Alternativen, um den Kindern gegenüber ihren Regelungs-anspruch und ihre Autorität als Mutter oder Vater durchzusetzen. „Red Flags“ – Warnzeichen für häusliche Gewalt

Das gleichzeitige Auftreten mehrerer dieser Indikatoren erfordert verstärkte Aufmerksamkeit:

• chronische Beschwerden, die keine offensichtlichen physischen Ursachen haben; • Verletzungen, die nicht mit der Erklärung, wie sie entstanden sind, übereinstimmen; • verschiedene Verletzungen in unterschiedlichen Heilungsstadien; • ein Partner, der übermäßig aufmerksam ist, kontrolliert und sich weigert von der

Seite der Frau zu weichen; • physische Verletzungen während der Schwangerschaft; • später Beginn der Schwangerschaftsvorsorge; • häufige Fehlgeburten; • häufige Suizidversuche und -gedanken; • Verzögerungen zwischen Zeitpunkt der Verletzung und Aufsuchen der Behandlung; • chronische reizbare Darmstörungen; • chronische Beckenschmerzen.

L. Heise u.a. 1999. Zitiert nach Robert Koch Institut: Gesundheitliche Folgen von Gewalt. Gesundheitsberichterstattung des Bundes, Heft 42. Berlin 2008. S. 31.

[Quelle 7]

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Arbeitsblatt: Was kann Nadja tun?

Nadja ist 14 Jahre alt und lebt mit ihrer Mutter und deren neuen Lebenspartner sowie ihrem 12-jährigen Bruder zusammen. Ihren „richtigen“ Vater sieht sie nur ab und zu, weil ihre Eltern sich getrennt haben. Der neue Freund ihrer Mutter ist zu ihnen gezogen und so konnte Nadjas Mutter die Wohnung behalten, in der sie mit ihren Kindern vorher schon gelebt hatte. Zuerst war es mit dem neuen Freund auch schön: Alle haben zusammen Ausflüge gemacht und oft Spaß miteinander gehabt. In letzter Zeit hat sich das aber geändert. Er schreit Nadja und ihre Mutter nun oft an und wird wütend, wenn sie nicht tut, was er sagt. Er beschimpft dann auch ihre Mutter und gibt ihr die Schuld an allem. Er sagt, dass sie ihre Kinder schlecht erzogen habe und droht ihr damit, sie und ihre Kinder vor die Tür zu setzen. Wenn er Alkohol getrunken hat, ist es besonders schlimm. Vor kurzem ist Nadja nachts aufgewacht, weil er ganz laut rumgeschrien hat. Nadja hat gehört, wie ihre Mutter geweint hat und wollte ihr helfen, hat sich aber nicht getraut. Ihr Bruder hatte auch Angst und sie wussten nicht, was sie tun sollen. Am nächsten Tag sah ihre Mutter ganz traurig und verweint aus, hat aber nicht erzählt, was los war.

• Nadja hält die Situation nicht mehr allein aus. Was kann, was soll sie tun? • Mit wem könnte sie reden? • Was würde ihr helfen? • Wenn du mit Nadja befreundet wärst, was würdest du unternehmen?

Was du tun kannst, wenn z. B. Nadja dir von ihrer Situation erzählen würde:

• Zweifle das Erzählte nicht an. Für Betroffene ist es oft sehr schwer bzw. beschämend, das Erlebte jemandem zu erzählen. Deshalb brauchen sie das Gefühl, dass sie ernst genommen werden.

• Gib deiner Freundin/deinem Freund konkrete Tipps, welche Schutzmaßnahmen sie/er – wenn möglich – ergreifen kann, z.B.: - über die Notrufnummer die Polizei anrufen. - überlegen, zu welcher Nachbarfamilie, Freundin oder Freund, sie in der gefährlichen Situation flüchten könnte.

- bei Beratungsstellen/Helplines anrufen, um das Erlebte zu erzählen, um sich beraten zu lassen.

• auch du kannst dort anrufen, um dich zu informieren, was du als Freund/Freundin in dieser Situation tun kannst.

• überlege dir, welcher erwachsenen Person du dich anvertrauen kannst.

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Arbeitsblatt: Konflikte 1. Konflikt bedeutet für mich… 2. Konflikte sollten ohne Gewalt ausgetragen werden, weil… 3. Das bringt mich oft auf die Palme… 4. So kann ich mich beruhigen… 5. Konflikte machen mir Angst/keine Angst, weil… 6. Ein Konflikt, der mich bewegt, ist… 7. Mein Symbol für einen Konflikt: Die eigene Position im Konflikt kennen und formulieren. Überlege dir einen Konflikt, der dich zur Zeit betrifft, und beantworte folgende Fragen:

• Was möchte ich bekommen? (Maximale Forderung) • Welche Punkte kann ich auf keinen Fall aufgeben? (Minimale Forderung) • Womit könnte ich leben? (Möglicher Kompromiss) • Welche Gründe gibt es für meine Forderungen? (Argumente) • Wie wird mein Gegner/Gegenüber vermutlich antworten? (Reaktionen) • Was möchte/könnte ich erwidern? (Gegenargument) • Wie kann ich meine Forderungen unterstützen, wenn meine Argumente nicht

überzeugend sind? (Mögliche Konsequenzen) Versöhnung:

• Schreibe drei Gründe auf, warum man sich versöhnen sollte. • Wähle die aus deiner Sicht wichtigsten fünf Voraussetzungen aus. • Einigt euch in einer Kleingruppe auf fünf gemeinsame Voraussetzungen und bringt

diese in eine Rangfolge. • Welches sind spezifische Stationen und Notwendigkeiten eines

Versöhnungsprozesses? • Wie sieht Versöhnung im zwischenmenschlichen, wie im gesellschaftlichen und

internationalen Bereich aus? • Was macht Versöhnen oft schwierig? • Welche Rituale können bei einem Versöhnungsprozess helfen?

