honneth - zur zukunft des instituts fuer sozialforschung vortrag

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Page 1: Honneth - Zur Zukunft Des Instituts Fuer Sozialforschung Vortrag

Erscheint im Katalog des Jüdischen Museums zur Ausstellung über die „Frankfurter Schule“ 2009

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Axel Honneth Vom schwier igen Geschäf t der Tradi t ionswahrung.

Zur Zukunf t des Inst i tu ts für Sozia l forschung*

Niemals zuvor in den letzten einhundert Jahren war der Versuch einer

Vermittlung von Philosophie und Soziologie, von kritischer Theorie und

einzelwissenschaftlicher Forschung so schwierig wie heute. Innerhalb der

Sozialwissenschaften scheint sich gegenwärtig überall die Tendenz einer

Entnormativierung der gesellschaftstheoretischen Schlüsselbegriffe

durchzusetzen, so dass die beobachtbare Realität der Gesellschaft immer

mehr als ein Resultat von anonymen Steuerungsleistungen höherer Ordnung

betrachtet wird, für das die moralischen Erwartungen und Ansprüche der

Subjekte ohne größere Bedeutung scheinen1; und dort, wo dieser Tendenz

aus der Soziologie heraus einmal widerstanden wird, geschieht das nicht

selten unter Bezug auf der Philosophie entlehnte Moralprinzipien, die schon

aufgrund ihres rein konstruktiven, äußerlichen Charakters mit den realen

Entwicklungsprozessen der Gesellschaft viel zu wenig vermittelt sind. Den

Entnormativierungsprozessen innerhalb der Sozialwissenschaften entspricht

innerhalb der Philosophie eine ganz andere Tendenz, die freilich für das

Projekt einer normativ orientierten Gesellschaftstheorie nicht minder

verhängnisvoll ist: Nachdem hier bereits vor einem Vierteljahrhundert die

ganze Idee einer Geschichtsphilosophie mit guten Gründen zunächst einmal

demontiert worden war und damit die Hintergrundkonzeption der älteren

* Diesem Beitrag liegt meine Antrittsvorlesung als Geschäftsführender Direktor am Institut für Sozialforschung (2001) zugrunde.

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kritischen Theorie gleichsam über Nacht ins Nichts versunken ist, machen

sich heute weltweit Ansätze eines Naturalismus breit, die Fragen nach

sozialer Verantwortung und individueller Freiheit überhaupt überflüssig zu

machen scheinen; selbst wenn diese naturalistischen Tendenzen noch

vollkommen uneinheitlich sind und in Gestalt der neueren Hirnforschung etwa

auch erkenntnisfördernde Ergebnisse mit sich bringen mögen, so gelangt

doch in deren Schatten ebenfalls die Soziobiologie wieder zu Ehren, die vor

zwanzig Jahren schon einmal totgesagt worden war. Kurz, so wie von Seiten

der Soziologie die Tendenzen einer Entnormativierung und einer empirischen

Großforschung dem Projekt einer kritischen Gesellschaftstheorie zu schaffen

machen, so von Seiten der Philosophie diejenigen naturalistischen

Tendenzen, in deren Perspektive sich in jeder sozialen Ordnung erneut die

Beharrungskraft biologisch angelegter Verhaltensschemata zeigt.

Angesichts dieser theoretischen Lage stellt die Absicht, in der Arbeit des

Instituts für Sozialforschung noch einmal an die interdisziplinäre

Vergangenheit der eigenen Tradition anzuknüpfen, eine kaum zu

bewältigende Herausforderung dar. Auch die jüngere Geschichte der

kritischen Theorie kann hier keine eindeutigen Orientierungsgesichtspunkte

liefern. Schon nach der Rückkehr aus dem US-amerikanischen Exil, so

glaube ich im Unterschied zu Alex Demirovic,2 war der interne

Zusammenhang zwischen Philosophie und empirischer Sozialforschung,

zwischen geschichtsphilosophischer Theorie der Gesellschaft und

einzelwissenschaftlicher Forschungsarbeit hier weitgehend zerrissen: Was in

1 Vgl. dazu: Axel Honneth, Verflüssigungen des Sozialen. Zur Gesellschaftstheorie von Luc Boltanski und Laurent Thévenot, in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung, 5 (2008), S. 84-103. 2 Vgl. Alex Demirovic, Der nonkonformistische Intellektuelle. Die Entwicklung der Kritischen Theorie zur Frankfurter Schule, Frankfurt/M. 1999.

