freiheit nach kant: tradition, rezeption, transformation, aktualit¤t

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Critical Studies in German Idealism
Series Editor
Simon Critchley – Paul Cruysberghs – Rózsa Erzsébet – Garth Green Vittorio Hösle – Francesca Menegoni – Martin Moors – Michael Quante
Ludwig Siep – Timo Slootweg – Klaus Vieweg
VOLUME 22
Herausgegeben von
LEIDEN | BOSTON
Typeface for the Latin, Greek, and Cyrillic scripts: “Brill”. See and download: brill.com/brill-typeface.
issn 1878-9986 isbn 978-90-04-38357-9 (hardback) isbn 978-90-04-38358-6 (e-book)
Copyright 2019 by Koninklijke Brill NV, Leiden, The Netherlands. Koninklijke Brill NV incorporates the imprints Brill, Brill Hes & De Graaf, Brill Nijhoff, Brill Rodopi, Brill Sense, Hotei Publishing, mentis Verlag, Verlag Ferdinand Schöningh and Wilhelm Fink Verlag. All rights reserved. No part of this publication may be reproduced, translated, stored in a retrieval system, or transmitted in any form or by any means, electronic, mechanical, photocopying, recording or otherwise, without prior written permission from the publisher. Authorization to photocopy items for internal or personal use is granted by Koninklijke Brill NV provided that the appropriate fees are paid directly to The Copyright Clearance Center, 222 Rosewood Drive, Suite 910, Danvers, MA 01923, USA. Fees are subject to change.
This book is printed on acid-free paper and produced in a sustainable manner.
Library of Congress Cataloging-in-Publication Data
Names: Josifovi, Saša, editor. | Noller, Jörg, 1984– editor. Title: Freiheit nach Kant : Tradition, Rezeption, Transformation, Aktualität / herausgegeben von Sasa Josifovic, Jorg Noller. Description: Leiden ; Boston : Brill, 2019. | Series: Critical studies in German idealism ; Volume 22 Identifiers: LCCN 2018040782 (print) | LCCN 2018044024 (ebook) | ISBN 9789004383586 (Ebook) | ISBN 9789004383579 (hardback : alk. paper) Subjects: LCSH: Kant, Immanuel, 1724–1804. | Liberty. Classification: LCC B2799.L49 (ebook) | LCC B2799.L49 F74 2019 (print) | DDC 123/.5092—dc23
LC record available at https://lccn.loc.gov/2018040782
Teil 1 Kant im Kontext
Kontrafaktische Kontingenz und Entscheidungskontrolle durch Reflexion: Wie Leibniz mit der vorkantischen Tradition Freiheit angesichts von Determination denkt 7
Michael-Thomas Liske
Freiheit und Selbstherrschaft: Über den gemeinsamen Grund von Theodizee und moralischer Verbindlichkeit beim frühen Kant 37
Heiner F. Klemme
Das Moralische: Der absolute Standpunkt. Kants Metaphysik der Sitten und ihre Herausforderung für das moderne Denken 54
Theo Kobusch
Kant on Freedom as Autonomy 95 Karl Ameriks
Kant über die Natur der Freiheit 117 Dieter Sturma
Ethische Freiheit, Autonomie und Selbstbewusstsein bei Kant mit einem Ausblick auf Fichte 134
Klaus Düsing
vi Inhaltsverzeichnis
„Es giebt schlechterdings keinen Mittelweg zwischen Nothwendigkeit und Zufall, zwischen Determinismus und Indeterminismus“: Die unmittelbare Rezeption des Kantischen Freiheitsbegriffs in der Aetas kantiana 153
Faustino Fabbianelli
„Freyheit durch oder wider das Gesetz“: Reinhold und Schiller über symmetrische Selbstbestimmung 172
Jörg Noller
Von der Unmöglichkeit der Kant’schen Freiheitslehre nach Salomon Maimon 187
Amit Kravitz
Zwischen Spinoza und Kant: Jacobi über die Freiheit der Person 208 Birgit Sandkaulen
Die Theorie des Willens in Fichtes Wissenschaftslehre nova methodo 224 Andreas Schmidt
Schellings Theorie des Guten 236 Markus Gabriel
Das Primat der Freiheit nach Leibniz, Hume und Kant: Zu Hegels Aufhebung des Kompatibilismus 251
Pirmin Stekeler-Weithofer
Teil 4 Kants systematische Relevanz
Autonomie der Vernunft und praktische Erkenntnis 297 Thomas Buchheim
viiInhaltsverzeichnis
Kann man nichtzeitliche Verursachung verstehen? Kausalitätstheoretische Anmerkungen zu Kants Freiheitsantinomie 331
Geert Keil
Sachregister 367
Einleitung
Saša Josifovi und Jörg Noller
Die Freiheitsdebatte im unmittelbaren Ausgang von Kant muss immer noch als ein Stiefkind der Forschung gelten.1 Dies ist erstaunlich, darf doch der Freiheitsbegriff – nicht nur bei Kant, der ihn als „Schlussstein“2 seines Systems ansieht und der praktischen Vernunft den Primat vor der theoretischen gibt, sondern auch für die gesamte Klassische deutsche Philosophie und dar- über hinaus – als ein Fundamentalbegriff gelten. Dieser Forschungsbedarf ist nicht unbeachtet geblieben. Dieter Henrich hat darauf hingewiesen, dass zu der Freiheitsdebatte im Ausgang von Kant „noch immer eine umfassende Untersuchung fehlt“.3 Ebenso bemerkt Paul Guyer, dass es noch „genügend Raum für weitere Forschung im Zusammenhang von Ursprung und Rezeption kantischer Philosophie, insbesondere seiner Moral[philosophie]“4 gibt.
Die Freiheitsdebatte im Ausgang von Kant ist jedoch nur unzulänglich cha- rakterisiert, wenn man sie als bloße Übernahme und Ausgestaltung kantischer Prämissen begreift. Einer solchen Perspektive entgeht, dass Kants Konzept einer Autonomie der Vernunft bereits früh nicht so sehr als ein unhinterfrag- ter Ausgangspunkt angesehen, sondern als eine begriffliche Herausforderung verstanden wurde, deren Probleme es in immer neuen Theorieentwürfen zu beheben galt. Durch eine solche Perspektive auf Kants Freiheitsbegriff wer- den auch seine Vorläufertheorien wieder ins Bewusstsein gerufen, an die Kant einerseits kritisch anknüpft, von denen er zugleich aber auch in entschei- denden Punkten abweicht. Dass Kants Freiheitsbegriff auch für die aktuelle Freiheitsdebatte von Relevanz ist, zeigt die Diskussion um Determinismus, Indeterminismus, Kompatibilismus und Inkompatibilismus, vor allem hin- sichtlich der Akteurskausalität, einer Position, die ihre Ressourcen in vielerlei Hinsicht aus der kantischen Theorie schöpft.
Gemäß seinem historisch-systematischen Forschungsinteresse gliedert sich der vorliegende Sammelband in vier Teile, im Rahmen derer Kants Freiheitsbegriff entlang der Leitbegriffe „Wille“, „Willkür“, „Autonomie“ und „Vernunft“ verortet werden soll:
1 Vgl. Jörg Noller, Die Bestimmung des Willens. Zum Problem individueller Freiheit im Ausgang von Kant, Freiburg/München 22016, 33 ff.
2 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, AA V, 3. 3 Dieter Henrich, Denken und Selbstsein. Vorlesungen über Subjektivität, Frankfurt/M. 2007, 369. 4 Paul Guyer, „Zum Stand der Kant-Forschung“, in: Information Philosophie 1 (2004), 10–21, 21.
2 Josifovi und Noller
(1) Kontexte, die den Hintergrund von Kants eigener Freiheitstheorie bil- den. Eine besondere Rolle spielt hierbei die vorkantische Debatte um die Vereinbarkeit von Determinismus und Freiheit, insbesondere bei Leibniz, der sich Michael-Thomas Liske (Passau) in seinem Beitrag widmet. Aber auch Kants frühe Moralphilosophie (Heiner Klemme [Halle/S.]) im Kontext der freiheitstheoretischen Auffassungen bei Leibniz und Wolff, sowie sein Projekt einer Metaphysik der Sitten (Theo Kobusch [Bonn]) spielen für das tiefere Verständnis von Kants Freiheitsbegriff eine zentrale Rolle.
(2) Kants eigener Freiheitsbegriff, unter besonderer Berücksichtigung sei- nes Begriffs der Autonomie der Vernunft im Kontext seines gesamten Werkes. Karl Ameriks (Notre Dame, IN) entwickelt dazu Kants Autonomiebegriff als vernünftige Selbstbestimmung. Auch werden die ontologischen und episte- mischen Voraussetzungen des kantischen Freiheitsbegriffs expliziert und auf das Problem der Naturdetermination bezogen (Dieter Sturma [Bonn]). Klaus Düsing (Köln) untersucht insbesondere das Verhältnis von Autonomie und Selbstbewusstsein in Kants Freiheitsbegriff, aber auch seine Bedeutung für die unmittelbar darauf folgende Philosophie Fichtes.
(3) Die historische Rezeption, Kritik und Transformation von Kants Freiheits- theorie in der Klassischen deutschen Philosophie. Besonderes Gewicht liegt auf der Frage, wie in den verschiedenen nachkantischen Entwürfen das Verhältnis von Wille, Willkür, Autonomie und Vernunft bestimmt wird. Ebenso interes- siert die Frage nach dem Freiheitssubjekt, seiner Individualität, Normativität und Personalität, aber auch seinem Verhältnis zu anderen Freiheitssubjekten, der Geschichte und Gesellschaft. Der Beitrag von Faustino Fabbianelli (Parma) behandelt die unmittelbare Rezeption des kantischen Freiheitsbegriffs durch bislang nur wenig bekannte Denker der Aetas Kantiana wie Ulrich, Schmid und Creuzer und die darin virulent werdende Determinismus/Fatalismus- Problematik. Jörg Noller (München) befasst sich mit der ersten eigenständigen Interpretation und Transformation des kantischen Freiheitsbegriffs durch Karl Leonhard Reinhold und Friedrich Schiller, die zu einem Begriff individueller Freiheit der Person führt. Amit Kravitz (Jerusalem/München) behandelt Salo- mon Maimons bislang nur wenig bekannte Kritik der kantischen Moral- und Freiheitstheorie. Birgit Sandkaulen (Bochum) nimmt sich Friedrich Heinrich Jacobis Interpretation des kantischen Freiheitsbegriffs im Spannungsfeld von Spinoza und Kant, von System und Freiheit an. Andreas Schmidt (Jena) geht der Frage nach, wie Fichte Kants Autonomiebegriff rezipiert und transformiert hat. Pirmin Stekeler-Weithofer (Leipzig) erörtert, wie in Hegels Philosophie Kants Transzendentalphilosophie aufgenommen und im Rahmen seiner Theorie des objektiven Geistes begriffslogisch kritisiert und modifiziert wird. Markus Gabriel (Bonn) untersucht Schellings bislang nur wenig thematisierten
3Einleitung
Begriff des Guten in seinen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit. Günter Zöller (München) beschließt den historischen Teil durch einen Beitrag, der Schopenhauers Rezeption des kantischen Freiheitsbegriffs zum Gegenstand hat.
(4) Die systematische Relevanz von Kants Freiheitsbegriff. Koordinaten die- ses Teils bilden die Unterscheidung von Handlungs- und Willensfreiheit, das Determinismus- und Kompatibilismusproblem, aber auch die Position der Akteurskausalität und ihr spezifischer Kausalitätsbegriff. Thomas Buchheim (München) untersucht das systematische Problem einer Freiheit zum Bösen bei Kant und den zugrunde liegenden Rationalitätsbegriff. Saša Josifovi (Köln) befasst sich mit Kants kritischer Handlungstheorie und bezieht sie auf die gegenwärtige Debatte. Geert Keil (Berlin) schließlich widmet sich Kants Theorie mentaler Verursachung vor dem Hintergrund der Problematik tran- szendentaler Freiheit.
