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Erfahrung – Wissen – Imagination »Geradeaus ist einfach immer geradeaus« Eine lebensweltliche Ethnographie blinder Raumorientierung Bearbeitet von Siegfried Saerberg 1. Auflage 2006. Taschenbuch. I, 304 S. Paperback ISBN 978 3 89669 679 3 Format (B x L): 14,3 x 22 cm Gewicht: 451 g Weitere Fachgebiete > Ethnologie, Volkskunde, Soziologie > Soziologie > Gesellschaftstheorie Zu Inhaltsverzeichnis schnell und portofrei erhältlich bei Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft. Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr als 8 Millionen Produkte.

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Erfahrung – Wissen – Imagination

»Geradeaus ist einfach immer geradeaus«

Eine lebensweltliche Ethnographie blinder Raumorientierung

Bearbeitet vonSiegfried Saerberg

1. Auflage 2006. Taschenbuch. I, 304 S. PaperbackISBN 978 3 89669 679 3

Format (B x L): 14,3 x 22 cmGewicht: 451 g

Weitere Fachgebiete > Ethnologie, Volkskunde, Soziologie > Soziologie >Gesellschaftstheorie

Zu Inhaltsverzeichnis

schnell und portofrei erhältlich bei

Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft.Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programmdurch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr

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3. Konstitution des Raumes im blinden und sehenden Wahrnehmungsstil

Waren die sozialen Begegnungen im Forschungsprozess der Ausgangspunktder Untersuchung und stellte sich dann nach und nach heraus, dass diesenicht ohne den Rückgang auf die subjektiven Perspektiven und Standpunkteder in ihr Handelnden und Kommunizierenden verstehbar waren, so soll nundie Darstellung den umgekehrten Weg gehen, um dem Leser die mühseligeArbeit der allmählichen Explikation zugunsten einer „direkten Synthese“ zuersparen. Dadurch werden die konstitutiven Bedingungen wahrnehmendenHandelns, die dann in die Konstruktion eines wie auch immer gearteten ge-meinsamen sozialen Raumes zwischen einem Blinden und Sehenden in dersozialen Begegnung eingehen, von vornherein deutlich. Bei der Rekonstruk-tion dieser Raumkonstitution stütze ich mich auf die mit Hilfe von AlfredSchütz in Kapitel 1.4 entwickelten Strukturen der räumlichen Aufschichtungdes Alltags.

3.1 Der blinde Wahrnehmungsstil

Ich beginne nun also mit der Rekonstruktion der Raumkonstitution im blin-den Wahrnehmungsstil am Beispiel räumlicher Orientierung eines Blinden.Daher kann ich zu diesem Zeitpunkt der Arbeit auch korrekterweise nur – umes nochmals zu sagen – vom Wahrnehmungsstil eines Blinden und nicht vomWahrnehmungsstil Blinder sprechen. Erst in Kapitel acht werde ich dannvon der singulären zur pluralen Form des Wahrnehmungsstils übergehen. Derblinde Wahrnehmungsstil soll für sich sprechen und nicht im Kontrast zuSehen und vermeintlichen Defiziten diesem gegenüber untersucht werden.Unterschiede und Gemeinsamkeiten in ihrem komplexen Zusammenspielkönnen erst danach entdeckt werden.

So erscheint z. B. folgendes resümierendes Statement von Downs undStea in mehrfacher Weise problematisch: „Menschen, die von Geburt anblind sind, besitzen eine kognitive Kartierfähigkeit, die der sehender Men-schen in verblüffender Weise gleicht, obwohl die benutzten Informationsein-gaben und die daraus entstandenen Abbildungen sehr verschieden sind.“(Downs/Stea 1982: 99 f)

Natürlich soll hier nicht die Kartierfähigkeit Blinder in Frage gestelltwerden, es geht vielmehr darum, die diesem Begriff zu Grunde liegende

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Fähigkeit primär zu Wort kommen zu lassen, ohne sie z. B. von so visuellgeprägten Metaphern wie „Karten“ oder „Bildern“ vorzuprägen. Es bleibtfraglich, worin denn eine solche Gleichheit beider Kartierfähigkeit bestehensoll, wenn schon im Begriff der „Karte“ eine extrem starke visuelle Metapho-rik ins Spiel kommt, die auch m. E. Einfluss auf die Formung des Begriffesder kognitiven Karte nimmt.

So stellen z. B. tastbare Karten für Blinde ein perzeptives und kognitivesProblem92 dar, das bis heute nur unzufriedenstellend gelöst ist. Analoges giltauch für den Begriff der „Abbildung“93.

Es stellt eine grundsätzliche Frage dar, inwiefern der versteckte meta-phorische Gehalt wissenschaftlicher Begriffe deren Bedeutung94 beeinflusst.Dem wissenschaftlichen Sprachgebrauch liegt zumeist eine allgemeine Defi-nition des Begriffs zugrunde – der metaphorische Rest wird dann angeblichbloß aus Gründen der „Anschaulichkeit“ mitgeführt. Dabei aber bleibt völligunreflektiert, inwieweit die Metapher die Allgemeingültigkeit der Definitionverunreinigt. Wissenschaftliche Begriffe, zumal sozialwissenschaftliche, sindnach Schütz second order constructs, von first order constructs der Alltags-sprache abgeleitet.

92 Bei der Übersetzung zweidimensionaler optischer Landkarten in dreidimensionale tastbareReliefkarten fallen erhebliche Veränderungen an: Die Dichte der Beschriftung ist dabei einHauptproblem, da sie die Geländestruktur stark überformt, somit die „Übersichtlichkeit“ – es istwirklich schwierig diese Metapher zu übersetzen, ich schlage „Fassbarkeit“ vor – gefährdet,daher wird meist eine Beschränkung aufs sogenannte Wesentliche vorgenommen. Selbst diegünstigere Variante eines Verweissystems über Indices und deren Erläuterung in einer Legendeist nur eine Teillösung. Auch die Perzeptionsstruktur einer visuellen Karte im gleichzeitigenSehen nebeneinander befindlicher Informationen, dem oft das Perzipieren im sukzessiven Tastenunter erhöhter Beteiligung des Gedächtnisses entgegengestellt wird (vgl. Schiff/Foulke 1982)fand noch immer keine befriedigende „Übersetzung“ wie z. B. in einer Anpassung des Reliefkar-tenmaterials mit der die Tastmöglichkeiten besser nutzenden Fertigkeit eines Mehr-Finger-Tastens.Weitere Aufgaben sind die Multifunktionalität der Linien auf Karten sowie die enorme Größeder Blindenschrift und das hiermit verbundene Problem der Maßstabsanpassung. Von den sechsvisuellen Komponenten graphischer Darstellungen (Bertin 1974: 50) sind Farbe und Helligkeittaktil nicht rezipierbar. Zudem hängt das Tastbarmachen von bildlichen Darstellungen wie Fotosund Gemälden davon ab, dass Bilder Konventionen wie Perspektive und Kontur unterliegen, dieerst in taktile Konventionen übersetzt werden müssen. Als Beispiel einer unfangreichen Tastbarmachung siehe (taste) die Darstellung des AltenbergerDoms in sechs Reliefkarten und Begleittext (Lechner 1998) (vgl. auch allgemein Laufen-berg/Lötzsch 1995; Kennedy 1993)93 Zwar beziehen Downs und Stea sich explizit nicht nur auf visuelle Vorstellungen (Repräsenta-tion) – „Diese Bilder müssen nicht notwendigerweise eine sichtbare Form haben, denn wir werdenin Kapitel 3 sehen, daß auch Blinde sich geistige Bilder ihrer räumlichen Umwelt konstruieren“(Downs/Stea 1982: 24) – aber sie sprechen dennoch meistens mit Hilfe visueller Metaphern. Ichmahne hier zur Vorsicht.94 Zum Zusammenhang von Metaphorik und Sprachgebrauch vgl. auch Lakoff/Johnson 1980 und Johnson 1987

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Wenn nun aber die Alltagssprache mit visuellen Metaphern arbeitet unddiese in die wissenschaftlichen Begriffe Eingang finden, wie lässt sich dannsprachlich der Wahrnehmungsstil eines Blinden ohne visuelle Metaphorikbeschreiben?

In Bezug auf die sprachliche Beschreibung der zum Alltag transzen-denten Sinngebiete von Phantasie und Traum beschreibt Schütz dieseSchwierigkeit wie folgt:

„Sie besteht darin, daß Sprache – jede Sprache – als Verständigungsmittelder intersubjektiven Wirkwelt angehört und sich deswegen hartnäckig jedemVersuch versperrt, sie als Träger für Bedeutungen zu verwenden, die ihre eigenenVoraussetzungen transzendieren.“ (Schütz 1971: 268) Kunst, Musik undPoesie erschaffen so nach Schütz wesentlich geeignetere Sprachen zum Aus-druck der Traum- und Phantasiewelten.

Nun bildet Blindheit aber keinen Wirklichkeitsbereich geschlossenerSinnstruktur, sondern eher eine Enklave des blinden Alltags im sehendenAlltag. Es muss also alltagssprachliche Ausdrücke geben oder sie müssenzumindest findbar sein, die eine blinde Orientierung adäquat bezeichnenkönnen. Wahrscheinlich finden sich alltagssprachliche Wörter z. B. das Hö-ren betreffend, die aber im Zusammenhang mit dem WahrnehmungsstilBlindheit einer gewissen Transformation unterworfen werden müssen: Sietragen teilweise noch das Festgewand poetischer Metaphern, das nun aberschrittweise durch Einbindung ins Alltagsgeschäft einer Abnutzung undVeralltäglichung ausgesetzt wird. Oder Worte des Alltagsgebrauchs werdeneinmal in ihrer Bedeutung ausgedehnt, ein anderes Mal schärfer gefasst.

Was als Metaphern poetischen Ausdrucks und was als alltäglich pragma-tischer Wortgebrauch erscheint, das ist eine Frage der Gewohnheit. Wasklingt für das Ohr eines Blinden poetischer als „Bild“. Wenn umgekehrtakustische Phänomene des Wahrnehmungsstils Blindheit zu beschreibensind, nehme ich gelegentlich Anleihen bei poetisch geprägten Metaphern.Dies hat aus den oben genannten Gründen eine gewisse Notwendigkeit, je-doch soll der Sinn dieser Worte kein poetischer bleiben, er soll sich in einenpragmatisch-alltäglichen Zusammenhang „entblättern“.

Man mag mir hier eine Übersensibilität gegen visuelle Metaphorik un-terstellen, aber was ich meine, kann durch das Zitat der Wegbeschreibungeiner Blinden verdeutlicht werden, auf das sich Downs und Stea beziehen:

„Sobald ich aus dem Bus ausgestiegen bin, muss ich ein Stück auf der Kaly-ayevskaya-Straße geradeaus gehen, wobei auf der rechten Seite Häuser sind.Aufpassen muss ich an der Kreuzung der Sadovaya mit der Kalyayevskaya. Zu-erst muss ich nämlich die Sadovaya und dann erst die Kalyayevskayaüberqueren. Nun gehe ich auf der linken Seite dieser Straße. Wenn ich an ei-nem Haus vorbei bin, komme ich zu einem kleinen Platz, wo ich die Straßen-bahnlinie überqueren muss. Auf diesem Platz brauche ich keine Angst zu ha-ben, weil es hier nur wenige Autos gibt. In der Nähe des nächsten Gebäudes hal-

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ten sich immer ziemlich viele Leute auf, weil hier eine Bushaltestelle ist. Alsnächstes kommt ein Haus mit einem Vorsprung. In einiger Entfernung von die-sem Haus befindet sich ein anderes Haus mit einem Vorsprung sowie ein Tor,durch das ich gehen muss. Das Tor lässt sich an der tiefen Einbuchtung des Trot-toirs erkennen. Auf der rechten Seite des Hofes steht ein Haus, an dem ich vorbei-gehen muss. Hinter dem Haus ist eine leere Fläche. Hier sollte man bei Regenwet-ter eng am Zaun entlang gehen, weil es dann Pfützen gibt. Nach ein paarSchritten finde ich rechts die Stiegen, die zu meinem Haus führen.“ (Khopreninova1956 zitiert nach Downs / Stea 1982: 100)

Im Zentrum dieser Beschreibung stehen neben den vom körper-leiblichen Mittelpunkt des Beschreibungssubjekts ausgehenden Richtungs-bezeichnungen vor allem feste Dingkonstruktionen wie Bus, Straße, Kreu-zung, Haus, Stiege etc. Lediglich die „tiefe Einbuchtung“ des Trottoirs (evtl.durch ausgedehnte Interpretation auch „Vorsprung“ und „leere Fläche“) kannals Hinweis auf eine Wahrnehmungsqualität verstanden werden. Wie abernimmt eine Blinde eine Straße wahr?95 Ich werde mich im Folgenden zu-nächst auf die Konstitution der Wahrnehmung und erst im zweiten Schritt aufdie kognitiven Begriffe konzentrieren, in denen solche Wahrnehmungenkulminieren.

