europa denkt mehrsprachig

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    Dossier

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    Nutzen und Nachteile der sprachlichen Viel-falt in Europa, speziell in den Kulturwissen-schaften, waren Thema eines internationalenKongresses, der am 23. und 24. Januar 2004in der Berlin-Brandenburgischen Akademieder Wissenschaften stattfand. Die von derDVA-Stiftung und der Robert Bosch Stiftung,beide Stuttgart, initiierte Tagung wurde vomDeutsch-Franzsischen Institut, Ludwigs-burg, in enger Kooperation mit der Maisondes Sciences de lHomme, Paris, vorbereitet.Die Schirmherrschaft hatte der Deutsch-Franzsische Kulturrat bernommen. 160Teilnehmer verfolgten an den beiden TagenVortrge und Diskussionen, die sich, ausge-hend vom deutsch-franzsischen Beispiel,mit der Frage des Lehrens und Schreibens inder Landessprache, mit Mehrsprachigkeit

    und bersetzen in Lehre und Forschung unddem einschlgigen Status quo in europi-schen Forschungsnetzwerken beschftigten.Die Beitrge des Kongresses werden voraus-sichtlich in einem Sammelband verffent-licht.

    Nicht als lstiges Hemmnis, sondern alsAusdruck und Quelle kulturellen und intel-lektuellen Reichtums und damit als wertvol-le Ressource sei die sprachliche Vielfalt in Eu-ropa zu werten und zu erhalten, dies war die

    einmtige Botschaft der politischen Vertreterbei der Erffnungsveranstaltung im Leibniz-Saal der Berlin-Brandenburgischen Akade-mie. Franois Scheer, Ambassadeur de Franceund Kuratoriumsvorsitzender der DVA-Stif-tung, wies darauf hin, dass selbst der Dialogzwischen deutschen und franzsischen Kul-turwissenschaften trotz langjhriger Bem-hungen wegen mangelnder Sprachkennt-nisse und einem unzulnglichen Netz anbersetzungen auf der Stelle trete. Ein dich-terer Transfer sei jedoch unerlsslich, damitdie kulturelle Einheit Europas zugleich Basisfr eine Gemeinschaft der Werte wird.JuttaLimbach, Prsidentin des Goethe-Instituts,griff diesen Gedanken auf und regte an, Kon-zepte fr die kulturelle Verstndigung zu fin-den. Dabei sei Mehrsprachigkeit eines der

    ersten Bildungsziele, um die Brger tolerantund europatchtig zu machen. Auch bei die-ser Aufgabe komme Frankreich und Deutsch-

    land hohe Verantwortung zu, erklrte diefranzsische Europaministerin Nolle Lenoir,zugleich Beauftragte fr die deutsch-franz-sische Zusammenarbeit. Vordringlich seieneine dichtere Zusammenarbeit zwischen Uni-

    versitten und Forschungseinrichtungen bei-der Lnder sowie verstrkte Manahmenzum Erlernen der Partnersprachen.

    Erika Mursa / Nicole Reinhardt*

    Europa denkt mehrsprachigDeutsche und franzsische Kulturwissenschaften im DialogInternationaler Kongress am 23. und 24. Januar 2004Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften

    * Dr. Erika Mursa, DVA-Stiftung, Stuttgart (Erffnungsveranstaltung, Sektion 1, Schlusspodium); Dr. Nicole Reinhardt,

    Maison des Sciences de lHomme, Paris (Sektion 2 und 3).

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    Eine Kultur viele Sprachen. Zur IdentittEuropas hatteWolfgang Frhwald, Prsidentder Alexander von Humboldt-Stiftung, sei-nen Erffnungsvortrag berschrieben. Er be-

    tonte, dass die Einheit der europischen Kul-tur nicht auf zentralistische Strmungen inihrer Geschichte zurckzufhren sei, son-dern dass vielmehr die babylonische Verwir-rung der Sprachen am Anfang aller Kulturenstand. Fr die Entstehung eines Gemeinwe-sens sei jeweils eine gemeinsame Sprache er-forderlich, die zugleich Einheit (Paradies)und Abgrenzung nach auen (Babel) be-

    deute. Sprachwissenschaftler vergleichendiesen Gegensatz auf der einen Seite mit derhistorischen Gestalt des Mithridates, despolyglotten, kriegerischen Knigs, der alle22 Sprachen der von ihm beherrschten Vl-ker gesprochen haben soll, und auf der ande-ren Seite mit dem imperialen und sprachim-perialistisch vorgehenden Rom. Ein ber-leben der europischen Hochkulturen hltFrhwald unter Bezug auf einen Titel vonJr-

    gen Trabantnur dann fr mglich, wenn Mi-thridates im Paradies leben kann, alsoinnerhalb der politischen und wirtschaft-lichen Einheit Europas der Reichtum allerSprachen und Kulturen erhalten bleibt.

    Gefhrdet sei dieses sprachlich-kulturel-le berleben durch die globale Anglisierungim Zusammenspiel mit der scheinbar unauf-haltsamen Macht des Marktes. Deutsch ver-

    mag hier offenbar nicht mehr als Sprache frinnovative Produkte und Leistungen zu tau-gen. Zudem knnen auch bestimmte wissen-schaftliche Begriffe und Methoden (in denBio- und Naturwissenschaften, in den Sozial-

    wissenschaften) nicht mehr auf Deutsch be-schrieben werden. Nationalsprachen laufenso Gefahr, auf eine private Kchensprachereduziert zu werden und damit ihre funktio-nale Variationsbreite zu verlieren, die sie sicheinst im Gefolge der Auseinandersetzung mitdem scholastisch erstarrten Latein und sei-ner Zurckdrngung erworben hatten unddie letztlich zu geistiger Befreiung, zu wis-

    senschaftlichem, politischem und kulturel-lem Fortschritt gefhrt hatte.

    Sektion 1: Lehren und Verffentlichenin der Landessprache:notwendige Grundlage oder Relikt?Leitung: Etienne Franois,(Univ. Paris I/TU Berlin)Eingeleitet wurden die Sektionen jeweilsdurch das Impulsreferat eines franzsischenund eines deutschen Referenten. Maurice Ay-mard, Administrateur der Maison des Scien-

    ces de lHomme, Paris, verwies auf die Praxisin der MSH, wo in 15 Sprachen gesprochenund geschrieben wird. Diese Sprachgrenzen

    werden erstens durch bersetzungen ber-schritten, zweitens werden die Ergebnisseauf Englisch in groen auslndischen Fach-zeitschriften publiziert. Bei internationalenArbeitstreffen habe sich berwiegend dasEnglische als gemeinsames Kommunika-tionsmittel etabliert, weshalb flieende(mndliche) Englischkenntnisse fr jedenGeistes- und Sozialwissenschaftler, der sichnicht aus der internationalen Fachdiskussionausschlieen will, unabdingbar seien. Aller-dings fhre diese irreversible Dominanz desEnglischen auch zunehmend zu Ungleichge-

    wichten in der Verbreitung von Ideen und da-mit im internationalen Ansehen der For-scher: So werden in den USA nur englisch-

    sprachige Publikationen wahrgenommen;bei bersetzungen aus anderen Sprachenwerden Originaltitel, ursprnglicher Erschei-

    nungsort und Datum nicht genannt.Aymardwies darauf hin, dass eine gemeinsame Spra-che auch Verstndigung vortuschen knne,da tiefere Schichten des Verstndnisses uner-schlossen bleiben. Daher wre es fr dieGeistes- und Sozialwissenschaften als Ver-lust zu verbuchen, wenn sich das Englischeals alleinige Wissenschaftssprache durch-setzte.

