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Grenzen des Konzepts der Symmetrie in der osteopathischen Beurteilung Eine Erweiterung des Konzepts in Hinblick auf Proportionalität führt zu besseren klinischen Ergebnissen William Brooks* Zusammenfassung Ein zentrales Anliegen der osteopathischen Praxis war es von jeher zu differenzieren, welche Körperhaltung und Bewegung für ein bestimmtes Individuum optimal ist. Ein mechanisches Gleichgewicht gilt als unab- dingbare Voraussetzung für optimale Hal- tung und Bewegung. Die ese dieses Bei- trags lautet, dass das Kriterium „Symmetrie“ zwar einen qualitativen Schritt über ortho- pädische, neurologische und rheumatologi- sche Untersuchungen hinaus bedeutet. Sym- metrie allein zeigt jedoch nicht, ob Körper- haltung und Bewegung ausbalanciert sind. Hier führt das Konzept der Proportionalität zu einem besseren klinischen Ergebnis. Pro- portionalität berücksichtigt die Beziehung einzelner Körperteile bzw. Bewegungen zur Gesamtheit. Symmetrie bildet in diesem System demnach eine Teilgröße. Schlüsselwörter Osteopathie, Symmetrie, Asymmetrie, Pro- portionalität, Bewegungsmuster, Haltung Abstract A central goal of osteopathic practice has been to discern optimal posture and mo- vement for each individual. Mechanical balance is thought to be a necessary con- dition of optimal posture and movement - the rationale for which is beyond the scope of this discussion. e thesis of this essay is that using the criterion of symmetry, while a qualitative step beyond the orthopedic, neurological and rheumatologic examina- tions, fails to fully reveal balanced posture and movement. Application of the criteri- on of proportionality portends significantly improved clinical outcomes by broadening and deepening our perspectives on three dimensional, multi-contextual whole body posture and movement balance. Keywords Osteopathy, symmetry, asymmetry, pro- portionality, posture, movement Frage lautet hier: In welchem Um- fang liegt die Funktion vor – Kraſt, Ausdauer, aktives Bewegungsausmaß, passives Bewegungsausmaß, Gleich- gewicht, Koordination, Gelenkschwel- lung, Druckempfindlichkeit etc.? Zunächst wird die Funktion quanti- fiziert, anschließend analysiert man, ob eine Quantität „innerhalb norma- ler Parameter“, d.h. ob eine gegebene Funktion vermindert oder im Über- maß vorliegt. Die Unterscheidung zwischen normal und anormal für einen spezifischen Parameter wird anhand von Messwerten aus einer asymptomatischen, typischen Popu- lation vorgenommen. Das Kriterium „innerhalb der Norm“ basiert auf zwei Standardabweichungen oberhalb und unterhalb des für diese Population gefundenen Mittelwerts. Wenn ein individueller Befund außerhalb einer der beiden Standardabweichungen liegt, gilt die Funktion als anormal und als eine „Red Flag“, die auf eine mögliche strukturelle Pathologie hin- deutet. Alternativ und für gewöhnlich im Zusammenhang mit einer schweren Verletzung (was eine Rückkehr zu „normal“ unrealistisch macht) oder im Falle einer begrenzten Anforde- rung (wobei eine „normale“ Funktion schlicht nicht benötigt wird), lautet das Kriterium „innerhalb funktionel- ler Grenzen“. Gemeint ist damit eine anormale Stellung und Bewegung des Körpers, die es trotzdem gestattet, den Alltagsaktivitäten nachzugehen, wie Atmung, Essen, Körperhygiene, Aus- scheidung, Ankleiden und insgesamt die Basisaktivitäten des Lebens. * William Brooks, D.O., praktiziert Osteopathie seit 1981. Er begann als Schüler von Robert Fulford. Es folgten das Department of Orthopedic Surgery, Park Nicollet Medical Center, Minneapolis, das College of Medicine der Universität von Arizona und das College of Osteopathic Medicine der Universität in Kansas City. Momentan arbeitet er als Associate Clinical Professor of Osteopathic Principles and Practice am College of Osteopathic Medicine der Nova Southeastern University in Ft. Lauderdale, Florida. Konventionelle Beurteilung des musku- loskelettalen Systems Orthopädie, Neurologie und Rheuma- tologie beurteilen das muskuloskelet- tale System mithilfe von Anamnese, körperlicher Untersuchung und bio- mechanischen, biochemischen, bio- elektrischen Tests sowie bildgebenden Verfahren. Damit wird in den genann- ten Disziplinen herkömmlicherweise versucht herauszufinden, ob ein struk- tureller Defekt vorliegt oder nicht – sei er anatomischer, histologischer und/ oder biochemischer Natur. Man ver- sucht zu kategorisieren, zu lokalisie- ren und spezifisch zu charakterisieren, welche Art, Quantität und/oder Orga- nisation von Substanzen gestört ist. Mit diesen Bemühungen liegt die Osteopathie nicht im Konflikt. Sie ist vielmehr selbst fortwährend bestrebt, die Kenntnisse der strukturellen Pa- thologie zu erweitern und zu vertiefen und den Umfang, die Reproduzierbar- keit (Validität und Reliabilität) sowie den Wert (Spezifizität und Sensibi- lität) von Methoden zu steigern, mit denen solche Pathologien differenziert werden können. Für die Bemühung der besagten Diszi- plinen um die Abklärung einer struk- turellen Pathologie spielt die Suche auch nach funktionellen Defiziten eine wesentliche Rolle. Die grundlegende 11 Osteopathische Medizin ÜBERSICHT 10. Jahrg., Heft 1/2009, S. 11–15, Elsevier GmbH – Urban & Fischer, www.elsevier.de/ostmed