3.1.1 Wahrnehmung als leibzentrierte Konstitution eines intersenso-risch orientierten Raumes in Bezug auf eine grundlegende Welt

Um der bisher vorgenommenen phänomenologischen Besinnung auf dieeigene Erfahrung auch „hartes Datenmaterial“ zugrunde legen zu können,werde ich nun zwei typische Wege rekonstruieren, die ich als blinder For-scher innerhalb meines Alltags zurücklege. Durch Beschreibung und Kom-mentierung meines Tuns während der Fortbewegung auf ein mitgeführtesDiktiergerät, das ich in der Hand halte, wird der begangene Weg in einenachträglich analysierbare Textform gebracht, die dann vor dem phänomena-len Hintergrund reflektierter Alltagserfahrung interpretiert werden soll.

Dabei konzentriere ich mich in der interpretierenden Erläuterung auf jeein Element sinnlich-räumlicher Orientierung, obwohl immer eine Mischungvieler solcher Elemente vorliegt. Hierzu möchte ich zunächst ein Beispielwählen, das in einer mir höchst vertrauten und daher leicht zu orientierendenUmwelt situiert ist:

„Ich stehe im Haus. Hier noch relative Stille. Fenster und Türen sind ge-schlossen. Nur der Kühlschrank summt links neben mir, eine Uhr tickt schräg links hinter mir, eine Fliege brummt vor mir. Ich bin in einem Raum ohneHall, die Decke ist nah über mir. Ich habe irgendwie ein Gefühl von Um-

95 Auch Brambrings Material von Wegbeschreibungen Blinder baut auf solchen bereits fertigenDingkonstruktionen auf. (Brambring 1982)

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grenzt-Sein, Umhegt-Sein. Ich gehe vor in Richtung Draußen, zur Balkontür,die ich öffne, und jetzt höre ich sofort das Geräusch von einem Flugzeug, dasin der Ferne als Brummen zu vernehmen ist, und Vögel zwitschern vor mirschräg links. Draußen ist es wärmer. Ich betrete jetzt den Balkon. Ich habGeräusche vermehrt von vorne: rechts das Flugzeug, vorne links die Vögel,seitwärts von mir nichts oder kaum etwas, gedämpft, von hinter mir auch.

Draußen ist ein völlig anderer Grundklang: Vor mir, jenseits der Bal-konbrüstung, im Radius von ca. 100 Grad, der Klang der Landschaft. Nichtals kontinuierlich klanglich ausgefüllter Raum, sondern als einer mit Lückenzwischendrin. Hinter mir, die andere Hälfte des Klangfeldes, das Haus,dumpf, still, die weich klangschluckende Holzwand.

Diese Raumverteilung ändert sich mit meinen Bewegungen, Jetzt dreheich mich um 90 Grad nach rechts. Das Klangfeld verändert sich: Das Flug-zeug ist jetzt schräg links von mir, hinter mir links die Vögel, rechts von mirdie Hauswand – ein gedämpftes Geräusch. Ich gehe weiter, jetzt noch einmaleine 90-Grad-Wendung nach rechts, die Treppe gehe ich hinunter, ich haltemich links mit der Hand am Geländer fest. Rechts von mir die Wand desHauses. Vor mir höre ich jetzt ein Geräusch von einer Säge, aber sehr weitweg, links Stimmen der Nachbarn. Ich drehe mich um 180 Grad und gehe um die Treppe herum, rechts Büsche. Jetzt kommen noch einmal drei Stufen.Rechts unterhalten sich die Nachbarn, vor mir die Vögel. Ich gehe jetzt lang-sam die Stufen hinunter. Warm ist es, die Sonne scheint mir von vorne linksschräg ins Gesicht, die linke Wange wird stark erwärmt. Noch einmal dreiStufen, ich öffne jetzt das Gartentor, warm aus Metall, es quietscht. Ich drehemich um 90 Grad nach links und gehe auf der linken Straßenseite, den linkenFuß auf der Erde, den rechten auf dem Asphalt.

Jetzt, vom Haus weg, ist das offene Klangfeld 360 Grad um mich herum, nur fleckenweise ausgefüllt. Auf der Straße ohne Gehsteig gehe ich am Randentlang, den einen Fuß auf einer Mischung aus Erde und Gras, den anderenFuß auf dem Asphalt. Ich höre oder spüre links und rechts auch geräusch-dämmende dichte Bäume und Hecken, links nah, rechts etwas entfernter.Hinter mir ein ruhiges Feld, nur das Motorgeräusch eines Rasenmähers odereiner Motorsäge, entfernt. Vor mir leise das Rauschen des Verkehrs unten imTal und das Vogelgezwitscher, gedämpft durch die Baum- und Heckenreihe.Sie bewegen sich mit meinen Schritten auf mich zu. Vor und hinter mir dasZentrum meiner Aufmerksamkeit, denn hier könnte sich ein Auto nähern,dem ich ausweichen muss. Vor mir das Geräusch einer zugeschlagenen Auto-tür, dann das Fortfahren des Wagens. Allmählich verschwindet auf der rech-ten Seite die dämmende Schicht der Bäume, und dort breitet sich der Klangeines Tales aus. Ich gehe weiter auf der linken Seite, überquere die Mündungeiner Straße, gehe vorüber an den letzten Bäumen und Sträuchern auf dieserSeite und befinde mich dann auf einem freien Feld. Zur Linken aus mittlererund etwas größerer Entfernung hört man Vögel.

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Ich trete hinüber auf die andere Straßenseite und begebe mich an denRand der Straße. Von hier aus höre ich ins Tal hinab: entfernter Verkehr, derals ein tiefes Grundbrummen, und auch als ein näheres, vereinzeltes Fahrge-räusch von einzelnen Fahrzeugen hervorgerufen, da ist. Davor ein reichhalti-ges Gezwitscher von Vögeln, einmal von links, jetzt mehr von rechts odergerade von vorne, gelegentlich eine Krähe, dann Schafe, Kühe. Der Grund-klang ist hier der eines Tales mit Weiden und Gehölzen, die Mischung ausVögeln, vereinzelten Weidetieren, einzelnen Fahrzeugen und dem entferntenGrundbrummen des Verkehrs. Dazu das feine Echo aus der Tiefe, Stimmenvon Menschen oder Tieren.“ (Protokoll „Weg zuhause“)

Einleitend kann gesagt werden, dass die verschiedenen Sinnesfelder aufjeweils unterschiedliche Weise zusammenspielen. Hier zunächst Geräusche,Klänge, Tasteindrücke, Wärmeempfindungen und Bewegungsempfindungen.Sie alle werden von einer ihnen Form und wissende Wichtigkeit verleihenden Aufmerksamkeit zu einer Einheit der Raumwahrnehmung verwoben. DerWahrnehmungsstil eines Blinden wird somit geprägt von einem hochgradigkomplexen Ineinandergreifen verschiedener Sinnesfelder. Es muss eben ge-wusst werden, worauf zu achten ist, wo die bedeutsamen Zeichen zu findensind und – metaphorisch gesprochen – wie blind gelesen oder im blindenRaum gesehen werden kann.

Die Gesamtheit dieser Navigation richtet sich wesentlich am Nah undFern der Raumorientierung aus, daran, wo der Weg „hier“ zuerst entlangführt, um danach „dorthin“ zu gelangen. Das „Hier“ ist der Standpunkt deseigenen Körper-Leibes. Dieses auf einem bestimmten Untergrund Stehen,dem auch feste Qualitäten zugeschrieben werden wie der dumpf klingendeHolzfußboden eines Zimmers, die glatten und hell klingenden Fliesen desBalkons, die rauen Pflastersteine auf dem Weg zur Straße, der Asphalt derStraße, der Wegrand aus kleinen hell klingenden Steinchen, weichem Lehmund Kräutern und zu guter Letzt die weiche Wiese, bildet die Verankerungdes eigenen leiblichen Standpunkts in dem grundlegenden Bezugsschemadieser Umwelt.

Die Metapher des Standpunkts trifft allerdings den phänomenalen Sach-verhalt nur zum Teil: Man kann in Bezug auf die Wahrnehmungsgenese nicht wörtlich von einem Standpunkt sprechen, denn die Wahrnehmung des Unter-grunds ergibt sich nicht aus dem unbewegten Stehen, sondern aus Bewegungals routinisiert ablaufende Wahrnehmungshandlung – entweder durch einGehen, das mit den Schuhen vorsichtig über den Untergrund streicht, wo-durch diesem sowohl fühlbare Tasteindrücke als auch hörbares Geräuschabgenommen wird, oder durch ein minimales auf den Untergrund Klopfen im Stehen mit Fuß oder Stock.96 Im übertragenen Sinne einer positions-

96 Während Kennedy (Kennedy 1993: 14 f) solche „Basishandlungen“ der taktilen Objekterkun-dung, wie Heben, Halten, Umfassen, Drücken, Streichen und Reiben, dem Handtasten zu-schreibt, sind sie also auch auf das Fußtasten übertragbar.

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bestimmenden Verortung des eigenen körper-leiblichen Selbst im Raumliefert Standpunkt aber durchaus eine angemessene Beschreibung. DieseOrientierung auf ein grundlegendes Bezugssystem von Welt hin findet hierihre primäre Gestalt, im nächsten Bereich des Leibes, seiner Nahzone, imTasten-Fühlen der Füße.

Das Fußtasten kann auch als ein Vorgang der Raumidentifizierung ein-gesetzt werden: In einer Funktionsabstimmung zwischen den beiden Füßen,wobei der eine den Standpunkt auf dem Grund sichert und der andere dieFeinabstimmung der körper-leiblichen Bewegungskoordination mit dem inder Navigation zu begehenden Raum ausführt. Vor dem Hintergrund einesWissens um die besondere Topologie eines Ortes kann diese Wahrneh-mungshandlung recht zügig vonstatten gehen: Der raumerkundende Fußschiebt sich vor auf der Suche z. B. nach der Kante einer Stufe, von der ge-wusst wird, dass sie „hier“ in der Nähe vor dem Fuß liegen muss. In unver-trautem Gelände führt diese Strategie der Raumerkundung dann zu einemhochgradig langsamen, schlurfenden Gang.