    Welchen Stellenwert hat Publizieren,Unterrichten und Schreiben in der Landes-

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    sprache in der schnen neuen Zeit der Glo-banglisierung?, lautete die provokative Fra-ge vonJrgen Trabant, FU Berlin. In der Lehresei zu beobachten, dass auch in den Natur-

    wissenschaften (letztlich wegen unzulng-licher Sprachkenntnisse) bislang selten aufEnglisch unterrichtet wird. Denn wirklicheElite ist man als Lehrer nur da, wo man berdie gesamte Flle der (mutter-)sprachlichenAusdrucksmglichkeiten verfgt, meinte Tra-

    bantund fhrte dies in seinem rhetorisch mit-reienden Vortrag beispielhaft vor. Wissen-schaftliche (mndliche) Lehre enthalte die

    zwei Dimensionen des Sprechens, die sach-und weltbezogene (semantische) einerseitsund die partnerbezogene (pragmatische) an-dererseits. Dieses Sprechen ber schwierigeneue Gegenstnde sollte die besten Kommu-nikationsmglichkeiten nutzen und keinezustzliche sprachliche Hrde aufbauen. Ei-ne andere Funktion habe das ganz auf denGegenstand konzentrierte wissenschaftlicheSchreiben, dessen Adressat potenziell dieganze Menschheit ist. Hier greifen vor allemdie Naturwissenschaften gerne auf globale-sisch zurck, um das zuvor im ExperimentBeobachtete zu protokollieren. Bei den Kul-turwissenschaften, wo es nicht um Sachen,sondern um Texte und Zeichen und um derenFortschreiben in Interpretationen und Kom-mentaren geht, ist Schreiben nicht Protokol-lieren eines zuvor (sprachlos) Erforschten,

    sondern wissenschaftliche Forschung selbst.Das dabei verwendete Instrument, die Spra-che, muss hier bestmglich, in seiner gesam-ten Variationsbreite zur Verfgung stehen in der Regel die Landessprache. Mit diesersprachlichen Gebundenheit entsteht daskommunikative Problem des Kulturwissen-schaftlers, der weltweit verstanden werden

    will. Einen Ausweg bietet nur das berset-zen, weshalb ein grozgiges nationalesFrderprogramm fr den Export der For-schung dringend erforderlich sei.

    Mit der Wirkung der Sprache auf das Den-ken beschftigte sich Walter Krmer (Verein

    fr deutsche Sprache) und erklrte, dasswissenschaftliche Zweitklassigkeit entstehe,wenn statt der fr kreatives Forschen uner-lsslichen Muttersprache ein Pidgin-Idiom

    verwendet wird. Deshalb und auch wegen derBringschuld der Wissenschaftler gegen-ber der eigenen Sprachgemeinschaft (diezugleich Finanzier ist) sollte Spitzenfor-schung zunchst in der Muttersprache erfol-gen und danach erst der internationalen Ge-meinschaft auf Englisch bekannt gemacht

    werden.Antoine Compagnon, Univ. Paris IV, der

    franzsische Literaturwissenschaften an ei-ner amerikanischen Universitt lehrte, unter-strich, dass Literatur (in Forschung und Leh-re) nicht von der jeweiligen Sprache getrennt

    werden knne. Gegen diese berzeugungund unter dem Druck der amerikanischenVerhltnisse immer weniger Studentennahmen wegen mangelnder Sprachkennt-nisse an seinen Veranstaltungen teil habe erschlielich franzsische Literatur auf Eng-lisch und auf der Grundlage englischer ber-setzungen gelehrt, eine Praxis, die von den inden USA lehrenden Germanisten schon seitlngerem und fast flchendeckend gebt

    werde. Erkennbar resignativ formuliert erdas Minimalziel, dass fremdsprachige Litera-tur zumindest im Original gelesen werdensollte.

    Manfred Nieen, Vertreter der Deutschen

    Forschungsgemeinschaft, erluterte, dassdie DFG bei ihrer Frderpraxis auf grt-mgliche Dissemination der Forschungser-gebnisse achten msse und daher, dem Bei-spiel der Psychologie folgend, in weiterenFchern zunehmend keine deutschsprachi-gen Publikationen mehr frdern werde. Alsgegenlufige Tendenz zum universellen Eng-lisch nannte er deutsch-italienisch-franzsi-sche Forschernetzwerke sowie Empfehlun-gen des European Research Council zumErhalt der Diversitt der Sprachen. Denn die

    jeweils verwendete Sprache habe durchausImplikationen dafr, welche Ideen auf dem

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    Hintergrund welcher sozialen und kulturel-len Gegebenheiten zum Tragen kommen.

    Diese Idee griffGesine Schwan, Prsidentinder Europa-Universitt Viadrina, Frankfurt/Oder, auf und unterstrich, dass wissenschaft-liche Fragestellungen in einem bestimmtensoziokulturellen Milieu entstehen. Eine ver-einheitlichte Sprache berge die Gefahr, dassmit ihr Fragestellungen bernommen wer-den, die fr den eigenen Kontext weniger re-levant sind. Damit knnte eine Amerikanisie-rung den europischen Standortvorteil in denKulturwissenschaften zerstren. Um aus

    dem europischen Reichtum der Mehrkultu-ralitt schpfen zu knnen, mssten in denGeistes- und Sozialwissenschaften zumin-dest die rezeptive Sprachfhigkeit gestrktund Experimente zur Einbung von Mehr-sprachigkeit in der Lehre zugelassen werden,die eine Konfrontation von Wissenschafts-kulturen ermglicht.

    Jack Lang, ehemaliger franzsischer Kul-turminister, wies in einem kulturpolitischenAusblick vor Beginn der Sektion 2 daraufhin, dass die emotionale Haltung gegenberEuropa nicht mit der politischen Wirklich-keit Schritt halte. Um Europa die fehlendeSeele einzuhauchen, msse endlich ein Euro-pa der Kultur geschaffen werden. Mit diesemZiel pldierte er fr eine radikale Politik zu-gunsten der Mehrsprachigkeit, fr das Erler-nen von zwei lebenden Fremdsprachen ab

    dem jngsten Alter, fr mehrmonatige Auf-enthalte von Schlern im fremdsprachigenAusland, fr eine Vervielfachung universit-rer Kooperationen und Mobilittsstipendienfr Studierende.Jack Lang forderte zudem dieSchaffung einer Deutsch-Franzsischen F-deration, in der sich alle kulturellen und po-litischen Einrichtungen beider Lnder engzusammenschlieen sollten.