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TSCHICK, EIN RUSSLANDDEUTSCHER MAIK Ich konnte Tschick von Anfang an nicht leiden. Keiner konnte ihn leiden.

Tschick war ein Assi. Wagenbach schleppte ihn nach den Ferien in die Klasse. Alle saßen auf ihren Stühlen wie festgetackert, weil, wenn einer ein autoritäres Arschloch ist, dann Wagenbach.

WAGENBACH Wir haben hier einen neuen Mitschüler. Sein Name ist Andrej –

MAIK Ich hatte einen extrem unguten Eindruck, wie der da neben Wagenbach auftauchte.

WAGENBACH Andrej, Andrej Tsch ... Tschicha ... tschoroff.

MAIK Niemand kicherte. Bei Wagenbach kicherte sowieso niemand. Der Russe stand einfach da und sah aus seinen Mongolenaugen irgendwo hin.

TSCHICK Tschichatschow. […]

WAGENBACH Also. Andrej Tschicha . . . schoff heißt unser neuer Mitschüler, und wie wir an seinem Namen bereits unschwer erkennen, kommt unser Gast von weit her. […] Unser Freund Andrej kommt aus einer deutschstämmigen Fami-lie, aber seine Muttersprache ist Russisch. Er hat die deutsche Sprache erst in Deutschland gelernt und verdient folglich unsere Rücksicht in gewissen… na ja, Bereichen. Vor vier Jahren besuchte er zuerst die Förderschule. Dann wurde er auf die Hauptschule umgeschult, weil seine Leistungen das zuließen, aber da hat er es auch nicht lange ausgehalten. Dann ein Jahr Realschule, und jetzt ist er bei uns, und das alles in nur vier Jahren. […]

Tschick setzt sich.

MAIK Aus dem Gang, durch den er gekommen war, wehte ein Geruch rüber, der mich fast umhaute. Eine Alkoholfahne. So roch meine Mutter, wenn sie einen schlechten Tag hatte. Tschick kam immer im selben, abgewrackten Hemd zur Schule, beteiligte sich nicht am Unterricht, sagte immer „Ja“ oder „Nein“ oder „Weiß nicht“, wenn er aufgerufen wurde, und störte nicht. Er freundete sich mit niemandem an, und er machte auch keinen Versuch, sich mit jemandem anzufreunden. So zusammengesunken, wie er dasaß mit seinen Schlitzaugen, da wusste man nie: Schläft der, ist der hacke, oder ist der einfach nur sehr lässig? Und natürlich gab es auch Gerüchte über ihn: Tschetschenien, Sibirien, Moskau, Russenmafia, Waffenschieberfamilie – war alles im Gespräch. Aber logisch war das Quark. Mafia, völliger Quark. Das dachte ich jedenfalls.

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Die Geschichte der Russlanddeutschen Die Migration deutscher Siedler nach Russland begann vor fast 350 Jahren. Seitdem haben die Deutschen und ihre Nachkommen eine wechselvolle Geschichte durchlebt, die von gelungener Integration in die Gesellschaft des späten Zarenreiches bis zur Deportation und Zwangsarbeit als Folge des Zweiten Weltkriegs reicht.

Bis Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich die Integration der Deutschen in die russische Gesellschaft peu à peu verbessert. Im Allgemeinen waren die Deutschen wirtschaftlich mindestens genauso gut gestellt wie ihre russischen Landsleute, viele sogar deutlich besser. Die Stellung der Deutschen als willkommene und privilegierte Minderheit ging jedoch ab den 1870er-Jahren langsam verloren. Nachdem Russland den Krimkrieg verloren hatte, versuchte Zar Alexander II. mit verschiedenen Reformen, das Reich zu stärken. 1871 wurden fast alle Privilegien der Kolonisten aufgehoben. Bis dahin hatte es z. B. Steuer-freiheit gegeben. Weitere drei Jahre später wurden die Kolonisten sogar wehrpflichtig. Zwar erstritten sich die Mennoniten aufgrund ihres Postulates der Gewaltlosigkeit das Recht, einen Ersatzdienst abzuleisten, dennoch wanderten bis 1880 rund 15.000 von ihnen nach Übersee aus. Eine zweite Entwicklung war die Verschlechterung des Verhältnisses zum Deutschen Reich seit dem Berliner Kongress 1878. Der Landbesitz der Kolonisten vergrößerte sich weiter und das Misstrauen angesichts dieser Entwicklung führte schließlich dazu, dass die Gefahr einer Germanisierung befürchtet wurde. Als Reaktion wurde im Fremdengesetz von 1887 daraufhin den Deutschen in vielen Gebieten verboten, Land zu kaufen oder zu pachten. Bis zur Jahrhundertwende war auch das anfangs unabhängige deutsche Schulwesen vollständig russifiziert, die einstmalige Autonomie der Russlanddeutschen sehr stark beschnitten. In der deutschfeindlichen Stimmung während des ersten Weltkrieges wurden die Liquidationsgesetze erlassen. Danach mussten alle Deutschen innerhalb eines etwa 150 km breiten Grenzstreifens im Westen und Südwesten des Reiches vertrieben werden. Einen echten Neubeginn stellte dann die Umwandlung der Arbeitskommune an der Wolga in eine Autonome Sozialistische Sowjetrepublik (ASSR) der Wolgadeutschen im Jahre 1924 dar. Deutsch durfte Amts- und Unterrichtssprache werden und in den autonomen Gebieten war es den Deutschen erlaubt, ihr eigenes Bildungswesen zu reanimieren und auszubauen.