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Page 1: Grenzen des Konzepts der Symmetrie in der osteopathischen Beurteilung: Eine Erweiterung des Konzepts in Hinblick auf Proportionalität führt zu besseren klinischen Ergebnissen

Grenzen des Konzepts der Symmetrie in der osteopathischen Beurteilung

Eine Erweiterung des Konzepts in Hinblick auf Proportionalität führt zu besseren klinischen Ergebnissen

William Brooks*

ZusammenfassungEin zentrales Anliegen der osteopathischen Praxis war es von jeher zu diff erenzieren, welche Körperhaltung und Bewegung für ein bestimmtes Individuum optimal ist. Ein mechanisches Gleichgewicht gilt als unab-dingbare Voraussetzung für optimale Hal-tung und Bewegung. Die Th ese dieses Bei-trags lautet, dass das Kriterium „Symmetrie“ zwar einen qualitativen Schritt über ortho-pädische, neurologische und rheumatologi-sche Untersuchungen hinaus bedeutet. Sym-metrie allein zeigt jedoch nicht, ob Körper-haltung und Bewegung ausbalanciert sind. Hier führt das Konzept der Proportionalität zu einem besseren klinischen Ergebnis. Pro-portionalität berücksichtigt die Beziehung einzelner Körperteile bzw. Bewegungen zur Gesamtheit. Symmetrie bildet in diesem System demnach eine Teilgröße.

SchlüsselwörterOsteopathie, Symmetrie, Asymmetrie, Pro-portionalität, Bewegungsmuster, Haltung

AbstractA central goal of osteopathic practice has been to discern optimal posture and mo-vement for each individual. Mechanical balance is thought to be a necessary con-dition of optimal posture and movement - the rationale for which is beyond the scope of this discussion. Th e thesis of this essay is that using the criterion of symmetry, while a qualitative step beyond the orthopedic, neurological and rheumatologic examina-tions, fails to fully reveal balanced posture and movement. Application of the criteri-on of proportionality portends signifi cantly improved clinical outcomes by broadening and deepening our perspectives on three dimensional, multi-contextual whole body posture and movement balance.