    Sektion 2: Mehrsprachigkeit undbersetzen: Behinderung, Vergeudung,intellektueller Mehrwert?Leitung: Albert Hamm,

    (DFH/UFA, Saarbrcken)Gerhard Stickel, Institut fr Deutsche Sprache,Mannheim, erluterte in seinem Impulsrefe-rat zunchst die linguistische Unterschei-dung zwischen Multilinguismus und Pluri-linguismus. Whrend mit Multilinguismusder Zustand von Gesellschaften und Territo-rien gemeint ist, in denen mehrere Sprachengesprochen werden (Schweiz, Belgien), be-

    zeichnet Plurilinguismus individuelle Viel-sprachigkeit. Ein multilingualer Raum sei dieEuropische Union, die den Schutz allerSprachen festschreibt, indem sich in ihrenInstitutionen die Vertreter der verschiedenenStaaten muttersprachlich ausdrcken kn-nen. Um die Kommunikation zwischen denMitgliedern zu gewhrleisten, setzt die EUerhebliche Mittel fr Dolmetschen und ber-setzen der gesamten schriftlichen Produk-tion ein. Dieser Aufwand beansprucht derzeit0,8 Prozent der Haushaltsmittel (circa 500Millionen Euro) und wird mit der EU-Erwei-terung erheblich wachsen. Fr die multilin-guale Realitt Europas wre eine Kostensen-kung nur zum Preis der Reduktion auf einigeHauptsprachen mglich, was sich kaum mitdem politischen Grundprinzip der Gleich-stellung und Bewahrung des europischen

    multikulturellen Erbes verbinden liee. Kon-sequente Zweisprachigkeit (zum Beispielplus Englisch fr alle Mitglieder der Union)kann zwar den bersetzungsaufwand redu-zieren, birgt aber die Gefahr der Verarmungder Einzelsprachen, wie es sich stellenweisebereits beobachten lsst: Die Nationalspra-che wird zugunsten des Englischen als Wis-senschaftssprache aufgegeben und ihreKompetenz damit auf Familie, Freizeit undFolklore (die 3 F) reduziert.

    Jean-Pierre Grossein, CNRS/EHESS, Mar-seille, verwies darauf, dass bersetzungeneine Vertiefung des Verstndnisses erzeugen.

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    Dies gelte im Bereich der Geistes- und Sozi-alwissenschaften sowohl fr die berset-zung von Werken innerhalb eines Kulturrau-mes und besonders fr die bersetzung

    zwischen verschiedenen Kulturrumen. Sowerde die Alteritt des Deutschen und seinesspezifischen geistigen Bezugsrahmens zurgrten Hrde der bersetzungsttigkeit insFranzsische. Grossein zeigte dies an Beispie-len der bersetzung aus dem Deutschennach 1871. Die Beschftigung mit deutschenAutoren der Geistes- und Sozialwissenschaf-ten war zunchst getragen von dem Gedan-

    ken der Revanche auf der Grundlage der bes-seren Kenntnis des Gegners. Am BeispielMax Webers, von dem 1959 das erste Werk insFranzsische bersetzt wurde, zeigte Gros-sein, dass auch die unterschiedliche konfes-sionelle Aufladung von Begriffen im Deut-schen und Franzsischen Schwierigkeitenbei der bersetzung bereitet, so dass die Al-teritt von Konzepten durch kreative sprach-liche Neuschpfungen deutlich gemacht

    werden muss. Die bersetzerttigkeit wird indiesem Sinne zu einer komparativen For-schungsttigkeit, letztlich zu einem Zweigder Grundlagenforschung in den Geistes-und Sozialwissenschaften.

    Eric Vigne, verantwortlich fr den BereichPhilosophie bei den ditions Gallimard,sieht den Verleger vor allem als commerantdides. In Frankreich scheint es ausschlag-

    gebend zu sein, dass der bersetzte Autor ineinen franzsischen Diskussionskontext ein-geordnet werden kann. Dies geschieht zumBeispiel ber einen vernderten Titel, derfranzsische Diskussionshorizonte evoziertoder aber dadurch, dass das uvre in einenbereits vorhandenen Diskussionsrahmenpasst.

    Bernd Stiegler, Lektor Geisteswissenschaf-ten, Suhrkamp Verlag, setzte den Akzent aufdie vom bersetzten Werk ausgehende Alteri-ttserfahrung. Nicht so sehr Eingliederungin schon Bekanntes, als vielmehr die Erfah-rung der Fremdheit, auch die der eigenen

    Kultur, sei das Charakteristische am berset-zen. Am Beispiel der Werkbersetzung wich-tiger Vertreter der franzsischen zeitgenssi-schen Philosophie fhrte er aus, wie ber den

    franzsischen Import die deutsche Philoso-phie, aus der viele franzsische Philosophenschpfen, neu gelesen werden kann. So ent-steht ein eigentmlicher Dialog, wodurch inDeutschland ein Nietzsche aus Frankreichneue Akzente setzt.

    Jadja Wolf, bersetzerin, ging in ihrenAusfhrungen vor allem auf die vom Sek-tionstitel suggerierte Wirtschaftlichkeitsfra-

    ge des bersetzens ein. Der geistige Mehr-wert, der nicht nur fr den bersetzer,sondern auch fr den Leser der bersetzungentsteht, luft so Gefahr, auf rein kono-mische Rentabilittsargumente reduziert zu

    werden.Hans-Joachim Meyer, HU Berlin, verwies

    auf den Unterschied zwischen einer linguafranca als Verkehrsprache und der natr-lichen Sprache. Die Verkehrssprache dient inder Regel nicht der Formulierung von Begrif-fen, sondern entlehnt Texttypen und rhetori-sche Strategien. Angesichts der steigendenRolle der Wissenschaften fr das Alltagsle-ben unterstrich er die Bedeutung der ber-setzung wissenschaftlicher Begriffe in dengesellschaftlichen Diskurs.

