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EEH in der Osteopathie – Osteopathie in der EEH
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EEH in der Osteopathie – Osteopathie in der EEH Das weinende Baby in der Therapie
(www.scco.ac)
„Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.“ (Hermann Hesse)
Abschlussarbeit in der Ausbildung
zum Fachberater für Emotionelle Erste Hilfe
Andreas Egger
Physiotherapeut und Osteopath für Kinder und Erwachsene
EEH in der Osteopathie – Osteopathie in der EEH
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Inhaltsangabe
1. Einleitung ................................................................ S. 3
2. Babyweinen ................................................................ S. 5
2.1 Psychische und soziale Ursachen ............................. S. 6
2.2 Organische Ursachen ..................................................... S. 7
3. Osteopathie bei Kindern ............................................... S. 9 3.1 Osteopathie bei Anpassungsschwierigkeiten ............... S. 10 3.1.1 Ätiologie ................................................................ S. 10
3.1.2 Behandlung ............................................................ S. 12
4. Emotionelle Erste Hilfe (EEH) ..................................... S. 13
4.1 Bindung ....................................................................... S. 13
4.2 Stärkung der Feinfühligkeits- und
Regulationsfähigkeit der Eltern ................................... S. 14
5. Persönliche Vorgangsweise ........................................ S. 17
5.1 Anamnese und Untersuchung ...................................... S. 18
5.2 Therapie ....................................................................... S. 19
6. Fazit ............................................................................ S. 21
Quellennachweis ................................................................ S. 22
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1. Einleitung
Doch was passiert, wenn dieser Zauber nicht so ist wie erwartet? Wenn auf unbeschreibliche
Vorfreude und hohe Erwartungen Ernüchterung, Überforderung und Enttäuschung folgen?
Wenn statt grenzenloser Liebe und Nähe Wut und Abneigung vorherrschend sind? Wenn sich
statt großem Glücksgefühl Verzweiflung und Sorge breit machen?
Was die Intensität dieser Erfahrungen betrifft, wird dies wohl selten mehr der Fall sein als bei
Neoeltern mit sogenannten „Schreibabys“.
Die anhaltend hohe Belastung stellt für die Betroffenen eine sehr große Herausforderung dar,
die leider häufig auch massive Folgen für die Bindungsfähigkeit und somit für die psychische
und physische Gesundheit vor allem der Babys, aber auch der Eltern haben kann.
Der hohe Leidensdruck aller und die starken Folgewirkungen machen die therapeutische
Auseinandersetzung enorm wichtig.
Der Gang zum Kinderarzt und der Ausschluss von akuten und schwerwiegenden physischen
Erkrankungen kann Eltern zwar etwas beruhigen, die Diagnose „Dreimonatskolik“ trägt aber
nur sehr wenig dazu bei, diese schwere und sehr prägende Zeit adäquat zu bewältigen.
Zwar hat sich das Angebot an Anlaufstellen für Betroffene in den vergangenen Jahren etwas
verbessert, veraltete und höchst fragwürdige pädagogische und psychologische Ansätze sind
jedoch immer noch stark verbreitet.
In den vergangenen Jahrzehnten haben sich aber neue Ansätze aus verschiedenen
Berufsgruppen entwickelt, die maßgeblich dazu beitragen, ein besseres Verständnis für die
Ätiologie und die Behandlung beziehungsweise Begleitung von Babys mit
Regulationsproblematiken zu erhalten.
Um jedoch eine adäquate und effektive Unterstützung zu ermöglichen, bedarf es vernetzter
Strategien und Herangehensweisen aus diesen verschiedenen Berufsgruppierungen.
Immer mehr hilfesuchende Eltern konsultieren mit ihren Babys eine osteopathische Praxis.
Die osteopathische Betrachtungsweise und die über viele Jahre geschulten perzeptiven
Fähigkeiten der Therapeuten sind sehr häufig hilfreich in der Behandlung von vorwiegend
körperlich manifestierten Problemen. Im Falle von „Schreibabys“ ist eine osteopathische
Behandlung allein jedoch oft zu wenig oder gar nicht sinnvoll.
Die Emotionelle Erste Hilfe (EEH) bietet eine ausgezeichnete Möglichkeit, die psychischen
Aspekte bei Eltern und deren Kindern mit Regulationsschwierigkeiten besser zu verstehen
und gibt dem Therapeuten beziehungsweise dem Fachberater ein Handwerkzeug, um die
Eltern in diesen Krisenzeiten zu unterstützen.
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Eine Kombination dieser beider Ansätze stellt eine sehr gute Symbiose zur Behandlung von
Babys mit übermäßigem Weinen beziehungsweise Unruhe dar und unterstützt die Bindung
zwischen Eltern und Kind.
Ziel dieser Arbeit ist es, dem Leser die Vorteile einer Kombination von Osteopathie und EEH
näher zu erläutern und Therapeuten zu ermutigen, sich vermehrt mit Ansätzen anderer
Berufsgruppen auseinanderzusetzen.
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2. Babyweinen
Das Weinen ist für Babys ein wichtiges Ausdrucksmittel und damit eine Form der
Kommunikation (David Chamberlain, 1989, S. 74). Es löst im Umfeld Reaktionen aus. Im
Idealfall sind diese Handlungen auf die Bedürfnisse des Kindes abgestimmt. Jedoch gibt es
eine Vielzahl von Möglichkeiten und wenn die Lösungsansätze der Eltern nicht den
gewünschten Erfolg bringen, kommt es sehr häufig zu Überforderung und Frustration.
In diesem Zusammenhang spricht man häufig von „Schreibabys“ oder Babys mit „exzessivem
Schreien“. Die allgemein sehr bekannte Definition dafür von Morris Wessel aus dem Jahre
1954 beschreibt eine Dreier-Regel: Schreien über einen Zeitraum von mindestens drei
Wochen, an drei Tagen pro Woche für mehr als drei Stunden am Tag. Diese Kategorisierung
sagt allerdings weder etwas über die Ätiologie aus, noch über den Leidensdruck, der bei
Eltern oder/und Kind vorliegt. Denn während manche Eltern und auch Kinder schon mit
kürzeren Schreiattacken überlastet sind, können andere wesentlich längere Zeiten der Unruhe
gut tolerieren.
Ebenfalls im Jahre 1954 wurde von dem Arzt Ronald Illingworth dieses Schreiverhalten mit
Verdauungsschwierigkeiten in Verbindung gebracht und der Ausdruck der „Dreimonatskolik“
entstand (Wikipedia, Exzessives Schreien, 04.01.2017). Diese gastro-intestinale Theorie hält
sich bis heute hartnäckig in den Köpfen vieler Eltern, ist allerdings auch bei zahlreichen
Ärzten und medizinischem Fachpersonal fest verankert. Und das, obwohl viele Studien diese
Theorie bereits widerlegten oder zumindest diese Ursache als nicht gravierend einschätzten
(Aletha Solter, 1995, S.388-389). Auch wenn das „exzessive Schreien“ sogar in
medizinischen Fachkreisen schon lange als Teilsymptom einer Anpassungsstörung
beziehungsweise Regulationsstörung im Säuglingsalter gilt, gehen im Alltag die meisten
Erklärungs- und Lösungsansätze noch von einer „Dreimonatskolik“ aus.