Teil 1
Kontrafaktische Kontingenz und Entscheidungskontrolle durch Reflexion: Wie Leibniz mit der vorkantischen Tradition Freiheit angesichts von Determination denkt
Michael-Thomas Liske
Leibniz erhebt in den verschiedensten Fragen den charakteristischen Anspruch, er könne bei seinen metaphysischen Grundannahmen das, was man immer schon angenommen habe, wahren und aus seinen Gründen heraus vertieft erklärbar machen. Vor allem zwei Grundüberzeugungen haben wohl die philosophische wie die außerphilosophische Debatte über die Freiheit bestimmt. Zum einen: Freiheit als Grundlage der sittlichen Verantwortung schließt Kontingenz ein, die bedeutet, dass man sich auch anders hätte entscheiden können und sich daher zu Recht für die Art verantworten muss, wie man sich tatsächlich ent- schieden und aufgrund dieser Entscheidung gehandelt hat. Zum anderen: Freiheit ist Innen- oder Selbstbestimmung (Autonomie) im Gegensatz zur Fremd- oder Außenbestimmtheit (Heteronomie). In Theodizee § 288 versucht Leibniz anhand der drei klassischen Freiheitsbedingungen der scholasti- schen Theologie: Vernünftigkeit (intelligence), Spontaneität und Kontingenz aufzuzeigen, dass seine Freiheitskonzeption dem traditionellen Begriff völlig Genüge tut:
Wir haben aufgezeigt, dass die Freiheit (so wie man sie in den theo- logischen Schulen verlangt) in der Vernünftigkeit besteht, die eine distinkte Erkenntnis des Gegenstands der Überlegung einschließt, in der Spontaneität, kraft deren wir uns selbst bestimmen, sowie in der Kontingenz, die die logische oder metaphysische Notwendigkeit aus- schließt. Die Vernünftigkeit ist gleichsam die Seele der Freiheit, die übrigen Bedingungen sind quasi der Körper und die Grundlage. Die freie Substanz bestimmt sich selbst und zwar aufgrund des vom Verstand erfassten Guten als Beweggrund, der sie geneigt macht, ohne sie zu
8 Liske
nötigen. Die gesamten Bedingungen der Freiheit sind in diesen wenigen Worten begriffen. (Übersetzungen vom Verfasser)
Das Anders-entscheiden-und-handeln-Können liegt sicher in der Kontingenz begründet. Selbstbestimmung setzt Leibniz dagegen geradezu mit der Spontaneität gleich. Dies entspricht dem gängigen Verständnis: Das Spontane ist das, was dem eigenen Inneren entspringt und bildet so den Gegenbegriff zum äußeren Zwang.1 Dies müssen wir hier aber angesichts der Aussage einschränken, es sei die Vernünftigkeit, die (gleichsam als die Seele) die Freiheit ausmache und begründe, während Spontaneität und Kontingenz die Grundlage (base) oder ermöglichende Voraussetzung darstellen.2 Dies schließt ein, dass sich Kontingenz und Spontaneität nicht graduell abstufen lassen: Entweder sind die Voraussetzungen erfüllt und Freiheit ist gegeben, oder sie sind gar nicht erfüllt, und so ist Freiheit nicht möglich, jedenfalls nicht im eigentlichen Sinne. Entweder herrscht Kontingenz oder es herrscht metaphysisch-logische Notwendigkeit. Desgleichen lässt sich die Spontaneität nicht graduell differenzieren, sofern sie in Leibniz’ Metaphysik soviel bedeu- tet wie kausale Geschlossenheit, jede Substanz bringe all ihre Zustände, d.h. für Leibniz’ mentalistischen Ansatz die gesamte Abfolge ihrer Vorstellungen spontan aus dem eigenen Inneren hervor, indem das Äußere nur idealiter den Anlass biete (z.B. Specimen dynamicum GM VI 251; Theod. § 59). Hingegen ist die Innen- oder Selbstbestimmtheit das Moment, in dem die Handlungen sich graduell unterscheiden, in welchem Grade sie inneren Motiven entspringen, in welchem sie durch äußere Faktoren aufgezwungen sind. Nicht nur unter- scheiden sich verschiedene handelnde Subjekte darin, in welchem Grad sie selbstbestimmt handeln; auch eine einzelne Person muss darum ringen, ihren Freiheitsspielraum zu erweitern oder den Grad ihrer Selbstbestimmung zu erhöhen, indem sie die (im Schlussteil zu besprechenden) psychologischen Techniken anwendet. Dieser Unterschied der Freiheit liegt offenkundig im Grad der Vernunftbestimmtheit begründet als dem Moment, das bei gegebe- nen Voraussetzungen die Freiheit konstituiert.
1 Vgl. „spontaneitas contra coactionem“ (Grua 475). In Theod. § 34 expliziert Leibniz ,sponta- néité‘ als „on ne vous force pas“.
2 In „[N]otre spontanéité soit conjointe avec connaissance et délibération ou choix, ce qui rend nos actions volontaires“ (Grua 480) ist klar ausgesprochen: Nicht schon die Spontaneität (im allgemeinen Sinne), sondern erst die Vernünftigkeit, die Abwägen (délibération) und Wahl ermöglicht, begründet Willentlichkeit. – Phemister (1991) betont: Während Spontaneität und Kontingenz auch bei unfreien Handlungen auftreten, ist Vernünftigkeit bei allen freien Menschen und nur bei ihnen anzutreffen.
9Kontrafaktische Kontingenz
Wir haben die Spontaneität bei Leibniz also doppelt zu verstehen. Im metaphysischen Sinne einer kausalen Geschlossenheit, dass eine substan- tielle Einheit ohne realen Einfluss von außen alles aus dem eigenen Inneren hervorbringt, ist sie absolut und kommt jeder Substanz zu. So gefasst ist sie nach Leibniz nur eine notwendige Voraussetzung der Freiheit. Graduell dif- ferenzieren lässt sie sich in dem ethisch bedeutsamen Sinne der Innen- oder Selbstbestimmung und nähert sich hier der Freiheitsbedingung ‚Vernunftbe- stimmtheit‘ an.3 Vernünftigkeit (intelligence) aber schließt nach Theod. § 288 eine distinkte Erkenntnis des einschlägigen Gegenstands ein, d.h. hier des anzu- strebenden Guts als des Motivs zum Handeln. Distinkt aber ist eine Erkenntnis nach Leibniz, wenn sie in einer Begriffsanalyse ihren Gegenstand aufgrund sei- ner Merkmale zu unterscheiden vermag.4 Diese Vernunftbestimmtheit erlaubt eine graduelle Abstufung gemäß dem Gegensatz, der in der intellektualistisch ausgerichteten Philosophie seit Platon geläufig und besonders von Spinoza5 hervorgehoben worden ist. In Leibniz’ Terminologie von ,distinkt‘ und ,kon- fus‘ ausgedrückt: In dem Maße ist der Mensch selbst- oder innenbestimmt, als er durch Begriffsanalyse zu distinkten Erkenntnissen vorzudringen und so mit der Vernunft die Situation geistig zu bewältigen und zu beherrschen vermag. In dem Maße ist er fremdbestimmt, in dem aufgrund konfuser, gei- stig nicht verarbeiteter sinnlicher Vorstellungen, die sich in Affekten äußern, die Außenwelt über sein Entscheiden und Handeln Macht erlangt.6 In der
3 An der Stelle „In spontaneo tendentia est seu principium agendi, in electione posset interve- nire impedimentum, cum scilicet turbamur in deliberando. Ita qui in passionibus turbentur, dicentur minus liberi esse“ (Grua 487) wird die graduelle Abstufung der Freiheit auf die mit der Spontaneität einhergehenden Überlegungen des Intellekts zurückgeführt. Trotz der aktiven Tendenz in der Spontaneität können wir beim aktuellen Entscheiden und den zu ihm hinführenden Überlegungen gehindert werden, indem in Leidenschaften das Äußere unser Handeln bestimmt. Insofern sind wir fremdbestimmt und daher in minderem Grad frei. – Rutherford (2005) nennt die beiden Formen der Spontaneität: monadic spontaneity and agent spontaneity. Die Monadenspontaneität, dass die Zustände einer Monade allein durch eigene voraufliegende Zustände bedingt sind, reicht nicht, unser Selbstverständnis als willentlich Handelnden zu erklären, dass wir teils ungehindert und spontan unsere Umwelt nach unseren Vorstellungen verändern, teils durch äußere Ursachen gezwungen werden, die erklärbar machen, was wir erleiden. Hierzu müssen wir auch eine Handlungsspontaneität annehmen.
4 Vgl. Meditationes de cognitione, veritate et ideis A VI 4, 586 f. 5 Ethica, pars quarta, prop. 66 schol., prop. 67–73, G 260–265, pars quinta: de potentia intellec-
tus seu de libertate humana, G 277–308. 6 Einer der vielen Textbelege hierfür findet sich gleich im folgenden § 289 der Theodizee: „la
connaissance distincte ou intelligence a lieu dans le véritable usage de la raison, mais les sens nous fournissent des pensées confuses […] nous sommes exempts d’esclavage en tant que nous agissons avec une connaissance distincte, mais […] nous sommes asservis aux passions en tant que nos perceptions sont confuses. C’est dans ce sens que nous n’avons pas toute
10 Liske
Vernunftbestimmtheit erreicht die Spontaneität mithin ihre höchste Aus- prägung, die nicht bei allen Substanzen vorliegt. Hier ist sie die spontaneitas intelligentis, durch die Leibniz die Freiheit definiert (GP VII 108).7
Inwiefern die beiden im Begriff ‚Spontaneität eines vernünftigen Wesens‘ enthaltenen Bestandteile aufeinander aufbauen, wird auch an dem nahezu synonymen Leibniz‘schen Begriff eines spirituellen Automaten (z.B. Theod. § 52 u. § 483) deutlich. Der dem griechischen ατματον (von sich aus tätig) entlehnte Begriff eines Automaten bezeichnet bei Leibniz wie ,Spontaneität‘ ein allge- meines Charakteristikum jeder einfachen Substanz, die gesamte Abfolge ihrer Zustände und Tätigkeiten aus sich hervorzubringen. Worin die Besonderheit eines spirituellen Automaten oder die Spontaneität speziell eines geistbe- gabten Wesens besteht, wird an der Monadenhierarchie in der Monadologie deutlich. Die höchste endliche Monade, die den Geist des Menschen aus- macht, ist nach Mon. §§ 29 f. durch zwei Merkmale gekennzeichnet: Zum einen vermag sie ewige Vernunftwahrheiten zu erfassen, zum anderen hat sie nicht bloß (wie jede Monade) irgendeine Art Vorstellungen (perceptions), sondern hat auch ein reflexives Bewusstsein von sich selbst als dem Subjekt der mentalen Zustände, hat also Apperzeptionen8 oder Vorstellungen, deren sie sich als ihrer Vorstellungen bewusst ist. Diese für die Freiheit wesentliche
la liberté d’esprit qui serait à souhaiter.“ Hier erläutert Leibniz die Freiheitsbedingung der Vernünfigkeit (intelligence) und macht an ihr die bloß relativen Grade unserer Freiheit fest (pas toute la liberté). In welchem Grade unser Entscheiden und Tun Vernünftigkeit aufweist, ist in unsere Verantwortung gestellt, hängt nämlich davon ab, in welchem Maße wir von dem uns gegebenen Vernunftvermögen Gebrauch machen (usage de la raison). Wenn wir dadurch zu wohlunterschiedenen (distinkten) Vorstellungen gelangen und ihnen gemäß handeln, erlangen wir Verfügungsgewalt über die verstandenen Dinge, sind ihnen nicht versklavt, sondern frei. Wenn wir uns dagegen (eher passiv) den Sinneseindrücken hingeben, haben wir nur begrifflich nicht differenzierende, also verworrene (konfuse) Gesamteindrücke. Sie manifestieren sich oft in Leidenschaften (passions), denen wir unterworfen sind (sommes asservis); durch sie erlangen die Dinge Macht über uns, und wir sind unfrei.