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den empirischen Studien untersucht wurde, etwa das Gesellschaftsbild der

Arbeiter oder der Studentenschaft in den fünfziger Jahren, zeugt weitgehend

vom reformistischen Impuls der Stabilisierung eines demokratischen

Rechtsstaates, während in den philosophischen Arbeiten Adornos und

Horkheimers ungebrochen jene negativistische Geschichtsphilosophie

fortlebte, derzufolge sich der liberale Kapitalismus durch Monopolbildung und

kulturelle Barbarisierung in einen universalen Verblendungszusammenhang

verwandelt hatte. Dieser Bruch zwischen philosophischem Negativismus und

sozialwissenschaftlichem Reformismus, zwischen grundbegrifflichem

Radikalismus und reformnaher Untersuchungspraxis, schien erst in dem

Augenblick wieder überwunden, als mit der 68er Bewegung kurz die Hoffnung

aufkeimte, dass das Proletariat als revolutionäres Subjekt auf die

weltgeschichtliche Bühne zurückkehren könnte; damals schien plötzlich noch

einmal ein Wiederanknüpfen an die vorfaschistische Ursprungsphase der

kritischen Theorie möglich, als die empirische Forschungsarbeit in der

Verzahnung von Psychoanalyse, Ökonomie und Kulturtheorie vor allem der

Untersuchung der Frage gewidmet war, welche sozialpsychologischen

Ursachen für das Ausbleiben oder Auftreten revolutionären

Klassenbewusstseins verantwortlich zu machen seien. Von dieser

Interimsphase, in der zwischen den 20er und den 70er Jahren des 20.

Jahrhunderts mit einem Mal kein Unterschied mehr zu bestehen schien, ist

später im Wesentlichen nur die normative Aufladung der Industriesoziologie

geblieben: Dass die empirische Forschungsarbeit des Instituts sich alsbald

beinah ausschließlich nur noch auf Vorgänge in der Industrieproduktion

bezog, hing zweifellos mit der mehr oder minder stillschweigenden Prämisse

zusammen, dass nur dort noch, im Kernbereich des industriellen

Kapitalismus, ein gerechtfertigter Standpunkt der Kritik an den

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gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen aufzufinden sei. Allerdings macht

schon das ganze Spektrum an unterschiedlichen Interpretationen, mit denen

diese Sonderrolle der Industriearbeit gerechtfertigt werden sollte - lebendige

Arbeit, produktionsinterne Solidarität, antikapitalistisches Bewusstsein,

Arbeiterstolz -, auf die vielen Unklarheiten aufmerksam, die mit dieser

normativen Aufladung einhergingen: Zwar schien die Industriesoziologie nach

dem Verschwinden revolutionärer Hoffnungen den empirischen Königsweg

einer kritischen Gesellschaftstheorie zu bilden, weil sie die Perspektive der

sozial Unterdrückten einzunehmen erlaubte, aber eine Rechtfertigung dieser

Ausgangsprämisse blieb man sich auf gesellschaftstheoretischer Ebene

weitgehend schuldig.

Im Kern hängen diese Schwierigkeiten wohl alle mit einer Frage zusammen,

die in der Nachfolge der Kritischen Theorie am entschiedensten von Jürgen

Habermas aufgeworfen wurde, als er sich an den Entwurf seiner Theorie des

kommunikativen Handelns gemacht hat: Was sind die Handlungsformen, was

sind die lebensweltlichen Bezüge, so lautet hier ja das Kernproblem, die

insofern eine normative Basis der Gesellschaftskritik abgeben können, als sie

eine Form von sozialmoralischer Rationalität repräsentieren, die durch die

einseitige, instrumentelle Rationalisierung des Kapitalismus gefährdet oder

bedroht wird3. Ich gehe in meinen Überlegungen zur Zukunft des Instituts für

Sozialforschung davon aus, dass der Habermassche Vorschlag, eine solche

vortheoretische Instanz der Kritik in der moralischen Rationalität des

kommunikativen Handelns aufzusuchen, heute den avanciertesten Versuch

einer Reaktualisierung der Kritischen Theorie darstellt. Aber natürlich ist mir

auch klar, dass die Kluft zwischen einer normativ gespeisten

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Industriesoziologie und dem Habermasschen Projekt bislang unüberbrückbar