    Sektion 3: Ein- oder Mehrsprachigkeitin europischen Netzwerken?Leitung: Hinnerk Bruhns,(CNRS/FMSH, Paris)

    Alain Supiot, MSH, Nantes, stellte die norma-tive Kraft der Sprache, die so menschlicheFreiheit wesentlich mitbestimme, in das Zen-trum seiner berlegungen. Daher sei die Fra-ge, ob in der EU nur eine Sprache fr Rechts-texte gelten soll, von hchster Bedeutung.Denn unterschiedliche Begriffe verweisenhier auf unterschiedliche Realitten und his-torische Rechtsentwicklungen. Dies gilt frdie fundamentale Trennung zwischen dem

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    angelschsischen Rechtsdenken des com-mon law und jenem des Kontinents, das bisheute auf der Basis des Rmischen Rechtsruht und so zwischen droit/loi, ius/ lex,Recht/Gesetz unterscheidet, wofr im Eng-

    lischen nur der Begriff law zur Verfgungsteht. Die Reduzierung auf eine Sprache wr-de hier zu erheblichen Verzerrungen bezie-hungsweise zu einer Aushhlung des Rechtsselbst fhren. Die Setzung von Normendurch die Verordnung von Sprachen und diedamit entstehenden Schwierigkeiten zeigteer auch am Beispiel der kolonisierten Lnder,

    die mit der Sprache eine Rechtsnorm ber-nehmen mussten, die nicht aus ihrer sozialenund historischen Realitt erwachsen war.Innerhalb der EU pldierte Supiotauf diesemGebiet fr die Beibehaltung von (ausgewhl-ter) Mehrsprachigkeit, die sich im Wesent-lichen an den drei vorhandenen Rechtstradi-tionen (Grobritannien, Frankreich, Deutsch-

    land) orientiert.Jrgen Kocka, Wissenschaftszentrum, Ber-

    lin, berichtete ber praktische Erfahrungenin Forschungsnetzwerken mit jeweils unter-schiedlichen Vorgehensweisen. Eine interna-tionale Arbeitsgruppe zur Geschichte desBrgertums whlte als Arbeitssprache dasDeutsche und damit die einschlgigen Be-griffsdefinitionen. Dabei wurde deutlich,dass die Wahl der Sprache keine bloe Formist, sondern die Fragestellungen und damit

    die Ergebnisse beeinflusst. In diesem Fallfhrte die Reduzierung auf eine Arbeitsspra-che zu einer Vertiefung der Diskussion, dadie Begriffe und somit das Forschungsobjekt

    vorab festgelegt waren. Die Arbeit am WZBhingegen erfordere vielfach den Rckgriffauf das Englische als Kommunikationsspra-che. Mit dieser Tendenz zur Einsprachigkeitgehe die Verdrngung starker sozialwissen-schaftlicher Traditionen, eine auferlegte Se-lektivitt des Denkens als Folge unifor-mierender Kategorisierungen und eine Ver-schleifung von regionalen und kulturellenFeinunterschieden einher. Dagegen biete

    eine gemeinsame, zur Grenzberwindungfhige Sprache aber auch wichtige Vorteile,die Kocka mit Ernchterung, Entprovinziali-sierung und Mglichkeit zum komparatisti-

    schen Arbeiten bezeichnete. Eine Einigungauf das Englische in groen Forschungs-gruppen sei eine Bereicherung, die Kommu-nikation, auch ber den europischen Kon-text hinaus, erst ermgliche. Zahlreichekleine Sprachen (Niederlndisch, Schwe-disch) betreiben inzwischen eine Verlage-rung der Wissenschaftssprache ins Engli-sche, um sich damit zum Teil sehr erfolgreich

    in die internationale Diskussion einzuschal-ten.

    Laurence Fontaine und Ingeborg Jostock be-richteten ber das Europische Hochschul-institut Florenz (EUI) aus Sicht der Lehren-den (Fontaine) und der Doktoranden (Jostock).Alle Bereiche dieser Hochschule (Politologie,Rechts- und Wirtschaftswissenschaften) ar-beiten ausschlielich auf Englisch, mit Aus-nahme von Geschichte, wo auch Franzsischals Unterrichtssprache erlaubt ist. Disserta-tionen am EUI knnen zwar in allen Spra-chen der EU eingereicht werden, in der Praxisberwiegt aber eindeutig das Englische. Da-bei schreiben deutsche Doktoranden gr-tenteils nicht in ihrer Muttersprache (70 Pro-zent), whrend ber 70 Prozent der franz-sischen Doktoranden ihre Dissertation aufFranzsisch abfassen.

    Patrick Fridenson, EHESS, Paris, schilderteErfahrungen aus einem deutsch-franzsi-schen Netzwerk zur Sozialgeschichte. DieKenntnis der jeweils anderen Sprache ist hierkein ausschlaggebendes Kriterium fr dieTeilnahme, zur Verstndigung werden Kurz-resmees angefertigt. Dieses seit zwei Jahr-zehnten bestehende Netzwerk hat zu einemdauerhaften Austausch gefhrt, der sich incotutelles, Verffentlichungen und Buch-ankufen fr die Fachbibliotheken nieder-schlgt.

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    Peter Fisch, Europische Kommission, Brs-sel, berichtete ber die Forschungsfrderungder EU fr europische Forschungsprojektepolitikbezogener Geistes- und Sozialwissen-

    schaften, wofr seit 1994 circa 50 MillionenEuro zur Verfgung gestellt werden. ObwohlAntrge in allen Sprachen der EU zugelassensind, werden 97 Prozent auf Englisch abge-fasst. Denn es ist bekannt, dass die Evaluie-rungskommission auf Englisch bert undihre Berichte auf Englisch verfasst.

    Katja Mruck, FU Berlin, stellte ein Projektzur qualitativen Sozialforschung vor, das Bei-

    trge kostenfrei per Internet zur Verfgungstellt. Alle Texte, die von einem wissenschaft-lichen Komitee ausgewhlt werden, werdenins Deutsche, Englische und Spanische ber-setzt. Da jede Verwendung angezeigt werdenmuss, lsst sich die weltweite Rezeption,selbst in Japan und China, nachweisen.

    Hans-Jrgen Lsebrink, Univ. Saarbrcken,machte darauf aufmerksam, dass je nachThema unterschiedliche europische Spra-chen zur Kommunikationssprache werdenknnen wie zum Beispiel Italienisch in derKunstgeschichte. Die Mehrsprachigkeit desForschers ist nach Lsebrink konstitutiv frsein wissenschaftliches Vorgehen und dieKonstituierung seines Gegenstandsberei-ches im internationalen Austausch. Sie wirddamit zu einem wesentlichen Element fr

    wissenschaftliche Innovation.

    SchlusspodiumMehrsprachigkeit in den Wissenschaften alsintellektueller Mehrwert wurde im Laufe desKongresses mehrfach besttigt. Fritz Nies,Univ. Dsseldorf, der Initiator dieser Veran-staltung war, stellte daher das Schlusspo-dium unter die Leitfrage Was ist dafr zutun, warum und wie? Insbesondere forder-te er nach der Berichterstattung zu den dreiSektionen die anwesenden Vertreter der gro-en Wissenschaftsinstitutionen auf, neuebilaterale Projekte zur Frderung von Mehr-

    sprachigkeit und bersetzen in den Wissen-schaften zu entwerfen, die den Weg fr Euro-pisches bereiten knnten.