Die Orientierung anhand einer weiter im Fernbereich stattfindendenWahrnehmung kommt erst im nächsten Schritt ins Spiel. Während so das„Hier“ des eigenen Leibes fest an Tasteindrücke und Geräusche der Füßegebunden ist, wird das „Dort“ des Raumes primär aus Geräuscheindrückenkomponiert.97

Vom eigenen Leibzentrum als Nullpunkt des Koordinatensystems aus-gehend spricht das grundlegende Orientierungsschema dem umgebendenRaum Richtungen zu: links, rechts, hinten und vorne, oben und unten. Linksund Rechts werden gemäß des bei Blinden üblichen Vorgehens zusätzlich zur alltagssprachlichen Gewohnheit Sehender in einer geometrisch geprägtenPräzisierung nach Winkelgradmaßen eingesetzt, die hauptsächlich in 90 GradSchritten vorgenommen wird.98 Was darüber hinaus geht, wird wiederum inalltagssprachlicher Unpräzision ausgedrückt: Die Uhr befindet sich schräghinten, die Fliege vorn. Das Oben und Unten taucht etwas verdeckt auf – alsdas Gefühl eines „irgendwie Umhegt-Seins“, was auf den geringen Abstandzur Decke hin verweist und als das Stehen auf einem Balkon, von dem herun-tergegangen wird, sowie als Treppen, die zur Straße herunterführen.

97 In diesem Kontext kann Hören also als Fernsinn gelten. Es objektiviert seine Erregung ineiner Empfindung in die Umwelt. Im Gegensatz dazu stehen die Nahsinne der Haut, welche ihre Empfindungen somatisieren.98 Diese Methode wird auch im „Mobilitätstraining“ eingesetzt. Die Entwicklung dieses Orientie-rungsmittels eigener Raumorientierung erinnernd kann ich aber sagen, dass sie zusammen miteinem Komilitonen im ersten Jahr meines Universitätsaufenthaltes als wechselseitiges Verstän-digungsmittel entwickelt wurde.

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So lassen sich also die ersten vier nach Schütz entwickelten Struktur-elemente der Aufschichtung alltäglicher Räumlichkeit in der Zentralität deseigenen Leibes, dem Teilen des Raumes in ein „Hier“ und „Dort“, der Aus-richtung am grundlegenden Orientierungsschema und auf ein fundamentalesBezugssystem der Umwelt hin im Material wiederfinden.

3.1.2 Strukturierung des Raumes durch Geräusche und Grundklänge99

Nun möchte ich meine Aufmerksamkeit dem Hören zuwenden, welches inverschiedenen Funktionen bei der räumlichen Orientierung beteiligt ist. Ichunterscheide dabei in die Wahrnehmung diskreter geräuschhafter Größen wieMenschen und Gegenstände, das Einprägen von vornehmlich kontinuierli-chen oder sich relativ langsam verändernden atmosphärischen Grundklängen,das Erkennen von bewegungshaften Geräuschbahnen und das Registrierenvon bestimmten Verdeckungs- und Verstärkungsphänomenen.

Zunächst einmal können Geräusche vernommen werden, die von diskre-ten Personen, Tieren oder Gegenständen wie z. B. den Nachbarn, einer Uhr,dem Kühlschrank, einer Fliege etc. herrühren. Sie verweisen auf die Tatsa-che, dass sich dort, an dieser Stelle im Raum, jemand oder etwas Bestimmtesaufhält. Sie dienen also zunächst der Gegenstandserkennung.

Weiterhin geben sie raumstrukturierend eine Richtung100 an: Das Ge-räusch identifiziert nicht nur den Gegenstand, es zeigt auch an, wo sich dieser im Raum befindet, und zwar bezogen auf den Eigenleib und dessen grundle-gendem Orientierungsschema von Richtungen.

Drittens entsteht aus diesem richtunggebenden Orientieren von Geräu-schen im Raum eine Art Koordinatennetz von Geräuschen: Denn kein Ge-räusch steht isoliert da, es verbindet sich vielmehr mit jedem anderen Ge-räusch zu einer Sphäre von teils gleichzeitig, teils sukzessiv Hörbarem, wobei einem jeden dieser Geräusche eine Richtung und eine Entfernung im Raumzugeschrieben wird und sich darauf aufbauend auch räumliche Relationendes Vor-, Nach-, Über-, Unter- und Nebeneinander zwischen den jeweiligen

99 In der physikalischen Akustik würde man das von mir gemeinte eher als Tongemisch be-zeichnen: „Von einem Tongemisch spricht man, wenn der Schall aus Schwingungen beliebigerFrequenzen zusammengesetzt ist; von einem Klanggemisch, wenn Klänge mit Grundschwingungenverschiedener Frequenzen beteiligt sind.“ (Cocholle 1966: 193) Ich ziehe aber den Begriff Klang vor,um damit auf die empfundene Einheit und Stimmigkeit der Wahrnehmung zu ve rweisen.100 In der Physiologie der Akustik werden zwei unterschiedliche Funktionen zur Richtungser-kennung angegeben, die auch in Kombination miteinander wirksam sein können. Es sind diesdie Intensitätsdifferenz (der Pegel einer Schallwelle ist auf dem der Schallquelle zugewandtenOhr lauter) und die Laufzeitdifferenz (die Schallwelle erreicht das der Schallquelle zugewandteOhr früher). (Keidel 1966: 526 ff)

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Geräuschen ergeben. In diesem Stadium bleiben aber alle Geräusche ihrerIdentität treu, sie fließen nicht ineinander, ergeben keinen Klang.

Ein verborgeneres Phänomen ist das Hören von sogenannten Grund-klängen, die nicht als einzelnes Geräusch101, sondern eher als Summe allengeräuschhaften Vorkommens zu begreifen sind, und die sich als ein Gesamt-klang102 in einem Raum erst entwickeln können. Der Grundklang bedarf alsowesentlich der Ausbreitung im Raum, den er erfüllt und den er zum hörbarenKlingen bringt.

Im ersten Protokoll finden sich hierfür vier Beispiele: Der Grundklangeines Zimmers103, eines überdachten Balkons, eines von Weiden und Gehöl-zen gefüllten Tales und einer kaum befahrenen Dorfstraße, die von eng ste-henden Bäumen gesäumt ist. Eine besondere Form der Grundklänge sindhallende Grundklänge, die vor allem innerhalb von Gebäuden gehört werdenkönnen, und dort zur differenzierten Orientierung von Gängen, Eingangs-oder Ausgangsbereichen und Treppenhäusern führen.

101 In eine ähnliche Richtung zielt der kanadische Sound-Forscher Murray-Schafer mit seinemBegriff des „Grundtons“. Grundton, ein Begriff aus der Musiktheorie übernommen, dort dieNote benennend, welche die Tonart oder Tonalität einer Komposition angibt, meint auf dieLautsphäre bezogen ein oder auch mehrere permanente oder wenigstens rhythmisch wiederkeh-rende Geräusche, die von einer hintergründigen Dominanz sind. Sie sind sogar überhörbar, da sie zu „Hörgewohnheiten“ werden können, die sich „unbewusst“ festsetzen. Die Grundtöne einerLandschaft werden von ihrer Geographie, ihrem Klima und ihrer Fauna bestimmt: von Wasser,Wind, Wäldern, Ebenen, Vögeln, Insekten und anderen Tieren. Ein Grundton ist aber auch dasVerkehrsrauschen der modernen Stadt: „Der Verbrennungsmotor liefert jetzt den Grundton derzeitgenössischen Zivilisation, wie Wasser der Grundton von Wasserbau-Zivilisationen und Wind der Grundton der Steppen ist.“ (Murray-Schafer 1991: 112)Während Murray-Schafer allerdings einen bestimmten einzelnen Ton herausgreift, der als Cha-rakteristikum für eine bestimmte Lautsphäre pars pro toto steht, so verstehe ich unter Grund-klang eben ein bestimmtes Zusammengesetztes oder Tongemisch, das eine bestimmte Umweltrepräsentiert.102 Es ist bekannt, dass nicht nur der direkte Schall, sondern auch dessen Reflexionen an Gegens-tänden, Wänden oder anderen Raumgegebenheiten hörbar ist. Durch den sogenannten Präze-denzeffekt wird allerdings reflektierter Schall, der mit gleicher Wellenlänge kurz nach demdirekten Schall im Gehör eintrifft (bis zu ca. 100 msek) unterdrückt. Schall, der später eintrifft,wird als Hall oder Echo vernommen. Hieraus ergeben sich aus der materiellen Umwelt herauseigentümliche Schallsituationen wie als Extrema ein Schneefeld, (freies Schallfeld) das Reflexi-onen schluckt, daher gedämpft klingt, oder ein Kirchenraum (diffuses Schallfeld), der stark hallt.(vgl. Kebek 1994: 99 f, Helbrück 2002: 54)103 Die schwedische Kinderpsychologin Lilli Nielsen hat für die Frühförderung der räumlichenOrientierung von mehrfach behinderten, sehgeschädigten Kindern das Konzept des „kleinenRaumes“ entwickelt: mit Hilfe einer Konstruktion aus Stangen und leichten Wänden werden„kleine Räume“ der verschiedensten „Größe“ aufgebaut, in denen verschiedene Gegenstände mitunterschiedlicher Materialbeschaffenheit, Größe und Form angebracht werden, sodass kleineRäume mit nach Wahl differenzierbaren und wiederfindbaren taktilen Möglichkeiten und einerleicht aufzunehmenden Akustik entstehen. Sie führt einen m. E. sehr illustrativen, wenn auchwohl spekulativen Gedanken für die frühkindliche Erkundung akustischer Raumqualitäten an:der Säugling kann im Kinderwagen dessen Klangqualität als einen natürlichen „kleinen Raum“anhand des „Echoeffekts seines Brabbelns und Wimmerns“ erkunden. (Nielsen 1993:18)

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Im zweiten Protokoll, dem des Kölner Hauptbahnhofs, wird zunächst derweite hallende Grundklang genannt, der sich unter seiner Kuppel über dieBahnsteige ausbreitet und selbst noch bei offenen Türen aus der S-Bahnheraus als sein Erkennungszeichen deutlich zu hören ist. Um den Bahnsteigherum tönen Zugverkehr, Reisende und Lautsprecheransagen, die eingebettetsind in ein System von Überdachungen oder hallenartigen Gewölben, in demsich das Zusammengesetzte aus den Einzelklängen zum Grundklang modu-liert.

Im gleichen Protokoll finden sich an folgenden Orten weitere voneinan-der verschiedene hallende Grundklänge: im breiten, zu den Bahnsteigen füh-renden Hauptgang, im zwar immer noch breiten, aber im Vergleich zumHauptgang schmaleren Nebengang, in der Querverbindung zwischen Haupt-und Nebengang, in der Eingangshalle des Hauptbahnhofs, in der dem Haupt-bahnhof angegliederten U-Bahnstation, in einem schmalen, zur U-Bahnstation führenden Nebengang und schließlich auf dem U-Bahnsteigselbst. In urbanen Kontexten sind weitere Grundklänge hörbar. Straßen derverschiedenen Größe haben ebenso verschiedene Grundklänge wie Plätzeoder Parks.

Es handelt sich um typische Grundklänge, die einen allgemeinen Cha-rakter haben und so im Wahrnehmungsstil eines Blinden eine grobe Grund-orientierung für diese räumliche Umgebung zur Verfügung stellen.104 Siehaben den Charakter eines ersten Eindrucks, eines allgemeinen „Überblicks“,der eine grobe Orientierung verleiht, in welche die Details noch eingearbeitetwerden können. Dieser „überblickhafte“ erste Eindruck in seiner Allgemein-heit – das liegt an der Reichweite des Hörens – ist eben akustisch gegeben.