geblieben sind; nicht nur, dass dort weiterhin die Industriearbeiterschaft

aufgrund ihrer prekären Lage als zentraler Adressat der Theoriebildung gilt,

während hier ganz andere Gruppierungen als Träger von sozialen

Veränderungen in den Blick geraten; entscheidender ist wohl gewesen, dass

Habermas seinerseits im Entwurf seiner Gesellschaftstheorie die

Industrieproduktion insofern radikal entnormativiert hatte, als er sie gemäß

seiner Begriffsbildung dem System zugeschlagen hatte und in ihr daher keine

genuin moralischen Ansprüche mehr vermuten konnte4. Andererseits freilich

hatte die Habermassche Weiterentwicklung der kritischen Theorie ein

Problem aufgeworfen, das auch im Institut nicht einfach ignoriert werden

durfte: Welches sind die moralischen Prinzipien, die es uns erlauben, von der

einseitigen Rationalisierung kapitalistischer Gesellschaften als einem Prozess

zu sprechen, durch den gerechtfertigte Interessen oder legitime Erwartungen

verletzt werden ?

Selbstverständlich mussten in der Institutsarbeit diese normativen Probleme

desto dringlicher werden, je stärker mit der Ausweitung der empirischen

Forschung über die Industriesoziologie hinaus auch andere soziale

Problemzonen in den Blick gerieten: Mit der Einbeziehung der

Doppelbelastung erwerbstätiger Frauen, mit der Öffnung der Studien für

ethnische Konflikte auf dem Arbeitsmarkt wurden Dimensionen

gesellschaftlicher Ungleichheit thematisiert, die nicht einfach in das

althergebrachte Schema der sozialen Dauergefährdung der

Lohnarbeiterschaft passten. Vielmehr brachten diese neuen Forschungsfelder

3 Vgl. Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M. 1981, v.a. Bd. 2, Kap. VII.

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zum Vorschein, dass es neben dem sozialstaatlich eingehegten Arbeitsmarkt

noch andere Mechanismen der sozialen Inklusion gibt, die nur schwerlich im

Rahmen einer ökonomisch ansetzenden Gesellschaftsanalyse zu

untersuchen sind: Die normative Kraft von kulturellen Bewertungsschemata,

die soziale Konstruiertheit der Spaltung von Hausarbeit und Erwerbstätigkeit,

die Schutzfunktion staatsbürgerlicher Rechte, all das waren Einflussgrößen

sozialer Privilegierung und Unterdrückung, die nach einer Erweiterung der

Kapitalismustheorie um die Dimensionen von Kultur und modernem Recht

verlangten.5 Im Grunde bewegte sich die Institutsarbeit damit auf eine

normative Position zu, wie sie heute etwa auch von der Exklusionsforschung

in Anspruch genommen wird: In den empirischen Untersuchungen zu

Ausschließungstendenzen des gegenwärtigen Kapitalismus wird ja ebenfalls

von der Prämisse ausgegangen, dass sich die soziale Sicherstellung der

Subjekte, ihre gesellschaftliche Inklusion, an Standards bemisst, die sich

erstens aus gesicherten Zugangschancen zum Arbeitsmarkt oder

entsprechenden Statuskompensationen und zweitens aus der individuellen

Verfügung über gleiche Grundrechte ergeben. Ich erlaube mir nur im

Nebensatz die Erwähnung, dass dieses Bündel an normativen

Voraussetzungen einer vollwertigen Mitgliedschaft auch in etwa dem

entspricht, was Habermas in seiner Theorie des demokratischen

Rechtsstaates an Vorstellungen entwickelt hat6.

4 Vgl. Axel Honneth, Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie, Frankfurt/M. 1988, v.a. Kap. 8. und 9. 5 Vgl. den von Alex Demirovic erstellten Überblick über die Entwicklung der Forschungsarbeiten des Instituts von 1950 bis 1990: Institut für Sozialforschung (Hg.), Forschungsarbeiten 1959-1990, Frankfurt/M. 1990. 6 Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt/M. 1992, v.a. Kap. III. und IV.