7 In diesem Sinne sagt er in einem Gespräch mit Niels Stensen (Steno) über die Freiheit (A VI 4, 1380), bei den Alten sei das Spontane die Gattung für die Freiheit als vernünftige Spontaneität (spontaneitas rationalis) gewesen. Anderswo definiert er Freiheit (wie sie angeblich bereits Aristoteles verstanden hat) als Spontaneität verbunden mit Wahl (sponta- neum cum electione, Confessio philosophi A VI 3, 133, entsprechend Theod. § 34). Diese Wahl geht aus vernünftiger Überlegung hervor. Daher tritt in Causa Dei § 20 neben das Spontane statt der Wahl als Bedingung der Handlung aus freiem Willen, dass sie überlegt (deliberata) ist, d.h. aus einem Abwägen der Gründe durch die Vernunft hervorgeht. Mit ,Wahl‘ zielt Leibniz mithin auch auf die Freiheitsbedingung der Vernünftigkeit. Vernunft setzt auch der hier wohl gemeinte Aristotelische Begriff der προαρεσις voraus, dass ich das eine bewusst vor dem anderen erwähle. Zum Ganzen s.a. Parkinson (1970), 57f.
8 Vgl. etwa Principes de la Nature et de la Grace § 4, GP VI 600.
11Kontrafaktische Kontingenz
Fähigkeit zur Reflexion macht die Eigenart des menschlichen Geistes gegen- über einem Automaten im heutigen Sinne aus. Ein Computer vermag aufgrund der einprogrammierten Algorithmen oft schneller und verlässlicher als jeder menschliche Geist Informationen zu verarbeiten, was man heute als mentale Operationen zu sehen geneigt ist. Er hat aber kein reflexives Bewusstsein, weiß nicht, was er tut. Diese Fähigkeit, innezuhalten, zu den eigenen Operationen kritisch Stellung nehmen und sie gegebenenfalls korrigieren zu können, aber ist (wie sich uns noch zeigen wird) für die Freiheit zentral, um nicht unmit- telbaren Eindrücken zu erliegen und uns von ihnen zu Entscheidungen und Taten hinreißen zu lassen, die wir nicht wahrhaft wollen.9
2 Die voluntaristische Indifferenzfreiheit
Diese Gleichsetzung von Selbstbestimmung und Vernunftbestimmtheit beruht auf der intellektualistischen Grundüberzeugung, die Vernunft sei das eigentli- che Selbst des Menschen. Damit tritt sie in Opposition zum voluntaristischen Konzept vom Menschen und seiner Freiheit. So ist für Duns Scotus der Wille das eigentliche rationale Vermögen. Dieser Begriff geht auf Aristoteles zurück, der in Met. Θ (IX) 2 und 5 den Gegensatz eines naturalen Vermögens, das auf eine Wirkung festgelegt ist, zum rationalen Vermögen entwickelt, das für Gegenteiliges offen ist und insofern die Grundlage der Entscheidungsfreiheit darstellt.10 Nach Duns Scotus ist der Intellekt kein rationales Vermögen in die- sem Sinne. Denn er sei durch das von ihm als Bestes erkannte, also gleichsam
9 Um Leibniz’ Rede von einem spirituellen Automaten richtig zu verstehen, kommt es also nicht so sehr auf den Gesichtspunkt des Automaten oder der Spontaneität an, sondern auf die besondere Weise, wie ein geistbegabtes Wesen seine spontanen Tätigkeiten ausübt. Nach Leibniz ist nämlich die Art, wie ein sich seiner selbst bewusstes geistiges System die Festlegung durch vernünftiges Abwägen der Gründe im Hinblick auf ein Ziel zustande bringt, ganz verschieden von der Art, wie in einem materiellen System die Determination mechanisch durch Kausalgesetze zustande kommt. (Vgl. dazu die in 4.1 besprochenen Stellen aus A VI 4, 1519 (Anm. 18 und 19), in denen Leibniz es als grundsätzlich unmöglich ansieht, dass eine Kreatur aufgrund von Kausalgesetzen eine Willensentscheidung vor- aussagt.) Kant verkürzt daher in KpV 174 die Freiheitskonzeption von Leibniz, wenn er das automaton spirituale im Hinblick auf die Freiheit gleich einem automaton materiale behandelt und so zum Schluss kommt: Leibniz’ Ansatz garantiere nur eine relative (kom- parative) Willensfreiheit gleich der Freiheit eines mechanischen Systems, das aufgezogen seine Bewegungen von selbst verrichtet, wie der eines Bratenwenders.
10 Duns Scotus’ Auffassung findet sich denn auch in den Quaestiones subtilissimae IX q. 15 [6] f. über Aristoteles’ Metaphysik. Zum Gegensatz von Natur und Wille bei Duns Scotus vgl. Hoffmann (1999) und Gonzales-Ayesta (2008).
12 Liske
durch den Zwang der von ihm erkannten Tatsachen auf diese eine Option festgelegt. Damit ist er ein naturales Vermögen, das durch voraufliegende Bedingungen festgelegt und damit in den Determinationszusammenhang der Natur eingebunden ist. Allein der Wille vermöge unabhängig von der Feststellung und Beurteilung der Tatsachen durch den Intellekt in einer Art creatio ex nihilo eine Entscheidung zu setzen. In eben diesem Sinne versteht Duns Scotus ein rationales Vermögen, vorgängig indeterminiert erst im Akt der Entscheidung Bestimmtheit schaffen zu können. Als Rationalist bekämpft Leibniz entschieden die aus dieser Konzeption erwachsene molinistische libertas indifferentiae: Auch wenn alle notwendigen Voraussetzungen (requi- sita) sowohl seitens des Objekts als auch des handelnden Subjekts gegeben seien, sei der Wille noch unentschieden (oder indifferent) angesichts der Sachlage und ihrer intellektuellen Beurteilung, könne sich zum Handeln wie zum Nichthandeln entschließen.11 Ganz zu schweigen, dass Leibniz bei seiner deterministischen Sicht in einer kausal nicht bedingten, absoluten Setzung des Willens einen Verstoß gegen das Prinzip vom zureichenden Grund sehen und sie daher als unmögliche Chimäre verwerfen muss; selbst wenn sie mög- lich wäre, ist eine derartige Willkür gar nicht wünschenswert.12
3 Warum Selbstbestimmung auf Vernunfteinsicht beruht
Auch wenn wir zunächst intuitiv dahin tendieren mögen, Selbstbestimmung voluntaristisch als das Vermögen aufzufassen, etwas unabhängig von der vorgegebenen Sachlage und ihrer Bewertung durch den Intellekt in einem ursprünglichen Willensakt erwählen oder verwerfen zu können, hat das seit Platon bis Leibniz vorherrschende intellektualistische Konzept der Selbstbestimmung als Bestimmtsein durch die Vernunfteinsicht wohl doch die höhere innere Plausibilität. Freiheit qua Selbstbestimmung ist nicht unmit- telbar beobachtbar. Leibniz hat zu Recht gegen Descartes eingewandt, die lebendige innere Empfindung, dass ich mich in meinen Entscheidungen unge- bunden fühle, sei wenig aussagekräftig. Sie könnte schlicht darauf beruhen, dass die determinierenden Momente, von denen ich tatsächlich abhängig bin, meiner inneren Selbstbeobachtung entgangen sind (Theod. § 50). Wenn nicht unmittelbar beobachtbar ist, dass eine bestimmte Art des Handelns selbstbe- stimmt ist, so lässt es sich doch indirekt daraus erschließen, dass bestimmte
11 Vgl. etwa A VI 4, 1380, Z. 1–3. 12 Vgl. etwa NE II c. 21, § 15.
13Kontrafaktische Kontingenz
Reaktionen darauf angemessen sind.13 Wenn eine Entscheidung dem Selbst entsprungen sein soll, statt mir durch äußere Faktoren unbemerkt nahegelegt oder sogar aufgezwungen worden zu sein, dann muss ich sie auch später, wenn ich auf sie reflektiere, als mir gemäß empfinden können, brauche sie also nicht zu bereuen. Eine solche Reue aber stellt sich oft ein, wenn Entscheiden und Handeln impulsiv unter dem unkontrollierten Einfluss unmittelbar wirkender Affekte zustande gekommen sind. Eine Willkürsetzung des Willens unabhän- gig von Abwägungen und Einschätzungen des Verstandes aber dürfte gewisse Ähnlichkeiten damit haben. Derartige Entscheidungen und Handlungen empfinden wir, wenn wir zu einem späteren Zeitpunkt zur Besinnung gekom- men sind und auf sie reflektieren, nicht mehr als unserem wahren Selbst, d.h. unseren innersten Absichten, Überzeugungen und Grundsätzen gemäß und zeigen ihnen gegenüber daher solche Einstellungen wie Reue, Gewissensbisse, Selbstvorwürfe oder Verärgerung über uns selbst. Das ist ein recht sicheres Indiz dafür, dass sie letztlich fremdbestimmt sind, und zwar in einer für uns grundsätzlich vermeidbaren Weise. Hingegen kann ich eine Entscheidung auch später noch bejahen, wenn ich sie als meinen Grundsätzen gemäß betrach- ten kann. Damit aber muss sie der Vernunft als dem Vermögen entspringen, durch das ich solche Grundsätze und Maßstäbe zu erfassen vermag. Da die Vernunft gegenüber den schwankenden Affekten beständig ist, garantiert eine Vernunftentscheidung, dass ich dauerhaft zu ihr stehen kann. Wenn eine Handlung daher nach gründlicher Prüfung der bedeutsamen Gesichtspunkte dafür und dagegen durch die Vernunft zustande gekommen ist, dann zeige ich bei einer späteren Begutachtung keinerlei innere Ablehnung meiner Entscheidung und der aus ihr erwachsenen Handlung, ich kann zufrieden oder sogar stolz bejahen, mich zu dieser Handlung entschieden zu haben. Selbst wenn ich später anders entschiede, nachdem ich zu Informationen gelangt bin, die ich zum Zeitpunkt der Entscheidung noch nicht haben konnte, brau- che ich mir zumindest keine Vorwürfe zu machen. Dies alles sind Anzeichen für ein selbstbestimmtes Handeln.
13 Etwas Entsprechendes gilt für die Freiheit voraussetzende Verantwortung, mit einem Unterschied. Da Freiheit in der inneren Struktur vor allem des Entscheidungsprozesses begründet liegt, machen wir sie daran fest, ob bestimmte innere Einstellungen wie Reue der eigenen Entscheidung gegenüber angemessen sind. Verantwortung demgegenüber ist wesentlich dialogisch: sich jemandem gegenüber verantworten. Dass ich eine Handlung zu verantworten habe, zeigt sich daher daran, ob ein außenstehender Beobachter ihr gegenüber angemessen solche Haltungen wie Entrüstung, Groll, Hochachtung, Dankbarkeit zeigen kann.