Grundklänge bilden den akustischen Kern dessen, was leiblich-körperlich wahrgenommene allgemeine topologische Grundtypen ausmacht:Steigt man aus dem Zug, so betritt man einen Bahnsteig. Dies ist in unserenBreiten zwangsläufig so, durch Vorschriften so geregelt. Geht man dannweiter, kommen nach Bahnsteigen gewöhnlich Innenhallen, wenn man inGroßstädte gefahren ist; Tunnels oder Freiluftflächen, wenn das Ziel einkleinerer Ort war. Und diese drei Möglichkeiten lassen sich akustisch – übri-

104 Ob in solchen Grundklängen neben ihrer allgemeinen Typik eine unverwechselbare individu-elle Identität verankert werden kann – im Falle des Kölner Hauptbahnhofes ist es so – lässt sichnur äußerst schwer sagen, da zum einen diese Klänge einen hohen Grad der Mischung aufweisen und zum anderen sich nur schwer – im Gegensatz zu einem Bild – von ihrem natürlichen Er-scheinungsort abtrennen lassen.Erst durch die Etablierung qualitativ hochwertiger akustischer Aufzeichnungsmöglichkeiten istin Bezug hierauf inzwischen die technische Möglichkeit entstanden, die auch, allerdings rechtzögerlich, noch immer eher von avantgardistischer oder esoterischer Seite, genutzt wird. Zumin-dest aber habe ich im Alltagsbewusstsein durchaus den Eindruck, dass dem so sei, dass dieeigene Straße, der Wald, das grüne Tal und selbst der Kölner Hauptbahnhof eine solche Indivi-dualität aufweisen. Allerdings muss ich einen wissenschaftlichen Beweis hierfür zur Zeit nochschuldig bleiben.

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gens auch wärmesensorisch – gut unterscheiden. Hier liegt also ein allgemei-ner topologischer Typus „Großstadtbahnhof“ vor, mit Untertypen „Bahn-steig“ und „Bahnhofshalle“, an denen sich der blinde Protagonist orientiert.Sie sind von allgemeiner Art und auf eine Menge von Fällen anwendbar. Sieunterscheiden sich von einem individuellen Typus wie z. B. dem Bahnhofeiner ganz bestimmten Stadt, der in seinen Einzelheiten und Besonderheitenvertraut ist.

Es finden sich also im Wahrnehmungsstil eines Blinden topologischeTypen im Wissensvorrat sedimentiert, die verbunden sind mit einer diesemWahrnehmungsstil gemäßen leiblich-körperlichen Wahrnehmung. Sie stellenkognitive Typen dar, die eine akustische Umwelt gemäß eines sedimentiertenWissensvorrats deuten.

Sie sind aber auch in einer leiblichen Wahrnehmungsroutine verkörpert,indem sie innerhalb einer Leib-Raum-Situation als apperzeptive Schemataeine enge und direkte Verbindung mit dem Gesamtfeld leiblich-körperlichenWahrnehmens eingehen. Sie bilden eben nicht Bilder einer Straße oder einesBahnhofs, sondern Klänge derselben, und ich bin sehr skeptisch, ob sie inBilder übersetzbar sind.In Grundklängen und Geräuschen zeigen sich weiterhin zwei formale räumli-che Grundmerkmale des Hörfeldes von immenser Bedeutung: seine Sphärali-tät und seine Gerichtetheit.

Zum einen wird im Grundklang deutlich, dass der Raum des Hörens sichnicht in eine voneinander isoliert wahrnehmbare Vorder- und Rückseite teiltund auch keine isolierten Seitenlagen kennt, sondern sich – in alle Richtun-gen offen und simultan einhörbar – rundum, unter und über das Subjekt desHörens spannt. Er erscheint also kugelförmig oder sphäral. Allerdings scheintes mir wichtig, diese Sphäralität auf das Hörfeld und nicht auf den Wahr-nehmungsstil eines Blinden als Ganzes zu beziehen. Sie ist dennoch in be-stimmten Kontexten prägend für den Wahrnehmungsstil eines Blinden.

Zum anderen – und zugleich aber wird in Geräuschen deutlich, dass dasHörfeld hochgradig nach Richtungen differenziert ist, ein Vorne und ein Hintenkennt, sich in eine Unzahl peripherer Punkte spaltet, sodass mit großer Genauig-keit die Position eines gegenständlichen Geräusches in ihm angegeben werdenkann.

Und noch mehr: Geräusche bilden ein Netz aus, das sich fast wie ein hörba-res (allerdings unformalisiertes) Koordinatensystem über die Sphäre des Hörfel-des legt, indem es jeder dieser Geräuschstellen eine Richtung vom Eigenleib desHörenden aus zuweist.

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3.1.3 Tasten mit Hand, Fuß und Langstock

Nun widme ich mich dem Tasten, da dieses in urbanen Kontexten dem Hören in „offensichtlicher“ Weise gleichberechtigt zur Seite steht: Bei der Fortbe-wegung im Straßenverkehr105 wird es vor allem als Tasten mit dem von Se-henden wegen seiner Farbe meist „weißer Stock“ oder „Blindenstock“genannten Langstock106 eingesetzt. In einer ganz bestimmten, von sogenann-ten Mobilitätstrainern107 gelehrten Handhaltung wird der Langstock abwech-selnd von rechts nach links hin und her pendelnd vor dem sich vorwärtsbe-wegenden Körper und mit diesem synchronisiert gehalten. In etwa gleichzei-tig – es treten hier individuelle Variationen auf, die hörbar sind – zum Auf-setzen des rechten Fußes wird der Stock auf der linken Seite auf den Bodengesetzt und umgekehrt, sodass er in einem Halbbogen von der einen ausdurch die Luft gleitend wieder auf der anderen Seite aufsetzend den Körper

105 Wenn ich von blinden Verkehrsteilnehmern spreche, so meine ich hier nur den blindenFußgänger, der alleine und selbstständig unterwegs ist. Der Blinde, der in Begleitung einersehenden Person sich an dieser orientiert oder von ihr geführt wird, wird hier nicht besprochen.Die Mobilität Blinder hat sich in den letzten Jahrzehnten stark erhöht. Wofür früher noch dasBrechen eines Ehrenworts nötig war, ist heute längst zum obligaten räumlichen EinflussbereichBlinder geworden. Wie sehr sich dies in den letzten fünfzig Jahren verändert hat, zeigt folgendesZitat: „Ich bin fast vierzig Jahre lang täglich allein auf der Straße gegangen, vier Jahre in Stutt-gart, die anderen Jahre in kleineren Städten. 1947, im Alter von 21 Jahren, fing ich damit an, inStuttgart allein auf der Straße zu gehen. Ich tat dies damals gegen das ausdrückliche Verbotmeiner Eltern, ich habe sogar ein gegebenes Ehrenwort gebrochen und bereue das bis heutenicht. Damals war der Langstock in unseren Breiten noch völlig unbekannt; ich habe also einennormalen kurzen Spazierstock benutzt. Mein Aktionsradius beschränkte sich allerdings nur aufdie beruflich und privat unbedingt nötigen Wege, also zur Kirche, zum Gemeindehaus, zumEinkaufen etc. Exkursionen auf Bahnhöfe habe ich unterlassen.“ (aus DVBS-intern 1990)106 Vom Langstock leitet sich auch der blindensprachliche Ausdruck: „Für mich ist es stockdun-kel“ ab. Kontrastierend im changierenden Spiel der Alltagsmetaphorik wird er von manchenBlinden auch scherzhaft „Auge“ genannt. Er ist in verschiedenen Materialien, zusammenklapp-oder zusammenschiebbar, oder in einem Stück bei verschiedenen Blindenorganisationen erhält-lich. Er unterscheidet sich vom „Kurzstock“, der meist von Sehbehinderten benutzt, nicht zumTasten eingesetzt wird, und eher Signalfunktion für sehende Verkehrsteilnehmer hat.107 Stocktechniken und das Bewältigen potenziell riskanter Situationen wie z. B. das Überque-ren komplizierter Straßenkreuzungsanlagen oder das Zurechtfinden auf einem großstädtischenBahnhof, lernen heute die meisten Blinden in einem sogenannten „Orientierungs und Mobilitäts-Training“ unter Anleitung eines Mobilitätstrainers.Der blinde Autodidakt wird immer seltener, da das Mobilitätstraining als sicherer gilt und auchimmer von den Krankenkassen finanziert wird. Außerdem sind blinde Autodidakten in Blinden-kreisen nicht wohl gelitten, da es heißt, sie neigten oftmals zu unorthodoxen Handlungen.Inwieweit das dort vermittelte Wissen von Routinewissen um Umwelten und Handlungsausprä-gung einem blinden Wahrnehmungsstil gerecht wird oder wie stark es vom sehenden Wahrneh-mungsstil geprägt ist, behandelt ausführlich und beeindruckend Carolin Länger. (Länger 2002)

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in etwa bis zur Höhe des Bauches vor im Weg befindlichen Hindernissenschützt, da er diese vor der Berührung durch das Bein trifft.

Da er wie beschrieben zwischendurch immer wieder den Boden berührt,ist der Schutz auch auf Vertiefungen und Erhöhungen, Treppen oder Bord-steinkanten ausgedehnt. Allerdings bleiben Hindernisse, die sich nicht mehroder weniger senkrecht vom Boden nach oben strecken und daher von untenher nicht ertastet werden können, von diesem tastenden Schutz ausgenommen und müssen erhört werden. Zu nennen sind hier niedrig hängende Lampen,seitlich angenäherte nach oben führende Treppen. Ähnliches gilt für Gegens-tände, die sich weit nach vorne wölben, sodass ihre Verbindung mit demBoden weit hinter ihre Wölbung zurücktritt.

Da die Stocklänge an die Größe seines Benutzers angepasst ist – er sollte ihm aufrecht stehend jeweils ungefähr bis zum Brustbein reichen – wird derStock in ca. zwischen einem halben und einem dreiviertel Meter frontal vordem Körper geführt. Dieser Abstand entspricht ungefähr der ausgestrecktenArmeslänge. Der Stock erweitert also den Radius des Tastens auf die untereKörperpartie, er ist eine Art dritte Hand, die den Boden abtastet

Das Tasten mit dem Langstock hat durch die Pendelbewegung einen fes-ten Rhythmus, welcher in seinem aufeinander abgestimmten Zusammenspielmit der Körperbewegung allererst die Rationalität und Effektivität diesesTastens für die räumliche Orientierung begründet. Durch sein zuverlässigesimmer stetes Kommen und Gehen wird die Front des Gehenden in ausrei-chender Weise erfasst, sodass ein freies Einherschreiten und ein angemesse-nes Ausweichen vor Hindernissen gewährleistet wird.

Neben dieser tastenden Fortbewegungsorientierung im Straßenverkehrwenden einige wenige Blinde auch noch eine rein akustische Orientierungan108, die oft durch das Tragen von Schuhen mit lauten Geräuschen hervorru-fenden Sohlen unterstützt wird. In der eigenen Wohnung, dem eigenen Haus,dem eigenen Grundstück und je nach Grad der individuellen Mobilität ausge-dehnt auf den Radius des hochvertrautesten Territoriums im öffentlichenRaum, das gefahrlos begehbar ist, ist Fortbewegung ohne Langstock üblich.