Durch Pioniere aus der Psychiatrie, Psychotherapie und Geburtshilfe wie Wilhelm und Eva
Reich, David B. Chamberlain, William Emerson, Michel Odent und unter anderem auch aus
der Osteopathie wie Andrew T. Still, William G. Sutherland und vielen anderen Wegbereitern
sind neue Ansätze entstanden, die maßgeblich dabei helfen, Babys in ihrer Gesamtheit und
dadurch auch ihr Weinen als Ausdrucksmittel besser zu verstehen.
So kann man zunächst grob zwischen psychisch und sozialen auf der einen sowie organischen
Faktoren auf der anderen Seite unterscheiden (Wikipedia, Exzessives Schreien, 04.01.2017).
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2.1 Psychische und soziale Ursachen Entscheidend ist, die Gründe für das Weinen nicht nur beim Baby alleine zu sehen, sondern
auch mögliche (Mit-)Ursachen im näheren Umfeld insbesondere bei der Mutter zu eruieren.
Das ist unter anderem notwendig, da das Kind bis in etwa zum achten Lebensmonat seine
primäre Bindung mit der Mutter hat (www.sicherebindung.at, Phasen der
Bindungsentwicklung, 14.01.2017). Dadurch wirken sich emotionale Belastungssituationen
der Mutter, aber auch im näheren Umfeld unmittelbar auf das emotionale Befinden des Babys
aus. Es kann aber nicht nur zu einer Übertragung belastender Gefühle kommen, sondern auch
zu einer Reduktion der allgemeinen emotionalen Belastbarkeit der Mutter. Dies kann
wiederum ein adäquates Verhalten auf das Weinen des Babys verhindern. Thomas Harms
(2013) spricht in diesem Zusammenhang von einer „nicht ausreichenden emotionalen und
körperlichen Haltefähigkeit der Eltern“ (S. 233). Die Hintergründe dafür können sehr
vielschichtig sein und sollten miteinbezogen werden.
Betrachtet man nun das Weinen des Babys als ein Kommunikationsmittel, gibt es eine Reihe
von Möglichkeiten, die dadurch ausgedrückt werden können. Karlton Terry (2014) verwendet
dabei die Einteilung nach William Emerson und unterscheidet zwischen Bedürfnisschreien
(„present moment crying“), selbstaktiviertem Schreien („selfactivated crying“) und
Erinnerungsschreien („memory crying“).
Beim Bedürfnisschreien handelt es sich um den Wunsch zur Erfüllung von
Grundbedürfnissen wie Stillen von Hunger und Durst, Hilfestellung zum Bäuerchen,
Säuberung bei voller Windel, Temperierung, da zu kalt oder zu warm und tritt bei Müdigkeit
und bei dem Verlangen nach sozialer Nähe auf. Werden diese Zeichen durch die Eltern aber
nicht erkannt, wird aus dem Bedürfnisschreien ein selbstaktiviertes Schreien, welches durch
die Wut oder die Trauer darüber eine ganz andere Qualität bekommt und eine meist deutliche
Steigerung des Ausdrucks darstellt. Die dritte Form des Weinens, das Erinnerungsschreien
resultiert aus prä- und perinatalen Prägungen und Traumata, die sich im Körpergedächtnis
abgespeichert haben. Dabei verankern sich körperliche und emotionale Erlebnisse in den
verschiedenen Zellen des Körpers, darunter auch im Nervensystem und in der für
Gefahrenreaktionen verantwortlichen Region des Gehirns, der Amygdala (S. 34, 49-77).
Aletha Solter (1995) unterscheidet bei den möglichen Ursachen neben den prä- und
perinatalen Traumata sowie unerfüllten Bedürfnissen auch noch Überstimulation,
Entwicklungsfrustration, körperlichen Schmerz und Angst. Gerade die Überstimulation ist in
unserer hochtechnisierten westlichen Welt ein nicht zu unterschätzender Faktor. Das
Nervensystem des Kindes ist dabei schlichtweg von der Menge an Eindrücken überlastet. Mit
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Hilfe von körperlicher Unruhe und Weinen wird wieder versucht, eine Homöostase zu
erlangen.
An dieser Stelle sei zu erwähnen, dass das Phänomen von exzessiv schreienden Kindern in
vielen traditionellen Kulturen kaum bis gar nicht vorhanden ist. Dies ist sicherlich auf viele
Faktoren zurückzuführen und nicht allein auf zu viele Stimuli.
Auf Grund der Diskrepanz zwischen dem Wunsch des Babys, Dinge ausführen zu wollen und
dem Unvermögen, dies umzusetzen, kann es zum Gefühl von Hilflosigkeit kommen. Dies
kann zu periodischen Anfällen von Weinen führen, das als Entwicklungsfrustration
bezeichnet wird.
Neben dem körperlichen Schmerz, der im nächsten Kapitel noch genauer besprochen wird,
führt Aletha Solter noch Furcht und Angst an. Sie sieht darin Faktoren aus dem Umfeld, die
das Kind verunsichern und damit ängstigen können. Das reicht von zu schnellen Bewegungen
und lauten Geräuschen bis hin zu Problemen mit oder aus dem sozialen Umfeld. Dazu zählen
auch Bindungs- beziehungsweise Trennungsthemen ( S. 396-398).
2.2 Organische Ursachen Wie bereits in der Einleitung erwähnt, sollte es vor allem bei lang anhaltendem, übermäßigem
Schreien selbstverständlich sein, dass es zu einer Untersuchung durch einen Kinderarzt
kommt. In diesem Zusammenhang müssen vor allem Infektionen im HNO-Bereich und im
urogenitalen Trakt sowie Erkrankungen und Anomalien des Magen-Darmtraktes, des Herzens
und neurologische Erkrankungen sowie offensichtliche Verletzungen wie Knochenbrüche
ausgeschlossen werden (Wikipedia, „Exzessives Schreien“, 04.01.2017). Häufig gehen diese
mit deutlichen anderen körperlichen Symptomen einher. Jedoch ist dies nicht immer der Fall
und manche seltene Erkrankungen sind auch für den Spezialisten nicht leicht erkennbar.