14 Liske
4 Kontrafaktische Kontingenz als Voraussetzung der Freiheit
Unsere bisherige Untersuchung hat ergeben: Freiheit ist bei einer intel- lektualistischen Konzeption wie der Leibnizens wesentlich in der inneren Entscheidungsstruktur gegründet: Unterlag die Entscheidung einer ratio- nalen Kontrolle? Hat die Vernunft der Entscheidung erst dann zugestimmt, nachdem sie die Gründe für und gegen ein bestimmtes Handeln ausreichend abgewogen hat, oder hat sich der Handelnde unbedacht von seinen Affekten zu einer bestimmten Entscheidung hinreißen lassen? Diese Fragen sind offen- bar weitgehend neutral gegenüber dem Gegensatz von Determinismus und Indeterminismus: Entspringt ein solcher Entscheidungsprozess kausalen Vorbedingungen oder vermag er kausal unbedingt etwas zu setzen?14 Dies bedeutet aber nicht, dass die Kontingenz irrelevant ist als Voraussetzung, um überhaupt sinnvoll von Freiheit reden zu können. Dies ergibt sich dar- aus: Grundlage dafür, einem Menschen seine Entscheidungen und die daraus resultierenden Handlungen zurechnen und ihn dafür verantwortlich machen zu können, ist offenbar die Freiheit. Eine Verantwortung schreiben wir dem Subjekt nur insofern zu, als es frei war, sich auch anders zu entscheiden, wenn ihm also nicht von vornherein durch einen äußeren oder psychischen Zwang keine andere als diese Entscheidung möglich war. Eben weil es auch anders hätte entscheiden können, muss es sich dafür verantworten, so und nicht anders entschieden zu haben. Freiheit schließt (jedenfalls nach intel- lektualistischer Überzeugung) ein: Der Mensch war in der Lage, Gründe für verschiedene Optionen gegeneinander abzuwägen, und hat die Gründe für die Option, für die er sich schließlich entschieden hat, als die stärksten und seinen Grundsätzen am ehesten entsprechenden betrachtet. Freiheit beruht wesent- lich darauf, dass das handelnde Subjekt aufgrund seiner eigenen mentalen oder psychischen Situation und bei der äußeren Sachlage, so wie sie sich ihm
14 In diesem Sinne betont auch Vihvelin (2013), bes. 169 f., 188–190: Die Fähigkeit, sich auf der Grundlage von Vernunftgründen zu entscheiden, in der viele die notwendige und hinreichende Bedingung der sittlichen Verantwortung und damit Freiheit sehen und die ihrerseits ein Bündel intrinsischer, d.h. auf inneren Eigenschaften beruhender Dispositionen (sowie angemessener Umweltbedingungen, diese Dispositionen zu mani- festieren) darstellt, könne sowohl als mit dem Determinismus kompatibel als auch mit ihm unvereinbar betrachtet werden. – In der Forschung besteht eine gewisse Tendenz zu einem neutralen Kompatibilismus. So betonen Fischer/Ravizza (1998), 253 f.: Unser Status als sittlich verantwortlicher Handelnder kann als gesichert gelten, gleich ob die Wissenschaftler dereinst empirisch nachweisen, dass der kausale Determinismus wahr ist, oder ob ein Indeterminismus von einer Art, die keine zu weit gehende Zufälligkeit auf makroskopischer Ebene zulässt, endgültig bestätigt wird.
15Kontrafaktische Kontingenz
zum Zeitpunkt der Handlung darstellte, sinnvoll zwischen Alternativen und den Gründen für sie abzuwägen vermochte.15
4.1 Auch bei einem bloß kontrafaktischen Andersseinkönnen lassen sich in einem Entscheidungsprozess sinnvoll Gründe abwägen.
Damit läuft alles auf die Fragen hinaus: In welchem Sinne muss es möglich sein, dass das Weltgeschehen anders verläuft, damit ein Abwägen sinnvoll ist? In welchem Sinne muss sich ein Mensch anders entscheiden können? Kausal ist es für Leibniz nicht möglich, dass irgendetwas anders verläuft, und so auch nicht, dass sich ein Mensch anders entscheidet. Da für ihn in einem weltum- spannenden Bedingungsnetz alles mit allem zusammenhängt, innerhalb des wirklichen Weltgefüges mithin nicht das kleinste Detail geändert werden kann, ohne dass alles andere angepasst werden müsste, folglich bereits nicht mehr dieser Weltverlauf vorläge, sondern eine andere mögliche Welt, ist Kontingenz im Sinne eines realen Andersseinkönnens (innerhalb der wirklichen Welt) nicht gegeben. Bei der gegebenen Ereigniskonstellation des wirklichen Weltverlaufs und den ihn bestimmenden Gesetzen war es nicht möglich, dass irgendein Moment und so auch eine menschliche Entscheidung anders ein- trat, als es tatsächlich geschah. Vorausgesetzt, die wirkliche Welt soll bestehen, innerhalb deren alles kraft der wahrhaft universellen, ausnahmslos geltenden, also notwendigen Naturgesetze miteinander verknüpft ist, so ist alles innerhalb ihrer notwendig (im Sinne einer hypothetischen Notwendigkeit); kontingent ist es nur insofern, als ein anderer Weltverlauf hätte wirklich werden können.
Es macht aber einen Entscheidungsprozess, in dem Gründe für alternative Vorgehensweisen gegeneinander gewichtet werden, nicht von vornherein sinnlos, wenn realiter gar keine Alternativen bestanden haben. Nur darf dem Subjekt die reale Festlegung auf einen einzigen Geschehensablauf nicht bekannt sein. Zwecklos wäre ein Abwägen nur bei den von Leibniz scharf ver- worfenen Annahmen eines Fatalismus: Für diesen ist ein Ergebnis sozusagen isoliert für sich immer schon festgelegt, d.h. ganz gleich, was ein Mensch ent- scheidet oder unternimmt, es herbeizuführen oder zu verhindern.16 Für den
15 In der heutigen Diskussion besteht ein Ansatz darin, die Freiheit in inneren Fähigkeiten (abilities) oder Dispositionen, anders zu handeln, zu begründen. Kittle (2015) glaubt, die Fähigkeit, anders zu handeln, verschieden von der Dispositionserklärung des freien Willens durch Vihvelin (2013) sehen zu müssen.
16 Den Fatalismus bringt Leibniz auch mit der Schicksalsgläubigkeit der Mohammedaner zusammen (fatum Mahometanum) oder bezeichnet ihn als Trugschluss der faulen Vernunft (la raison paresseuse, λγος ργς). Denn wenn es keine Möglichkeit gibt, den Geschehensverlauf zu beeinflussen, ist jedes Nachdenken müßig. Vgl. dazu A VI 1, 538– 542; Confessio philosophi A VI 3, 129; Theodizee § 55; Causa Dei § 45, §§ 106 f.
16 Liske
von Leibniz vertretenen Determinismus ist das Ergebnis hingegen nur insofern festgelegt, als auch der Weg dahin festgelegt ist, die Festlegung also aus einem Determinationsgeschehen erwächst, in dem alle Momente durchgängig mit- einander vernetzt sind. Innerhalb eines solchen Determinationsgeschehens aber treten nicht bloß physische, kausale Prozesse auf, sondern auch psychi- sche, mentale – für Leibniz ohnehin die eigentliche Wirklichkeit. Ein wichtiges Moment, das zu einem Entschluss eines Menschen und der anschließenden Ausführung hinführt, sie in dieser bestimmten Form festlegt, ist gerade der Prozess der Entscheidung, also ein Abwägen der Gründe. Alles läuft daher auf die Frage hinaus: Kann jemand sinnvoll Gründe für und gegen ein bestimmtes Tun gegeneinander abwägen, obgleich das Resultat von der Sache her immer schon festgelegt ist? Leibniz bejaht dies. Aufschlussreich ist hier eine Stelle im Discours de métaphysique § 30 (A VI 4, bes. 1575, Z. 16–1576, Z. 13). Hier weist Leibniz die Klage einer Seele darüber zurück, für ihre Sünde verurteilt zu werden, obgleich sie doch immer schon von Gott zu diesem Verhalten determi- niert sei.17 In der Antwort lassen sich folgende Gesichtspunkte unterscheiden: 1.) Von der Sache her sind beide Verhaltensalternativen möglich (l’un et l’autre part étant et demeurant possible). Wenn sie sich so entscheidet, tritt daher die eine Option ein, wenn sie sich anders entscheidet, die andere. Abwägen ist also sinnvoll, weil sie davon ausgehen kann: Durch die Art, wie sie sich entschei- det und daraufhin handelt, trägt sie wesentlich dazu bei, dass das tatsächliche Ergebnis zustande kommt. 2.) Subjektiv aber besaß die Seele das Vermögen, sich für das eine oder das andere zu entscheiden oder die endgültige Entscheidung und anschließende Handlung vorerst zu suspendieren. Diese psychologische Technik ist von zentraler Bedeutung, um nicht dem Überraschungseffekt der unmittelbaren Eindrücke zu erliegen (les surprises des apparences). Um sich gegen diese trügerischen Erscheinungen zu wappnen, kann man den festen Vorsatz (ferme volonté) fassen, sich erst dann zu entscheiden, wenn man Pro und Contra reiflich überlegt hat (murement délibéré), wenn man die verschie- denen Handlungsoptionen bedacht und die Motive, aus denen man so handeln würde, reflektiert hat (faire des réflexions). Wenn der Mensch von diesen ihm zu Gebote stehenden mentalen Möglichkeiten keinen Gebrauch macht, ist dies seine Schuld. 3.) Es ist auch deshalb sinnvoll, alternative Optionen und die Gründe dafür und dagegen abzuwägen, weil das immer schon festste- hende Resultat, dass sich dieser Mensch zur Sünde entscheidet, ihm selbst nicht vorhersehbar ist. – Dass der Mensch künftige Willensentscheidungen und deren Ergebnisse nicht vorhersagen kann, beruht für Leibniz sogar auf
17 Zur Vereinbarkeit von Entscheidungsfreiheit und Vorhersehbarkeit durch Gott vgl. Taver (2006), 156.
17Kontrafaktische Kontingenz
einem grundsätzlichen Unterschied der Willensentscheidung zum körperlich- physischen Naturgeschehen, das von subalternen Naturgesetzen in Gestalt wirkursächlicher Gesetzmäßigkeiten bestimmt ist. Der Wille vermag sich dagegen im Hinblick auf Zwecke oder Finalursachen dem Einfluss der Kausalgesetze der Natur zu entziehen und sich spontan selbst zu bestimmen.18 Daher lassen sich keine subalternen psychologischen Gesetze aufstellen, die unter dem Vorbehalt allgemeingültig sind, dass sie nicht durch ein Wunder von Gott außer Kraft gesetzt werden, und die daher einer Kreatur mit höhe- ren geistigen Kapazitäten wie einem Engel die Entscheidung eines Geistes voraussagbar machten, so wie diese ein Naturgeschehen beim regelmäßigen Naturverlauf vorhersehen kann.19 Dass Leibniz im Unterschied zu heuti- gen Kompatibilisten keine Naturgesetze für psychische Vorgänge wie die Entscheidung annimmt, heißt natürlich nicht, dass diese der Determination entzogen wären. Anderswo betont er, es gebe unter den Gedanken nicht
18 At vero Substantiae Liberae sive intelligentes majus aliquid habent […], ut nullis cer- tis Legibus universi subalternis alligentur, sed quasi privato quodam miraculo est sola propriae potentiae sponte agant et finalis cujusdam causae intuitu efficientium in suam voluntatem causarum nexum atque cursum interrumpant.“ (A VI 4, 1519)
19 „Itaque adeo verum est, ut nulla creatura sit καρδιογνστης quae certo praedicere pos- sit, quid Mens aliqua secundum naturae leges sit electura, quemadmodum alias praedici potest saltem ab angelo quid acturum sit aliquod corpus, si naturae cursus non inter- rumpatur.“ (A VI 4, 1519) Murray (1995), bes. 97–100 folgert aus der u.a. in diesem Text vollzogenen Unterscheidung zwischen den untergeordneten physikalischen Gesetzen für die regelmäßigen Naturereignisse und den wahrhaft allgemeinen Gesetzen, kraft deren Gott alles vorauszusagen vermag, dass Leibniz kein Kompatibilist im heutigen Sinne ist, der einen kausalen Determinismus zugrundelegt; Murray (2005) begründet die von ihm behaupteten inkompatibilistischen Sympathien Leibnizens mit seinem theologi- schen Anliegen. Damit Gott nicht als Urheber für die Sünde verantwortlich ist, müsse die moralische Notwendigkeit von einem psychologischen Determinismus scharf getrennt werden. Die (im Erfassen des Guten liegenden) praktischen Vernunftgründe legen unse- ren Akt zweckursächlich fest. Damit ist der freie Entscheidungsakt gerade nicht durch vorgängige psychische Bedingungen kausal in einer Art physischer Notwendigkeit determiniert. In seiner Konzeption der moralischen Notwendigkeit der Zweckursache nähere Leibniz sich dem libertarischen Ansatz der Jesuiten. Auch Adams (2005) stellt, ohne freilich inkompatibilistische Konsequenzen zu ziehen, der mit Freiheit verein- baren moralischen Notwendigkeit, mit der wir nach Leibniz aus werthaften Gründen die Entscheidung ableiten, die blinde Notwendigkeit entgegen, sei es die (logisch-) metaphysische Notwendigkeit, bei der eine Alternative durch einen Widerspruch grund- sätzlich ausgeschlossen ist, sei es die physische Notwendigkeit eines wertfrei wirkenden Determinationsmechanismus der Natur. Begby (2005), bes. 89 f. besteht jedoch dar- auf: Es widerspreche Leibniz’ Philosophie, aus der Nichtvorhersagbarkeit einer freien Entscheidung oder Handlung durch andere Geschöpfe zu schließen, die (kausale) Determination werde durchbrochen.