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Trotz dieser Freiheiten entgingen jedoch auch die Russlanddeutschen ab 1928/29 der großen Kollektivierungswelle in der Landwirtschaft nicht. Ab 1928 ging man im atheistisch-stalinistischen Staat auch gegen die verschiedenen deutschen Religionsgemeinschaften vor, bis hin zu deren Verbot. Unmittelbar nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion erließ das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR ein Dekret „Über die Umsiedlung der in den Rayons des Wolgagebiets lebenden Deutschen“. Dieser Erlass bedeutete den Beginn der größten Odyssee in der Geschichte der Russlanddeutschen. Er stellte alle Deutschen unter die Pauschalanklage, „zehntausende von Spionen und Diversanten“ zu decken und sah aus diesem Grund vor, alle Wolgadeutschen „in andere Rayons“ nach Westsibirien und Nordkasachstan zu deportieren. Der Umsiedlung der Wolgadeutschen folgte die Deportation der Deutschen aus den Städten Moskau und Leningrad (St. Petersburg), dem Nordkaukasus und den transkaukasischen Republiken. Insgesamt wurden nach Schätzungen über 900.000 Menschen deportiert. Nach Kriegsende lebten noch rund eine Million Deutschstämmige in den beengten und teilweise menschenunwürdigen Unterkünften, deren Verbannung 1948 auf Dauer festgeschrieben wurde. Erst nach dem Besuch Konrad Adenauers 1955 wurden sie amnestiert und aus den Sondersiedlungen entlassen. Ihre neuen Siedlungen waren jedoch auf wenige Gebiete östlich des Ural beschränkt. Wie viele Russlanddeutsche letztlich in den Sondersiedlungen oder auf dem Weg dorthin umgekommen sind, ist jedoch bis heute nicht völlig geklärt. Offizielle Zahlen nennen 45.000 Tote, einschließlich der auf natürlichem Wege Gestorbenen, was von einigen Forschern als zu niedrig eingeschätzt wird. Die deutschstämmige Bevölkerung in der Sowjetunion wurde politisch und rechtlich nie völlig rehabilitiert. Erst 1964 ließ die sowjetische Führung offiziell den Pauschalvorwurf der Kollaboration mit dem Feind fallen. Obwohl sich die Situation in den 1960er- und 70er-Jahren graduell verbesserte, bestand in vielen Teilen der deutsch-russischen Bevölkerung der Wunsch, in die Bundesrepublik auszureisen. In den ersten zwanzig Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg hatten Deutschstämmige jedoch kaum Chancen, die Sowjetunion zu verlassen. Die Zahl der Aussiedler erhöhte sich erst, nachdem Michael Gorbatschow Generalsekretär der KPdSU geworden war und seine Reformen auch in humanitären Bereichen zu wirken begannen. Mit der Öffnung der Grenzen 1989 stieg die Anzahl der Aussiedler dramatisch an. [Quelle 8]

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Russlanddeutsche in der Gegenwart Russisch ist zu einer der am meisten gesprochenen Fremdsprachen in Deutschland geworden. Dies liegt größtenteils an der Zuwanderung von Aussiedlern in den letzten 15-20 Jahren. Seit 1950 sind über fünf Millionen Aussiedlerinnen und Aussiedler einschließlich ihrer Familienangehörigen in die Bundesrepublik eingewandert. Neben Zuwanderern aus den früheren Anwerbestaaten (insbesondere der Türkei) bilden sie die größte Gruppe innerhalb der Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Das ist weniger auf die aktuelle Zuwanderung von Spätaussiedlern zurückzuführen, als vielmehr auf die hohen Zuzugszahlen während der 1990er-Jahre. 1991 bis 1995 lagen diese jeweils bei über 200.000 Zuzügen pro Jahr. Inzwischen kommen jährlich nur noch wenige tausend Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler nach Deutschland. Die Spätaussiedlermigration wurzelt in der Geschichte der jungen Bundesrepublik. Noch 1950 – nach dem Ende der Flucht- und Vertreibungsmigration als Folge des Zweiten Weltkriegs – lebten rund vier Millionen Deutsche außerhalb der alten Reichsgrenzen von 1937 im Osten Europas, viele von ihnen in der Sowjetunion, Rumänien, Polen und der Tschechoslowakei. Das Grundgesetz der Bundesrepublik bezeichnet diese Menschen und ihre Nachkommen als „deutsche Volkszugehörige“. Unter bestimmten Voraussetzungen sind sie berechtigt, als Aussiedler (seit einer Gesetzesänderung 1993 „Spätaussiedler“) nach Deutschland einzureisen. Sie erhalten die deutsche Staatsbürgerschaft und können verschiedene Integrationshilfen in Anspruch nehmen. Für viele Aussiedlerinnen und Aussiedler ergeben sich ganz ähnliche Sprach- und Integrationsprobleme wie für ausländische Zuwanderer. Bis in die 1990er-Jahre hatten die meisten Aussiedlerinnen und Aussiedler bei ihrer Einreise relativ gute Deutschkenntnisse und konnten großzügige staatliche Eingliederungshilfen wahrnehmen. Doch viele der jüngeren Einwanderer haben nur wenig Bindung zur deutschen Sprache und Kultur. Sie sind mit vielfältigen Integrationsproblemen und mangelnder Akzeptanz in der deutschen Gesellschaft konfrontiert. Dies trifft insbesondere auf die bei weitem größte Gruppe zu: Die Spätaussiedler aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion, die im allgemeinen Sprachgebrauch auch oft „Russlanddeutsche“ genannt werden. In Deutschland empfing man die Aussiedlerfamilien in materieller Hinsicht mit offenen Armen. So bestand die Möglichkeit, umfassende Eingliederungshilfen und Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen. Neben einem pauschalen Eingliederungsgeld als Grundversorgung waren Aussiedlerinnen und Aussiedler grundsätzlich berechtigt, Arbeitslosengeld zu beziehen. Das Arbeitslosengeld richtete sich nach den üblichen Bemessungskriterien für den jeweiligen Berufszweig. Auch Renten wurden nach den deutschen Bemessungskriterien gezahlt, da die Herkunftsstaaten keine Altersversorgung für Ausgesiedelte zahlten. Ein spezielles Eingliederungsprogramm der Bundesregierung von 1976 zielte auf eine rasche Integration ab. Dazu gehörten unter anderem großzügige Finanzierung von Sprachkursen sowie berufliche Anpassungsmaßnahmen und Umschulungen. Die umfassenden Eingliederungshilfen blieben bis Anfang der 1990er-Jahre bestehen. In der Folge des Zusammenbruchs der Regime in Osteuropa stieg jedoch der Aussiedlerzuzug sprunghaft an. Während die Bundesregierung mit einer Grundgesetzänderung im Asylrecht vor allem die stark gestiegene Anzahl von Flüchtlingen und Asylbewerbern reduzieren wollte, fanden erste Restriktionen auch Eingang in die Aussiedlerpolitik. Durch die diversen Kürzungen und Beschränkungen wurden Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler jedoch keineswegs zu einer besonders benachteiligten Gruppe. Als privilegierte Einwanderer hatten sie weiterhin einen Rechtsanspruch auf umfassende Eingliederungshilfen. Erst die umfassende Reform im Zuwanderungsrecht zwischen 2000 und 2004 führte die Integrationsleistungen für Aussiedler und Aussiedlerinnen mit denen für sonstige Zuwanderer zusammen. Ein großer Teil der Sonderförderungen lief aus. Die