Im Rahmen einer Geburt kommt es aber auch nahezu immer zu massiven körperlichen
Belastungen für das Baby. Da sehr häufig die Weichteile davon betroffen sind oder viele
Strukturen in diesem Alter noch nicht starr und verknöchert sind, werden Verletzungen mit
den herkömmlichen Methoden häufig nicht gesehen oder bagatellisiert. Und das, obwohl
deren Auswirkungen unter anderem Schmerzen und Bewegungseinschränkungen verursachen
können. Um diese Verletzungen bei den Neugeborenen zu finden, bedarf es eines hohen
Maßes an perzeptiler Fähigkeit und Erfahrung. Osteopathen werden im Rahmen ihrer fünf-
bis sechsjährigen Grundausbildung und in der postgraduierten zweijährigen
Kinderosteopathieausbildung an diese Feinfühligkeit herangeführt.
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Die Vielfalt an möglichen Ursachen für das Weinen des Babys lässt erahnen, wie schwierig es
für Eltern aber auch Therapeuten ist, eine möglichst genaue Interpretation zu liefern. Auch,
weil häufig mehrere Faktoren an der Problematik beteiligt sind.
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3. Osteopathie bei Kindern Die Geschichte der Osteopathie lässt sich im Vergleich zur Philosophie relativ einfach
zusammenfassen. Dr. Andrew Taylor Still wurde im 19. Jahrhundert in den USA als Sohn
eines Landarztes und Wanderpredigers geboren. Selbst Arzt, war er frustriert von den
Methoden der damaligen Schulmedizin und durch den dramatischen Verlust einiger seiner
Kinder angetrieben, begann er nach neuen Ansätzen zu forschen.
Er war seiner damaligen Zeit um vieles voraus als er zur Erkenntnis kam, dass sich Struktur
und Funktion im Körper gegenseitig beeinflussen und der Mensch eine ganzheitliche Einheit
aus Körper, Geist und Seele ist. Zudem pflegte er gerne zu betonen, dass der Mensch in sich
die Apotheke Gottes trage, welche dazu diene, sich selbst zu heilen und die Gesundheit
aufrecht zu erhalten (Christian Hartmann, 2003, S. 1-47).
Die Grundlagen für diese Theorien und die daraus resultierenden Behandlungsansätze
entnahm er dem intensiven Studiums der Anatomie und Physiologie des Menschen und des
Lebens, von der Geburt bis hin zum Tod. Diese scheinbar einfachen Sichtweisen eröffnen
eine Vielfalt an Behandlungsmöglichkeiten, deren Potential nicht enden wollend scheint.
Deshalb gibt es zahlreiche Therapeuten, welche die Osteopathie – durch Still inspiriert – bis
heute noch weiterentwickeln und mit Ansätzen und Erkenntnissen aus anderen
Fachrichtungen kombinieren.
Die pädiatrische Osteopathie stellt einen Spezialbereich der Osteopathie dar, was eine
intensive, postgraduierte Ausbildung notwendig macht. Dabei muss man sich ein
umfassendes Wissen in vielen unterschiedlichen und unverzichtbaren Fachrichtungen
aneignen. Für die Osteopathin Elisabeth Hayden (2006) zählen dazu folgende Gebiete:
• Embryonale und fetale Entwicklung
• Geburtsmechanismus
• Spezielle anatomische Eigenschaften
• Kindliches Wachstum
• Wahrnehmung aus der Sicht des Kindes
• Emotionale Traumata
• Familiendynamik
• Physiologische Entwicklung
• Neurologische Entwicklung
• Erkennung von Notfällen (S. 5-6)
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Gerade in der Arbeit mit Kindern ist es aber nicht nur wichtig sich Fachwissen anzueignen.
Peter Altmeyer (2010) schreibt dazu: „Osteopathie ist keine medizinische Methode, die
einzelne Techniken anbietet, sondern eine, die zu einem lebendigen, individuellen
therapeutischen Handeln führt. Nach meiner tiefen Überzeugung bildet daher bei der
Behandlung von Kindern nur eine Diagnose, die die leiblichen und seelisch-geistigen Aspekte
des Kindes berücksichtigt und seine Gesamtentwicklung im Auge hat, eine tragfähige
Grundlage für die Entscheidung, welches Therapieverfahren in der jeweiligen individuellen
Situation das angemessene ist.“ (S.2).
Der Osteopath ist deshalb dazu verpflichtet, sich auch mit Fragen auseinanderzusetzen, die
weit über die klassische Behandlung hinausgehen. Nur so kann er ein Verständnis für die
individuelle Komplexität entwickeln und mit der notwendigen Empathie respektvoll
(be)handeln. Ähnlich sieht es der renommierte Arzt William Emerson (1996) und betont
sogar, dass Techniken zwar essentiell seien, das Kernstück einer erfolgreichen Behandlung
aber im anteilnehmenden Kontakt des Therapeuten liege (S. 69).
Eltern kommen mit ihren Kindern mit unterschiedlichsten Beschwerden in die osteopathische
Praxis. Manche davon sind offensichtlich und dadurch gut zuordenbar. Es soll an dieser Stelle
aber nochmals betont werden, dass es trotz gleicher Diagnose aufgrund der osteopathischen
Betrachtungsweise bei unterschiedlichen Patienten und Therapeuten immer zu einer ganz
individuellen Behandlung kommt. Denn es mögen sich zwar ähnliche Symptome darstellen,
jedoch sind die Ursachen von Patient zu Patient unterschiedlich.
3.1 Osteopathie bei Anpassungsschwierigkeiten Bei vielen Babys sind die Symptome sehr unspezifisch und die Ratlosigkeit der Eltern,
warum ihr Kind so viel weint und/oder so unruhig ist, steht im Vordergrund. Da die Kinder in
der Regel bereits schulmedizinisch abgeklärt wurden, kommen sie dann häufig mit der
Diagnose „Dreimonatskolik“. In selteneren Fällen wird auch eine „Regulationsschwierigkeit“
oder „Anpassungsschwierigkeit“ attestiert.
3.1.1 Ätiologie In der osteopathischen Literatur wird explizit darauf hingewiesen, dass verschiedenste
Ursachen zu diesen Problemen führen oder sie begünstigen können. So werden auch
soziologische, demografische, metabolische, psychologische, toxische und traumatische
Aspekte miteinbezogen und diskutiert (Anke Heber und Uwe Senger, 2010, S. 523).
Mehrfach lässt sich prä-, peri- oder postnataler Stress als ein nachgewiesener Faktor für diese
Schwierigkeiten finden (Clive Hayden, 2006, S. 267). So scheint der vermehrte Stress
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während der Schwangerschaft zu einer reduzierten Toleranz des Kindes auf hypoxische
Phasen während der Presswehen zu führen und auch negative Auswirkungen auf den ersten
Atemzug beziehungsweise auf die physiologische Umstellung bei der Geburt zu haben. Dabei
wirkt sich scheinbar auch die Gabe von Schmerzmittel während der Geburt auf die
Erholungs- und auf die Bindungsfähigkeit sowohl bei der Mutter als auch beim Kind aus. Ein
perinatal traumatisiertes Kind scheint sogar weniger fähig sein, Mutter und Vater zu erkennen
und somit ist es auch nicht gut in der Lage, mit ihnen in Kontakt zu treten.