18 Liske
weniger determinierende Verknüpfungen wie bei den Bewegungen,20 nur las- sen diese sich nicht in Gestalt von Kausalgesetzen verallgemeinern.
Realiter im wirklichen Ereignisablauf darf also feststehen, wie ich mich entscheide und wie daher das Geschehen verläuft. Freilich muss ich davon ausgehen können, dass es grundsätzlich anders hätte verlaufen können. Ohne ein solches kontrafaktisches Andersseinkönnen wäre ein Abwägen in der Tat leerlaufend, weil ich dann nicht davon ausgehe, dass das Geschehen so oder anders verläuft, je nachdem für welche Alternative ich mich entscheide.21 Oder in Bezug auf die heutige Diskussion betrachtet: Hier spricht man im Anschluss an G. E. Moore (1912), ch. 6 von einer Konditionalanalyse des Andershandelnkönnens. ,Ich kann anders handeln‘ bedeutet soviel wie ,Wenn ich mich aus guten Gründen dazu entschiede anders zu handeln, dann han- delte ich anders‘. Diese Analyse liegt, wie wir gesehen haben, der Sache nach bereits bei Leibniz vor. Sie setzt voraus, dass ich unter irrealen Bedingungen oder kontrafaktisch anders handelte. Mithin müssen andere Weltverläufe möglich sein.22
4.2 Ist die gleichzeitige Möglichkeit zum Gegenteil erforderlich, um Freiheit zu garantieren?
Ja, man könnte sogar argumentieren, dass ein kontrafaktisches Anderssein- können oder die irreale Möglichkeit zum Gegenteil nicht bloß hinreichend ist, Freiheit und Verantwortung zu begründen, sondern sogar eine notwendige Bedingung ist. Denn das Wirkliche steht irreversibel fest, sofern es faktisch gegeben, d.h. in Vergangenheit oder Gegenwart bereits vorliegt. In diesem Sinne aber ist es notwendig. Diese Einsicht war den mittelalterlichen Philo- sophen durchaus bewusst. Immer wieder hat man Aristoteles’ berühmtes Diktum aus int. 9 zitiert: „Dass das Seiende (der Fall) ist, wenn es ist, und dass
20 „[I]l n’ y a pas moins de connexion ou de détermination dans les pensées que dans les mouvements.“ (NE II 21, § 13, A VI 6, 178)
21 Ähnlich betont Leibniz in Causa Dei § 20: Damit neben der Spontaneität auch die Freiheitsbedingung der Vernünftigkeit gesichert ist, die sich im Überlegen oder Abwägen manifestiert (Libertas […] consistit in eo, ut Actio Voluntaria sit spontanea ac deliberata), muss die absolute logisch-metaphysische Notwendigkeit, deren Gegenteil unmöglich ist, ausgeschlossen sein, weil diese ein Überlegen vereitelte (excludat necessitatem quae deliberationem tollit). Kontingenz im Sinne eines grundsätzlichen oder kontrafaktischen Andersseinkönnens ist also die Bedingung, sinnvoll überlegen und Gründe abwägen zu können.
22 Vihvelin (2013), bes. 18 f. bezeichnet eine solche Position, die das Vermögen anders zu han- deln, als mit dem Determinismus vereinbar ansieht, als metaphysischen Kompatibilismus. Der (rein) moralische Kompatibilist betrachtet den Determinismus als vereinbar mit der sittlichen Verantwortung, ohne diese vom Andershandelnkönnen abhängig zu machen.
19Kontrafaktische Kontingenz
das Nichtseiende nicht (der Fall) ist, wenn es nicht ist, ist notwendig.“ (19a23 f.) Offen für menschliche Gestaltung ist nur die Zukunft. Damit aber scheint das für die Freiheit konstitutive Andershandelnkönnen gar nicht gewährlei- stet, wenn wir uns auf die Wirklichkeit beschränken. Denn mein Entscheiden und Handeln muss sich in der Gegenwart als der einzigen mir wirklich gege- benen Zeit vollziehen; das Vergangene ist nicht mehr, das Künftige aber ist noch nicht. Damit ich frei handle, muss ich offenkundig frei sein, die Hand- lung, die ich jetzt vollbringe, in diesem Augenblick auch nicht zu tun. Wenn die Handlung aber bereits wirklich geschieht, wie kann ich dann diese Hand- lung zu demselben Zeitpunkt auch nicht vollbringen? Denn das Geschehene kann nach Aristoteles’ Grundsatz nicht ungeschehen gemacht werden. Wenn es frei sein soll, dass ich jetzt sitze, muss offenbar die Möglichkeit für mich gegeben sein, jetzt auch zu stehen. Angenommen ein Sitzen impliziere ein Nichtstehen und umgekehrt,23 dann kann diese Möglichkeit zu stehen nicht real sein oder sich auf den wirklichen Weltverlauf beziehen, da ein Wider- spruch unmöglich ist. Sie muss also kontrafaktisch sein: Bei einem anderen Ereignisverlauf hätte ich stehen können. Bereits in der mittelalterlichen Scho- lastik entbrannte zwischen Duns Scotus und Wilhelm von Ockham ein Streit, ob zur Erklärung der Freiheit kontrafaktische Möglichkeiten angenommen werden müssen. Duns Scotus glaubte aufgrund solcher Überlegungen, wie wir sie gerade entwickelt haben, Freiheit (die er voluntaristisch und indetermini- stisch verstand) sei nur bei einer gleichzeitigen Möglichkeit zu Gegenteiligem gewährleistet. Diese Möglichkeit kann sich bei Gefahr eines Widerspruchs nicht auf den wirklichen Ereignisverlauf beziehen, setzt also bloß mögliche, niemals wirkliche alternative Weltverläufe voraus, eben mögliche Welten, wie sie schon vor Leibniz in der Tradition von Duns Scotus bei Barockscholastikern erörtert wurden.24 Kurz nach Duns Scotus hat Wilhelm von Ockham jedoch
23 Wenn wir Sitzen dadurch definieren, dass der größere Teil des Gewichts auf dem Gesäß ruht und Stehen dadurch, dass der Hauptteil des Gewichts auf den Füßen ruht, dann kann jemand nicht gleichzeitig sitzen und stehen.
24 Duns Scotus selbst hat dabei weniger kontrafaktische Möglichkeiten im universalen Rahmen möglicher Weltverläufe bedacht, sondern stellte die Entscheidungsfreiheit des individuellen Willens in den Vordergrund. Diese verlangt, dass der Wille an den Akt, den er in einem bestimmten Augenblick hervorbringt, nicht gebunden ist. Die Möglichkeit, zu diesem Zeitpunkt auch den gegenteiligen Akt zu setzen, begreift Scotus sogar als reale Möglichkeit, weil der Wille seinen Akten vorausliegt, natürlich nicht zeitlich, sondern in einem logisch-ontologischen Voraussetzungsverhältnis (instantia naturae). Vgl. etwa Lectura I d. 39, n. 49–51, 60. Auch Opus oxoniense II d. 18, n. 17 ist die Existenzweise der Kreatur durch Kontingenz ausgezeichnet, dass gleichzeitig zum faktischen Existieren auch das Gegenteil der Fall sein könnte, dass das Geschöpf dann nicht existiert. Auch hier ist die kontrafaktische Möglichkeit nicht auf bloß mögliche Weltverläufe bezogen,
20 Liske
solche kontrafaktischen Möglichkeiten verworfen. Bei seiner nominalistischen Grundeinstellung beargwöhnte er es im Sinne des ontologischen Sparsam- keitsprinzips, solche abstrakten Entitäten wie nie wirkliche Möglichkeiten anzunehmen, wenn sie unnötig (praeter necessitatem) sind, d.h., wenn sie nicht zur Erklärung unabdingbar sind. Zur Erklärung der Freiheit aber muss keine gleichzeitige Möglichkeit zu Gegenteiligem angenommen werden, die zwingend kontrafaktisch ist. Damit ich frei bin, ist es nicht nötig, dass mir im Moment der Handlung das Gegenteilige möglich ist; es reicht, wenn ich dies im nächsten Moment zu tun vermag, ohne dass mich eine Änderung in der Situation zu einem solchen anderen Tun motivieren müsste.25
4.3 Kann Leibniz eine Identität über mögliche Welten anerkennen, die offenbar erforderlich ist, damit Andershandelnkönnen in einer anderen Welt für die Freiheit bedeutsam ist?
Ein zentrales Problem von Leibniz’ deterministischer Konzeption ist freilich: Wenn es real unmöglich und nur kontrafaktisch möglich ist, dass ich anders handle, ist diese Möglichkeit für meine Freiheit überhaupt von Bedeutung? Nach Leibniz’ Theorie des vollständigen Individualbegriffs (Discours de métaphysique §§ 8 u. 13), in den jede Eigenschaft dieses Individuums ein- geht, handelte es sich bereits nicht mehr um dieses Individuum, wäre auch nur eine einzige, noch so unbedeutend erscheinende Eigenschaft anders. Weil alle Eigenschaften sich wechselseitig bedingen, müssten nämlich alle anderen Eigenschaften angepasst werden. Wenn aber nur mein Gegenstück (counterpart) in einer anderen möglichen Welt [im Sinne von Lewis (1973) und (1986)] anders handelte, was für eine Bedeutung hätte das für meine Freiheit? Offenkundig muss es möglich sein, dass ich selbst bei einem ande- ren Weltverlauf anders handelte.26 Also muss es eine Identität über mögliche
sondern den kontingenten Willensentschluss Gottes, der sich nicht hätte zu entscheiden brauchen, der Kreatur zu diesem Zeitpunkt Existenz zu verleihen. Vgl. Liske (2003a), bes. 352–355. Weiterhin ist zu beachten: Scotus geht es weniger um willentlich verursachte äußere Handlungen (actus imperatus) (wie es unser Beispiel nahelegen könnte und wie sie Ockham in seiner Auseinandersetzung zugrunde legt), sondern um das Hervorbringen des Willensaktes selbst (actus elicitus).