    Konrad Ehlich, Univ. Mnchen, fasste seine

    Anregungen in Stichworten zusammen:1. Bercksichtigung der jeweiligen Vermitt-lungssituation (zum Beispiel Lehre in denPhilologien in den Bezugssprachen). 2. Fr-derung der Mehrsprachigkeit im Sinne akti-

    ver und passiver Kompetenz, um die Begeg-nung der Wissenschaftskulturen zu ermg-lichen. 3. Bessere Prsentation der Leis-tungsfhigkeit der europischen Wissen-

    schaften. 4. Einrichtung neuer Instrumentewie ein Europischer Zitaten- und Publika-tionsindex. 5. Frderung wissenschaftlichenbersetzens, Ermutigung zur Publikation inanderen Wissenschaftssprachen. 6. Verbes-serung der fremdsprachlichen Voraussetzun-gen in der Schule. 7. Nutzung dieser Voraus-setzungen fr eine differenzierte wissen-schaftssprachliche Ausbildung. 8. Frde-rung der Untersuchung, was Wissenschafts-sprachen leisten. Zudem knnte die EU miteinem breiten Programm zur Frderung derSprachkenntnisse bei Wissenschaftlern mitgeringem finanziellem Einsatz groe Effekteerzielen.

    Heinz Wismann, EHESS, formulierte alsSchlussfolgerung aus Sektion 2, dass jegliche

    wissenschaftliche Erkenntnis, die in knst-lichen symbolisierten Sprachen formuliert

    wurde, stets der Rckbersetzung in die na-trliche Sprache bedarf, in der die Begrn-detheit dieser Erkenntnis berprft werdenmuss. Die Illusion von einer einzigen, univer-sellen, formalisierten Sprache fr die intel-lektuelle Kommunikation, die ohne eine sol-che kritische Befragung auskomme, sei aus-zuschlieen. Frank Baasner, Deutsch-Franz-sisches Institut, beschloss sein Resmee zuSektion 3 mit folgenden politischen Empfeh-lungen: 1. Die bilaterale deutsch-franzsi-sche Ebene, wo sich langjhrige Investi-tionen lohnend in gut funktionierendenStrukturen niedergeschlagen haben, gelte es

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    Es gibt gute Grnde fr franzsische Schle-rinnen und Schler, Deutsch zu lernen. Wir

    wollen nur einen nennen: Deutschland istFrankreichs wichtigster Handelspartner.2 700 deutsche Unternehmen in Frankreichund 1 250 franzsische Unternehmen inDeutschland beschftigen insgesamt mehrals eine halbe Million Mitarbeiter.1 Hinzukommt, dass Industrie und Handel in Frank-reich ihren Bedarf an Nachwuchskrften, diebeide Sprachen beherrschen und beide Un-ternehmenskulturen kennen, schon langenicht mehr decken knnen.2 Unter anderemist dies auf die Tatsache zurckzufhren,dass (hnlich wie in Deutschland) auch inFrankreich die Zahl der Jugendlichen, die dieSprache des Nachbarn erlernen, seit vielen

    Jahren kontinuierlich zurckgeht. Lediglich

    acht Prozent der franzsischen Schler ler-nen heute Deutsch als erste Fremdsprache,

    vor zehn Jahren waren es noch 15 Prozent.Noch deutlicher wird diese Entwicklung,

    wenn man die Zahl derjenigen Schler zu-grunde legt, die Deutsch als zweite Fremd-sprache lernen. Vor zehn Jahren waren esnoch gut 30 Prozent, heute sind es nur noch12 Prozent. Zum Vergleich: Spanisch als

    zweite Fremdsprache whlen etwa 70 Pro-zent der jungen Franzosen.3

    Sicherlich gibt es vielfltige Grnde frdiese Entwicklung. Von herausragender Be-deutung ist aber, dass die deutsche Sprachebei franzsischen Jugendlichen uerst ne-gativ konnotiert ist. Deutsch gilt zwar alsntzliche, aber auch als schwierige Sprache,fr die sich deshalb auch nur die sehr erns-ten und langweiligen4 Mitschler interes-sieren. Negativ besetzt ist auch das Bild, dassie von Deutschland und seinen Einwohnernhaben. Deutschland wird als kaltes Land

    wahrgenommen, den Deutschen fehlt esnach Meinung der heutigen franzsischen

    Jugend an savoir-vivre, Finesse und (inter-essanterweise) auch an Selbstbewusstsein.Dafr seien sie organisiert, pnktlich und

    ein relativ modernes Element in der Samm-lung deutsch-franzsischer Klischees tren-nen ihren Mll. Diese wenigen positiven As-soziationen sind allerdings wohl kaum dazuangetan, junge Franzosen fr Deutschlandund das Erlernen der deutschen Sprache zubegeistern.5

    Soweit die ernchternden Ergebnisse ei-ner Umfrage, die im Jahre 2003 an franzsi-

    Angelika Ivens*

    Englisch ein Muss, Deutsch ein PlusImagekampagne fr die deutsche Sprache in Frankreich

    * Dr. Angelika Ivens ist Romanistin und Anglistin. Sie betreut im Auftrag des Wirtschafts- und Arbeitsministeriums NRW und

    der IHK Aachen deutsch-franzsische Pilotprojekte in der Berufsbildung. Darber hinaus unterrichtet sie Franzsische und

    Altokzitanische Literaturwissenschaft an der RWTH Aachen und European Area Studies an der Universiteit Maastricht.

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    schen Schulen durchgefhrt wurde. Sie sindGrundlage und Anlass fr eine gro angeleg-te Imagekampagne des Goethe-Instituts, desAuswrtigen Amtes und der Deutschen Bot-

    schaft Paris, die darauf abzielt, FrankreichsSchlern (wieder) Lust auf Deutsch zu ma-chen.

    Den Auftakt bildete eine Vorabprsenta-tion, die am 14. Oktober 2003 im Palais Beau-harnais in Paris stattfand. Im Beisein desdeutschen Botschafters, Fritjof von Norden-skjld, und der Prsidentin des Goethe-Insti-tuts, Prof. Dr. Jutta Limbach, wurden Vertreter

    der deutsch-franzsischen Mittlerorganisa-tionen aus allen Bereichen des ffentlichenLebens informiert und zur Mitarbeit aufge-fordert. Bewusst angesprochen wurden auchdie deutsche und franzsische Unternehmer-schaft, von deren Interesse aus oben genann-ten Grnden ausgegangen werde konnte undderen finanzielle Untersttzung erbeten

    wurde. Fr die ffentliche Vorstellung derSprachkampagne wurde ein symboltrchti-ges Datum gewhlt. Sie erfolgte am Vorabenddes 22. Januar 2004, des neu eingerichtetenDeutsch-Franzsischen Tages6.