Bereits eine unkomplizierte Geburt stellt eine extreme körperliche Erfahrung dar. Einerseits in
Form von freigesetzten hohen Dosen an natürlich produzierten Endorphinen, Analgetika und
Adrenalin, andererseits durch sehr hohe Belastungen auf den Körper, in erster Linie auf den
Kopf. Noch mehr ist dies der Fall, wenn es zu einem unphysiologischen Geburtsverlauf
kommt oder das Kind aus einer ungünstigen Geburtslage startet.
So sind in den ersten Lebenstagen häufig deutliche Zeichen des Drucks zu erkennen, wie
Hämatome, Ödembildungen und sogar Verformungen am Schädel. Die Belastungen während
der Geburt können dabei sogar so hoch gewesen sein, dass es zu intrakraniellen Schwellungen
kommt. Dieser intrakranielle Druck führt zu Schmerzen und auch zu einer erhöhten
Empfindlichkeit gegenüber Stimuli wie hellem Licht, lauten Geräuschen und plötzlichen oder
zu intensiven Berührungen (Clive Hayden, 2006, S. 267-268).
Ein möglicher Aspekt, der im Zusammenhang mit der Verdauung stehen könnte, wird von
Clive Hayden (2006) beschrieben. Da das Zentralnervensystem und die umhüllenden
Gehirnhäute sehr empfindlich auf mechanischen Druck reagieren, könnte dies zu einer
Stressreaktion und in weiterer Folge zu einer erhöhten Darmmobilität führen.
Eine andere, häufig vorkommende osteopathische Theorie im Zusammenhang mit möglichen
Verdauungsschwierigkeiten könnte auch eine Folge der großen, teilweise auch verformenden
Kräfte auf den Schädel sein. In der Schädelbasis befinden sich neben dem großen Loch
(Foramen magnum), durch welches unter anderem die Rückenmarksbahnen in das Gehirn
gelangen, auch noch eine Vielzahl an kleineren Löchern. Durch diese treten auch Hirnnerven
– einer davon ist der Nervus Vagus, der einen wichtigen Vertreter des vegetativen
Nervensystems darstellt. Durch die geburtsmechanisch bedingte Kompression kann es zu
einer Irritation des Nervs kommen. Da dieser unter anderem einen wesentlichen Einfluss auf
die Funktion des Magens hat, könnte dies ein Unwohlsein auslösen (S. 274).
Viola Frymann (1994), die vor kurzem verstorbene „Grand Dame der Kinderosteopathie“,
spricht davon, dass in unserer von Zivilisation und Technologie geprägten Zeit die Geburt für
90 Prozent der Bevölkerung ein traumatisches Erlebnis darstellt und 10 Prozent davon sogar
für den Laien sichtbare Auswirkungen zeigen (S. 292).
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Eine alleinige, mechanisch-traumatische Ursache wird aber auch in der Osteopathie als sehr
unwahrscheinlich gesehen (Anke Heber und Uwe Senger, 2010, S. 524).
3.1.2 Behandlung Innerhalb der Osteopathie gibt es eine große Auswahl an manuellen Behandlungsformen und
Techniken und es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, alle anzuführen. Es ist aber
wichtig zu wissen, dass die Art der Behandlung von mehreren Faktoren abhängt. Zu diesen
gehören auf jeden Fall die Ausbildung und Erfahrung des Therapeuten, der Allgemeinzustand
der zu behandelnden Person, die Qualität und die Art des Gewebes und die zu Grunde
liegende Ursache.
Bereits am Anfang des Kapitels wurde erwähnt, dass sich die osteopathische Behandlung von
Babys in vielerlei Hinsicht von der Therapie Erwachsener unterscheidet und deshalb eine
Zusatzausbildung notwendig ist. Der Therapeut wird mit Hilfe einer ausführlichen Anamnese,
einer körperlichen und osteopathischen Untersuchung von Kopf bis Fuß und einer
Differentialdiagnostik versuchen, sowohl die Ursachen als auch die momentane
therapeutische Herangehensweise festzulegen. Momentan, da sich die Art der Behandlung bei
einem Folgetermin meist verändern wird. Am Anfang jeder Behandlung muss sich der
Osteopath erneut ein Bild von der aktuellen Situation des Patienten machen und die Therapie
adaptieren.
Dies gilt natürlich auch bei der osteopathischen Behandlung von Säuglingen mit Anpassungs-
oder Regulationsproblemen. Hier gibt es ebenfalls keine vorgegebenen Behandlungsabläufe.
Gerade im Zusammenhang mit diesen Problemen betont Clive Hayden (2006), dass man sich
wach, aber passiv und beobachtend an die zu behandelnden Regionen annähern soll. Da
gerade diese Babys meist hoch sensibel sind, sollten in der Regel keine kompressiven
Techniken verwendet werden. Vor allem die Behandlung des Craniums, mit dem Ziel
Spannungen, die auf Grund intrakranieller Zwangspositionen oder des Geburtsmechanismus
entstanden sind, scheint ein guter Ansatz zu sein. Dabei kommt es häufig zur Reduktion von
Körpertonus und zur Verbesserung des Allgemeinzustandes. Behandlungswürdige Strukturen
können aber auch überall anders liegen und nicht selten ist dies im Bereich der
Halswirbelsäule, des Thorax und Zwerchfells, aber auch im Becken und Bauchraum. Es wird
jedoch auch in der osteopathischen Literatur mehrfach darauf hingewiesen, dass zunächst
immer die Beruhigung und die Beratung der Eltern im Vordergrund stehen (S. 269-277).
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4. Emotionelle Erste Hilfe (EEH)
Der Psychologe und Körperpsychotherapeut Thomas Harms begann in den 1990er Jahren ein
Konzept für die Arbeit mit Eltern und Säuglingen in postnatalen Krisen zu entwickeln. Die
Forschungen und Erfahrungen der Ärzte Wilhelm und seiner Tochter Eva Reich, die sich
schon seit den 1940er Jahren intensiv mit diesem Thema auseinandersetzten, bildeten dafür
die Grundlage, welche durch Erkenntnisse aus der modernen Gehirn- und Bindungsforschung
bis heute noch modifiziert werden (Thomas Harms, 2000, S.189).
Bei der EEH handelt es sich um ein körperorientiertes Verfahren, das versucht, Eltern und
ihre Säuglinge in ihrer emotionalen Bindungsfähigkeit zu unterstützen. Dabei wird davon
ausgegangen, dass ein tiefgehender und verständnisvoller Austausch nur dann stattfinden
kann, wenn körperliche Entspannung vorliegt. Über verschiedene körperliche Zugänge
werden die Selbstwahrnehmung, die Regulationsfähigkeit der eigenen Emotionen und
dadurch auch die Empathie verbessert. Weiteres werden den Eltern Strategien zum adäquaten
Umgang mit exzessiv schreienden Babys vermittelt (www.emotionale-erste-hilfe.org,
15.01.2017).