25 Wilhelm von Ockham, Tractatus de praedestinatione et de praescientia Dei respectu futurorum contingentium, OP II 507–539, v.a. q. 3, 532 f. Vgl. Liske (2003b).
26 Borst (1992), 56 glaubt, Lewis’ Counterpart-Theorie liefere aufgrund dessen, was eines meiner Gegenstücke in einer anderen Welt tut, die Bedingungen, unter denen es wahr ist, im wörtlichen Sinne zu sagen, ich selbst hätte anders handeln können. Auch wenn Lewis dies beansprucht, lässt sich diese Forderung m.E. durch keinerlei Gründe plausibel machen. Denn wenn Lewis in seinem Realismus bezüglich möglicher Welten annimmt, die anderen Welten seien genauso real wie die, die wir von unserem Standpunkt als
21Kontrafaktische Kontingenz
Welten hin geben. Halten wir uns an das von Leibniz ausdrücklich Gesagte, kann es schwerlich eine solche transworld identity geben. Ist doch für ihn die Äquivalenz der Indiszernibilität, d.h. der begrifflichen Ununterscheidbarkeit oder Übereinstimmung in allen Eigenschaften und der Identität bedeutsam.27 Können wir Leibniz, ohne von seinen Grundüberzeugungen abzuweichen, in seinem Sinne so weiterdenken, dass das Andershandelnkönnen bei einem anderen Weltverlauf für die Freiheit des Individuums selbst konstitutiv ist?
Eine Identität über mögliche Welten hin im strengen Sinne ist durch den Ursprung garantiert, dass die Weltgeschichte bezüglich eines Individuums bis zu einem bestimmten Punkt wie die wirkliche verläuft und sich dann verzweigt.28 Das ist bei Leibniz durch die Forderung ausgeschlossen, alles hänge mit allem zusammen. Wenn ein Individuum künftig anders handelt, hat dies seine Wurzeln in der Vergangenheit dieser Person. Ohne die These einer weltumspannenden Verknüpfung aber kann es keinen Determinismus geben. Leibniz’ Freiheitskonzeption kann wohl nicht dadurch gerettet werden, dass wir die Annahme des vollständigen Individualbegriffs als peripher aufgeben. Dann wäre es bereits nicht mehr seine Philosophie. Wir müssten vielmehr annehmen, eine etwas schwächere Relation als die Identität stricto sensu sei stark genug zu garantieren, dass das Tun einer Person in einer anderen Welt für meine Fähigkeit der Entscheidungsfreiheit bedeutsam ist. Nun kennt Leibniz im Discours neben der Individuation durch den vollständigen Begriff auch eine Natur der Dinge (nature des choses, § 7).29 Wichtig ist der Unterschied des Wesens (essence) zur Natur im § 16. Das Wesen, das geradezu mit dem Individualbegriff gleichgesetzt wird, umfasst alles, was wir nur irgendwie aus- drücken, mithin unendlich vieles, nämlich das gesamte Universum. Damit übersteigt es unser distinktes Fassungsvermögen. Das Natürliche (naturel) oder die Natur können wir dagegen erfassen. Nicht so sehr spiegeln wir nämlich kraft der weit gefassten Natur das gesamte Universum konfus, vielmehr gehört das, was unsere Natur vollkommener (in einem höheren Grade klar und distinkt) ausdrückt, ihr in besonderer Weise zu, macht ihr besonderes Vermögen aus.30
wirklich bezeichnen, dann sind die möglichen Welten eigenständig, also voneinander (relativ) unabhängig. Damit ist auch ein Ereignis einer Welt weitgehend eigenständig gegenüber dem parallelen Ereignis einer anderen Welt. Wie soll dann das Handeln eines Gegenstücks in einer anderen möglichen Welt für mein Handeln bedeutsam sein?
27 Vgl. etwa A VI 4, 1645. 28 Kripke (1980), 110–115 betont die Notwendigkeit des Ursprungs. Bei einem verschiedenen
Ursprung könnte es sich also nicht um dasselbe Individuum handeln. 29 Auf diesen Punkt hat mich Professor Buchheim aufmerksam gemacht. 30 „Mais comme ce que notre nature exprime plus parfaitement lui appartient d’une manière
particulière, puisque c’est en cela que sa puissance consiste, et qu’ elle est limitée […].“ (Discours § 16) Auch im Kontext seiner Auseinandersetzung mit Bayle um das système
22 Liske
Diese endliche individuelle Natur in ihrem begrenzten besonderen Vermögen könnte über verschiedene Welten hin erhalten bleiben. Im praktisch bedeutsa- men Sinne macht wohl diese begrenzte Natur eher unsere Individualität aus als der allumfassende vollständige Individualbegriff. Denn für das Handeln ist die uns besonders prägende begrenzte Natur oder der Charakter, den wir (sofern er endlich ist) reflektierend erfassen und damit verbessern können, wichtiger als der allumfassende metaphysische Individualbegriff. Da nichts im Wege steht, dass diese Natur über mögliche Welten hin erhalten bleibt und damit auch die Individualität im ethisch bedeutsamen Sinne, ist das Andershandeln der Person mit der gleichen individuellen Natur für mein Andershandelnkönnen doch wohl maßgeblich.
4.3.1 Die Aussagen über die individuelle Natur als zwischen weltgebundenen kontingenten und universalen notwendigen Wahrheiten stehend
Wegen der Wichtigkeit wollen wir diese Frage vertieft im Kontext der Leibniz’schen Philosophie betrachten. Die Konzeption des vollständigen oder vollkommenen Individualbegriffs ist auch deshalb so unlösbar mit Leibniz’ Philosophie verknüpft, weil sie mit einer anderen zentralen Lehre verbun- den ist, seiner Definition der Wahrheit durch Enthaltensein des Prädikats im Subjekt,31 die für jeden Typus einer wahren affirmativen Aussage gilt, ob not- wendig oder kontingent, universell oder singulär. Weil demnach der Begriff des Prädikats im Begriff des Subjekts eingeschlossen ist, lässt sich grundsätz- lich jede wahre Aussage a priori durch Analyse ihrer Begriffe in ihre Werte oder die in ihr enthaltenen Termini beweisen. Dies setzt freilich eine vollkommene Kenntnis der Begriffe voraus, wie sie allein Gott besitzt.32 Begriffsanalytische
nouveau unterscheidet er zwischen dem im strikten Sinne notwendigen, unveränder- lichen Wesen und dem Natürlichen als dem der Natur der Sache bloß Angemessenen, wo also Variationsspielraum besteht. „Ce qui est naturel, est convenable à la nature de la chose, mais ce qui est nécessaire, est essentiel et ne saurait être changé.“ (GP IV, 592)
31 So stellt Leibniz in einer Abhandlung über logisch-metaphysische Prinzipien heraus: Der vollständige Begriff einer Einzelsubstanz enthält alle ihre Prädikate: vergangene, gegen- wärtige und zukünftige. Weil es (für ihn) jetzt schon wahr ist, dass ein künftiges Prädikat künftig gelten wird, muss es gemäß der begriffsanalytischen Wahrheitsdefinition im Individualbegriff des Subjekts enthalten sein. „Utique enim praedicatum futurum esse futurum jam nunc verum est, itaque in rei notione continetur.“ (A VI 4, 1646)
32 So beginnt eine Abhandlung über die Natur der Wahrheit, Kontingenz etc.: „Verum est affirmatum, cujus praedicatum inest subjecto. Itaque in omni Propositione vera affir- mativa, necessaria vel contingente, universali vel singulari Notio praedicati aliquo modo continetur in notione subjecti, ita ut qui perfecte intelligeret notionem utramque, quemadmodum eam intelligit Deus, is eo ipso perspiceret praedicum subjecto inesse.“
23Kontrafaktische Kontingenz
Wahrheitsdefinition und vollständiger Individualbegriff implizieren offenbar gleichermaßen einen Nezessitarismus, der ein Andershandeln ausschließt. Wenn jede Wahrheit durch Enthaltensein des Prädikats im Subjekt definiert ist, ist dann nicht jede Aussage analytisch im Sinne Kants, also notwendig? Wenn alle Eigenschaften eines Individuums, nicht nur die absoluten, einem Individuum für sich genommen zukommenden, sondern auch die relatio- nalen, also die Beziehungen eines Individuums zu anderen Individuen (des jeweiligen Weltverlaufs),33 in seinem Begriff enthalten sind, dann ist es unaus- weichlich weltgebunden.34 Das individuelle Subjekt selbst kann offenbar nicht anders handeln, als es tatsächlich gehandelt hat.
Diese Schwierigkeit ergibt sich keineswegs bloß (wie es hiernach scheinen mag) aus spezifisch Leibniz‘schen Annahmen, sondern ist von systemati- scher Bedeutung, da sie jede eigentliche Form eines Determinismus angeht. Wenn das Weltgeschehen einschließlich des menschlichen Handelns nicht nur weitgehend in seinen Grundzügen, sondern bis in jede Einzelheit hinein kausal durch Voraufliegendes bedingt ist, dann muss das Geschehen bezüglich eines Individuums mit dem bezüglich jedes anderen ursächlich zusammen- hängen. Sonst könnten zwei untereinander nicht kausal zusammenhängende Ereignisverläufe zusammenstoßen. Dies wäre Zufall. Damit ist in jedem noch so unbedeutend erscheinenden Zustand eines Individuums jeder andere Zustand des durchgängig verknüpften Universums irgendwie eingeschlossen.
(A VI 4, 1515) Ähnlich Generales Inquisitiones (GI) § 132: „Omnis propositio vera probari potest; cum enim praedicatum insit subjecto […] seu notio praedicati in notione subjecti perfecte intellecta involvatur, utique resolutione terminorum in suos valores seu eos ter- minos quos continent oportet veritatem ostendi.“
33 Um das Prinzip „Praedicatum inest subjecto“ durchgängig anwenden zu können, versucht Leibniz relationale Ausdrücke auf absolute zurückzuführen. Vgl. etwa A VI 4, 114 f.
34 Adams (1994), 71–74 zeigt im Anschluss an Mates: Die Theorie der Wahrheit als begriff- liches Enthaltensein verlangt nicht, eine kontrafaktische Identität über verschiedene Welten hin zu bestreiten, wenn man weltindizierte Eigenschaften einführt. Dann kann z.B. Arnaulds Individualbegriff sowohl enthalten, in einer bestimmten Welt zeit- weilig verheiratet zu sein, als auch in der wirklichen als der bestmöglichen dauernd ehelos zu leben. Diese Konzeption weltindizierter Eigenschaften ist aber nur bei einem Individualbegriff sinnvoll, der (relativ) unabhängig nebeneinanderstehende Prädikate in sich einschließt. Leibniz führt den Individualbegriff aber gerade wegen seiner determi- nistischen Grundüberzeugung ein, alles bedinge sich wechselseitig. Wenn jede einzelne Bestimmung eines Individuums nicht nur mit der gesamten Lebensgeschichte dieses Individuums zusammenhängt, sondern auch in Bedingungszusammenhängen zu allen kompossiblen Individuen derselben Welt steht, dann ist dieses Individuum, aber auch jede Wahrheit über es unausweichlich weltgebunden [zur Weltgebundenheit auch kon- tingenter Wahrheiten vgl. Liske (1993), 171–180]. Weltindizierte Prädikationen werden damit hinfällig. Erst recht widerspricht es Leibniz’ Grundanliegen, durch Weltindizierung eine Identität über mögliche Welten hin zu garantieren.
24 Liske
Das Individuum ist also weltgebunden. Sowie es anders handelte, müsste alles andere im weltumspannenden Kausalnetz angepasst werden. Es wäre bereits ein anderer Weltverlauf und ein anderes Individuum.