108 An diese ausschließlich akustische Orientierungsvariante knüpfen sich einige unter Blindenerzählte Mythen, von denen ich nur einen anführen möchte: Man erzählt von einem jungenMann, der sich einst auf dem Gehsteig einen kleinen Hügel hinunterbewegte. Er war noch nichtsehr lange in dieser Gegend unterwegs und kannte die Üblichkeiten hier noch nicht genau: Sogeschah es, dass er auf ein Gemüsegeschäft zuging, welches seine Waren auf dem Gehsteigpräsentierte. Unter diesen war auch eine Kiste Tomaten, die ziemlich in der Mitte des Gehsteigsdirekt auf dem Boden stand. Das hatte zur Folge, dass der blinde Fußgänger mit beiden Füßen in der Kiste landete, zudem aufgrund des abfallenden Geländes noch ins Rutschen kam und einerecht matschige und farbintensive Verheerung anrichtete. In solchen Mythen kommt die weitge-hende Ablehnung zum Ausdruck, die das rein akustische Orientieren im Straßenverkehr unterBlinden genießt. Allerdings hat sich hier in den letzten Jahren ein Wandel vollzogen, motiviertdurch eine neue Mobilitätsstrategie, die Daniel Kish, ein blinder Mobilitätstrainer in den USAals Methode unter dem Titel „Echolocation“ entwickelt hat. (vgl. Dworschak 2004)

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Diese Orientierung stützt sich auf die beschriebenen Prinzipien räumlich-akustischer und gewohnheits-mäßig vertrauter Orientierung.

Das Tasten mit der Hand ist innerhalb der Orientierung im Straßenver-kehr auf ganz bestimmte Handlungskontexte beschränkt. Es tritt auf beimSuchen von Druckschaltern bei Fußgängerampeln oder dem Benutzen vonöffentlichen Verkehrsmitteln wie Bussen und Bahnen. Hier wird es als Tas-ten nach Haltegriffen und Sitzgelegenheiten eingesetzt. Es ist also nicht stän-dig im Einsatz, sondern folgt der Notwendigkeit der jeweiligen Situation undkommt bei komplizierteren Manövern der Körperbewegung wie eben Hinset-zen, Hinauf-, Hinab- oder Hinaussteigen vor. Weiterhin wird es beim Ertas-ten eines Etwas eingesetzt, mit dem eine Berührung stattgefunden hat, um dieArt seiner Gegenständlichkeit (Säule, Gestell s. u.) zu bestimmen. Das Be-rühren von anderen Passanten kommt in bestimmten Kontexten vor, beimWarten innerhalb einer Menschenansammlung wie beim Einsteigen in eineBahn oder bei der Annäherung an Menschenmengen, z. B. vor Fußgänger-ampeln.

3.1.4 Reflexion und Dämmung des Schalls

Als eine Erweiterung zu dem Protokoll einer Orientierung im eher einfachstrukturierten ländlichen Raum möchte ich nun zur Orientierung im urbanenKontext übergehen, in einem ausführlichen Protokoll eines „Spaziergangs“109

durch den Kölner Hauptbahnhof. Es wurde wiederum mit einem Diktiergerätin der Hand während des Gehens oder auch des erkundenden Verweilensaufgesprochen.110

„Ich habe also den Hauptbahnhof betreten und direkt dieses hallige Ge-räusch gehört, das Brummen des Zuges auf der rechten Seite, wo ich ausge-stiegen bin, sodass man also schon genau wusste, wo links und rechts ist.Einer hat mir geholfen, zur Treppe zu finden. Die Rolltreppe rollt nach unten. Den Stock halte ich nach vorne, die Stufe unter mir berührend. Ich stehe,halte mich nicht fest, den Stock in der rechten Hand, links das Diktiergerät.

109 Die Arbeit von Ryave und Schenkein muss hier Erwähnung finden, die sich mit der Kunstdes Gehens beschäftigt. Sie ist meiner Arbeit insofern sehr ähnlich, als sie das „doing walking“als eine „elaborated collection of methodic practices“ begreift, sie ist ihr insofern unähnlich, alssie die Kunst des Gehens als eine Wechselseitigkeit von eigener Produktion des Gehens unddem Registrieren des gehenden Tuns anderer auffasst: „as the concerted accomplishment ofmembers of the community involved as a matter of course in its production and recognition“(Ryave/Schenkein 1974: 265) Sie behandelt die Kunst des Gehens primär als eine soziale Hand-lung z. B. bezogen auf das Ausweichen gegenüber anderen. Mir geht es primär um das Gehenals wahrnehmende Raumkonstitution.110 Es lassen sich zwei Phasen in diesen Protokollen trennen: Die eine wird während stetigen,langsamen Laufens produziert, die andere während stehenden, beobachtenden Lauschens oderRaumdeutens. Um diese beiden Phasen erkennbar zu machen, habe ich nach einer solchen denSatz „ich gehe weiter“ gesprochen und notiert.

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Ich höre schon, dass das Unten näher kommt, ich spüre, dass sich der Sen-kungswinkel der Treppe verändert, nun spüre ich am Stock den Widerstandder Rolltreppenkante, die ihr Ende bildet, und gehe herunter. So. Ich hörerechts eine Wand, jetzt öffnet sie sich. Ich höre rechts das Summen der Halle.Ich drehe mich um und gehe in diese Richtung mit pendelndem Stock vor mir her. Rechts gehen Leute vorbei, nah an mir zwei Frauen. Sprechen hinter mir, ein paar Leute vor mir, das Hallengeräusch. Ich gehe auf das Hallengeräuschzu, vor mir Stimmen.

Rechts von mir auf einmal eine Öffnung mit Geräusch. Ich tippe mal,dass das ein Aufgang zu den Gleisen ist. Jemand spricht mit dem Handy, ichhöre das Brummen einer Lok.“ (Protokoll „Weg Kölner Hauptbahnhof“)

Nähere ich mich einer Wand, so höre ich etwas schwer Definierbaresund spüre eine Art leichten Druck111 im Magen, am Kopf, im Ohr oder aufder Stirn und weiß, dass etwas im Wege steht. Daran vorübergegangen, öff-net sich der Raum wieder für das Gefühl. Unbewegte Gegenstände sind alsofühlend hörbar.112

Hierfür können zahlreiche weitere Beispiele gefunden werden: Ich gehean der Straße entlang, höre etwas besser, spüre eine Art leichten Drucks undweiß, dass etwas in meinem Wege steht, wahrscheinlich ein parkendes Auto.Ich weiß aber nicht, in welchem Zustand es sich befindet, wie groß es ist oder welche Marke es ist. Ich kann es betasten, um all dies herauszufinden. Aberdies liegt nur in Ausnahmefällen in meinem Interesse. Das nämliche Phäno-men ist auch das Hören einer Häuserwand, einer Baum- bzw. Sträuchergrup-pe, eines Schaukastens oder einer Wand in den vorherigen und nachfolgen-den Beschreibungen. Es handelt sich um das Hören von reflektiertem Schall,das nicht mit dem Hören eines Geräusches identisch ist. Der Schall wirdentweder vom Hörenden selbst durch dessen Schritte, Stimme oder Lautge-bungen wie Händeklatschen, Zungenschnalzen113 oder Fingerschnippen ak-tiv, ja gelegentlich sogar nur zu diesem Zwecke, oder durch jedes beliebigeGeräusch der Umgebung, das nur laut genug ist, hervorgerufen.

111 Lusseyran hat hieraus den verallgemeinernden Ansatz zu einer Wahrnehmungstheorie abge-leitet: „Was ein Blinder in Gegenwart eines Gegenstandes empfindet, ist ein Druck. Steht er voreiner Mauer, die er noch niemals berührt hat und auch jetzt noch nicht berührt, so spürt er docheine physische Gegenwart: Die Mauer legt sich geradezu auf ihn. Von dieser Mauer geht einHauch aus, und das bewußte Wahrnehmen geschieht in dem Augenblick, in dem dieser Hauchdes Gegenstandes auf einen anderen Hauch trifft, auf eben den, der seinen Ursprung in uns hat.Wahrnehmen wäre dann also das Eingehen in ein Gleichgewicht des Drucks, in ein Kräftefeld.“(Lusseyran 1972: 22) 112 Donald Griffin (Griffin 1958: 299ff) hat die Versuche von Philosophen und Psychologengeschildert, dieses Phänomen theoretisch zu fassen. So wurde diese Fähigkeit Blinder in derenglischsprachigen Fachliteratur unter dem irreführenden Titel „facial vision“ diskutiert. Griffinselbst vergleicht sie mit der Echolokation der Fledermäuse.113 vgl. hierzu das systematisch zeitlich rhythmisiert eingesetzte Zungenschnalzen von DanielKish zur Hervorbringung einer stetigen Raumorientierung.

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Auch durch den ständig im Raum schwebenden Grundklang, der als einFließen präsent ist, ohne dass ein einzelnes bestimmtes Geräusch aus diesemFluss hervortritt, kann dieser Eindruck verursacht werden. Dieser Grundklang wird dabei dort weggeschluckt und abgedämpft, wo die Mauer, die Wandoder der Schaukasten stehen. In diesem Fall ist es weniger das Hören vonEtwas als das Hören eines Fehlens, einer Dämmung.

Es ist zu unterscheiden vom indirekten Geräusch, das an einem Gegens-tand durch Wind114, Wasser oder Sand verursacht wird. Dieses Geräusch-hören-Spüren hat zwar einen großen Anteil vom Hören. Es ist aber auchmehr als nur Hören beteiligt, als ein Verspüren von Druck, eventuell in derMagengegend oder am Kopf, vor allem dem Ohr oder der Stirn. SolcheWahrnehmungen hängen von der räumlichen Form des wahrzunehmendenDinges ab. Beispiel: Es parkt ein bestimmtes Auto auf der Straße von mei-nem Haus ins Dorf hinunter, das ich oft überhöre. Ich vermute, das liegt anseiner zu geringen Höhe und seinem stromlinienförmigen Design, welchesden Echo erzeugenden Schall weniger zurückwirft, ihn vielmehr sanft nachoben und über es hinweg ableitet. Es herrscht eine gewisse Vagheit in diesenindirekten Wahrnehmungen, die vom Ohr ausgehen. Ich merke, da ist irgendetwas, aber ich weiß nicht genau, um was es sich handelt. In unvertrautenUmwelten bedarf es zumeist weiterer Untersuchungen, will man den Gegens-tand näher identifizieren.

Auch diese Mischung aus Gehörtem und Gespürtem hilft bei der Orien-tierung innerhalb des Wahrnehmungsstils eines Blinden. Zum einen könnenhierdurch Hindernisse bemerkt und auch zum Teil ihrem Typ nach identifi-ziert werden. Zum anderen können Begrenzungen wie Mauern oder Wändeals derart gehörte Bahnen zur Durchmessung eines Raums dienen.

114 „Ein Sehender würde es nicht als schönen, und schon gar nicht als herrlichen Tag bezeich-nen, wenn es bedeckt wäre. Für mich hat der Wind den Platz der Sonne eingenommen und einschöner Tag ist ein Tag mit einer sanften Brise. Sie lässt alle Geräusche in meiner Umgebungertönen, die Blätter rascheln, Papierstückchen werden über den Gehweg geweht, und die Wändeund Kanten der großen Gebäude treten stärker hervor, wenn Wind über sie hinwegstreicht, denich im Haar und auf dem Gesicht und in meinen Sachen spüre. Ein Tag, an dem es nur warm ist, wäre wahrscheinlich auch ein ganz schöner Tag, aber Donner macht ihn aufregender, weil erplötzlich ein Gefühl von Raum und Entfernung vermittelt.“ (Hull 1992: 31)

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3.1.5 Der Luftraum und die Topografie

„Ich höre das Brummen einer Lok. Ich gehe weiter. Es geht leicht nach oben.Links der Mann mit dem Handy überholt mich. Jetzt lässt die Steigung nach.Rechts irgendwie eine Lücke.