4.1 Bindung Der Psychoanalytiker John Bowlby gilt als Pionier der heutigen Bindungstheorie. Er
bezeichnete Bindung als „ein unsichtbares, emotionales Band, das zwei oder mehrere
Menschen über Zeit und Raum miteinander verbindet“ (Thomas Harms, S. 234). Er hielt fest,
dass Nähe und Geborgenheit ein Grundbedürfnis des Menschen darstellt. Das wird vor allem
dann bewusst, wenn man in Zeiten von Unsicherheit und Leid emotionalen und körperlichen
Halt sucht. Damit ein Kind aber Bindungsfähigkeit entwickeln kann, braucht es in seinem
Umfeld zumindest eine Person, die angemessen auf die Bedürfnisse reagieren kann. Dies setzt
aber körperliche Entspannungsfähigkeit und vorhandene Bindungsbereitschaft von dieser
Person voraus. Thomas Harms (2013) spricht von einem „Kontinuum der Bindung“ und
unterscheidet dabei drei Zustände:
• Zustand der Bindungsstärkung:
In dieser Phase ist die Bindungs- und Regulationsfähigkeit von Mutter und Kind gut
vorhanden. Es kommt zu einer ruhigen und entspannten Atmosphäre, in der beide
sowohl mit sich selbst („Selbstanbindung“) als auch mit dem Gegenüber Kontakt
aufnehmen können. Dies wird oft auch mit den Worten „Sicherheit“, „Geborgenheit“
und „Wohlbefinden“ in Verbindung gebracht.
• Zustand der Bindungsschwächung:
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Dabei ist eine geschwächte Bindungs- und Regulationsfähigkeit vorhanden und
Unsicherheit sowie Orientierungsfähigkeit überwiegen, was den Kontakt zum Kind
immer schwieriger werden lässt. Sowohl Mutter als auch Kind reagieren dabei mit
Stresssymptomen, die sich körperlich in Anspannungszeichen, Atemabflachung und
beim Baby sehr häufig mit Schreiphasen wiederspiegeln. Die Selbstanbindung der
Mutter läuft dabei Gefahr sich immer mehr zu reduzieren, worunter auch die
Feinfühligkeit leidet. Dieses emotionale Entfernen wird wiederum vom Baby
wahrgenommen, was zusätzlichen Stress, Angst und damit vermehrte Unruhe und
Schreien erzeugt. In diesem Zustand sind zwar teils große Verunsicherung und
Anspannung vorhanden, jedoch ist noch ein gewisses Maß an Selbstreflexion bei der
Mutter übrig und es können noch gewisse Bedürfnisse beim Kind wahrgenommen
werden.
• Zustand des Bindungsabbruchs:
Die Stärkung der Bindung lässt sich, basierend auf die polyvagale Theorie nach
Stephen Porges, dem Parasympathicus oder auch „ventralen Vagus“ und die
Schwächung dem Sympathicus zuordnen. Der Zustand des Bindungsabbruchs, der mit
dem Verlust der Selbstanbindung und somit auch dem Verlust des emotionalen
Kontaktes zwischen Mutter und Kind einhergeht, entspricht dem Bild eines „dorsalen
Vagus“. Meist mitverursacht durch eigene unverarbeitete traumatische Erlebnisse der
Mutter kommt es zur völligen Denk-, Fühl-, und Handlungsunfähigkeit. Ein Zustand
von Haltlosigkeit, Verzweiflung, Ausweglosigkeit und nicht selten sogar Todesangst
(Thomas Harms, 2013, S. 235-238).
4.2 Stärkung der Feinfühligkeits- und Regulationsfähigkeit der Eltern
Auch wenn die EEH eine Methode ist, die in vielen Arbeitsfeldern einsetzbar ist, so ist es
doch in erster Linie die Orientierungslosigkeit von Eltern beim Verstehen des kindlichen
Verhaltens sowie die Hilflosigkeit und Verzweiflung im Umgang mit exzessiv schreienden
Kindern, die sie zur Beratung beziehungsweise in die Therapie bewegt.
Ein Hauptaugenmerk in der Beratung wird dabei auf die Eltern gelegt.
Schritt 1:
Während und nach einer ausführlichen Anamnese wird eine Verhaltensbeobachtung
durchgeführt, die ersten Aufschluss über die Interaktion zwischen Eltern und Baby geben.
Dabei werden die körperlichen Zeichen wie Atmung, Blickkontakt und Muskeltonus
registriert.
Schritt 2:
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In der zweiten Phase sollen die Eltern ihre eigenen körperlichen und emotionalen Reaktionen
in der Krisensituation reflektieren lernen. Wichtig dabei ist eine wertfreie Selbstbeobachtung
und eine Stressevaluierung, die es ihnen ermöglicht bindungsstärkende und
bindungsschwächende Zustände zu erkennen. Das Auffinden von spezifischen somatischen
Markern soll dabei helfen, bindungsschwächende Situationen frühzeitig wahrzunehmen, um
regulierende und bindungsstärkende Maßnahmen rechtzeitig einzuleiten.
Schritt 3:
Vor allem dieser Teil der EEH unterscheidet sich fundamental zu anderen
körperpsychotherapeutischen Methoden in der Bindungsarbeit. Denn es werden
körperorientierte Verfahren gezielt zur Erhöhung der Bindungs- und Regulationsfähigkeit
eingesetzt. Eine Möglichkeit besteht im Einsatz der Bauchatmung. Dadurch kommt es zur
Aktivierung des Parasympathikus und somit zu einer Entspannung der Mutter. Dies erhöht
wiederum die Bindungsbereitschaft. Besonders gute Effekte können erreicht werden, indem
die Babys bei diesem Verfahren miteinbezogen werden. Es sei an dieser Stelle auch betont,
dass gerade die Bauchatmung einen wichtigen somatischen Marker für die Bindungsfähigkeit
darstellt (Thomas Harms, 2013, S. 246-251).
Eine weitere Herangehensweise ist die Arbeit mit Körperkontakt. Der Ursprung liegt dabei in
der Schmetterlingsmassage von Eva Reich, die in diesem Zusammenhang auch den Ausdruck
„Mothering the mother“ gebrauchte (Thomas Harms, 2000, S. 207-208). Mechthild Deyringer
(2008) beschreibt, dass eine Bindungsperson von einem Baby dann als „sicherer emotionaler
Hafen“ empfunden wird, wenn es dort auch den körperlichen Halt und liebevolle
Berührungen erfährt. Dies wiederum stellt eine Voraussetzung für eine „spätere körperliche
und seelische Gesundheit und Liebesfähigkeit“ dar. Thomas Harms entwickelte in diesem
Zusammenhang den Begriff „Bindung durch Berührung“ (S. 14-15).