KeywordsOsteopathy, symmetry, asymmetry, pro-portionality, posture, movement

Frage lautet hier: In welchem Um-fang liegt die Funktion vor – Kraft , Ausdauer, aktives Bewegungsausmaß, passives Bewegungsausmaß, Gleich-gewicht, Koordination, Gelenkschwel-lung, Druckempfi ndlichkeit etc.? Zunächst wird die Funktion quanti-fi ziert, anschließend analysiert man, ob eine Quantität „innerhalb norma-ler Parameter“, d.h. ob eine gegebene Funktion vermindert oder im Über-maß vorliegt. Die Unterscheidung zwischen normal und anormal für einen spezifi schen Parameter wird anhand von Messwerten aus einer asymptomatischen, typischen Popu-lation vorgenommen. Das Kriterium „innerhalb der Norm“ basiert auf zwei Standardabweichungen oberhalb und unterhalb des für diese Population gefundenen Mittelwerts. Wenn ein individueller Befund außerhalb einer der beiden Standardabweichungen liegt, gilt die Funktion als anormal und als eine „Red Flag“, die auf eine mögliche strukturelle Pathologie hin-deutet. Alternativ und für gewöhnlich im Zusammenhang mit einer schweren Verletzung (was eine Rückkehr zu „normal“ unrealistisch macht) oder im Falle einer begrenzten Anforde-rung (wobei eine „normale“ Funktion schlicht nicht benötigt wird), lautet das Kriterium „innerhalb funktionel-ler Grenzen“. Gemeint ist damit eine anormale Stellung und Bewegung des Körpers, die es trotzdem gestattet, den Alltagsaktivitäten nachzugehen, wie Atmung, Essen, Körperhygiene, Aus-scheidung, Ankleiden und insgesamt die Basisaktivitäten des Lebens.

* William Brooks, D.O., praktiziert Osteopathie seit 1981. Er begann als Schüler von Robert Fulford. Es folgten das Department of Orthopedic Surgery, Park Nicollet Medical Center, Minneapolis, das College of Medicine der Universität von Arizona und das College of Osteopathic Medicine der Universität in Kansas City. Momentan arbeitet er als Associate Clinical Professor of Osteopathic Principles and Practice am College of Osteopathic Medicine der Nova Southeastern University in Ft. Lauderdale, Florida.

Konventionelle

Beurteilung des musku-

loskelettalen Systems

Orthopädie, Neurologie und Rheuma-tologie beurteilen das muskuloskelet-tale System mithilfe von Anamnese, körperlicher Untersuchung und bio-mechanischen, biochemischen, bio-elektrischen Tests sowie bildgebenden Verfahren. Damit wird in den genann-ten Disziplinen herkömmlicherweise versucht herauszufi nden, ob ein struk-tureller Defekt vorliegt oder nicht – sei er anatomischer, histologischer und/oder biochemischer Natur. Man ver-sucht zu kategorisieren, zu lokalisie-ren und spezifi sch zu charakterisieren, welche Art, Quantität und/oder Orga-nisation von Substanzen gestört ist. Mit diesen Bemühungen liegt die Osteopathie nicht im Konfl ikt. Sie ist vielmehr selbst fortwährend bestrebt, die Kenntnisse der strukturellen Pa-thologie zu erweitern und zu vertiefen und den Umfang, die Reproduzierbar-keit (Validität und Reliabilität) sowie den Wert (Spezifi zität und Sensibi-lität) von Methoden zu steigern, mit denen solche Pathologien diff erenziert werden können.Für die Bemühung der besagten Diszi-plinen um die Abklärung einer struk-turellen Pathologie spielt die Suche auch nach funktionellen Defi ziten eine wesentliche Rolle. Die grundlegende

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Die abschließende Frage im Rahmen einer traditionellen muskuloskeletta-len Evaluierung lautet, ob zwischen der ermittelten strukturellen Patholo-gie oder funktionellen Anomalie und den Symptomen oder potenziellen Symptomen tatsächlich ein kausaler Zusammenhang besteht. Kurz gesagt: Ist der Befund „klinisch signifi kant”?