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Mit diesem Schritt in meiner Darstellung bin ich an den historischen Zeitpunkt

gelangt, an dem sich meine eigene Rolle von der des interessierten

Beobachters zu der eines Diskussionsteilnehmers im Institut gewandelt hat.

Es mag meiner disziplinären Verankerung in der Philosophie geschuldet sein,

dass ich mich zum Leidwesen mancher Mitarbeiter oder Mitarbeiterin

zunächst sehr stark auf die Thematisierung des normativen Defizits einer

kritischen Gesellschaftstheorie konzentriert habe; andererseits muss dies

auch als Ausdruck meiner festen Überzeugung verstanden werden, dass sich

keine Gesellschaftsanalyse heute mehr an das Geschäft einer Kritik sozialer

Entwicklungsprozesse machen kann, wenn sie sich nicht zuvor über ihre

normativen Grundlagen hinreichend und überzeugend Rechenschaft abgelegt

hat. Gerade aufgrund der starken Entnormativierungstendenzen, die sich

inzwischen nicht nur im Mainstream der Soziologie, sondern allenthalben

auch in Teilen der wissenschaftlichen Öffentlichkeit breitmachen, scheint mir

eine öffentlich nachvollziehbare Rechtfertigung der Standards geboten, an

denen sich die eigene Forschungsarbeit in kritischer Absicht bemessen kann.

Allerdings ist in Bezug auf die Gesellschaftstheorie die Einführung normativer

Prämissen um Einiges komplizierter, als wenn wir es bloß mit dem Entwurf

einer politischen Konzeption der Gerechtigkeit zu tun hätten; denn in unserem

Fall, so wussten schon Adorno und Horkheimer im Gefolge von Hegel,

müssen die normativen Leitprinzipien so gewählt sein, dass sie zugleich in

den gesellschaftstheoretischen Grundbegriffen Ausdruck finden können, mit

denen die Veränderungsprozesse in der Gesellschaft analysiert werden

sollen. Kurz, die Gesellschaftstheorie, mit der wir arbeiten, muss selbst schon

in dem Sinn normativ gehaltvoll sein, dass sie diejenigen Handlungsstrukturen

oder subjektiven Ansprüchlichkeiten mit in den Blick bringt, auf die sie sich als

rechtfertigbarem Standpunkt ihrer Kritik dann stützen kann. Die normative

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Position, die ich zuvor unter Anspielung auf den Exklusionsbegriff erwähnt

habe, stellt sicherlich eine erste, gewichtige Annäherung an das damit

umrissene Erfordernis dar; aber ich habe nicht nur Zweifel, ob mit der dort

formulierten Idee einer vollwertigen Mitgliedschaft alle heute relevanten

Dimensionen sozialer Gefährdung und Missachtung ausreichend erfasst sind,

sondern vor allem auch, ob ein solcher normativer Ansatz hinreichend mit den

Schlüsselbegriffen einer empirisch ansetzenden Gesellschaftsanalyse

verschmolzen werden kann. In Alternative zu derartigen Vorstellungen habe

ich daher in den letzten Jahren, sicherlich noch ungenügend,

gesellschaftstheoretisch noch nicht differenziert genug, den Versuch der

Entwicklung eines Begriffs der sozialen Anerkennung unternommen, der den

genannten Anforderungen Genüge leisten soll7. Ich will hier nicht noch einmal

die Grundmotive dieses Ansatzes vorstellen, sondern nur die zwei

Eigenschaften hervorheben, die mir für die zukünftige Arbeit im Institut

besonders relevant erscheinen; dabei will ich aber sofort betonen, dass ich in

Sachen normativer Grundlegung keinen Monopolanspruch im Institut erheben

möchte, sondern alternative Vorstellungen für genauso geeignet halte,

solange sie nur der empirischen Forschung im Sinn der Gesellschaftskritik

zugute kommt.