Diese Techniken werden aber nicht nur für die Babys, sondern eben auch für die Mütter
verwendet. Die positiven Effekte dabei liegen in der Entspannung und besseren
Körperwahrnehmung der Mutter, der daraus resultierenden erhöhten Aufnahmebereitschaft
und einem vergrößertem Verständnis für die Bedürfnisse des Babys. Diese Verfahren sind
dann sehr hilfreich, wenn keine traumatischen Belastungen bei den Eltern vorliegen. Ist dies
jedoch der Fall, können exzessive Schreiphasen diese Traumata triggern und es kommt bei
den Eltern zu überwältigenden Stresszuständen. Der daraus resultierende Verlust der
Resonanz-, Bindungs- und Selbstwahrnehmungsfähigkeit der Mutter benötigt die
professionelle Hilfe eines Therapeuten. Spezielle Techniken aus der EEH wie die
„Nabelschnur-Verbindung“, auch „Sicherheitsstation“ genannt, sowie Methoden und
Strategien aus der Traumatherapie finden dabei Verwendung.
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Bei der „Nabelschnur-Verbindung“ wird ein Kontakt mit der Hand des Therapeuten an einer
von der Mutter ausgesuchten Körperstelle hergestellt. Einerseits wird dieser Kontakt von den
Betroffenen als zusätzliche Stabilität und Sicherheit empfunden, andererseits kann der
Therapeut dadurch die Bindungsfähigkeit der Mutter wahrnehmen. Dabei ist die Qualität
dieser Verbindung gleichzusetzen mit dem Bindungsstatus zwischen Mutter und Kind und
stellt ein sehr effektives, therapeutisches Werkzeug dar.
Schritt 4:
Zwar wurde, auch aus didaktischen Gründen, in den ersten Schritten der Fokus auf die Eltern
gelegt, in der Praxis wechselt er, abhängig von den Gegebenheiten, allerdings ständig
zwischen Eltern und Baby. Der Säugling reagiert auf die veränderte elterliche
Beziehungsfähigkeit mit zwei Reaktionsmustern.
Zunächst kommt es zu einer Entspannung und Öffnung und er wendet sich seinem Innenleben
zu. In der zweiten Phase durchläuft das Baby, gestärkt durch die stabilere Bindung zur
Bezugsperson, einen Schreizyklus. Dies ermöglicht ihm gespeicherte, prägende prä-, peri-
und postnatale Erlebnisse zu rekapitulieren und damit einen tiefgreifenden vegetativen
Entladungsprozess zu durchlaufen. Gerade in dieser Phase besteht die Gefahr einer elterlichen
Traumareaktivierung. Daher muss diese Phase vom Therapeuten gut begleitet und
gegebenenfalls abgebrochen werden, falls die Beziehungsfähigkeit (wieder) verloren geht.
Aus Sicht der EEH liegt das Hauptaugenmerk auf der Verbesserung der Feinfühligkeit und
Selbstanbindung der Eltern. Reichen diese Maßnahmen nicht aus, um eine Verbesserung der
Symptomatik zu erreichen, wird eine konkrete Traumatherapie für Eltern und Baby
vorgeschlagen (Thomas Harms, 2013, S. 251-255).
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5. Persönliche Vorgangsweise
In meiner Gemeinschaftspraxis für Osteopathie und Physiotherapie begann ich vor etwas
mehr als zehn Jahren mit Babys und Eltern zu arbeiten. Das für mich dazu notwendige
Selbstvertrauen kam einerseits durch die abgeschlossene Physiotherapie- und
Osteopathieausbildung, in denen die Arbeit mit Kindern in den Grundzügen vermittelt wurde.
Andererseits begann ich zu dieser Zeit meine postgraduierte Kinderosteopathiefortbildung am
„Osteopathischen Zentrum für Kinder“ in Wien. Es wurde dort sehr viel Wert auf eine
respektvolle und aufmerksame Annäherung und Behandlung der Kinder gelegt und fast
ausschließlich die „Biodynamische Osteopathie“ nach Jim Jealous angewandt. Dabei handelt
es sich um eine sehr sanfte Behandlungsform der Osteopathie.
Mehr oder wenig zufällig wurde ich über eine Tagung auf die EEH aufmerksam. Da ich zu
diesem Zeitpunkt bereits sowohl privat als auch beruflich schon mit exzessiv schreienden
Babys zu tun hatte, entschloss ich mich für die Ausbildung. Mit Fortdauer der Fortbildungen
wurde mir immer mehr bewusst, dass die Kombination von Kinderosteopathie und EEH
äußerst effektiv ist. Zusätzlich tauchten immer mehr Parallelen zwischen den osteopathischen
und körperpsychotherapeutischen Ansätzen auf.
Wie bereits erwähnt, findet man in der osteopathischen Literatur zwar ein wenig über
Anpassungs- und Regulationsschwierigkeiten bei Säuglingen, jedoch nur unzureichend über
die Bindung und Bindungsfähigkeit der Babys und Eltern. Im Kapitel 4.1 wird aber betont,
dass es sich dabei um ein essentielles Grundbedürfnis des Menschen handelt. Umso wichtiger
erscheint es mir, dass dieses Thema auch in der osteopathischen Arbeit mit Kindern mehr
Aufmerksamkeit erlangt. Auch deshalb, weil meines Erachtens eine gute Bindung zur Mutter
eine wichtige Ressource zur Selbstheilung jeglicher Erkrankung darstellt.
Liegt jedoch auf der anderen Seite ein eventuell schmerzhaftes Problem beim Säugling vor,
welches man mit einer osteopathischen Behandlung effizient behandeln kann, wird es dem
Kind in der Folge leichter fallen, mit der Mutter eine Bindung aufzubauen.
Die meisten Eltern kommen zu mir in die Praxis und gehen davon aus, dass ihr Baby ein
körperliches Leiden hat. Sehr häufig werden Bauchschmerzen als Ursache vermutet. Diese
sollten dann vom Osteopathen idealerweise in einer einzigen Sitzung behoben werden. Zwar
kommt es manchmal vor, dass es wirklich zu einer schnellen Auflösung der Symptomatik
kommt, jedoch stellt das nicht die Regel dar.
EEH in der Osteopathie – Osteopathie in der EEH
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5.1 Anamnese und Untersuchung In einem Erstgespräch werden die Beweggründe und vorherrschenden Symptome eruiert.