Was ist eine optimale

Funktion?

Auch die Osteopathie hält diese Fragen für essenziell, und zwar zum einen, um akute Beschwerden zu erkennen und darauf eingehen zu können, zum an-deren, um präventive Interventionen und Empfehlungen zu etablieren. Das Problem bei orthopädischen, neurolo-gischen und rheumatologischen Un-tersuchungen ist jedoch, dass grund-legende Fragen nicht gestellt werden! Hierzu zählen die folgenden beiden Fragen:

Die aktive Bewegungsfähigkeit ei-• nes Individuums könnte im oberen Bereich der Normalverteilung gele-gen haben, bevor dieses Individuum eine Verletzung erleidet, wodurch er oder sie in den unteren Bereich der Normalverteilung abrutscht. Es ist bei diesem Individuum zu einer physiologischen Veränderung ge-kommen – zu einer Reduktion von Fähigkeiten, die für dieses Indivi-duum eine suboptimale Funktion bedeutet und möglicherweise zu Symptomen beiträgt. Mittels der or-thopädischen, neurologischen und rheumatologischen Analysemetho-den wird diese Veränderung nicht erfasst (Abb. 1). Studien an der symptomatischen • Population werden nicht parallel zu denjenigen an der asymptoma-tischen Gruppe durchgeführt. Da-durch entsteht eine negative Verzer-rung zur symptomatischen Popula-tion. Würde der Prozess umgekehrt und die symptomatische Population als Bezugsgröße genommen, würden die Überschneidungen zwischen den beiden Populationen den Eindruck vermitteln, die asymptomatische Gruppe kompensiere entweder eine fehlerhaft e Funktion, oder sie bean-

spruche das muskuloskelettale Sys-tem einfach weniger als die sympto-matische Gruppe (Abb. 2).

Die Frage „Was ist eine optimale Funktion (die keiner Kompensation bedarf)?“ wird also einfach nicht ge-stellt! Fachvertreter der Osteopathie haben diese Begrenzung bereits thematisiert. Der derzeit offi ziell gültigen Defi nition zufolge ist eine somatische Dysfunk-tion „eine beeinträchtigte oder ver-änderte Funktion miteinander in Be-ziehung stehender Komponenten des somatischen Systems (körperlichen Gefüges), d.h. der Skelett-, Gelenk- und myofaszialen Strukturen sowie der zugehörigen vaskulären, lympha-tischen und neuralen Elemente. Die somatische Dysfunktion ist auf dem Wege einer osteopathischen Manipu-lationsbehandlung therapierbar.“ [1]Nicht ausdrücklich geklärt bleibt die Frage „Beeinträchtigt oder verändert durch was?“ Zur Antwort seien drei Kriterien angeführt: „Die Stellungs- und Bewegungsaspek-te einer somatischen Dysfunktion las-sen sich am besten anhand von min-destens einem der nachstehenden drei Parameter beschreiben:

die Stellung eines Körperteils, wie • durch Palpation ermittelt und be-zogen auf benachbarte, defi nierte Strukturen,die Richtungen, in denen Bewegung • freier ist,die Richtungen, in denen Bewegung • eingeschränkt ist.” [1]

Das Akronym T.A.R.T. gibt vier klä-rende und weiterführende diagnosti-sche Kriterien an [1]:

Gewebeanomalie (1. tissue texture ab-normality)

Asymmetrie (2. asymmetry)Bewegungseinschränkung (3. restric-tion of motion)Empfi ndsamkeit (durch Gewebe-4. spannung; tenderness)