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sprachlichen Eingliederungsangebote, insbesondere die mit dem Zuwanderungsgesetz geschaffenen Integrationskurse, richten sich nun an alle Erstzuwanderer. Für junge Zuwanderer war die Integration in die deutsche Gesellschaft ähnlich schwierig wie für Kinder und Jugendliche, die auf dem Wege des Kindernachzugs aus den ehemaligen Anwerbestaaten nach Deutschland kamen. Nur wenige Kinder waren in der Sowjetunion zweisprachig aufgewachsen. Viele hatten bei ihrer Ankunft keine Beziehung zu Deutschland. Stattdessen waren sie kulturell und durch persönliche Bindungen stark mit ihrem Herkunftsumfeld verbunden. Und ein großer Teil ihrer Sozialisation hatte in einem völlig anderen Schul-, Erziehungs- und Gesellschaftssystem stattgefunden.

Wegen des enormen Umfangs der Aussiedlerimmigration in den 1990er-Jahren ergaben sich von Anfang an insbesondere für Jugendliche große Integrationsprobleme. In einer ersten Phase mussten sie das Gefühl der oftmals völligen Fremdheit und den ersten Anpassungsschock bewältigen. Dies fiel ihnen dann besonders schwer, wenn der Wegzug aus dem Herkunftsland mit starken inneren Widerständen verbunden war: Freundschaften mussten gekappt werden, und das sichere Lebens- und Lernumfeld ging – von der unmittelbaren Kernfamilie abgesehen – zunächst einmal verloren. In einer zweiten Phase mussten sie die innere Bereitschaft zum aktiven Handeln im neuen Lebensumfeld aufbauen. Dazu gehörten etwa das Zurechtfinden

in einer neuen gesellschaftlichen und sozialen Umwelt, die Akzeptanz der neuen Sprache sowie die fachliche Orientierung in der Schule. Das Erlernen der deutschen Sprache galt auch hier als wichtigste Voraussetzung für erfolgreiche Integration. Insgesamt hat sich die psychosoziale Situation vieler junger Spätaussiedler seit den späten 1990er-Jahren verschlechtert. Männliche Jugendliche sind in der Kriminalitätsstatistik mit überdurchschnittlichen Raten bei Vandalismus, Gewalt und Drogendelinquenz vertreten. Viele Kommunen bieten seitdem - zum Teil in Kooperation mit der Polizei – spezielle Integrationshilfen für Jugendliche an. Dennoch ist die Integrationsbilanz der über 2 Millionen Aussiedler und Aussiedlerinnen, die seit 1989/90 aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion gekommen sind, durchaus positiv – auch wenn das hohe Niveau der Integrationsleistungen nicht beibehalten werden konnte.

[Quelle 9]

23

Zahlen Im Zeitraum von 1990 bis 2006 wanderten fast zweieinhalb Millionen Menschen im Rahmen des (Spät-)Aussiedlerzuzugs nach Deutschland ein (2.489.938). Es ist davon auszugehen, dass die überwiegende Mehrheit von ihnen dauerhaft in Deutschland bleibt. Nachdem die Zuwanderung von Personen, die entweder als Aussiedler oder Spätaussiedler einschließlich ihrer Angehörigen nach Deutschland kamen, im Jahr 1990 ihren Höhepunkt erreichte (397.073), sind die Zuzugszahlen stetig zurückgegangen. Im Jahr 2000 sank der Zuzug erstmals auf unter 100.000 Personen. 2007 wurde mit 5.792 Personen der niedrigste (Spät-)Aussiedlerzuzug seit Beginn der Aussiedleraufnahme im Jahr 1950 registriert. Nicht nur die Größenordnung, sondern auch die Zusammensetzung des (Spät-) Aussiedlerzuzuges nach Herkunftsgebieten hat sich seit Beginn der 1990er Jahre stark verändert. Kamen im Jahr 1990 noch 133.872 Aussiedler aus Polen und 111.150 aus Rumänien, so zogen im Jahr 2006 nur 80 bzw. 40 (Spät-)Aussiedler aus diesen Ländern nach Deutschland. Seit 1990 stellen Personen aus der ehemaligen Sowjetunion die zahlenmäßig stärkste Gruppe. Ihr Anteil am gesamten (Spät-)Aussiedlerzuzug liegt seit Jahren bei etwa 99 Prozent. Die größten Herkunftsgebiete im Jahr 2007 waren die Russische Föderation (3.735), Kasachstan (1.279), Ukraine (244) und Kirgisistan (211).