    Zielgruppe der Imagekampagne sind inerster Linie franzsische Schler, die vor derWahl ihrer zweiten Fremdsprache stehen,dann aber auch deren Eltern und Lehrer so-

    wie Schulbehrden und andere Multiplikato-ren. Eine ffnung auf den Primarschulbe-

    reich, das Berufsleben und schlielich aufdie breite ffentlichkeit soll ab Mai 2004 er-folgen. Mit dem Slogan On a tout faire en-semble wird das im deutsch-franzsischenKontext hufig verwendete Bild des couplefranco-allemand aufgegriffen und konkretauf deutsch-franzsische Liebespaare im Al-ter der Zielgruppe angewandt. Wange anWange sehen wir die Franzsin Marie und ih-ren deutschen FreundThomas, Pierre und sei-ne deutsche Freundin Tanja auf Postern,Postkarten und Lesezeichen. Sechs Wochenlang lchelten sie auf 450 Plakaten in den

    Pariser Metros. Insgesamt wurden nicht we-niger als 25 Tonnen Druckmaterial im gan-zen Land verteilt. Mit der Darstellung verlieb-ter Prchen wurde bewusst ein frisches

    Bild7 und ein emotionaler Zugang gewhlt.Fremdsprachenkenntnisse erffnen neueLebenswelten und ermglichen neue privateBegegnungen und Freundschaften; Deutscher- ffnet Dir berraschende Chancen frDeine Zukunft8, lautet das Versprechen.Ihre Geschichte im Begleittext spricht eherdie berufliche Perspektive an: Marie hat ihrenFreund kennen gelernt, als sie in Deutsch-

    land ein Praktikum absolvierte.Begleitet wird die Plakataktion von un-

    zhligen Veranstaltungen in Schulen, GoetheInstituten, Maisons franco-allemandes und

    vielen anderen Einrichtungen mehr. DieKampagne bietet interessierten Akteureneine Plattform, um mit Informationstagen,Ausstellungen und Konzerten fr die deut-sche Sprache zu werben. Um eine grereBreitenwirkung zu erreichen und auch denErwachsenen ein modernes Deutschlandbildzu vermitteln, sind im Laufe des Jahres 2004

    verschiedene Aktionen geplant, so etwa eineTandemtour entlang des Rheins, die von pro-minenten Radprofis aus beiden Lndern be-gleitet werden soll, oder das grte Ehema-ligen-Treffen der Welt, das deutsch-franz-sische Austauschschler der letzten 40 Jahrezusammenfhren soll und fr viel ffentliche

    Aufmerksamkeit sorgen knnte.Welche Wirkung die Werbekampagne bei

    den franzsischen Schlern zeitigen und wiesie sich zahlenmig auswirken wird, ob sich

    das Bild vom ernsten, langweiligen, mll-trennenden Deutschen revidieren lsst, kannheute noch nicht entschieden werden. Tat-schlich wandten sich aber offenbar schonzu Beginn der Aktionen zahlreiche Eltern andie Deutsche Botschaft und an die Goethe-

    Institute und baten um Untersttzung inihren Bemhungen, die Aufrechterhaltungoder die Einrichtung von Deutschklassen an

    Dokumente 2/200422

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    Dossier | Englisch ein Muss, Deutsch ein Plus 23

    ihren Schulen durchzusetzen. In einigenFllen wenigstens konnten Streichungen im-merhin rckgngig gemacht werden.9

    Als Erfolg kann auch jetzt schon vermerkt

    werden, dass Manahmen entwickelt wur-den, die den gngigen Klischees bewusst ent-gegenwirken und die darber hinaus ein ge-

    wisses Selbstbewusstein an den Tag legen. Ineinem Europa, dessen Zukunft nicht zuletzt

    von der Mehrsprachigkeit seiner Brger be-stimmt wird, kommt der deutschen Spracheals der meistgesprochenen Muttersprache

    schlielich eine wichtige Rolle zu. Richtigwar es sicherlich auch, das Hauptaugenmerkauf das Erlernen von Deutsch als zweiterFremdsprache zu richten, da es gegenber

    dem Spanischen deutlich ins Hintertreffengeraten ist. Den eingeschlagenen Weg, umdie sprachliche Ausbildung in die gewnsch-te Richtung zu lenken, fasste Frau Prof. Lim-bach bei ihrer Prsentation im Palais Beauhar-nais in die griffige Formel Englisch ist einMuss, Deutsch ist ein Plus!.

    1 Kommunikationskonzept fr die deutsche Sprache und das Deutschlandbild in Frankreich, hg. vom Goethe-Institut und

    dem Auswrtigen Amt, 2003, S. 13.

    2 In den entsprechenden Stellenausschreibungen werden nach Englischkenntnissen am zweithufigsten Deutschkennt-

    nisse gefordert.

    3 Informationsmaterial des Goethe Instituts Paris vom 3.3.2004, On a tout faire ensemble. Werbekampagne fr die deut-

    sche Sprache in Frankreich, S. 1.

    4 Kommunikationskonzept fr die deutsche Sprache und das Deutschlandbild in Frankreich, S. 17.

    5 Ebd., S. 79.

    6 Der Deutsch-Franzsische Tag wurde 2003 anlsslich des 40. Jahrestages der Unterzeichnung des lyse-Vertrages aus-

    gerufen und soll (so die Intention der verantwortlichen Politiker) von allen Bildungseinrichtungen in Deutschland und

    Frankreich dazu genutzt werden, ber das Partnerland zu informieren und fr dessen Sprache zu werben.7 Mehr Deutsch fr engere Partnerschaft, Pressemitteilung der Scholz & Friends Group, 22.1.2004.

    8 Kommunikationskonzept fr die deutsche Sprache und das Deutschlandbild in Frankreich, S. 27.

    9 On a tout faire ensemble. Werbekampagne fr die deutsche Sprache in Frankreich, S. 6.

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    Dokumente 2/200424

    Dossier

    Immer wieder wird in deutsch-franzsischenZusammentreffen und Publikationen auf dieeinzigartige enge wirtschaftliche und unter-nehmerische Verflechtung der beiden Lnder

    verwiesen. Interessant ist nun nicht nur zuuntersuchen, inwieweit die Fhrungspraxis

    von Unternehmen und Mitarbeitern sichdurch diese enge Beziehung angeglichen hat,sondern auch inwieweit im Bereich der Theo-rie und Forschung erfolgsbewhrte Manage-mentkonzepte und -instrumente eines Lan-des im anderen Land wahrgenommen, dis-kutiert oder sogar umgesetzt werden. In denMittelpunkt tritt insofern ein deutsch-fran-zsischer Wissenschaftstransfer in der Be-triebswirtschaftslehre und Managementfor-schung. Viele Fragen stellen sich diesbezg-lich: Worin hneln sich die deutsche BWL und

    die franzsische Gestion? Welche Formenvon Austauschbeziehungen wissenschaftli-cher Art und mit welcher Intensitt findenstatt? Wie ist das Verhltnis zu der dominie-renden US-amerikanischen Forschung? Aus-gehend von Konzepten und Formen des Wis-senschaftstransfers wird exemplarisch amBeispiel Marketing die Intensitt des Aus-tauschs illustriert. Abschlieend wird the-senartig eine Zwischenbilanz gezogen.