Die Kriterien 1, 3, und 4 sind Daten-kategorien, während Kriterium 2 eine Methode zur Datenanalyse bezeich-net. Die Kriterien 2, 3 und 4 beziehen sich auf mechanische Störungen (Hal-tung und Bewegung), Kriterium 1 auf strukturelle („organische“) Verände-rungen von „Weichteilgeweben“.Das Akronym T.A.R.T. impliziert also, dass „beeinträchtigte oder abgewan-delte Funktion“ auf eine weniger als optimale Funktion verweist und dass unter einer suboptimalen mechani-schen Funktion eine asymmetrische Stellung und/oder Bewegung zu ver-stehen ist. Mithilfe einer OMT (Os-teopathic Manipulative Treatment) sollen die ideale Stellung und Bewe-gung wiederhergestellt werden – was ein bedeutsamer Schritt über die Wie-derherstellung von lediglich normaler Stellung und Bewegung hinaus ist. Kurz gesagt: Osteopathischem Ver-ständnis zufolge müssen Stellung und Bewegung sowohl normal (nach or-thopädischen wie rheumatologischen Kriterien) als auch ausbalanciert sein.

Symmetrie und

Asymmetrie

Asymmetrie, das zweite Kriterium, steht im Mittelpunkt des vorliegenden Essays. Die zugrunde liegende Annah-me lautet, Stellung und Bewegung sei-en ausbalanciert, also optimal, wenn sie symmetrisch sind. Im osteopathi-schen Glossar heißt es zu Asymmetrie,

Abb. 1: Die Funktion (z.B. Beweglichkeit nach Verletzung) ist nicht mehr optimal, aber noch in den Grenzen des „Normalen“.

Abb. 2: Überschneidung zwischen asymptomatischer (rechte Kurve) und symptomatischer (linke Kurve) Population am Beispiel des Symptoms Rückenschmerzen.

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sie sei zu verstehen als „fehlende Sym-metrie von Stellung und Bewegung; Abweichungen zwischen korrespon-dierenden Körperteilen oder Organen auf den beiden Körperseiten, die nor-malerweise gleich sind; ein insbeson-dere nützliches Konzept zur Beschrei-bung von Abweichungen bei Stellung und Bewegung aufgrund einer soma-tischen Dysfunktion.“ [1]Anhand dieses Kriteriums werden

Haltungsstörungen aufgedeckt, in-• dem man die rechte mit der linken Seite vergleicht, jeweils in der Fron-tal- und der Transversalebene, Bewegungsstörungen erkannt, in-• dem Wirbelsäulenbewegungen nach rechts mit denen nach links verglichen werden (wiederum in der Frontal- und Transversalebene), geprüft , ob Bewegungen der Extre-• mitäten und Rippen auf der rechten und der linken Seite sich in allen drei Ebenen entsprechen.

Es sei betont, dass es sich bei der Be-wertung von symmetrischer Haltung und Bewegung um eine „systemim-manente” Analysemethode, bei der gängigen Methode zur Bestimmung von Normalität dagegen um eine „intersystemische” Methode handelt. Letztere vergleicht die Befunde eines Individuums mit denjenigen vieler anderer Individuen. Diese Methode ist sinnvoll, um eine strukturelle Patholo-gie herauszuarbeiten, wenn Variablen wie Alter, Geschlechtszugehörigkeit, Rasse, Körpergröße und Gewicht kontrolliert sind und das Individuum zur Vergleichsgruppe in Bezug gesetzt wird. Dagegen wird bei der „systemim-manenten“, „patientenimmanenten“ oder „subjektimmanenten“ Methode ein gegebener Befund bei einem In-