Das Problem, dass Kontingenz und damit Freiheit vereitelt scheint, wenn jedes wahre Prädikat durch Analyse als im Subjektbegriff enthalten erwiesen werden kann, versucht Leibniz dadurch zu lösen, dass er mit den mathema- tischen Mitteln des von ihm entdeckten Infinitesimalkalküls zwei Formen der Analyse und damit des Enthaltenseins bei notwendigen und kontingen- ten Prädikaten unterscheidet. Diese Unterscheidung lässt (indem wir Leibniz weiterdenken) noch einen dritten, mittleren Typus eines Prädikats zu: die Prädikate, die die individuelle Natur charakterisieren, auf die wir im Discours bereits gestoßen sind. Die ,notwendig-kontingent‘-Unterscheidung voll- zieht Leibniz in beiden von uns zitierten Texten im Anschluss an die These des begrifflichen Enthaltenseins, um deren nezessitaristische Konsequenzen zu vermeiden. Eine absolut notwendige Aussage wird dadurch bewiesen, dass sie in einer endlichen Anzahl von Analyseschritten auf eine explizite Identität zurückgeführt wird, d.h. (modern gesprochen) eine Tautologie der Form ,AB ist A‘ und ihr Gegenteil damit als widersprüchlich erwiesen wird (GI § 133 u. A VI 4, 1515). Bei einer kontingenten Wahrheit wird die Identität niemals erreicht, auch wenn beide Termini beliebig (unendlich) weiter analy- siert werden.35 Das Enthaltensein des Prädikats im Subjekt erweist sich aber darin, dass die unendlich fortgesetzte Analyse sich beliebig der Identität als Grenzwert annähert.36 Notwendige und kontingente Wahrheiten lassen sich daher mit einem kommensurablen Verhältnis, das sich in natürlichen Zahlen ausdrücken lässt (rationes effabiles numerorum commensurabilium), gegen- über einem irrationalen oder inkommensurablen Verhältnis (rationes surdae numerorum incommensurabilium, A VI 4, 1516), das zu nie endenden Reihen führt, vergleichen (A VI 4, 1516). Dennoch besteht ein wichtiger Unterschied. Die Unendlichkeit mathematischer Reihen ist bloß formal, lässt sich also auf ein endliches, vom menschlichen Geist erfassbares Reihenbildungsgesetz zurückführen. Bei der Analyse kontingenter Wahrheiten sind wir dagegen mit einer unendlichen inhaltlichen Mannigfaltigkeit konfrontiert.37 Daher kann allein Gott, dessen Geisteskraft auf einmal eine unendliche Vielfalt zu erfassen
35 „[R]esolutione utriusque termini indefinite continuata“. (A VI 4, 1516) 36 „[O]stendendo continuata magis magisque resolutione accedi quidem perpetuo ad iden-
ticas“. (GI § 134) 37 Carriero (1993) versucht (v.a. in Bezug auf C 18 f. = A VI 4, 1517 f.) aufzuweisen: Die
Unendlichkeit der Analysereihen kontingenter Wahrheiten beruht nicht auf formal- logischen Gründen des Beweises, sondern ist vielmehr durch inhaltliche, physikalische Gesichtspunkte bedingt.
25Kontrafaktische Kontingenz
vermag, a priori aus Begriffen heraus, Gewissheit über das kontingente Enthaltensein des Prädikats im Subjekt erhalten (wie beide Texte betonen).
Diese unendliche Inhaltsfülle rührt offensichtlich daher, dass in den kontin- genten Zusammenhang einer Eigenschaft mit ihrem individuellen Subjekt der unendlich komplexe Kausalzusammenhang der Welt eingeht. Nicht nur ein kontingentes Individuum, auch eine kontingente Wahrheit ist weltgebunden, ja ihre Kontingenz besteht gerade darin, nur in der wirklichen und nicht in ande- ren möglichen Welten zu gelten. Der endliche Begründungszusammenhang einer notwendigen Wahrheit kann demgegenüber im Kontext aller Welten gelten. Das aber kennzeichnet die Notwendigkeit.38 Damit kann es offenbar einen dritten Typus von Prädikaten und Wahrheiten zwischen den weltgebun- denen und den universal in allen Welten geltenden geben: diejenigen, die die individuelle Natur betreffen, also jene hervorstechenden Charaktermerkmale, Betätigungen, Errungenschaften, durch die ein Individuum uns besonders bemerkenswert und ausgezeichnet erscheint. Solche Prädikate sind nicht
38 Lagerlund/Myrdal (2006/7) argumentieren dagegen, Leibniz definiere wie die heutige Modalsemantik Notwendigkeit und Kontingenz als Geltung in allen bzw. in einigen, aber nicht in allen möglichen Welten. Historisch ist sicher zutreffend, dass die Konzeption möglicher Welten auf Gottes Wahl zu beziehen ist (wie es die Autoren betonen). So haben Leibniz’ Vorläufer in diesem Begriff, die Barockscholastiker, mit der Rede möglicher Welten ausgedrückt: Gott in seiner Allmacht war nicht darauf beschränkt, die Welt so zu erschaf- fen, wie sie wirklich ist. Richtig ist auch, dass Leibniz Notwendigkeit versus Kontingenz und Freiheit vorwiegend als dem Individualbegriff interne Bestimmungen aufgefasst hat, in welchem Modus das Prädikat dem Subjekt zukommt. Wenn der Individualbegriff Adams einschließt, freiwillig zu sündigen, dann ändert Gottes Entschluss, die Welt, die diesen Individualbegriff enthält, zu erschaffen, nichts an der inneren Natur, dass diese Bestimmung Adam kontingent und frei eignet; er macht das Gegenteil nicht unmög- lich (Theod. § 231). Dieser interne Subjekt-Prädikat-Zusammenhang zeigt sich nach Leibniz daran, dass ein notwendiges Prädikat in einer endlichen Analyse als im Subjekt enthalten bewiesen werden kann, die Analyse einer kontingenten Wahrheit sich einer Identität als Grenzwert dagegen nur beliebig annähert. Als Folge dieser Bestimmung von Notwendigkeit und Kontingenz ergibt sich aber, dass notwendige Wahrheiten in allen, kontingente in zumindest einer Welt gelten, d.h. weltgebunden sind. Dies hat unsere Erörterung ergeben, die durch A VI 4, 1517 bestätigt wird: Weil die essentialen oder not- wendigen Wahrheiten durch Begriffsanalyse als virtuell identisch, ihr kontradiktorisches Gegenteil aber als virtuell widersprüchlich bewiesen werden können, ihre Verneinung also ausgeschlossen ist oder sie nicht nicht-sein können, gelten sie in allen möglichen Welten, auch wenn Gott die Welt anders erschaffen hätte (etiam obtinuissent, si Deus alia ratione Mundum creasset). Die kontingenten oder existentialen Wahrheiten sind dagegen wegen ihrer unendlichen, nur Gottes allumfassendem Geist überschaubaren Inhaltsfülle auf das aktuell Existierende (quid actu existat), also das Faktische, das nicht hätte zu sein brauchen, oder die wirkliche Welt bezogen. Oder sie beziehen sich auf das, was bei bestimmten (nicht zwingenden) Voraussetzungen existierte (certis positis con- tingenter extiturum), also eine bloß mögliche Welt.
26 Liske
notwendig oder wesentlich, weil sie nicht für das Sein dieser Person konsti- tutiv sind. Bei einem anderen Weltverlauf hätte dieses Individuum (oder sein Gegenstück in dieser Rolle im Geschehensablauf) gerade nicht diese Stellung gehabt (z.B. als Wissenschaftler) oder das vollbracht (bemerkenswerte Entdeckungen), was wir sogleich mit seiner Person zusammenbringen. Da sie umgekehrt nicht den absolut vollständigen Individualbegriff ausmachen, also nicht alle Beziehungen zur Welt spiegeln, sind sie nicht weltgebunden, son- dern können im Kontext mehrerer, wenngleich nicht aller Welten auftreten. Indem sie die hervorstechende individuelle Eigenart ausmachen, garantieren sie eine Identität über mögliche Welten hin.
4.3.2 Inwiefern die mehreren möglichen Adame nicht als Gegenstücke aufzufassen sind
Zu der Frage, ob und wie sich neben der eigentlichen Individuation durch den vollständigen Individualbegriff noch eine nicht weltgebundene Individualität im weiten Sinne denken lässt, ist eine Stelle aus der Arnauldkorrespondenz aufschlussreich, wo Leibniz von mehreren Adamen spricht, die disjunktiv möglich sind, d.h. je nachdem ob er dieser oder jener möglichen Welt ange- hört. Im Schreiben an Arnauld vom 14. Juli 1686 schreibt Leibniz:
Sie sagen sehr berechtigt, dass es ebenso wenig möglich ist, mehrere mög- liche Adame (plusieurs Adams possibles) zu denken, wenn man Adam als eine individuelle Natur auffasst (une nature singulière), wie mehrere Ich zu denken. Dem stimme ich zu. Aber bei der Rede von mehreren Adamen habe ich Adam nicht als ein bestimmtes Individuum aufgefasst (pour un individu déterminé), sondern als eine unter einem Allgemeinbegriff gedachte Person (pour quelque personne conçue sub ratione generali- tatis), unter Umständen, die uns Adam auf ein Individuum festzulegen scheinen, die ihn aber in Wahrheit nicht hinlänglich festlegen, wenn man beispielsweise unter Adam den ersten Menschen versteht, den Gott ins Paradies versetzt, das er aber wegen der Sünde wieder verließ, und aus dessen Rippe Gott eine Frau hernahm. […] Aber all dies legt nicht hin- länglich fest, und so gäbe es mehrere disjunktiv mögliche Adame oder mehrere Individuen, denen all das zukäme. (A II 2, 77)
Es ist eine allgemeine Überzeugung, über die auch Leibniz und Arnauld sich einig sind: Die Individualität zeichnet sich dadurch vom Allgemeinen aus, einmalig zu sein, sich also nicht beliebig oft vervielfältigen zu lassen. Wenn Leibniz daher im Plural von mehreren möglichen Adamen spricht, d.h. Personen in verschiedenen möglichen Weltverläufen, die in ihrer Welt die
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Rolle Adams einnehmen, also all die charakteristischen Merkmale aufwei- sen, durch die wir Adam definiert sehen, geht es streng genommen nicht um dasselbe Individuum. Ein Individuum muss nach Leibniz nämlich als leben- diger Spiegel die jeweilige mögliche Welt wiedergeben, der es angehört. Zwei Mitglieder verschiedener Welten können damit eo ipso nicht inhaltlich oder qualitativ ununterschieden, also dasselbe Individuum sein, sondern sind eine bestimmte Art Person im Allgemeinen. Die allgemeine Überzeugung ist also zurückzuweisen, diese hervorstechenden Merkmale legten die Individualität fest. Diese wird erst durch den absolut vollständigen Individualbegriff kon- stituiert, aus dem sich das kleinste Detail über dieses Individuum ableiten lässt. So weit bewegen wir uns auf der metaphysisch strengen Ebene, deren Individualitätsauffassung die Freiheit gefährdet. Nun geht es aber trotz Leibniz’ Rede von Allgemeinheit bei den vielen möglichen Adamen nicht um den Allgemeinbegriff im üblichen Sinne eines Begriffs von einem bestimmten Typ von Menschen, der außer der für diesen Typ charakteristischen Merkmalen in recht unterschiedlichen Exemplaren vorliegen kann. Vielmehr weist er alle Eigenschaften auf, die zusammen für uns das Individuum ausmachen – sonst gebrauchten wir nicht den Eigennamen –, mögen diese im strengen meta- physischen Sinne auch nicht ausreichen, ein Individuum von jedem anderen möglichen abzugrenzen.