    1. Einfhrung: Transfer inden WissenschaftenDurch Globalisierung und Europisierungscheint eine zunehmende Annherung vonGesellschaften zu erfolgen. Es stellt sich dieFrage, ob landeskulturelle Unterschiede,Wirtschaftsstile und Managementpraktikenin Zukunft fortbestehen werden oder sichdurch Diffusions- und Transferprozesse ein-ebnen.1 Gesellschaften oder Gemeinschaftensind nicht hermetisch geschlossen, sondernbilden offene Systeme, die sich anhand vonWissenszuwachs und Vernderung in einerDynamik befinden. Von Fall zu Fall oder vonEpoche zu Epoche ffnen sich Gesellschaf-ten gegenber neuen Einflssen oder abergrenzen sich ab. Dies trifft auch auf Wissens-gemeinschaften zu, wie etwa die der Be-

    triebswirtschaftslehre in Frankreich undDeutschland. Dynamik wird durch Transfer-prozesse ausgelst. Bei Transfers handelt essich grundstzlich um Prozesse der bertra-gung, Vermittlung und Anpassung von Wis-sen und Praktiken eines Systems (zum Bei-spiel einer Organisationskultur oder Lan-deskultur) auf ein anderes. Dabei werdennicht nur die direkten prozesshaften Interak-tionsbeziehungen bercksichtigt und analy-

    Christoph I. Barmeyer / Bjrn S. Ivens*

    Deutsch-franzsischer Wissenschafts-transfer in der BetriebswirtschaftslehreEine explorative Untersuchung fr das Fach Marketing

    * Dr. Christoph I. Barmeyerist Matre de Confrences an der Grande cole IECS Strasbourg / Universit R. Schuman und

    leitet das Fach Personalmanagement sowie den Master-Studiengang Ingnierie dAffaires; Dr. Bjrn S. Ivens ist wissen-

    schaftlicher Assistent und Habilitand am Lehrstuhl fr Marketing der Friedrich-Alexander-Universitt Erlangen-Nrnberg.

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    25Dossier | Deutsch-Franzsischer Wissenschaftstransfer in der BWL

    siert, sondern auch ihre Gegenstndlichkeitund ihre Auswirkungen.2

    Transferprozesse im Management findenstndig statt, etwa bei der bertragung von

    Unternehmenskulturen oder Management-methoden von einem Unternehmen auf einanderes (zum Beispiel Informations-, Ent-lohnungs- oder Bewertungssysteme) oder

    von einer Gesellschaft auf eine andere (zumBeispiel das japanische Kanban oder das US-amerikanische MBO Management by Ob-

    jectives, Fhrung durch Zielvereinbarung).Hufig handelt es sich um einen asymmetri-

    schen Wissens- und Know-how-Transfer. Je-doch lassen sich nur wenige Management-konzepte problemlos transferieren und inneue Kontexte implementieren. Hufig sindbestimmte, teils bedeutende Anpassungenntig, weil sie nicht stimmig sind mit der je-

    weiligen Organisationskultur oder auf dieResistenz der betroffenen Mitarbeiter tref-fen.3

    Bevor auf Formen des Wissenstransferseingegangen wird, sollen kurz grundlegendeMerkmale von Wissenssystemen und -ge-meinschaften erlutert werden. Systeme wer-den durch Elemente, die in bestimmten Re-lationen zueinander stehen und durch Ele-mentbeziehungen gebildet.4 Dies trifft glei-chermaen auf unterschiedliche Systeme wiemathematische, technische, biologische oder

    soziale Systeme zu. Unterschieden werden

    geschlossene Systeme, die keine Auenbe-ziehungen haben und nur systeminterne Ele-mentbeziehungen aufweisen und offene Sys-teme, die auch Beziehungen zur System-umwelt aufweisen. In sozialen Systemen be-finden sich Akteure, die zur Gestaltung ihrerInteraktionen soziale Regeln schaffen undbefolgen sowie Systemgrenzen zu anderensozialen Systemen aufbauen oder System-durch- lssigkeit zulassen. Wissenssystemeund -gemeinschaften sind als offene Systemezu verstehen, die generell Transferprozessezulassen. Dabei stellen sich Fragen wie: Wel-che Akteure handeln im System? Welche

    Interaktionen finden zwischen den Akteurenstatt und zu welchen Konsequenzen fhrensie? Welche Grenzen weisen Systeme auf ?Wie durchlssig sind sie also fr Informatio-

    nen und Wissenstransfer aus anderen Syste-men? In welche Richtungen verluft dieserTransfer? Wie ist es um seine Intensitt(quantitativ: Anzahl) und um seine Inhalte(qualitativ: Themen) bestellt?

    Welche Formen nimmt der Wissen-schaftstransfer nun konkret an? Zu den be-kanntesten oder offensichtlichsten Formengehren einerseits schriftlich-formelle Kom-

    munikationen: Publikationen, hier insbeson-dere wissenschaftliche Fachzeitschriften undFachbcher. Auerdem findet ein mndlich-informeller Transfer whrend wissenschaft-lichen Kolloquien, Konferenzen und Koope-rationen im Allgemeinen statt, sowie durchdeutsch-franzsische Studiengnge (Abb. 1).

    2. Empirie: Kreuzpublikationenund KongressteilnahmenDie Wahl des Faches Marketing fr eine Be-standsaufnahme des deutsch-franzsischenWissenschaftstransfers5 bietet sich deshalban, weil diese Disziplin im Gegensatz zustark national gefrbten Fachbereichen, wieetwa Steuerlehre oder Rechnungswesen inihrem Gegenstandsbereich in hohem Maeinternational ist. Grundlegende Lehrbcher

    hneln sich in Struktur und Inhalt nicht nurin Deutschland und Frankreich oft erheblich.Es besteht internationale Einigkeit ber diezentralen Konzepte. Es ist somit ex ante aus-geschlossen, dass unterschiedliche Auffas-sungen ber Inhalt und Umfang der Diszi-plin eine Barriere fr den Wissenschaftsaus-tausch darstellen knnten. Zudem werden inbeiden Lndern (erstaunlich unhinterfragt)anglo-amerikanische Termini, zum BeispielMerchandising oder Trade-Marketing, ver-

    wendet.

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    Dokumente 2/200426

    Vor diesem Hintergrund liee sich erwarten,dass ein recht reger Austausch zwischen denScientific Communities beider Lnder be-steht. Ob dies in der Realitt auch der Fall ist,lsst sich anhand einer Analyse von Publika-tionen deutscher Wissenschaftler in den ein-schlgigen franzsischen Fachzeitschriftenund vice versa prfen. Entsprechende Zahlensind in Tabelle 1 wiedergegeben.

    Die Tabelle betrachtet nur Publikationenin so genannten referierten wissenschaft-lichen Zeitschriften, das heit in Schrift-reihen, deren Beitrge nach Begutachtungdurch anonyme Reviewer verffentlicht wer-

    den. In Deutschland ist das etablierte Stan-dardorgan die Marketing-Zeitschrift frForschung und Praxis (MZFP). In Frank-reich sind die wesentlichen Organe Recher-che et Applications en Marketing (RAM) so-

    wie Dcisions Marketing (DM), wobei zubeachten ist, dass die deutsche MZFP lngerbesteht als ihre franzsischen Schwester-zeitschriften. Nach Einschtzung der Auto-ren sind die Ergebnisse aber in dieser Formauch fr nicht-referierte Fachzeitschriftendes Marketings in beiden Lndern gltig.