dividuum mit anderen Befunden an demselben Individuum verglichen. Die beiden Methoden schließen sich NICHT gegenseitig aus, sie sind viel-mehr komplementär.Sowohl im Hinblick auf Morphologie als auch auf Haltung ist Symmetrie ein unzureichendes Kriterium für dreidi-mensionale Balance, denn Beziehun-gen in der Sagittalebene lassen sich nicht anhand von Vorn/Hinten-Be-ziehungen analysieren. Im aktuell ge-bräuchlichen osteopathischen Modell für die Haltung im Stand wird diese Einschränkung stillschweigend einge-standen, indem man die Abweichung von der Schwerkraft linie als Kriterium für sagittale Balance anlegt: „In der Seitenansicht verläuft eine imaginä-re Linie in einer Frontalebene durch den Patienten. Bei angenommener Idealhaltung beginnt sie knapp ante-rior des Außenknöchels, zieht durch den Condylus lateralis des Knies, den Trochanter major, durch das laterale Caput humeri am Acromium bis zum äußeren Gehörgang. Als Ebene durch den Körper gelegt, würde diese den dritten Lendenwirbel mittig sowie das Sakrum im vorderen Drittel teilen. Die Lotlinie dient zur Beurteilung der AP-Krümmung der Wirbelsäule.“ [1]Ohne dass es explizit erwähnt wird, folgt daraus, dass für die ideale ausbalancier-te Haltung in der Sagittalebene sowohl „normale“ als auch „proportionale“ Wirbelsäulenkrümmungen voraus-zusetzen sind. „Proportionale Krüm-mung“ bedeutet, dass das Ausmaß der HWS- und LWS-Lordose mit dem Ausmaß der Kyphose von BWS und Sakrum korrespondiert. Damit wird de facto anerkannt, dass Symmetrie als Kriterium für die Balance von Morpho-logie und Stellung nicht ausreicht.

Einschränkungen des

Kriteriums der Symmetrie

Im Hinblick auf Bewegung sind zu-mindest sieben Einschränkungen zu beachten:

Symmetrie als Kriterium ist nicht in 1. der Lage zu berücksichtigen, dass Schichten mit unterschiedlich ein-geschränkten Bewegungsmöglich-keiten aufeinandertreff en/aneinan-dergrenzen.Erfahrenen Klinikern ist dieses Phänomen durchaus vertraut: Wenn sie auf ein Bewegungsdys-funktionsmuster in einem gege-benen Segment eingegangen sind, tritt ein anderes zutage. Ein Bei-spiel: L3 rotiert weniger gut nach rechts als nach links. Nachdem versucht wurde, das Rotationsde-fi zit von L3 nach rechts zu behe-ben, zeigt sich ein asymmetrischer Rotationsverlust nach links. Das derzeit benutzte Modell trägt der Schichtung nicht Rechnung.Symmetrisch eingeschränkte Bewe-2. gungen werden durch das Symmet-riekriterium nicht erfasst (Abb. 3, 4 und 5).Symmetrie erlaubt keine Verglei-3. che zwischen Ebenen, auch nicht zwischen Achsen oder Achsen und Ebenen. Nur innerhalb einer Ebene entlang einer Achse sind Vergleiche möglich.Bi- und triaxiale Rotationen und kurvenförmige Gleitbewegungen sind fundamentale aktive Funktio-nen beim Menschen, z.B. die aktive Zirkumduktion einer gestreckten oberen Extremität in den unter-schiedlichen Gelenken des Schulter-komplexes. Dem Symmetriemodell

Abb. 3: Suboptimale Bewegung festge-stellt anhand des Kriteriums der Asym-metrie: X°–Y° (somatische Funktion)

Abb. 4: Optimale Bewegung festgestellt anhand des Kriteriums der Symmetrie: X° (mögliche somatische Dysfunktion festgestellt anhand des Kriteriums der Proportionalität)

Abb. 5: Optimale Bewegung festgestellt anhand des Kriteriums der Proportiona-lität: X°+Z°