Die mehreren möglichen Adame müssen jedenfalls sorgfältig von Lewis’ Gegenstücken unterschieden werden. Die Auffassung der counterparts ist auf dem Boden von Lewis’ Realismus bezüglich möglicher Welten entstanden. Hiernach stehen die möglichen Welten gleichberechtigt, mithin eigenständig neben unserer, der wirklichen. Damit ist unmöglich, dass dasselbe Individuum mehreren Welten angehört. Man kann nur fragen, welches Individuum einer anderen Welt einem Individuum in unserer Welt qualitativ in den meisten oder gewichtigsten Eigenschaften gleicht. Das Andershandelnkönnen einer ande- ren, nur qualitativ sehr ähnlichen Person aber ist für meine Freiheit allenfalls indirekt von Belang.39 Wenn das kontrafaktische Andershandelnkönnen für meine Freiheit bedeutsam sein soll, müssen wir vom wirklichen Weltverlauf
39 Lodzinski (1994), bes. 183 f. argumentiert gegen den Überessentialismus, der zu weltge- bundenen Individuen führt, und plädiert dafür, auch bei Leibniz einen traditionelleren Begriff der Essenz zugrunde zu legen, der eine Zwischenweltidentität gestattet, so dass die- selbe Person Adam unter verschiedenen möglichen Umständen leben und entsprechend anders handeln kann. Die überessentialistische Annahme weltgebundener Individuen führe zu einer abstrusen Situation: Wenn ein Handelnder verschiedene Alternativen abwägt, betrachtet er, da seine Person unlösbar mit der wirklichen Handlungsoption ver- bunden ist, bei den übrigen gar nicht seine eigenen Handlungsmöglichkeiten, sondern die anderer Personen (seiner Gegenstücke), als wären es die eigenen.
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als Bezugspunkt ausgehen und jedenfalls die möglichen Welten, in denen ich anders handelte, als alternative Weisen auffassen, wie das wirkliche Weltgeschehen hätte verlaufen können. (Daneben mag es auch ganz eigenstän- dige mögliche Welten geben, die andere Individuen oder sogar Naturgesetze haben, sie sind hier aber nicht zu beachten.) In diesen Alternativen zum wirk- lichen Geschehensablauf sind mögliche Adame keine bloßen counterparts, die aufgrund der größten qualitativen Nähe erst als Gegenstücke zu erweisen sind. Vielmehr ist es von vornherein Adam mit all den für ihn charakteristischen Eigenschaften und seiner Rolle unter alternativen Verhältnissen. Zwar nicht im strikten metaphysischen, wohl aber im praktisch bedeutsamen Sinne kann man hier von der Selbigkeit des Individuums ausgehen. Die Rede von den „plusieurs Adams disjunctivement possibles“ lässt sich in diesem praktischen Sinne so verstehen: Entweder stellt sich Adam – wohlbemerkt Adam selbst – bei diesem Weltverlauf als dieser Adam dar oder bei einem anderen als jener Adam oder wieder bei einem anderen als noch ein anderer Adam. Hier ist von vornherein klar, ob in einem gegebenen Weltverlauf Adam existiert oder nicht. Wir brauchen nicht aufgrund qualitativer Nähe zu entscheiden, ob man in die- sem Weltverlauf berechtigt von einem Gegenstück reden kann.40
4.4 Die kontrafaktische Kontingenz der Deterministen und die Leugnung der Kontingenz durch die Nezessitaristen
Duns Scotus hat kontrafaktische Möglichkeiten angenommen, um eine inde- terministisch verstandene Freiheit zu begründen. Nun ist die kontrafaktische Möglichkeit aber unabhängig von der Zeitstufe: Wenn die für die Freiheit unerlässliche Möglichkeit des Andersseins und Anderstuns in alternativen Weltverläufen gründet, die parallel zum wirklichen Weltgeschehen verlaufen, dann gibt es zum Geschehen gleichermaßen jeder Zeitstufe kontrafaktische Alternativen. Damit brauchen wir zur Begründung des Andershandelnkönnens nicht die indeterministische Annahme einer zeitlichen Asymmetrie von festgelegter Vergangenheit und offener Zukunft. Ein zeitlich symmetrisches Determiniertsein als die charakteristische Annahme des Determinismus hat den epistemischen Vorzug einer größeren Einfachheit. An einem Beispiel aus Theod. § 36 veranschaulicht: Es war vor hundert Jahren bereits ebenso
40 Bemerkenswerterweise geht Leibniz Theod. § 414 bei einer Rede von annähernd gleichen Sexti (des Sextus approchants) davon aus: Sie weisen alles auf, was vom richtigen Sextus der wirklichen Welt als seine vergangene Lebensgeschichte bekannt ist – wodurch eine Gleichheit im lockeren Sinne garantiert ist – und weichen nur im künftigen Lebensweg ab. Da dieser für den Deterministen (für uns freilich nicht wahrnehmbar) im gegenwärti- gen Zustand bereits angelegt ist, ist keine strikte Identität möglich.
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festgelegt, dass ich jetzt schreiben werde, wie es in 100 Jahren irreversibel fest- steht, dass ich jetzt geschrieben habe.
Nun mag man sich fragen, ob für eine Freiheit, die als Selbstbestimmung der Vernunft im Leibniz‘schen Sinne gegenüber der Unfreiheit als Fremdbe- stimmtsein verstanden ist, überhaupt Kontingenz erforderlich ist. Dies scheint man zunächst verneinen zu können. Denn Spinoza, der in seinem Nezessi- tarismus jede Kontingenz verwirft, entwickelt ganz prominent am Ende der Ethik den Gegensatz von Knechtschaft (servitudo) als Beherrschtsein von den Affekten und Freiheit als Herrschaft der Vernunft. Die Unentbehrlichkeit der Freiheitsbedingung Kontingenz erweist sich jedoch angesichts der ethisch bedeutsamen Unterscheidung zweier Formen der Unfreiheit. Wenn wir uns unter dem Einfluss von Hypnose, Gehirnwäsche, starkem psychischen Druck, neurophysiologischen Manipulationen oder ähnlichem zu einem üblen Tun entschieden haben,41 empfinden wir keine Reue, die stets auch Selbstvorwürfe einschließt, bedauern allenfalls, dass mit uns etwas derartiges geschehen ist. Genuine Reue zeigen wir dagegen (zumindest sofern wir uns selbstkritisch
41 Auf derartige psychologische Eingriffe beruft sich Frankfurt (1969) in seinem Aufsatz, der die heutige Diskussion der Freiheitsdebatte nachhaltig bestimmt. Frankfurt konstruiert hier Beispiele, um die bislang allgemein anerkannte Voraussetzung in Frage zu stellen, ein Andershandelnkönnen sei eine notwendige Bedingung für die sittliche Verantwortung. Auf die Einzelheiten des Beispiels kommt es nicht an. Deshalb spricht man sogar von Frankfurt-type-cases [z.B. Fischer (1987)]. Die Konstellation ist folgende: B ist sehr daran interessiert, dass A eine bestimmte Tat vollbringt, und hat auch die Möglichkeit, durch sol- che Eingriffe wie starke Drohungen, Hypnose, Drogen oder unmittelbare Manipulationen des Nervensystems in A das unwiderstehliche Verlangen nach dieser Tat zu erzeugen. Welche Mittel genau B zu Gebote stehen, spielt dabei keine Rolle. Nun entschließt A sich aber von sich aus zu dieser Tat, vollbringt sie also aus freien Stücken. Damit ist er für sie moralisch verantwortlich, obgleich die Bedingung nicht erfüllt ist, dass er anders hätte handeln können. Es sei nämlich angenommen, B verfüge über technische Mittel, As Entscheidungen sogleich zu erfahren, und greife daher sofort mittels psychologischer Manipulation ein, sobald er merkt, dass sich A eines anderen besinnt, die gewünschte Tat von sich aus also nicht ausführte. Damit ist es unausweichlich, dass A die Tat (von sich aus oder unter Bs Einwirkung) vollbringt. Dieses für eine analytisch beeinflusste Diskussion typische science-fiction-Beispiel ist aber nicht unüberwindlich. Unbestritten dürfte sein: Eine notwendige Bedingung einer freien Entscheidung ist, dass keinerlei äußerer Zwang im Spiel war. Nun brauchen sich die verschiedenen notwendigen Bedingungen nicht zu überschneiden. Daher können wir die Bedingung des Andershandelnkönnens, indem wir den Zwang ausklammern, enger fassen: Frei ist jemand nur dann, wenn er sich von sich aus (was also die inneren Bedingungen der Entscheidung angeht) anders hätte entscheiden und daher anders hätte handeln können. Von sich aus, aber ohne die mani- pulierenden Eingriffe von B hätte sich A sehr wohl anders entscheiden können. Vihvelin (2000) glaubt, auch von einem kompatibilistischen Standpunkt aus sei der Anspruch Frankfurts zurückzuweisen, das Prinzip alternativer Möglichkeiten (des Handelns als conditio sine qua non der Verantwortung) durch seine Beispiele widerlegt zu haben.
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reflektierend um ein sittliches Handeln bemühen), wenn wir den Affekten erliegen. Diese Reue zeigt offenkundig unsere Überzeugung an: Wir hätten den Affekten nicht zu erliegen brauchen, wenn wir uns selbst beherrscht hätten oder durch psychologische Techniken hinreichend an uns gearbeitet hätten. Die ethisch bedeutsame Unfreiheit, die als schuldhaft bereut wird, setzt daher Andersentscheidenkönnen, also Kontingenz voraus.
5 Freiheitsgarantierende psychologische Techniken
Auch wenn die Kontingenz eine unerlässliche Voraussetzung der Freiheit ist und Leibniz sie unterstreicht, um sich von Spinoza abzuheben, ist tatsäch- lich die reflexive Selbstkontrolle der Entscheidung und Handlung durch die Vernunft für seine Freiheitskonzeption bedeutsamer. Freiheit ist wesentlich in der inneren Beschaffenheit des Entscheidungsvorgangs gegründet. Für diese aber ist es gleichgültig, ob er als ein Element unlösbar in ein Bedingungsgeflecht eingebunden ist, das zur Determination meiner Handlung führt, oder ob er eine spontane creatio ex nihilo ist. Damit läuft die Freiheit zentral darauf hinaus: Damit die Vernunft später bei einer selbstkritischen Reflexion ihre Entscheidung und Handlung als ihren inneren Grundsätzen und Absichten gemäß dauernd anerkennen kann – ein sicheres Anzeichen der Freiheit – und sie nicht als ihrem Selbst widersprechend zu verwerfen braucht, muss die Entscheidung selbst aus einem angemessenen Abwägen der Gründe und Gegengründe hervorgegangen sein. Um die so verstandene Freiheit sicherzu- stellen, sind psychologische Techniken wie namentlich die Urteilssuspension42 wichtig, auf die wir bereits im Discours de métaphysique § 30 gestoßen sind. Damit wir nicht aus noch nicht bewältigten Emotionen heraus handeln, in denen eine rational nicht verarbeitete Umwelt Macht über unser Handeln gewinnt und uns zu einem uns nicht gemäßen Tun hinreißt, müssen wir die Entscheidung so lange suspendieren, bis die aufbrausenden Affekte sich so weit besänftigt haben, dass eine klare Vernunftüberlegung die erforderlichen Gesichtspunkte gegeneinander gewichten kann. Damit wir im anderen Falle nicht aus einem vermeidbaren Mangel an Kenntnissen der Handlungssituation heraus eine Entscheidung fällen, die nachher zu bereuen ist, müssen wir eine von der Sache her nicht sofort verlangte Entscheidung suspendieren, bis die erforderlichen Kenntnisse uns zugänglich sind und wir sie gewonnen haben. Gerade dieser zweite Gesichtspunkt zeigt, dass die Urteilssuspension eine für
42 Leibniz spricht von „judicium suspendere“ oder französisch von &bdq