Geräusche wie von einem Geschäft, ich gehe weiter. Wiederum geht esnach oben. Vor mir Stimmen, hinter mir Stimmen. Die Steigung hat wiedernachgelassen. Rechts von mir wohl ein Geschäft. Die Steigung nimmt wiederzu. Links eine Stimme. Die Steigung lässt wieder nach. Rechts Maschinenge-räusch, ein Luftzug, ich tippe: wieder ein Aufgang.“ (Protokoll „Weg KölnerHauptbahnhof“)

Der „Luftraum“ bietet gerade in einem großen Bahnhof, von dessenHauptgang aus in regelmäßigen Abständen zumeist beidseitig Aufgänge zuden Gleisen hinaufführen, ein wichtiges Orientierungsfeld. Wärmeeindrückeund vor allem durch Luftzug hervorgerufene Hautempfindungen geben An-haltspunkte für Luftzu- und -abflüsse. Diese konstituieren eine Art „Luft-raum“, indem sie freie Bahnen und geschlossene Orte voneinander trennen.So kann ein Luftzug ein Hinweis darauf sein, dass sich der Raum verzweigt,in Gänge teilt oder gar an Ein-, Aus-, Auf-, Ab- und Übergängen aufhört. ImBeispiel des Bahnhofs zeigt der Lufthauch vor allem die Aufgänge zu denGleisen an. Die nähere Bestimmung des Sachverhalts ist anschließend wie-derum Aufgabe des genaueren Hinhörens, Hinfühlens oder Hintastens. Bei-nahe „spiegelbildlich“ dazu bietet das Auf und Ab des Weges wichtigeMerkmale der Orientierung. Der Weg führt nach oben oder nach unten. DieseVeränderungen in der Topografie der Landschaft sind oft nur relativ gering,geben aber dem Weg eine erkennbare und wiedererkennbare Struktur, die vorallem in ländlichen Kontexten wichtige Orientierungshilfe ist.

3.1.6 Gerüche

Ich gehe weiter. Rechts das Geräusch von Geld. Ich gehe wiederum weiter.Der Boden ist jetzt flacher geworden. Immer die gleiche Steigung. RechtsLuftzug, Geräusche von Schritten. Ich höre, glaub ich, Musik, aber ganzleise, eine Radiostimme oder so, es ist wahrscheinlich ein Geschäft. Ich geheweiter. Jetzt wiederum ständig das Geräusch einer Lokomotive, laut, dasMaschinengeräusch, das jetzt lauter wird, wohl von oben kommt, wiederLuftzug.

Ich höre Lok-Bremsen, wohl wieder ein Aufgang. Ich gehe erneut wei-ter. Hinter mir Stimmen. Sie überholen mich. Ich rieche irgendwas nachEssen.“ (Protokoll „Weg Kölner Hauptbahnhof“)

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Gelegentlich nehme ich Gerüche als ein Mittel räumlicher Orientierungauf.115 Gerüche von Nahrungsmitteln wie Kaffee, frischgebackenem Brot,gedünstetem Knoblauch oder Zwiebeln, Pommes frites und dergleichen kön-nen auf das Vorhandensein einer Bäckerei, eines Restaurants oder einer Im-bissbude verweisen, was natürlich auch von Wichtigkeit ist. Der Duft vonParfum, Zigarettenrauch oder der Geruch konsumierter Nahrungs- und Ge-nussmittel wie Kaffee, Alkohol etc. können eine Rolle bei der Personenwahr-nehmung spielen. Im häuslichen Kontext spielen Gerüche eine hervorragendeRolle beim Kochen und bei der Identifizierung und Bewertung von Nah-rungsmitteln. In ländlichem Kontext deutet ein frisch nach Gülle riechendesFeld darauf hin, dass dieses kürzlich gedüngt wurde und sein Betreten nichtzu empfehlen ist. Ähnliches gilt für den Duft von Pferdeäpfeln auf dem Weg.

3.1.7 Bahnen

„Um mich herum eher breiter Platz, leise. Aber jetzt spüre ich, gerade rechtsist etwas aufgetaucht, ähm, ich fühle mal – es war eine Art Schaukasten, oderso was, unten mit Stein, oben mit Glas. Es ist Restlicht-Wahrnehmung, hellergeworden.

Ich gehe weiter, bin in einer recht breiten Halle, die aber scheinbar im-mer wieder von Hindernissen unterbrochen ist, wie von diesen Schaukästenoder Tafeln. Jetzt gehe ich weiter vor, es kommen Leute auf mich zu, ähm, jasehr gut. Es ist nicht viel los hier. Ich höre irgendwo Geräusche von Geschirr.Zur Rechten, ja. Jetzt komme ich wieder auf etwas zu. Ein komisches Gestell, da geht’s nicht weiter. Ich weiche zur Linken aus. Gehe weiter, Leute kom-men auf mich zu. Hm ja, es geht ein bisschen bergauf, na kaum eigentlich.Hinter mir sind noch Leute, vor mir kommen welche auf mich zu. Ein komi-sches Geräusch von vorne (---) eine Art Sirren, aber leise. Ein Pärchen über-holt mich, das eben hinter mir war. Links vor mir noch Schritte, ich kommeauf irgend etwas zu.

Ähh! Direkt, fünf Zentimeter vor mir auf einmal ein hohes Teil, das hö-her ist als ich, so eine Art Fahrkartenschalter. Vor mir Leute, jemand machtsein Portemonnaie auf, oder so was. Ähm, immer noch vom Sound her relativ leise, aber doch mehr Leute um mich herum, Achtung, Zusammenstoßgefahrvon vorne. „Entschuldigung!“ Ich quetsche mich durch. Aber es ist nochüberschaubar. Jetzt werden die Stimmen lauter. Jetzt kommt das Hallenge-

115 Diese Beobachtung trifft sich mit der von Alain Corbin beschriebenen Kulturgeschichte desGeruchs, in der eine Ausdifferenzierung und Privatisierung des Geruchssinns seit dem 18.Jahrhundert stattfindet. „Die sensorielle Intoleranz, von der weiter oben die Rede war, be-stimmt das Ausmaß der notwendigen Distanz. Umgekehrt hat die Schaffung räumlicher Ab-stände im Laufe der Jahrzehnte zur Folge, daß bestimmten Gerüchen bestimmte Orte zugewie-sen werden; sie führt zu einer allmählichen Zerstörung der Geruchsverwirrungen, die im priva-ten wie im öffentlichen Raum häufig anzutreffen waren.“ (Corbin 1984: 136)

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räusch. Jetzt müsste ich langsam in die große Eingangshalle einlaufen. Ichhöre das an dem deutlich zu vernehmenden hallenden Geräusch.

Ich höre rechts einen Lautsprecher und Stimmen; links ein Luftzug.Rechts müssten die Türen sein, so müsste dort eigentlich auch Luft zu spürensein, ist aber nicht. Ich gehe einfach weiter, quere den Hallenbereich. „Oh,Entschuldigung!“ Ich hab jemandem auf den Fuß gehauen. Hier stehen ver-einzelt Leute rum, jetzt werden es immer mehr. Ich müsste mich langsamnach rechts halten, um den U-Bahn-Eingang zu finden. Da höre ich einenKoffer von rechts. Leute laufen, es ist aber für einen Hauptbahnhof nicht soviel los eigentlich. Jetzt geht’s hier bergab. Nach rechts hin. Ist das der...? Ha, jetzt spür ich unter den Füßen eine Matte aus Gummi.

Ich denke mal, ich bin im Ausgang gelandet, wollt ich aber nich. Ich ge-he wieder zurück. Quere jetzt einfach hinter dieser Gummimatte den Aus-gang, vor mir ein Etwas – ein Papierkorb, ein Mülleimer? Jawoll. Es ist wieauf einer Schräge.

Vor mir hör ich etwas, ich vermute, das dürften irgendwelche Stellwän-de sein. Ich gehe jetzt näher drauf zu, das Etwas wird deutlicher, ja es istirgendein Hindernis, eine Wand.“ (Protokoll „Weg Kölner Hauptbahnhof“)

Erwin Straus116 hatte schon richtig – allerdings viel zu stark verallge-meinernd – darauf hingewiesen, dass Höreindrücke häufig mit einer Bewe-gung der hörbaren Gegenstände verbunden sind, da Bewegung allererst dasGeräusch hervorbringt. Das Bild eines Dinges, „sieht“ man vom Schatten und dem Spiegelbild dieses Dinges ab, befindet sich immer an der Raumstelle,wo das Ding selbst im Raum ist, ohne dass eine besondere Aktivität vonSeiten des Dinges erforderlich wäre. Ein Geräusch dagegen entsteht oft durchBewegung, die eine räumliche Veränderung des Dinges mit sich bringt. Wäh-rend das Fließen eines Gewässers oder des entfernten Verkehrs noch seinenLauf verrät, ohne dass sich dieser ändern würde, so bewegen sich Fahrzeuge,Menschen oder Tiere geräuscherzeugend und ihren Ort verändernd. Dies hatbestimmte Konsequenzen. Ein Vogel, der vor mir auf dem Weg sitzt, wirdvon mir erst wahrgenommen, wenn er auffliegt oder Laute hervorrufend denSchnabel bewegt. Eine Welt im Fluss ruft also typischerweise Gehöreindrü-cke hervor.

116 „Farbe ist für das Erleben ein Attribut der Dinge, Klang ihre Äußerung. Farben haften, Klän-ge lösen sich ab, können als solche vernommen werden. Wir sehen das Orchester, wir hören dieSymphonie. Die Spieler und ihre Instrumente sind und bleiben nebeneinander, getrennt; dieKlänge dringen in das Miteinander der Akkorde. Das Auge gibt uns die Struktur der Welt, dasSkelett der Dinge, mit dem Ohr vernehmen wir ihren Herzschlag, ihren Puls. Die Sprache liebtes darum, Farben adjektivisch zu bezeichnen, Klänge durch das Verb.“ (Straus 1960: 256) Ichhoffe deutlich zu machen, dass dies lediglich die Beschreibung eines besonderen Falls akusti-scher Wahrnehmung unter anderen ist. Strauss knüpft an diese erste Unterscheidung weitere an:Sehen bedeutet Identifizieren, Distanzieren und Stabilisieren, Hören Vergänglichkeit und Aktua-lität. Optisches ist räumlich strukturiert, Akustisches zeitlich. Sehen ist aktiv analytisch, Hörenpassiv, synthetisch.

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Zunächst einmal haben Geräusche eine gewisse Dauer und einenRhythmus: Ein Schritt kommt nie allein, Geschirr klappert meistens in derMehrzahl, und ein Lautsprecher tönt anhaltend. Auch können Gegenständeauf Personen hindeuten, wie ein Koffer, der über den Boden der Hauptbahn-hofshalle rollt: zwar von unsichtbarer Hand, aber eben nicht wie von unsicht-barer Hand gezogen. Sie verweisen auf die Tatsache, dass sich dort, an dieserStelle im Raum, jemand oder etwas befindet oder sich fortbewegt.

Aber schon die Beispiele der Schritte und des Koffers deuten auf einehöhere Form der Wahrnehmung hin: Der Raum wird in Richtungen differen-ziert, vornehmlich in solche, in die sich Passanten oder Verkehrsmittel bewe-gen. Bei Geräuschbewegungen größerer Mengen von Passanten oder Ver-kehrsmitteln entstehen regelrechte Geräuschflüsse oder Geräuschbahnen. ImBahnhof streben die Fußgänger in verschiedene Richtungen. Allerdings nichtrein zufällig, nicht chaotisch. Es werden privilegierte Richtungen, Wildwech-sel, Pfade erkennbar. In der Bahnhofshalle, dort, wo die Reisenden zu denGleisen und in umgekehrter Richtung zum Ausgang gehen, kann eine rich-tungsmäßig hörbare Bahn erkannt werden. Sie zeigt an, wo der Ausgang undwo die Gleisaufgänge sind. In einer bestimmten Weise gibt den Prototypeiner Bahn das Geräusch einer Straßen- oder U-Bahn vor, welches sich aufeiner genau definierten immer gleichen Bahn bewegt, ohne Abweichung vonderen Verlauf, sodass eine feste, wiedererkennbare Geräuschstruktur entsteht,die mit der materiellen Struktur korrespondiert.117 Allerdings fehlt ihr diestetige Andauer, denn sie bleibt von der Präsenz des Ereignisses abhängig.