Wie ansonsten wohl nur der Begriff des "Interesses", der daher stets mit

Recht eine große Rolle in der Tradition der kritischen Gesellschaftstheorie

gespielt hat,8 besitzt auch der Begriff der "Anerkennung" von Hause aus eine

normativ-empirische Doppelnatur: Einerseits gehören Prozesse der

7 Vgl. v.a. Axel Honneth, Umverteilung als Anerkennung. Eine Erwiderung auf Nancy Fraser, in: Nancy Fraser/ Axel Honneth, Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse, Frankfurt/M. 2003, S. 129-224. 8 Wolfgang Detel, Grundkurs Philosophie, Bd. 5: Philosophie des Sozialen, Stuttgart 2007, S. 142 ff.

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wechselseitigen Gewährung von sozialer Anerkennung zum invarianten

Bestandteil aller sozialen Lebensformen, andererseits aber ragt

"Anerkennung" stets auch als moralische Forderung über die je gegebenen

Verhältnisse hinaus, so dass wir sie auf ihre Verallgemeinerbarkeit hin prüfen

und daher zum Maßstab der Bewertung sozialer Gerechtigkeit nehmen

können. "Anerkennung" ist, so lässt sich dieser Gedanke auch formulieren,

gleichzeitig etwas, was die Subjekte faktisch von der sozialen Gemeinschaft

einfordern, als auch etwas, was in seinem transzendierenden Charakter zum

normativen Grund der Gesellschaftskritik werden kann. Weil der Begriff der

"Anerkennung" mithin Faktizität und Geltung umfasst, erfüllt er die genannte

Bedingung, eine empirisch ansetzende Gesellschaftstheorie normativ

aufladen zu können. Freilich hängt nun alles Weitere davon ab, und damit

komme ich schon zum zweiten Punkt, ob es tatsächlich auf überzeugende

Weise gelingt, die kategorialen Mittel einer Gesellschaftsanalyse

anerkennungstheoretisch so anzureichern, dass sie der empirischen

Untersuchung von aktuellen Krisen- und Verwerfungsprozessen dienlich

werden können. Ich gehe davon aus, dass sich die soziale Inklusion der

Subjekte in die Gesellschaft generell auf dem Weg von unterschiedlichen

Prozessen der wechselseitigen Anerkennung vollzieht; daher finden sich in

fast allen gesellschaftlichen Ordnungen normative Prinzipien institutionalisiert,

die festlegen, in welchen Hinsichten und in welcher Art die Mitglieder

legitimerweise Anerkennung voneinander erwarten können - eine Ausnahme

bildet hier etwa der Nationalsozialismus, der ganze Bevölkerungsgruppen von

jeder Chance ausschloss, überhaupt zu sozialer Anerkennung zu gelangen.

Der Durchbruch zu den liberalkapitalistischen Gesellschaften des Westens

bestand nun darin, dass die Anerkennungsprinzipien von ständischen

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Ehrkonzepten entkoppelt und weitgehend auf egalitäre Grundlage gestellt

wurden: Im Prinzip der "Liebe" entstand, wie Niklas Luhmann gezeigt hat,

eine Anerkennungsnorm, derzufolge jedes Subjekt in der Intimsphäre

liebevolle Anerkennung für die eigene Bedürfnisnatur erwarten durfte; in der

moralischen Idee der individuellen Rechtsgleichheit erwuchs ein

Anerkennungsprinzip, demzufolge jedes Gesellschaftsmitglied legitimerweise

eine Anerkennung seiner gleichen liberalen Freiheiten erwarten durfte, so

dass später subjektive Zusatzrechte erkämpfbar wurden, die auch die

faktische Wahrnehmung solcher liberalen Freiheiten möglich machen sollten;

und in der Produktionssphäre schließlich entwickelte sich im Geist des

Kapitalismus das Leistungsprinzip, das jedem Subjekt der Idee nach in

Aussicht stellte, für seinen gesellschaftlichen Beitrag die angemessene

Anerkennung in Form von Statusvergütungen zu erhalten9. Alle diese

Anerkennungsprinzipien enthalten nun in ihrer Geltungsdimension

gewissermaßen einen normativen Überschuss, weil sie stets mehr an

Versprechen auf die Anerkennung von Bedürfnissen, rechtlichen Freiheiten

oder Beiträgen implizieren, als nach der je herrschaftlich praktizierten

Ausdeutung zur Anwendung gelangt; daher auch vollzieht sich die

Entwicklung des modernen Kapitalismus über eine Vielzahl von sozialen

Kämpfen, in denen je nach erfahrener Missachtung unterschiedliche Akteure

unter Berufung auf jene Anerkennungsprinzipien dafür streiten, die für

gerechtfertigt gehaltene Anerkennung in der Liebe, im Recht und in der

gesellschaftlichen Arbeitsteilung zu erhalten.