[Quelle 10]

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Arbeitsblatt: Vorurteile und Klischees Zwischen Russland und Deutschland hat sich über Jahrhunderte eine besondere Beziehung entwickelt. Bemerkenswert ist, dass die gegenseitige Wahrnehmung von Deutschen und Russen immer noch von Klischees geprägt wird. Dies ergab die im November 2007 durchgeführte Umfrage der Forsa Gesellschaft für Sozialforschung.

In Deutschland verbindet man mit Russland vor allem: weites Land – 96% soziale Ungleichheit – 90% Machtbewusstsein – 87% Große Städte – 74% Wachstum – 70% Willkür – 65% Planwirtschaft – 42% (immer noch!) Freie Marktwirtschaft – 26% Freiheit – 19%

Deutsche denken, die Russen seien: trinkfest – 90% gastfreundlich – 88% tapfer – 78% gefühlsbetont – 65% großzügig – 62% friedliebend – 62% staatsgläubig – 60%

Russen sehen die Deutschen als: pünktlich – 82% gebildet – 80% verlässlich – 77% friedliebend – 61% staatsgläubig – 55% gastfreundlich – 52%

gebildet – 56% Quelle: www.bpb.de/shop/lernen/themenblaetter/36479/vorurteile

Arbeitsauftrag: Bildet immer zu fünft eine Gruppe. Jeder in der Gruppe zeichnet in den Kasten den Begriff, der darunter steht! Es ist kein Kunstwettbewerb – zeichnet einfach, was euch spontan einfällt.

Auto

Hund

Hip Hop-Fan

Amerikaner Vergleicht in der Gruppe eure Zeichnungen, diskutiert die folgenden Fragen und notiert das Wichtigste: - Was fällt euch bei euren Zeichnungen auf? - Warum habt ihr die Begriffe so dargestellt? - Sehen alle Autos, Amerikaner etc. so aus?

Schaut euch eure Zeichnungen zu den beiden letzten Begriffen (Hip Hop-Fan und Amerikaner) noch einmal an. Was bringt ihr mit diesen Darstellungen in Verbindung? Wenn man von einem Beispiel auf alle Mitglieder einer Gruppe schließt, ohne sie zu kennen – wie würdet ihr so eine Meinung nennen?

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AUßENSEITERTUM – MOBBING MAIK Und danach hieß ich eben eine Zeitlang Psycho. Das hörte erst wieder auf, als André in unsere Klasse kam. André Langin.

Der schöne André. Der war sitzengeblieben. Er hatte schon am ersten Tag eine Freundin bei uns, und dann hatte er jede Woche eine andere. Und der meinte halt irgendwann „Warum heißt die Schlaftablette eigentlich Psycho? Der ist doch total langweilig.“ Die Mädchen haben sich weggeschmissen vor Lachen über diesen Spitzenwitz. Und seitdem heiße ich wieder Maik. Und es ist noch schlimmer als vorher.

MAIK Aber jetzt muss ich erst mal von Tatjanas Geburtstag erzählen. Mitten in

den Sommerferien hatte Tatjana Geburtstag, und da sollte eine Riesenparty stattfinden. In Werder bei Potsdam, alle waren eingeladen, mit Übernachtung und so.

Das war natürlich ein großes Thema in der Klasse, Wochen vorher schon. Problem war ein Geschenk. Tatjana fand Beyoncé toll. Was ich erst mal ein

bisschen problematisch fand, weil ich Beyoncé scheiße fand, jedenfalls die Musik. Aber immerhin sah sie phantastisch aus, sie hatte sogar eine gewisse Ähnlichkeit mit Tatjana, und deshalb fand ich Beyoncé dann irgendwann auch nicht mehr ganz so scheiße. Ich wollte ihr irgendwas Besonderes schenken. Ich ging zu Karstadt, kaufte eine ziemlich teure Modezeitschrift mit dem Gesicht von Beyoncé drauf und fing an zu zeichnen. Man könnte das natürlich auch auf einen Kopierer legen. Aber ich wollte, dass es gezeichnet ist. Nach vier Wochen harter Arbeit sah Beyoncé fast wie ein Foto aus, eine riesengroße Bleistiftbeyoncé mit Tatjanas Augen, und ich wäre wahrscheinlich der glücklichste Mensch im Universum gewesen, wenn ich jetzt noch eine Einladung auf Tatjanas Party bekommen hätte.

Wie sich später rausstellte, gab’s drei ohne Einladung. Den Nazi, Tschichatschow und mich. Logisch. Russen, Nazis und Idioten. Aber sonst war praktisch die ganze Klasse eingeladen, und dann noch die halbe Parallelklasse und garantiert noch hundert Leute, und ich war nicht eingeladen.

Auf den Gängen standen nur noch die Dicken und die Intelligenten und unterhielten sich über ihre Zeugnisse und irgendeinen Stuss. Ich wollte nach Hause.

Sowohl Maik und Tschick als auch Isa gelten in der Gesellschaft als Außenseiter. Diskutieren Sie mit der Klasse, woran das liegen könnte und was sie dagegen tun könnten.