Stärker die Dauerhaftigkeit einer Bahn – vor allem in urbanen Umwelten– betont die Straße, eine der wichtigsten hörbaren Bahnen: Verkehrsmittelund Fußgänger folgen ihr auf Fahrbahn und Bordsteinen in zwei entgegenge-setzte Richtungen, auf Kreuzungen läuft der Verkehr in vier oder mehr Rich-tungen auseinander.118 All dies kann gehört werden und prägt zudem denGrundklang einer Straße in ihren Variationen aus Weg, Gasse, Landstraße,Einkaufsstraße, Hauptverkehrsstraße, Autobahn etc.

Ein Geräusch bewegt sich also oft von A über B und C nach D. Es ver-teilt sich also nicht immer gleichmäßig im Raum, sondern es hat eine Ge-räuschbahn, in der es fließt. Geräusche haben also sowohl eine Richtung,bezogen auf den Ort ihres Entstehens, als auch auf die Richtung ihrer beweg-ten Verteilung im Raum.

117 Schivelbusch (Schivelbusch 1977) hat den prägenden Charakter des Eisenbahnbaus für dieRaumeinteilung des modernen Verkehrs und der modernen Gesellschaft gezeigt. Im Beispiel des Straßenbahngeräuschs kann eine Anlehnung des blinden Wahrnehmungsstils an moderne urbane Raumkontexte gefunden werden.118 Auf Plätzen schälen sich scheinbar weniger vorgegebene Bahnen heraus, hier scheint dieFortbewegung in alle Richtungen möglich. Allerdings ist hier festzustellen, dass schon manchein in den ersten Momenten chaotisch dahintröpfelnder Platz sich nach näherer Erkundung alsteilweise geordneter Geräuschfluss zeigte.

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Darüber hinaus ist ein weiteres wichtiges Orientierungselement, das oftmit hörbaren Bahnen119 verbunden ist, ja diesen häufig zugrunde liegt, dieje-nige Bahn, die nicht nur in den Grundklang eingeschrieben, sondern auchmateriell in den tastbaren Boden geprägt ist. Das einfachste und offenkun-digste Beispiel für eine taktuelle Bahn findet sich in der Schiene, praktischbedeutsamer aber wird die Straße. Eine Straße ist im Wahrnehmungsstil eines Blinden wahrscheinlich nicht das Gleiche wie im sehenden Wahrnehmungs-stil: In Ersterem bildet sie eine Bahn, die sich nach vorne und hinten, d. h. indie Richtung der Fortbewegung und in ihr Gegenteil ausdehnt, zu den Seitenaber zeigt sie Begrenzungen auf. Dort wird sie durch für Fußgänger reservier-te Bordsteine mit Bordsteinkanten abgegrenzt, die wiederum an ihren äuße-ren Rändern entweder an Hauswände und Grundstücksbegrenzungen (Mau-ern, Zäune, Hecken) oder an freie Flächen wie Parkplätze, kleine Wege etc.stoßen. In ihrer Mitte ist sie meistens leicht erhöht, sodass sie zu beiden Sei-ten hin kaum merklich abfällt. An den Rändern, kurz vor dem Bordstein,weist sie dann eine kleine Vertiefung auf.

Hierin unterscheidet sich eine Straße im urbanen von einer im ländlichenKontext, wo ein starker „Abfall“ an beiden Rändern auftritt, da hier keineBordsteine existieren. Völlig anders charakterisiert sich die Struktur einesFeldweges, der in der Mitte zwischen den beiden Spuren eine meist grasbe-standene Erhöhung mit sich bringt. Eine120 Straße kann Vertiefungen aufwei-sen in Gestalt von Löchern oder Gullydeckeln. Ihre Oberfläche wird durchverschiedene Materialien wie Asphalt oder Kopfsteinpflaster gekennzeichnet.

Sie hat weiterhin Biegungen, die tastend nachvollzogen werden können.Die Bahn der Straße wird immer wieder von Abzweigungen oder Kreuzun-gen anderer Straßen kurzzeitig unterbrochen. Die wesentliche Aufgabenstel-lung wird dadurch vorgegeben, den Verlauf dieser Bahn nicht zu verlassen,sich nicht durch eine Abzweigung auf einen falschen Pfad abbringen zu las-sen.

119 Hermann Schmitz spricht von „Richtungsbahnen leiblich spürbarer Richtungen“, die auf einebestimmte räumliche Prägung des richtungsräumlichen eigenleiblichen Spürens abzielen: „Insolchen Bahnen orientiert und hält sich das leiblich spürbare Verhalten, ohne dass sie selbst wiedie (leiblich gespürten) Richtungen unmitttelbar leiblich spürbar sein müssten. Ich denke etwaan die Bahnen des Schreitens, des Greifens, des Handelns im Umgang mit Werkzeugen.“(Schmitz 1967: 56f)Mein Gebrauch von Bahnen ist weiter gefasst, da er sich auf das Wahrnehmen solcher Bahnensowohl an umweltlicher Gegenständlichkeit als auch am Handeln Anderer bezieht.120 Ein aufschlussreiches Irritations-Experiment in ländlicher Umwelt ist ein Spaziergang imNeuschnee: schmale Wege werden zu breiten Schneisen, sie verlieren ihre taktile Bahnfunktion,besser ihre Bahn formenden Grenzen, denn diese verwischen. Diese Schneisen wiederum werden verengt durch Äste, die schneebeladen, tief in die Schneisehängen, diese chaotisch verengen, entschneisen.Das Hören wird daher dann noch wichtiger. Aber es kommt Hilfe: Zäune von Schnee beladensind deutlicher als akustische Bahnen hörbar, Sträuchergruppen, die von Schnee belegt werden,werden zu klanglich deutlich hervortretenden Dickichten.

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Ein weiteres Bahn-Funktion übernehmendes Orientierungsmittel als er-tastbare Bahnen sind Zweckentfremdungen materieller Träger wie beispiels-weise Wände, Bordsteine, Bahnsteigkanten und die zu ihnen gehörendenRillen: Von der Zugtür, aus der ich herausgestiegen bin, muss der Weg zurTreppe oder Rolltreppe, die ins Innere des Bahnhofs führt, erst einmal gefun-den werden. Erstes Orientierungsmittel sind die Geräusche der dahinströ-menden Menschenmenge. Als materielle Bahn findet sich dann die mit demLangstock fühlbare Kante zu dem an beiden Seiten des Bahnsteigs befindli-chen Gleiskörper, der etwa einen halben Meter tiefer als der Bahnsteig liegt.Meistens ist auch eine fühlbare Rinne ca. einen halben Meter neben dieserKante angelegt, die ebenfalls als Bahn für den tastenden Stock dienen kann.

3.1.8 Geräuschverdeckung und Geräuschverstärkung

„(...) Also ich bin jetzt hier und warte. Ich höre von rechts eine Bahn kom-men. Das Geräusch ist aber, da es von rechts kommt, auf der anderen Seite,also in Gegenrichtung, mich nicht weiter betreffend. Langsam rollt sie ein,bleibt stehen, quietscht, bevor sie stehen bleibt. Dann hört man das Geräuschvon Schritten, ganz leise, die in die Bahn steigen. Ich warte weiter hier.Rechts kommen wieder Leute, immer hört man das Rollen der Rolltreppe,rechts von mir, Schritte kommen die Treppe herunter. Links tut sich nichtviel, von rechts kommen die Schritte näher, werden langsamer, bleiben ste-hen. Jetzt höre ich, wie links schräg vor mir die Bahn wegfährt. (...) Auf derGegenseite eine Bahn. Ich lausche nach links. Immer muss man aufpassen.Wenn die Bahn vor einem kommt, ist von links her das Geräusch schlecht zuidentifizieren, weil es sich mit dem von Gegenüber vermischt. Ja, ich musszugeben, ich hab mich wohl schon vertan, denn ich höre Leute aus der Bahnaussteigen.“ (Protokoll „Weg Kölner Hauptbahnhof“)

Ebenso wie Bilder von Gegenständen können auch Geräusche einanderverdecken121. Markant wird dies in Gebieten mit verstärkter Geräuschentfal-tung und Lärm, also z. B. in Städten. Das lauteste Geräusch in der hier proto-kollierten Situation ist eine Lokomotive. Wenn ich nah an einer solchen vo-rübergehe, so dehnt sich ihr Geräusch tatsächlich in den ganzen Raum aus.122

Nimmt die Entfernung von ihr zu, so wird zwar wieder die Richtung dieser

121 Über Verdeckung im optischen Feld siehe Kebek 1994: 70 ff und 230 ff sowie Gibson 1950.Bewegungswahrnehmung geht hier mit Okklusion und Disokklusion des Hintergrunds undseiner Gegenstände einher.122 In seiner Ästhesiologie des Geistes diskutiert Helmut Plessner eine ähnliche Beobachtung alsdie raumausfüllende Voluminosität des Tons gegenüber einer bereits von Carl Stumpf festge-stellten Verbindung von Farbe und flächiger Ausdehnung: „Nur ein Schall schwillt. Licht hatdagegen statischen Charakter. Intensitätszunahme oder -abnahme vollzieht sich im Akustischenals An- und Abschwellen, im Optischen als bloßes Erhellen oder Verblassen in der phänomena-len Leuchtfläche. Während dort jede Intensitätsveränderung den Eindruckswert einer Volumen-veränderung besitzt, fehlt dem Optischen dieser Wesenszug. (Plessner 1970: 230)

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Schallquelle hörbar, aber ihre verschluckende Wirkung bleibt in schwächererForm erhalten.

Noch stärker prägt sich dieser Effekt aus, wenn ich an einer Baustellevorbeigehen muss, an der gerade mit einem Presslufthammer oder lautenBaufahrzeugen gearbeitet wird. Denn dieses Geräusch übertönt alle anderen,wie laut und aus welcher Richtung sie auch immer kommen mögen.

Anders als bei Verdeckungen visueller Art123, die eher im räumlichenVor- bzw. Hintereinander gesucht werden können, resultiert diese Geräusch-verdeckung jedoch aus einem akustischen Ineinanderverschwimmen. Über-deckende Geräusche haben tatsächlich die Tendenz, Ort und Richtung imRaum aufzuheben. Nur hier darf man mit Recht das räumlich Geordnete derBilder und das Raumeinnehmende der Geräusche einander gegenüberstellen.