Dabei sollen die Fragen Aufschluss über eventuell vorliegende körperliche Prägungen durch
Schwangerschaft und Geburt, aber auch über mögliche intensive, emotionale prä-, peri- und
postnatale Erlebnisse geben. Während des Gesprächs werden die Verhaltensmuster sowohl
der Mutter als auch des Babys aufmerksam beobachtet. Einerseits kann dies Auskunft über
eine wichtige, gerade angesprochene Thematik geben, andererseits werden Erkenntnisse über
die Persönlichkeiten und deren Interaktionen gesammelt. Um das Weinen und dessen
mögliche Ursachen besser beurteilen zu können, werden detaillierte Fragen gestellt
(vergleiche dazu Kapitel Faktoren Weinen). Wenn keine unmittelbare Gefahr für das Baby besteht, ist es äußerst wichtig, das Gespräch
mit der Mutter wertschätzend und urteilsfrei zu führen, auch wenn manche Einstellungen und
Lösungsansätze nicht mit den eigenen vereinbar sein sollten. Es ist zunächst wesentlich, die
Mutter für die Therapie zu gewinnen. Denn nur allzu leicht kann es passieren, dass eine
Therapie abgebrochen wird, wenn sich die Mutter nicht richtig wahrgenommen fühlt und ihr
mütterliche Kompetenzen abgestritten werden. Bereits in dieser Phase der Therapie helfen
zahlreiche erlernte Methoden und Erkenntnisse aus der EEH wie Verlangsamung, Spiegelung
und Verdichtung bei der Gesprächsführung und Exploration des Problems.
In dem Erstgespräch ist es auch unbedingt notwendig, mögliche Kontraindikationen für eine
Weiterführung der Therapie auszuschließen und gegebenenfalls eine weitere Abklärung durch
einen Kinderarzt zu veranlassen. Danach wird das Baby in seiner Spontanmotorik beobachtet,
was sehr viel Aussagekraft für den Zustand des Kindes in verschiedensten Bereichen geben
kann. Dazu gehören motorischer Entwicklungsstand, Erregungszustand, vorhandene
Neugeborenenreflexe, prä- und perinatale Bewegungsmuster und vieles mehr.
Es folgt eine langsame und respektvolle Annäherung, um eine vorsichtige manuelle
Untersuchung zu ermöglichen. Jene Körperregionen, die anamnestisch oder durch die
Beobachtung vermehrt irritiert sein könnten, werden erst später und besonders sensibel
beurteilt. Die daraus gewonnenen Qualitäten und Quantitäten aus den verschiedensten
Geweben der parietalen, viszeralen und craniosacralen Systemen machen einerseits
Rückschlüsse über eventuell pathologische Zustände möglich und geben andererseits auch
Informationen über Behandlungsmöglichkeit und therapeutische Ansätze vor.
Erwähnenswert ist dabei, dass man mit den Händen nicht nur die körperlichen Strukturen
sondern auch Aspekte der Psyche wahrnehmen kann. So wird nicht nur in
körperpsychotherapeutischer sondern auch in zahlreicher osteopathischer Literatur auf klar
definierbare „Störungsmuster“ hingewiesen, die bei entsprechender Erfahrung durch eine
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bestimmte Kombination von Qualität und Amplitude der unwillkürlichen Bewegung am
Patienten fühlbar ist. Sie werden auch als „emotionale Muster“ bezeichnet und treten häufig
zusammen mit oft nicht bewussten Willkürbewegungen, wie zum Beispiel Anheben der
Schulter mit Rotation des Kopfes zu einer Seite bei Angst auf (Christine Conroy, 2006, S.
243-245).
Da sowohl körperliche als auch emotionale Probleme sehr häufig mit vermehrter Unruhe und
Schreien einhergehen, kann es im Laufe einer jeden Sitzung sinnvoll sein, den eigentlichen
Verlauf zu unterbrechen, um mit Methoden aus der EEH wieder ein tragfähiges und stabiles
Feld zu erzeugen. Das ist meist umso notwendiger je weniger Haltefähigkeit und Bindung
zwischen Mutter und Kind vorhanden sind und umso unruhiger und leichter irritierbar das
Baby ist. Gleichzeitig wird dadurch aber auch die Mutter in die „osteopathische“ Therapie
direkt miteinbezogen und das Baby als „Symptomträger“ steht nicht mehr alleine im Fokus.
Abhängig von der vorherrschenden Symptomatik in der Untersuchung kann dies sogar
bedeuten, dass eine zunächst vorwiegend osteopathische Befundung und auch Behandlung
immer mehr in den Hintergrund gerät oder sogar völlig unangebracht ist.
Meist ist es aber möglich, durch die Kombination mit der EEH eine gesicherte Umgebung zu
schaffen, um sogar traumatisierte Babys manuell vorsichtig und respektvoll zu untersuchen.
Besonders hilfreich dabei ist die Aufklärung und Instruktion der Mutter über die Möglichkeit
der Selbstanbindung. Auf der einen Seite kann sie dadurch selbst vermehrt zu Ruhe kommen
und wird bindungsfähiger, auf der anderen Seite hilft sie ihrem Baby entspannter zu werden
und erhöht gleichzeitig die Toleranzschwelle. Ein weiterer positiver Effekt dabei ist, dass die
Mutter lernt aktiv zur Beruhigung ihres Kindes beizutragen. Diese Verhaltensmuster und
Techniken sind auch im Alltag ohne therapeutische Begleitung eine große Hilfe.
Ziel meiner Anamnese und meiner Untersuchung ist es, einen möglichst umfassenden
Gesamteindruck von dem Baby und seinem Umfeld, sowohl in physischer als auch in
psychischer Hinsicht zu bekommen. Die Symptome des Babys sollten dabei für mich
nachvollziehbar sein und die Ursachen dafür möglichst genau zuordenbar.
5.2 Therapie Zunächst sei erwähnt, dass es fortwährend des Therapieverlaufs ständig zu Adaptionen an die
momentanen Gegebenheiten kommt und kommen muss. Der therapeutische Fokus richtet sich
auch nicht immer nur auf das Baby, sondern wechselt, je nach Notwendigkeit, zwischen den
anwesenden Personen. So ist es zum Beispiel nach einer traumatischen Geburt sehr häufig
sinnvoll, die Mutter auch mal alleine zu behandeln. Ähnlich verhält es sich mit den
therapeutischen Ansätzen. Da jede Emotionalität auch eine Körperlichkeit hervorruft und jede
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körperliche Prägung emotionale Spuren hinterlässt, sollte versucht werden, den momentan
adäquatesten Zugang zu wählen. Somit wechseln sich die Methoden der Osteopathie und der
EEH ab und vermischen sich sogar. Besonders häufig kommt dies naturgemäß bei der
Behandlung von Babys mit Regulationsschwierigkeiten vor. In diesem Zusammenhang hat
sich für mich die Technik der „Sicherheitsstation“, die im Kapitel 4.2 beschrieben wurde als
sehr effektives therapeutisches Werkzeug erwiesen und kommt deshalb auch häufig zur
Verwendung. Sie ermöglicht oft eine osteopathische Annäherung und Behandlung, die
ansonsten zu einer emotionalen Überforderung führen würde.