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Mobbing in der Schule Die Opferzahlen für Mobbing in der Schule gehen weit auseinander. Bei Berücksichtigung aller Kriterien der Mobbingdefinition kann von einer aktuellen Mobbingrate von 5-10 Prozent ausgegangen werden. Dies bedeutet, dass in jeder Schulklasse mindestens eine Schülerin bzw. ein Schüler als Mobbingopfer zu finden ist (Schuster 2007, S. 86; Dunkel 2004). Das LBS-Kinderbarometer (2007, S. 189 ff.) fragt nach der Häufigkeit verschiedener Bullying-Aspekte der Klassen 4 bis 7 innerhalb einer Woche und kommt zu folgenden Ergebnissen, bei denen zu berücksichtigen ist, dass es sich um Selbstaussagen handelt und dass das Langzeitkriterium (mindestens ein halbes Jahr andauernd) nicht einbezogen wurde, sondern nur auf die Vorkommnisse der Vorwoche eingegangen wird:

• Fast ein Fünftel der Kinder wurde im Verlauf der Woche vor der Befragung von anderen Kindern bloßgestellt.

• Jedes dritte Kind wurde beleidigt oder gehänselt. • Vier Prozent der Kinder erlebten alle drei Aspekte mindestens zweimal in der letzten

Woche. • Schimpfwörter, ausgrenzendes Verhalten oder Auslachen führen am häufigsten dazu,

dass Kinder sich beleidigt, gehänselt oder bloßgestellt fühlen. Häufig (bei 21 Prozent) wird auf körperliche Merkmale Bezug genommen.

• Jungen reagieren stärker auf Schimpfwörter und gewalttätige Provokationen, Mädchen eher auf Ausgrenzen und Auslachen.

• Kinder, die häufiger Opfer von Bullying werden, sind selbst im Gegenzug auch häufiger Täter (bzw. umgekehrt). Bullying ist in den meisten Fällen also ein Prozess, der sich hochschaukelt und bei dem Opfer und Täter nicht unbedingt klar zu trennen sind.

• Das Wohlbefinden der Kinder insbesondere in der Schule ist merklich davon abhängig, inwieweit sie von diesen Bullying-Aspekten betroffen sind.

• Kinder mit Migrationshintergrund sowie von arbeitslosen Eltern sind häufiger Opfer und Täter von Bullying.

• Jedes fünfte Kind fühlte sich in der Woche vor der Befragung von Lehrkräften blamiert. Je älter die Kinder werden, desto häufiger fühlen sie sich blamiert.

[Quelle 11]

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Schülerinformationen – Mobbing

Mobbinghandlungen Aktive und körperliche Mobbinghandlungen

• Körperliche Gewalt in unterschiedlichem Ausmaß • Erpressung von sogenannten Schutzgeldern • Diebstahl oder die Beschädigung von Gegenständen des Opfers • Zerstören von im Unterricht erarbeiteten Materialien • Beschädigen und Stehlen von Kleidungsstücken und Schulmaterial • Knuffen und Schlagen auf dem Pausenhof und in den Gängen • Sexuelle Belästigungen

Passive und psychische Mobbinghandlungen

• Ausgrenzen von Schülerinnen und Schülern aus der Schulgemeinschaft • Zurückhalten wichtiger Informationen • Auslachen • verletzende Bemerkungen • ungerechtfertigte Anschuldigungen • Erfinden von Gerüchten und Geschichten über den Betroffenen • Verpetzen • Androhung von körperlicher Gewalt • Ignorieren und Schneiden des Opfers (stummes Mobbing).

Tipps für Schüler im Umgang mit Mobbing

Wenn du Mobbing beobachtest

1. Andere informieren (Auch wenn du Mobbing bei anderen beobachtest, solltest du dies unbedingt deinen Eltern oder dem Lehrer/der Lehrerin sagen.)

2. Andere ansprechen (Sprich andere Schülerinnen und Schüler auf das Problem an. Du bist deshalb keine „Petze“, denn wenn niemand etwas sagt, ändert sich nichts.)

3. Deutlich sagen, was du denkst (Sage klar und deutlich, dass das unerwünschte Verhalten unterlassen werden soll.)

4. Einprägen (Merke dir, wer die Vorfälle noch beobachtet hat.) 5. Beobachtungen mitteilen (Teile die Beobachtungen einer Vertrauensperson mit.)

Wenn du Mobbing selbst erlebst

1. Nicht schweigen (Behalte das, was geschieht, nicht für dich. Rede mit deinen Eltern, deinem Lehrer bzw. deiner Lehrerin oder Freunden darüber.)

2. Deutlich sagen, was du willst (Sage klar und deutlich, dass das unerwünschte Verhalten unterlassen werden soll.)

3. Einprägen (Merke dir, wer die Vorfälle noch beobachtet hat.) 4. Dinge, die dir Spaß machen (Mobbing bringt dich in Bedrängnis, macht dich

lustlos oder gestresst. Schaue, dass du Dinge tun kannst, die dir Spaß machen und die du gerne tust.)

5. Unterstützung suchen (Suche dir Unterstützung bei Verbündeten in deiner Klasse oder auch in anderen Klassen.)

6. Freunde suchen (Suche dir Freunde bzw. pflege deine Freundschaften. Freunde sind wichtig, damit du dich wohl fühlen kannst und in Kontakt mit anderen bist.)

[Quelle 11]

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Arbeitsblatt: Im Umkleideraum Was spielt sich in diesem Umkleideraum ab? Beschreibe die Situation und erzähle eine Geschichte.

Wie kam es zu dieser Situation? Was könnten die Gründe für das Verhalten der Mädchen sein? Wie könnte die Szene weitergehen? Handelt es sich hier um Mobbing?

• Hast du schon Ähnliches erlebt oder beobachtet? • Spielt die Szene mit verteilten Rollen nach und probiert verschiedene

Verhaltensweisen aus. Wie könnte eine Lösung aussehen?

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Arbeitsblatt: Das Mobbinggeschehen verstehen

Damit Mobbing funktioniert, bedarf es verschiedener Rollen. Welche Rollen kannst du auf dem Bild erkennen? Im Mobbinggeschehen unterscheidet man folgende Rollen.