Wesentlich für die Erscheinungen von Verdeckung und Verstärkung vonGeräuschen erscheint, dass bestimmte Punkte im Raum bestehen, welcheeinen privilegierten Zugang zu einem bestimmten Geräusch bieten. Beispiel:In einem Raum steht eine Balkontür halb offen. Draußen hört man die Gerä u-sche einer Straße. Es lassen sich Stellen im Innenraum entdecken, an denendie Geräusche von draußen lauter und deutlicher hörbar sind. Wenn man sichdie Mühe macht und eine halbe Stunde auf den Knien durch den Innenraumkriecht, so kann man genau die Maße des Geräuschflusses festlegen. Interes-sant wird der Fall, wenn noch andere Zimmer vorhanden sind, in die derGeräuschfluss durch Zwischentüren hineinströmen kann. Es entsteht so einAdernetz des Geräuschflusses mit guten und schlechten Beobachtungspunk-ten.124

Außerdem haben bestimmte Raumbedingungen eine befördernde oderverdeckende Wirkung auf Geräusche. Beispiel: Wenn ich die Straße vonmeinem Haus ins Dorf hinuntergehe, so lässt sich eine Zone umreißen, in derein von hinten nahendes Auto nur sehr leise gehört werden kann. Die Straße

123 Hier überschneidet sich das protokollierte Orientieren im blinden Wahrnehmungsstil miteinem meiner Protokolle beobachtender Teilnahme am sehenden Alltag: „Heute Morgen beimFrühstück ist wieder einmal etwas passiert, was einen Verdacht in mir neu aufkeimen ließ, denich schon eine geraume Zeit hege: Dass nämlich Sehende ganz und gar nicht alles sehen, wasman als Blinder glaubt. Ich suchte nämlich das kleine Stück Butter, das ich vor ein paar Minutennoch in den Händen gehalten hatte. Als ich es nach einigem Suchen nicht finden konnte, fragteich meine Frau danach. Überraschend für mich war, dass sie es nicht sofort fand. Es vergingenbeträchtliche Sekunden, bis sie es mit dem Ausruf: ‚Es liegt hinter der Milch‘ aufspürte und mirreichte. Auf meine Nachfrage deutete sie den für mich erstaunlichen Vorgang damit, dass dieMilchpackung das Butterstück visuell verdeckt hatte. Sie beschwerte sich noch: ‚Du denkstimmer, das geht alles so schnell und man weiß immer, wo alles ist.‘ “124 Auch wenn sich diese Geräuschbetten im alltäglichen Umgang mit Geräuschen nur selten inihrer ganzen Ästhetik ausloten lassen, so sind sie doch einer sensibilisierten Wahrnehmung durch jedermann zugänglich, wenn sie auch in ihrer Bedeutsamkeit nur einem blinden Wahrnehmungs-stil erschlossen sind. Als solches bieten sie ein Reservoire an Wahrnehmungsmöglichkeiten, dieveralltäglicht werden können, wenn es die Not gebietet. Sie können aber auch in den Bereich deresoterischen Sensibilität verwiesen werden. Beides hat seine Berechtigung.

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biegt hier mit einer geringen Kurve und einem mittleren Gefälle in einenWald ein. Alle drei Faktoren mindern den Schall: Die Bäume, die durch dieleichte Biegung zwischen Hörer und Geräusch treten, schirmen ab, und dasleichte Gefälle lässt den Hörer in einer Art kleiner Senkung verschwinden, inder wiederum der Schall von draußen leiser gehört wird. Folglich bin ich andieser Stelle schon des Öfteren durch ein plötzlich nahendes Auto unange-nehm überrascht worden.

3.2 Problematische Auslegungen in der blinden Raumerfassung

Bisher habe ich mich in meiner Rekonstruktion des blinden Wahrnehmungs-stils auf die wahrnehmungsmäßigen Einzelinhalte konzentriert, die vor den„kognitiven Repräsentationen“ von Raum liegen, obwohl sie sich natürlichauch zu Vorstellungen über den Raum zusammenziehen, somit also in kogni-tiven Schemata der Erfahrung verarbeitet werden.

Nun möchte ich mich anhand der Schilderung einer Fehlorientierung aufdie bei der räumlichen Orientierung eingesetzten weiterreichenden kogniti-ven Strukturen der Vorstellung eines Gesamtraumes und des handlungsmäßi-gen Entwurfes einer in der Zeit statthabenden Fortbewegung durch diesenvorgestellten Raum beziehen.

„Jetzt bin ich in einer engeren Situation, links scheint sich irgend etwasaufgetürmt zu haben, vielleicht ein Verkaufsstand oder so etwas. Also, derAbstand zwischen rechter und linker Wand ist geringer geworden. Das spüreund höre ich. Ich gehe weiter. Der Stock-Klang ist auch weniger hallig, tro-ckener.

Ich spüre, rechts kam etwas auf mich zu, ich berühre es mit dem Stock,dann mit der Hand, Fensterscheibe würde ich tippen. Rechts Musikgeräusch,ein Geschäft, ich denke mal eine Art Kaffeebar oder so was. Ich gehe weiter.Ich spüre, rechts ist die Wand wieder enger, wieder Luftzug, Geräusche einerLok, wieder ein Aufgang.

Ich gehe erneut weiter. Hier scheint sich der Weg wieder zu verbreitern,der Hall ist wieder da. Ich gehe übrigens natürlich relativ langsam, hinter mirKinderstimmen. Vor mir ist irgendwie das Hallengeräusch abgeebbt. Viel-leicht habe ich jetzt eine falsche Abzweigung gewählt. Ähm, denn es ist hierauf einmal relativ leise. Jetzt wieder ein Luftzug von rechts.

Ich werde mal nachschauen, was da ist. Es geht leicht nach oben, ich be-finde mich ..., doch hier ist ein Aufgang. Ich gehe wieder zurück, spüre rechts die Wand und gehe um die Kurve herum, hinter mir jetzt eher das Hallenge-räusch, vor mir eher Ruhe. Stimmen hinter mir, es ist fast schon zu leise,finde ich. Ich tippe, dass ich im Nebengang bin. Vor mir ist auf einmal einHindernis aufgetreten, eine runde Säule, um die ich links herum gehe. Ich

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glaube, ich bin am Ende des Ganges angekommen. Ich höre eine Frau linksabbiegen, folge dieser. So. Die Hypothese ist: Ich bin im Nebengang, ichmuss stärker links gehen, als ich vermutet habe, um zur U-Bahn zu kommen“(Protokoll „Weg Kölner Hauptbahnhof“)

Die Annahme des blinden Protagonisten in dieser Situation war, sich imHauptgang des Bahnhofes zu befinden. Er muss aber beobachten, dass ihmimmer weniger Passanten begegnen, was vom Grundklang her nicht zu derunterstellten Örtlichkeit passen kann: Wäre er tatsächlich dem Hauptganggefolgt, so hätte er sich nun nahe des Eingangsbereichs befinden müssen,demjenigen Ort, der den deutlichsten Grundklang mit starkem Hall und vie-len Stimmen aufweist.

Um nun die Art und den Grad seiner Verirrung zu identifizieren, verlässter den Gang und begutachtet eine Stelle, an der er aufgrund des Luftzugseinen Aufgang vermutet. Da er diesen dort findet, kann eine grobe Verirrungwie z. B. ein Abweichen in einen kommerziellen Zwecken gewidmeten Zwi-schengang oder Seitentrakt also ausgeschlossen werden. Als Deutung, welche sowohl den für den Hauptgang zu ruhigen Grundklang als auch das Vorhan-densein eines Bahnsteigaufganges einbeziehen kann, bleibt nur die neueHypothese „Nebengang“ übrig, was der formalen Raumvorstellung nacheinen Gang meint, der parallel zum Hauptgang verläuft und durch einen Zwi-schengang mit diesem verbunden ist. Als perzeptive Struktur ähnelt der Ne-bengang dem Hauptgang in Länge und Grundklang: So klingt z. B. derHauptgang zu wenig frequentierten Zeiten dem Nebengang zu Stoßzeitenzum Verwechseln ähnlich.

Hieran wird erkennbar, wie stark „Wissen“ die Navigation leitet. Dieszeigt sich jedoch erst, wenn die Einheit aus tatsächlicher Wahrnehmung,perzeptivem Handlungsentwurf und Raumvorstellung nicht mehr ohne weite-res routinehaft umgesetzt werden kann. Räumliche Orientierung funktioniertaufgrund eines vorentworfenen Plans, der eine Vorstellung sowohl von derformalen Struktur des Raums als auch vom zeitlich zurückgelegten Wegbeinhaltet.

Aber die formal abstrakte Raumstruktur wird von einer inhaltlich leben-dig wahrgenommenen Fülle ergänzt, die beide Teil des gedanklich-sensuellenHandlungs- und Raumentwurfs sind. Eine Verirrung zu bemerken, gelingtzum Beispiel nur anhand der angenommenen Frequentierung eines Raums,wonach an einer bestimmten Stelle eine Situation erwartet werden kann, inder viele Schritte und Stimmen hörbar werden. So verbindet sich also dieVorstellung einer räumlichen Struktur und der antizipierte Entwurf der Be-wegungshandlung durch diese räumliche Struktur in der Zeit inhaltlich z. B.mit dem Wissen um die Klangabfolge eines Weges. Weicht die wirklicheingetretene Situation vom Entwurf der perzeptiven Umwelt ab, so beginntallererst eine problematische Auslegung der aktuellen Raumsituation, inderen Verlauf der blinde Protagonist eine nähere Untersuchung vornimmt. Er

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holt zusätzliche Information ein, die sich an die Gegenständlichkeit des Orteshält, und somit vor allem tastend erfolgt.

Diese Auslegung definiert den aktuellen Standort vor dem Hintergrunddes besonders und allgemein typischen topologischen Wissens um den Orteinerseits und den bereits in der Zeit zurückgelegten Weg andererseits. Undvon dieser Neudefinition aus wird ein neuer Weg zur Bewältigung der räum-lichen Situation und zur Erreichung des räumlichen Zieles entworfen.

Lassen sich bei starken Verirrungen in der relativen Nähe des aktuellenStandortes aber keine ausreichenden Informationen gewinnen, so sind auchgelegentlich weitere Rückwege oder seitliche Erkundungen größeren Aus-maßes festzustellen.

Beispiel: Zweimal im Jahr begebe ich mich zum Elternsprechtag an dieGrundschule meiner älteren Tochter. Aufgrund der Seltenheit dieser Ortsbe-gehung habe ich kein Merkmal in meinem Wissensvorrat sedimentiert, dasden Punkt angeben würde, an dem ich die sehr lange Straßenkurve überque-ren muss, um zu dem von mir gesuchten Seitenzugang zur Grundschule zugelangen. Daher bleibt es unklar, ob ich nach der Überquerung noch vor oderbereits hinter diesem Zugang stehe. Da ich für diesen Zugang auch keineindividuellen Merkmale der Identifizierung herausgefunden habe, ist esschon dreimal vorgekommen, dass ich mich zwar am rechten Ort befunden,diesen aber nicht als solchen erkannt habe.

Zur Sicherstellung meiner Lokation bin ich dann eine Seitenstraße hi-neingegangen. Nach etwa 300 Metern (durchs Niemandsland) würde hier einmir vertrautes Merkmal erscheinen – eine Linkskurve mit einem nah an derBordsteinkante stehenden Straßenschild und einem Bushaltestellen-unterstand, der etwa eineinhalb Meter danach in meinen Weg ragen müsste.Würde sich dieser Ort finden, so befände ich mich kurz vor dem Kindergar-ten, dessen Lage relativ zur Grundschule mir aus zahlreichen Besuchen mitder jüngeren Tochter vertraut ist. Hier nun würde ein archimedischer Punktder Orientierung gefunden sein, von dem aus auch der Zugang zur Grund-schule sich im Nachhinein und im Vorhinein, denn ich würde den gekomme-nen Weg zurückgehen, als richtig erwiese.

Würde ich dies alles aber nicht vorfinden, so würde sich als nun eben-falls sichere Wirklichkeitsdeutung ergeben, dass ich bereits zu weit an derSchule vorbei gegangen war. In beiden Fällen werde ich dann den Rückwegantreten, nun aber mit sicheren Handlungsanweisungen.

In Beziehung auf solche Raumpläne kann m. E. durchaus von kognitiven Karten gesprochen werden, allerdings nur, wenn man bedenkt, dass in diesenKarten gänzlich andere Merkmale als in kognitiven Karten Sehender aufge-zeichnet sind. Grundklänge, Positionen einzelner Gegenstände, Verläufe vonGeräuschbahnen, topografische Qualitäten und Luftzüge müssen hier ebensoerwähnt werden wie die Zeitfolge solcher Merkmale, die sich nicht automa-tisch aus einer Durchschreitung des Raumes ergibt.

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