Es ist nun nach meinem Dafürhalten nicht mehr allzu schwer, den Ertrag einer

solchen differenzierten Anerkennungskonzeption für die Belange einer

9 Vgl. Axel Honneth, Umverteilung als Anerkennung, a.a.O., S.163 ff.

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kritischen Gesellschaftsanalyse zu verstehen. Nicht sehr anders als der

Inklusionsbegriff, der ja normativ jeder Analyse von sozialen

Ausschließungsprozessen zugrunde liegen muss, orientiert sich auch der

Anerkennungsbegriff an der Idee einer vollwertigen Mitgliedschaft in der

Gesellschaft; aber im Unterschied zu jenem ersten Konzept wird hier die

soziale Einbeziehung der Subjekte als das Ergebnis einer sozialen

Anerkennung begriffen, die sich an moralischen Prinzipien orientiert, die zur

normativen Infrastruktur moderner, kapitalistischer Gesellschaften gehören.

Die Idee, an der sich heute eine kritische Gesellschaftstheorie zu orientieren

vermag, ist die Vorstellung einer gerechtfertigten Erweiterung sozialer

Anerkennung; und dementsprechend hat ihre empirische Aufmerksamkeit den

vielzähligen Formen von sozialer Missachtung, von Ausschluss und

Entwürdigung zu gelten, die sich in den pathologischen Erscheinungen der

Entsolidarisierung, der kompensatorischen Ausübung von Gewalt, der

Vereinzelung, ja der gesellschaftlichen Barbarisierung im Ganzen

niederschlagen.

Nicht leicht ist es nun, von diesen allgemeinen Überlegungen aus zum

Schluss einen Bogen zum Inhalt und Charakter der zukünftigen

Forschungsprojekte zu schlagen. Ich habe ja bislang nur etwas zu den

normativen Leitideen, aber noch nichts zu den empirischen

Untersuchungszielen des Instituts für Sozialforschung gesagt. Im Lichte der

zuvor umrissenen Hintergrundnormen betrachtet, stellt sich der gegenwärtige

Strukturwandel des liberalen Kapitalismus als ein höchst widersprüchlicher

Prozess dar: Auf der einen Seite haben wir es im Gefolge einer reflexiven

Modernisierung mit einer Vielzahl von unleugbaren Fortschritten in der

rechtlichen Gleichstellung, der Einbeziehung des Anderen, der kulturellen

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Enttraditionalisierung, kurz, der Erweiterung sozialer

Anerkennungsverhältnisse zu tun: Auf der anderen Seite aber drohen diese

normativen Erweiterungen im Gefolge einer rapide voranschreitenden

Vermarktlichung und Ausgrenzung auch in eine Reihe von neuen sozialen

Gefährdungen umzuschlagen, von der bestimmte Gruppen von Jugendlichen

ebenso betroffen sind wie alleinerziehende Mütter, irregulär Beschäftige oder

die wachsende Masse von abgeschobenen Alten - in seinem Buch über das

"Elend der Welt" hat Pierre Bourdieu von diesen Verlierern der

kapitalistischen Modernisierung ein eindrucksvolles Bild zu geben vermocht10.