1. Der/die Täter 2. aktive Unterstützer (Mittäter) 3. passive Unterstützer 4. Das Opfer 5. Helfer/Verteidiger des Opfers 6. Freund/Freundin 7. Die interessierten Zuschauer 8. Die unbeteiligten und uninteressierten Außenseiter

• Welche Rollen könnten die markierten Personen haben? Trage die Zahlen ein. • Was wäre, wenn einzelne Rollen (Unterstützer, Zuschauer …) wegfallen würden? • Wer könnte wie eingreifen/helfen, um das Mobbinggeschehen zu beenden?

Finde jeweils einen typischen Ausspruch für die Rollen:

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

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LANDFLUCHT MAIK Eine Stunde lang begegnete uns kein Auto mehr. Wir waren jetzt irgendwo,

wo es nicht mal mehr Häuser am Horizont gab. Auf einem Feld lagen Kürbisse, so groß wie Medizinbälle.

MAIK Vier Kilometer. Fünf Kilometer. Das Terrain hob sich ein wenig. Die Reihe

der Strommasten endete, vom letzten hingen die Kabel runter wie frisch gewaschenes Haar, zehn Meter dahinter war die Welt zu Ende. Die Landschaft hörte einfach auf. Wir stiegen aus und stellten uns auf die letzten Grasbüschel. Vor unseren Füßen war die Erde senkrecht weggefräst, mindestens dreißig, vierzig Meter tief, und unten lag eine Mondlandschaft. Weißgraue Erde, Krater, so groß, dass man Einfamilienhäuser da drin hätte bauen können. […] Ein ganzes Stück links von uns begann eine Brücke über den Abgrund. Auf der anderen Seite dann karge Sträucher und Gräser und so eine Art Dorf. Eine zerbröselte Straße wand sich zwischen verfallenen Häusern durch. Die Fenster hatten größtenteils keine Scheiben, die Dächer waren abgedeckt. Auf den Straßen nirgends Schilder, keine Autos, keine Zigarettenautomaten, nichts. Vor den Gärten waren die Zäune abmontiert vor langer Zeit, Unkraut wucherte aus jeder Ritze. […] Die Straße verlor sich kurz hinter dem verlassenen Dorf, und wir mussten querfeldein. Als ich mich einmal umdrehte, sah ich in großer Entfernung hinter uns das Dorf, sah das zweistöckige Haus, in dem Schütze Fricke wohnte, und sah – dass vor dem Haus ein Polizeiauto hielt. Ganz winzig, kaum noch zu erkennen, aber doch eindeutig die Polizei. Sie schienen gerade zu wenden. Ich machte Tschick darauf aufmerksam, und wir nagelten mit fast achtzig Stundenkilometern durchs Gelände. Die Piste wurde immer schmaler, die Abhänge rückten näher an uns ran, und schräg vor uns sahen wir irgendwo die Autobahn, die da unten einen Schlenker an der Kiesböschung vorbei machte.

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Landflucht Aufbruch Ost

Die Jugend kehrt dem Land den Rücken, vor allem Frauen ziehen fort. Ein Besuch in Herzberg, das seine Zukunft verliert.

Hier müssten sie irgendwo sein, die Jungs und Mädchen von Herzberg. Auf den Treppen vor den Plattenbauten müssten sie sitzen und sich unterhalten. Oder auf der Wiese vor dem Wohnblock liegen. Es gibt doch sogar ein Schild, das junge Menschen verheißt: „Straße der Jugend“. Aber die Jugend lässt sich weit und breit nicht blicken. Stattdessen sieht man Rentner auf den Balkonen, ältere Menschen mit Einkaufstüten, gleich nebenan ist ein Seniorenheim und hinter dem Wohnblock stehen Leute, für die das Jungsein nur noch eine Erinnerung ist, vor einem grauen Flachbau

um Lebensmittel an, die an diesem Nachmittag kostenlos verteilt werden.

Die Jugend von Herzberg, einer Kreisstadt mit knapp 11.000 Einwohnern im Landkreis Elbe-Elster, hat sich nicht versteckt oder einen Kollektivausflug unternommen. Sie ist der Stadt abhandengekom-men, vor allem junge Frauen in der Altersgruppe zwischen 18 und 29 Jahren. Ihnen fehlt es hier an Arbeitsplätzen, an Perspektiven, und bevor sie wie einige ihrer männlichen Altersgenossen ihr Leben mit Bier an der „Germania“ auf dem Marktplatz verplempern, suchen sie ihre Zukunft woanders. Vor allem im Westen. Allein 2006 haben 506 Einwohner die Stadt verlassen, mehr als die Hälfte davon Frauen. „Sie sind ehrgeiziger und reagieren auf die veränderten wirtschaft-lichen Bedingungen flexibler“, sagt Bürgermeister Michael Oecknigk (CDU). 14 Prozent seiner Einwohner hat der Landkreis seit der Wende verloren.

In einer Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung wird Herzberg als typischer Ort mit den typischen Problemen in den Randregionen der neuen Bundesländer genannt. Die Stadt sei geprägt durch Arbeitslosigkeit und Überalterung, heißt es in der Untersuchung, es entstünde eine neue Unterschicht, weil vor allem hoch qualifizierte weibliche Fachkräfte in den Westen ziehen. Der Mangel an Frauen im Alter zwischen 18 und 29 Jahren beträgt in Herzberg laut Studie 13 Prozent. Dass die Not groß ist, das weiß Bürgermeister Michael Oecknigk, 47, nicht erst durch die Studie. Seit 1990 sitzt er im Rathaus von Herzberg, in seinem Büro mit den vertäfelten Wänden stehen

Dutzende Ordner, in denen die Entwicklung der Stadt in Zahlen festgehalten ist. Die Arbeitslosigkeit beträgt mittlerweile mehr als 18 Prozent. Besonders schlimm ist es noch einmal vor zwei Jahren geworden, als der größte Arbeitgeber, der Armaturenhersteller Grohe, sein Werk schloss, weil er die Produktion nach China verlagerte. 300 Herzberger wurden arbeitslos, Steuereinnahmen in Höhe von mehreren hunderttausend Euro fehlen seither jedes Jahr im Gemeindehaushalt.