An dieser Stelle möchte ich noch ein paar Überlegungen zu Stillschwierigkeiten aus
osteopathischer Sicht anführen. Es ist unbestritten, dass unbeschwertes Stillen Mutter und
Baby dabei unterstützt, eine innige Bindung aufzubauen (Màrtha Guóth-Gumberger &
Elizabeth Hormann, 2004, S. 22). Sehr häufig ist aber gerade dieser Vorgang gestört und
damit auch ein großer Leidensdruck vorhanden. Intrauterine Zwangslagen und hohe
perinatale Belastungen auf den Schädel und die Halswirbelsäule des Babys können zu Mikro-
und Makrotraumata führen und sich dabei auf eine Reihe von Strukturen auswirken, die im
Zusammenhang mit dem Saug- und Schluckverhalten des Babys stehen. Zu ihnen gehören
knöcherne und knorpelige Strukturen sowie Faszien und Muskeln im Bereich des Gesichtes.
Aber auch Verletzungen im Bereich des restlichen Schädels, insbesondere der Schädelbasis,
können vor allem Auswirkungen auf neuronale Strukturen haben, die für das Saugen und
Schlucken notwendig sind. Eine osteopathische Behandlung dieser Strukturen kann das
komplexe Saug- und Schluckverhalten verbessern und dadurch schlussendlich nicht nur für
eine optimale Ernährung sorgen, sondern wesentlich zu einer besseren Bindung zwischen
Mutter und Kind beitragen (Maxwell Fraval, 2010, S. 765-770 & Noori Mitha, 2006, S.28-
30).
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6. Fazit
In den vergangen Jahrzehnten wächst langsam das Wissen über prä-, peri- und postnatale
Prägungen auf den Körper und die Psyche des Kindes. Neugewonnene Erkenntnisse aus der
Psychologie, Osteopathie, Geburtshilfe, Neurologie, Embryologie und vielen anderen
Fachgebieten tragen dazu bei, ein Gesamtverständnis für die Entstehung einer neuen
Persönlichkeit zu entwickeln. Dadurch werden auch die Auswirkungen traumatischer oder
unphysiologischer Geburten wie Kaiserschnittentbindungen auf Mutter und Kind klarer. Die
häufig aus verschiedenen Gründen daraus resultierenden Regulationsstörungen führen in
vielen Fällen zu Bindungsschwierigkeiten. Daraus resultieren wiederum andere, oft
schwerwiegende Langzeitfolgen, wie unter anderem Defizite im Selbstwert, in der sozialen
Kompetenz, in der emotionalen Autoregulation und Reduktion der Widerstandsfähigkeit bei
Stress und Erkrankungen (Thomas Harms, 2015, EEH-Kongress in Oldenburg).
Darüber hinaus kann man sogar beobachten, dass dies auch negative Folgen für die
darauffolgende Generationen haben kann (William Emerson, 1996, S. 165).
Leider haben unsere Gesundheitssysteme noch nicht die Tragweite und das Potential dieser
Auswirkungen erkannt und es gibt noch viel zu wenig adäquate Unterstützung für Eltern und
Babys in Schreikrisen. Die therapeutische Auseinandersetzung mit einem exzessiv weinenden
Baby und dessen, meist unter massiven Leidensdruck stehenden Eltern benötigt viel
Empathie, Erfahrung und Wissen aus verschiedensten Fachgebieten. Um möglichst effizient
unterstützend zu sein, müssen sich jene Berufsgruppen, die sich mit dem Thema
Schwangerschaft, Geburt und erste Lebensphase auseinandersetzen, vermehrt untereinander
austauschen. Da man nicht in allen Bereichen spezialisiert sein kann, macht es sicherlich
Sinn, Gesamtkonzepte zur Behandlung von Schreibabys zu entwickeln wie es vermutlich
auch in dem aufbauenden Modul der EEH-Ausbildung zum EEH-Therapeuten angedacht ist.
Ich würde es sehr begrüßen, wenn in naher Zukunft das Thema „Bindung“ und die
körperpsychotherapeutischen Ansätze aus der EEH in der Kinderosteopathie mehr
Berücksichtigung finden würden. Ebenso kann ich mir gut vorstellen, dass osteopathisches
Gedankengut vermehrt in der EEH-Ausbildung vermittelt wird, um noch bessere Brücken
bauen zu können.
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Quellennachweis Bücher: Auf die Welt gekommen, Thomas Harms (Hrsg.), Ulrich Leutner Verlag, 2000
Chamberlain David B.: Babys erinnern den Schmerz, 1989 Harms Thomas: Emotionale Erste Hilfe, 2000
Solter Aletha: Warum Babys weinen, 1995 Behandlung von Geburtstraumata bei Säuglingen und Kindern, William Emerson, Mattes Verlag, 1996 Bindung durch Berührung, Mechthild Deyringer, Ulrich Leutner Verlag, 2008 Der Natur bis ans Ende Vertrauen!, Christian Hartmann, Jolandos Verlag, 2003 Die gesammelten Schriften von Viola Frymann, Viola Frymann, Jolandos Verlag, 1994 Handbuch der pädiatrischen Ostopathie, Eva Möckel & Noori Mitha (Hrsg.), Urban&Fischer Verlag, 2006 Conroy Christine: Diagnostik und Behandlung emotionaler Muster
Hayden Elisabeth: Einführung Hayden Clive: Anpassungsschwierigkeiten Mitha Noori: Begleitung der Mutter vor, während und nach der Schwangerschaft Körper–Gruppe–Gesellschaft, Manfred Thielen (Hrsg.), Psychosozial–Verlag, 2013
Harms Thomas: Eltern-Baby-Körperpsychotherapie im Spannungsfeld von Trauma und Bindung, 2013
Osteopathische Behandlung von Kindern, Torsten Liem & Angela Schleupen & Peter Altmeyer & Renè Zweedijk (Hrsg.), Haug Verlag, 2010 Altmeyer Peter: Kinder als osteopathische Patienten Fraval Maxwell: Osteopathische Behandlung von Kindern mit Saugstörungen
Heber Anke & Senger Uwe: Dreimonatskoliken Stillen, Mártha Guóth-Gumberger & Elizabeth Hormann, GU Verlag, 2004 Vom Schreien zum Schmusen, vom Weinen zur Wonne, Karlton Terry, Axel Jentzsch Verlag, 2014 Internetquellen: www.emotionale-erste-hilfe.org, 15.01.2017 Exzessives Schreien, Wikipedia, 04.01.2017 www.sicherebindung.at, 14.01.2017 Vortrag: Harms Thomas: Fachtagung, Wurzeln der Bindung in Oldenburg, 2015