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zufolge ist die Abduktion nicht mit der Rumpfvorbeuge vergleichbar, und es lässt auch keinen Vergleich zwischen der lateralen und der kra-nialen Gleitbewegung ein und des-selben Schulterblatts zu. Derartige Vergleiche beruhen auf folgender physiologischen/klinischen Über-legung: Wenn Bewegung in einer Ebene bzw. entlang einer Achse reduziert ist, führen kompensato-rische Bewegungen zur relativen Überlastung anderer Ebenen bzw. Achsen desselben Gelenks und an-derer Gelenke.Das Symmetriemodell erlaubt es 4. nicht, innerhalb von Ebenen bzw. Achsen Vergleiche zwischen unpaa-rigen oder entfernten Gliedmaßen anzustellen, ebenso wenig wie Ver-gleiche zwischen Gliedmaßen und Rumpf möglich sind.So kann z.B. das Vorbeugen im Hüft gelenk nicht mit dem Vorbeu-gen der Schulter oder dem Vorbeu-gen in der LWS verglichen werden. Diese Bewegungsmuster treten na-türlich sowohl gleichzeitig als auch nacheinander bei den komplexen menschlichen Funktionen auf, etwa beim Tanzen und bei sportlichen Aktivitäten.Das Symmetriemodell erlaubt 5. keine Vergleiche zwischen Bewe-gungsmustern innerhalb unter-schiedlicher anatomischer Katego-rien. So kann etwa in der Transversalebe-ne die Rotation nach rechts von Th 4 nicht mit dem lateralen Rotations-verlust am Fuß oder eines parieta-len Knochens verglichen werden. Solche Vergleiche sind jedoch für die Beurteilung eines Einschrän-kungsmusters einer Bewegung so-wie für die Auswahl therapeutischer Interventionen wichtig.Das Symmetriemodell erlaubt kei-6. ne Vergleiche bei unterschiedlichen Körperhaltungen. Zum Beispiel lässt sich die Rotati-on am Fuß bei 90-Grad-Beugung sowohl im Knie- als auch im Hüft -gelenk im Sitzen nicht mit den-selben Gegebenheiten in Rücken-lage vergleichen. Die spezifi sche Beweglichkeitsbegrenzung einer spezifi schen segmentalen Konstel-

lation kann für unterschiedliche Stellungen nicht als identisch ange-nommen werden, denn sowohl die Beziehung zur Schwerkraft als auch die dysfunktionale (möglicherwei-se chaotische) Neuroregulation sind nicht gleich.Symmetrie wird nicht graduell ab-7. gestuft .

Traditionell nähern sich Osteopathen der Interpretation der Mechanik von Stellung und Bewegung, indem sie Stellungsstörungen und Bewegungs-verluste als entweder symmetrisch oder asymmetrisch beschreiben – so wie eine Frau eben nur schwanger sein kann oder nicht schwanger. Asymme-trien treten jedoch in einem Kontinu-um der Ausprägung auf! Wenn z.B. die Rotation von Th 5 und Th 6 acht Grad nach rechts beträgt, kann sowohl bei Th 5 als auch bei Th 6 eine Asymmetrie vorliegen, wobei jedoch Th 5 vielleicht sechs Grad nach links rotiert und Th 6 nur zwei Grad. Derartige Unterscheidungen sind deshalb klinisch wichtig, weil ei-ne schwerwiegendere Dysfunktion nicht nur durch eine ausgeprägte-re Dysbalance gekennzeichnet ist, sondern wahrscheinlich auch die primäre Dysfunktion darstellt (in der Vergangenheit als „Schlüssellä-sion“ bezeichnet) und eine systemi-sche Kompensation und sekundäre Dysfunktion fortbestehen lässt. (In jüngerer Vergangenheit hat Ed Stiles D.O. ähnliche Ansichten vertreten, nämlich, dass „der Bereich der größ-ten Restriktion“ die primäre Dys-funktion darstellt.)Um diesem Mangel zu begegnen, haben Osteopathen eine „Skala der Schweregrade“ eingeführt, die von 0 bis 3 reicht mit 3 als höchstem Schwe-regrad. Vergleichbare Ordinalska-len sind in der Schulmedizin bestens etabliert. Für Refl exe, Muskelkraft , Gelenkschwellung, Gelenkschlaff -heit, Bewusstseinszustände usw. er-hält man damit eine „befriedigende“ Übereinstimmung zwischen den Untersuchungen eines Th erapeuten sowie verschiedener Th erapeuten un-tereinander. Diese Reliabilität wurde möglich, weil man eindeutige Kriteri-en zur Unterscheidung der einzelnen Schweregrade einführte. Es ist proble-