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Noch drastischer als in diesem 2007 im Tagesspiegel erschienenen Artikel wurden diese starken Probleme bereits 1997 in dem Artikel „LANDFLUCHT – Auszug aus dem Paradies“ in Ausgabe 20 des FOCUS Magazins beschrieben:

Eine düstere Vision beunruhigt die Menschen im brandenburgischen Oderbruch: Durch rapiden Bevölkerungsschwund vergreisen die Dörfer. […]

Heute scheint es so, als etabliere sich hier, im östlichen Ausläufer der Mark Brandenburg, das Armenhaus Deutschlands. Einst spärlich entwickelte Industrie ist verschwunden, landwirtschaft-liche Betriebe schlitterten in den Konkurs. Die ohnehin dünn-besiedelte Region hat in den letzten drei Jahren über fünf Prozent ihrer Bevölkerung verloren. Besonders beunruhigend: je kleiner die Orte, desto größer der Aderlaß.

Dramatische Bevölkerungsebbe herrscht schon heute in Werbig, einer zerstreuten 600-Seelen-Gemeinde am Fuß der Seelower Höhen. Den Kindergarten besuchen nur noch zwei Sprößlinge. Jeder zehnte Einwohner wanderte seit 1994 aus. […]

[…] Im Dorf Kienitz sind seit Schließung der Schuhfabrik Goldpunkt vor fünf Jahren 40 Prozent Arbeitslose zu verzeichnen, ein deutscher Rekord. „Es ist unmöglich, die Gemeinde aufwärts zu bringen, weil kein Geld vorhanden ist. Das macht uns kaputt“, weiß Bürgermeisterin Nieguth nach sieben Jahren im Amt. Kienitzer Jugendliche wandern in die wohlhabenden Berliner Randgemeinden ab, weil auch das örtliche Freizeitangebot nicht übermäßig zu locken vermag.

Das frühere DDR-Vorzeigedorf schmückt ein denkmalgeschützter Sowjetpanzer vom Typ T-34. Kienitz wurde am 31. Januar 1945 als erster Ort diesseits der Oder von Stalins Truppen erobert. Graue Gehöfte umgeben Gedenksockel und Kriegsgefährt in der ausgestorben wirkenden Dorfmitte. Allein die Kirche weist frische Fassadenfarbe auf. Einer Privatinitiative ist das zu verdanken; ansonsten bleibt der Ort bar aller staatlichen Fördermittel.

Einst florierende Landwirtschaft entpuppt sich mittlerweile als Sorgenkind. So vergammeln im Dorf Gorgast Dutzende Gewächshäuser einer ehemaligen Gemüse-LPG namens „Mutig voran!“. Indes „der Mut unserer Bürger ist nicht so riesen-groß“, kommentiert Lehmann, Amts-direktor von Golzow, die Situation.

Noch trostloser präsentiert sich das benachbarte Buschdorf. Hier, wo die

Wege buchstäblich im Niemandsland enden, arbeitete fast jeder als Zulieferer für die verblichene LPG. Jetzt stehen zahlreiche Häuser leer und verfallen. Moderiges Fachwerk, berstender Backstein, bröckelnde Ziegel dominieren den noch 140 Köpfe zählenden Ort. „Ein Desaster“, gibt der Amtsdirektor unumwunden zu.

Die düstere Vision Entvölkerung beunruhigt die Menschen im Oderbruch. […] [Quellen 12]

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NACHWEISE, KONTAKT UND IMPRESSUM Quelle 1: www.rowohlt.de/magazin_artikel/Wolfgang_Herrndorf_Tschick.2899311.html Quelle 2: www.derwesten.de/kultur/wolfgang-herrndorf-tagebuch-eines-todkranken-id4363845.html Quelle 3: www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/im-gespraech-wolfgang-herrndorf-wann- hat-es-tschick-gemacht-herr-herrndorf-1576165.html Quellen 4: „Romane im Theater“ von David Heiligers (Seite 42 ff; „junge bühne“ #5 September 2011);

Theater - Theaterszene und Trends - Goethe-Institut www.goethe.de/kue/the/tst/de4079411.htm Quellen 5: www.drogen-aufklaerung.de/fakten-zu-alkohol www.sueddeutsche.de/wissen/alkohol-in-deutschland-komasaufen-nimmt-zu-1.15285 Quellen 6: www.alkoholismus-hilfe.de/alkoholismus-statistik.html

www.ngo-online.de/2011/07/11/alkoholismus-deutschland/ Quelle 7: Handbuch Gewaltprävention:

www.schulische-gewaltpraevention.de/gewaltpraevention%20sekundarstufe/index Quelle 8: Bundeszentrale für politische Bildung:

www.bpb.de/gesellschaft/migration/dossier-migration/56417/russlanddeutsche?p=all Quelle 9: Bundeszentrale für politische Bildung:

www.bpb.de/gesellschaft/migration/dossier-migration/56394/aussiedler Quelle 10: Bundeszentrale für politische Bildung:

www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/aussiedler Quelle 11: Handbuch Gewaltprävention:

www.schulische-gewaltpraevention.de/gewaltpraevention%20sekundarstufe/ index.php?section=4.3%20Was%20ist%20Mobbing&x=mobbing&k=4&caption=&o=18

Quellen 12: www.tagesspiegel.de/berlin/brandenburg/landflucht-aufbruch-ost/966718.html http://www.focus.de/politik/deutschland/landflucht-auszug-aus-dem- paradies_aid_164752.html

www.freiland-brandenburg.de/