Angesichts dieser äußerst widersprüchlichen Entwicklungstendenzen scheint

es mir sinnvoll, die empirische Forschungsaktivität des Instituts in Zukunft auf

Prozesse zu konzentrieren, die sich schlagwortartig als "Paradoxien der

kapitalistischen Modernisierung" begreifen lassen. Statt die Verwendung

dieser Kategorien hier im Einzelnen zu begründen, wofür wir im Institut selbst

zukünftig noch gesellschaftstheoretische Intelligenz werden aufbringen

müssen, möchte ich hier nur knapp erläutern, warum mir der Begriff der

"Paradoxien" für unser Untersuchungsthema geeignet scheint. Von einem

paradoxalen Geschehen können wir in Bezug auf gesellschaftliche

Entwicklungen sprechen, wenn ein- und derselbe Strukturwandel durch

dieselben Mechanismen, die moralische, rechtliche oder kulturelle Fortschritte

zustande bringen, diese normativen Errungenschaften auch wieder gefährdet,

weil der Kreis der von ihnen eigentlich Profitierenden gleichzeitig strukturell

reduziert wird. Paradox ist ein sozialer Entwicklungsprozess daher immer

dann, wenn er Emanzipationen, Freiheitserweiterungen oder materiellen

Zugewinn in Aussicht stellt, an deren Wahrnehmung er simultan einen immer

10 Pierre Bourdieu u.a., Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, Konstanz 1997.

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größer werdenden Kreis der Gesellschaftsmitglieder systematisch hindert. In

diesem Sinn ist die reflexive Modernisierung, von der heute allenthalben

gesprochen wird, ein zutiefst paradoxer Prozess; und im Institut für

Sozialforschung sollte im Sinne der eigenen Tradition, aber mit erheblich

gewandelten Mitteln, der Versuch gemacht werden, solche aktuellen

Paradoxien der kapitalistischen Modernisierung auf breiter Ebene empirisch

zu untersuchen11.

Es ist nach diesen Ausführungen beinah überflüssig, noch einmal gesondert

hervorzuhaben, dass die Industriesoziologie oder, vielleicht besser: eine

Soziologie der gesellschaftlichen Arbeit einen zentralen Platz in der

zukünftigen Institutionsarbeit beibehalten wird; an kaum einem anderen Ort

vollziehen sich die genannten Paradoxien greifbarer als dort, wo die

Qualitätssteigerung bestimmter Sektoren der Erwerbsarbeit mit einem rapide

voranschreitenden Prozess der Deregulierung und Flexibilisierung anderer

Tätigkeitsbereiche Hand in Hand geht. Aber ebenso notwendig scheint es mir

zu sein, jene sozialen Paradoxien dort zu untersuchen, wo es infolge der

Enttraditionalisierung der Kleinfamilie und einer dementsprechenden

Pluralisierung von Familienformen zu sozialisatorischen Gefährdungen der

Kinder kommt; wo die begrüßenswerte Entbürokratisierung des Sozialstaats

mit Tendenzen eines schleichenden Abbaus sozialer Rechte einhergeht; und

wo die enorme Beschleunigung der medialen Kommunikation zur latenten

Formierung einer neuen, demokratiegefährdenden Kulturindustrie wird. Ein

zentrales Anliegen der zukünftigen Institutsarbeit soll freilich die empirische

Untersuchung des Strukturwandels der normativen Integration selbst

11 Vgl. Martin Hartmann/Axel Honneth, Paradoxien des Kapitalismus, in: Berliner Debatte Initial, H. 1 (15/ 2004), Berlin 2004, S.4-17.

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ausmachen; hier sollten wir Projekte ins Auge fassen, die zu untersuchen

versuchen, inwiefern das Leistungsprinzip gegenwärtig durch ein bloßes

Erfolgsprinzip ersetzt wird und ob das Prinzip sozialer Mitverantwortung heute

so weit ausgehöhlt und gleichsam individualisiert wird, dass es mehr und

mehr zu einer bedrohlichen Schuldzuweisung an den isoliert gedachten

Einzelnen kommt12.

Das sind bloße Stichworte, mit denen ich den gesellschaftstheoretischen

Rahmen abzustecken versuche, innerhalb dessen sich die empirische

Forschungsarbeit des Instituts in Zukunft bewegen soll. Solche

Verlautbarungen bleiben freilich nur vage Versprechungen, solange nicht

auch konkrete Untersuchungen und Arbeiten vorliegen, die den Worten auch

wissenschaftliche Taten folgen lassen – und das ist, nach allgemeiner

Erfahrung, nicht nur eine Sache richtiger Programme, sondern auch günstiger

Zeitumstände, finanziell ausreichender Ressourcen und einer klugen

Personalpolitik.

Frankfurt/M., 08. Mai 2009

12 Vgl. zu den hier angesprochenen Themenfeldern: Axel Honneth (Hg.), Befreiung aus der Mündigkeit. Paradoxien des gegenwärtigen Kapitalismus, Frankfurt/M. 2002