matisch, dass die Vertreter der Osteo-pathie für die Unterscheidung der drei Schweregrade bislang keine anderen Kriterien anbieten als das Urteil des jeweiligen Th erapeuten, um zwischen milder, moderater und schwerer „Asymmetrie“ von Haltung/Stellung und Bewegung zu unterscheiden – ganz zu schweigen von Anomalien der Gewebetextur und von Druckemp-fi ndlichkeit.

Das Konzept der

Proportionalität

Als Erweiterung des Konzepts der Symmetrie kann die Proportionalität dienen. Bob Irwin beschrieb das Kon-zept der Proportionalität für Morpho-logie und Haltung [2]. Proportionali-tät der Bewegung defi niert der Autor auf zwei Arten:

als Beziehung eines Körperteils • zum gesamten Körper oder einer Bewegung zur Bewegungsgesamt-heitVergleichbarkeit zwischen „Verhält-• nissen“ (i.S.v. bestehenden Dingen, Zuständen etc.)

Osteopathisch verstandene Symmetrie ist demnach lediglich eine Teilgröße von Proportionalität und Asymmet-rie eine Teilgröße von Disproportio-nalität. Eine Haltung oder Bewegung kann folglich symmetrisch und trotz-dem disproportional bzw. in Dysba-lance sein! Das Kriterium Proportionalität kommt im Rahmen einer Untersu-chung des gesamten muskuloskelet-talen Systems in einem dreistufi gen Prozess zur Anwendung. Die propor-tionale, verfügbare Bewegung dient zur Veranschaulichung. Zunächst wird jeder untersuchten Bewegung ein Grad zugeordnet. Wann immer möglich, erfolgt die Graduierung mit Bezug zu einer quantifi zierten Kenn-größe, was die Übereinstimmung zwi-schen verschiedenen Untersuchern sowie bei ein und demselben Unter-sucher erhöht. Dann werden die Befunde in ihrer Gesamtheit nochmals gesichtet, um ein individuelles Profi l zu erstellen. Dadurch kommt für das jeweilige In-dividuum die in drei Dimensionen im

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Gesamtsystem ausbalancierte verfüg-bare Beweglichkeit in den Blick. Drit-tens wird die therapeutische Priorität für die am stärksten eingeschränkten Bewegungsmuster festgestellt. In an-deren Worten: Ein Bewegungsmuster von im Idealfalle 90 Grad, das auf 45 Grad eingeschränkt ist (rund 50% Einschränkung), ist proportional we-niger eingeschränkt als ein Muster von idealerweise 12 Grad und einer Einschränkung auf 2 Grad (rund 85% Einschränkung), obgleich im ersten Fall der absolute Bewegungsverlust 45 Grad und im zweiten Fall nur 10 Grad beträgt.

Literatur1 Educational Council on Osteopathic Principles. Glossary of Osteopathic Terminology 2006. www.osteopathic.org.2 Irwin R. Is Normal Posture a Correctable Origin of Common, Chronic and Otherwise Idiopathic Discomfort of the

Musculoskeletal System? In: Vlemming A et al. (eds.) Second Interdisciplinary World Congress on Low Back Pain, Integrated Function of the Lumbar Spine and Sacroiliac Joint. San Diego, November 1995, S. 423–460.

Fazit

Durch Anwendung des Kriteriums Proportionalität gelangt man zu er-heblich besseren klinischen Ergebnis-sen, da unser Blick auf die dreidimen-sionale, in einem vielfältigen Kontext verstandene Balance von Haltung und Bewegung des gesamten Körpers er-weitert und vertieft wird. fb

Korrespondenzadresse:

William Brooks, D.O.9204 NW 80th TerKansas City,MO 64152Tel.: 816-746-0128Fax: 816-505-2031

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