    Es zeigt sich, dass deutlich mehr deut-sche Autoren in den franzsischen Zeit-

    schriften publiziert haben als umgekehrt.Der einzige Beitrag eines franzsischen Au-tors in der MZFP stammt aus dem Jahr 1981.Seitdem konnte oder wollte kein franzsi-scher Kollege mehr fr den deutschenMarkt schreiben. Das Interesse deutscherAutoren, ihre Forschungsergebnisse oderkonzeptionellen berlegungen dem franz-sischen Fachpublikum zu prsentieren, isterkennbar hher. Zu beachten ist aber, dassgerade in den frhen Jahren teilweise Einla-dungen an auslndische Wissenschaftler er-gingen, in Sonderheften Beitrge fr RAModer DM zu schreiben. Deutsche Autoren

    sind in diesen Ausgaben ebenso vertreten wieamerikanische oder englische Kollegen.

    Vor diesem Hintergrund ist eine gewisseEinseitigkeit, die sich zudem auf einemniedrigen Intensittsniveau bewegt, nicht zuleugnen. Von einem intensiven deutsch-franzsischen Wissenschaftstransfer im Fach

    Marketing kann nicht gesprochen werden.Eine weitergehende Analyse sttzt diesesBild. Neben dem schriftlichen Transfer fin-det Wissenschaftsaustausch auch auf Kon-gressen und verwandten Veranstaltungenstatt. Die wesentliche Tagung der franz-sischsprachigen Marketingwelt ist der Con-

    Akteure der

    Forschungs-

    gemeinschaft

    Interaktionen

    Formen:

    - Publikationen

    - Kolloquien etc

    - Professoren

    - Forscher

    - Berater

    - Studierende

    Inhalte:

    - Theorien

    - Modelle

    - Konzepte

    Akteure der

    Forschungs-

    gemeinschaftTransfer und

    Austausch von

    Wissen

    - Professoren

    - Forscher

    - Berater

    - Studierende

    Abb. 1: Transfer zwischen Wissenschaftssystemen

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    Dossier | Deutsch-Franzsischer Wissenschaftstransfer in der BWL 27

    grs international der Marketingvereini-gung AFM (Association Franaise du Marke-ting). Er vereint jhrlich die Marketingfor-scher frankophoner Lnder, neben Frank-

    reich insbesondere Belgien, die Schweiz,Kanada und Nordafrika und bietet ein mehr-tgiges Fachprogramm. Regelmige Teil-nahmen grerer deutschsprachiger For-schergruppen sind hier nicht beobachtbar.Es handelt sich in der Regel um Einzelperso-nen. Die Gesamtzahl deutscher Teilnehmerberstieg in den letzten Jahren selten 1 bis 2.Die deutschsprachige Marketingwelt verfgt

    nicht ber eine dem Congrs Internationalder AFM vergleichbare Veranstaltung. Das

    wesentliche Treffen mit Fachvortrgen ist dieSitzung der Kommission Marketing im Ver-band der Hochschullehrer fr Betriebswirt-schaft. Sie findet ebenfalls einmal jhrlichstatt. Die Teilnahme franzsischer Professo-ren ist bis auf wenige Ausnahmen zahlen-mig noch geringer als wie vice versa obendargestellt.

    Dennoch lassen sich positive Anstze be-richten. Auf Initiative franko- beziehungs-

    weise germanophiler Marketingprofessorenin beiden Lndern fanden in den letzten Jah-ren einige deutsch-franzsische Workshopsstatt, in denen Wissenschaftler beider Lndergegenseitig Forschungsarbeiten prsentier-ten. Die Thematik wechselte und umfasstesowohl methodische als auch inhaltliche

    Aspekte. Mit einer Teilnehmerzahl zwischen20 und 30 erweckten diese Treffen ein dochernstzunehmendes Interesse. Sie sind jedochnicht fest institutionalisiert, und ihre Zu-kunft hngt von persnlicher Initiative ab.

    Marketing

    ZFP1RAM1 DM 1

    1979 0

    1980 0

    1981 1

    1982 0

    1983 0

    1984 0

    1985 0

    1986 0 1 03

    1987 0 0 0

    1988 0 0 0

    1989 0 0 0

    1990 0 0 0

    1991 0 4 2

    1992 0 1 0

    1993 0 0 2 1 03

    1994 0 0 0 2 01995 0 0 0 2 0

    1996 0 0 0 0 0

    1997 12 1 0 0 0

    1998 0 3 0 0 0

    1999 0 1 0 0 0

    2000 0 1 0 0 1

    2001 0 0 0 0 0

    2002 0 0 0 0 0

    2003 0 0 0 0 1

    Summe 1 (2) 12 4 5 2

    Anmerkungen zur Tabelle:1 Betrachtet werden wissenschaftliche Zeitschriften mit anonymen Begutachtungsverfahren.

    2 Es handelt sich um einen deutschen Autor, der in Frankreich beschftigt ist.

    3 Die erste Zahl bezeichnet Artikel ausschlielich deutscher Autoren, die zweite Zahl betrifft Artikel, bei denen zumindest

    ein Autor Deutscher ist.

    Tabelle 1

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    3. Zwischenbilanz und AusblickAnhand des Beispiels deutsch-franzsischerKreuzpublikationen im Marketing wird ex-emplarisch deutlich, wie gro die Diskre-

    panz zwischen den engen Wirtschafts- undManagementbeziehungen und dem betriebs-

    wirtschaftlichen Wissenschaftstransfer ist.Es handelt sich wie es auch bisher stichpro-benartig im Bereich Personalmanagementfestgestellt wurde hufig eher um ein Ne-beneinander als ein Miteinander von For-schungsanstzen und -inhalten. Nur seltenfindet sich zum Beispiel in einem deutschen

    Lehrbuch zur Betriebswirtschaftslehre einefranzsische Referenz, ebenso selten einedeutsche Referenz in einem franzsischenLehrbuch der Gestion. Dagegen gibt eszahlreiche Verweise auf US-amerikanischeForschung, die aufgrund der englischenSprache und des eher universellen US-ameri-kanischen Ansatzes leichter zugnglich undbertragbar ist. Trotz zahlreicher wissen-schaftlicher Kolloquien, Institutionen undeiner deutsch-franzsischen Hochschule istdie lnderbergreifende Forschungsttigkeitgerade in der Betriebswirtschaftslehre als ge-ring einzustufen. Welche Grnde lassen sichhierfr anfhren?

    Angelschsische Faszination: Der angel-schsische Einfluss, insbesondere der US-amerikanische, ist seit den Anfngen des Fa-ches Betriebswirtschaftslehre/Gestion schon

    immer bedeutend gewesen. Die USA symbo-lisiert nach wie vor Innovation, Effizienz undErfolg. Seit Ende der 1990er Jahre haben diebeiden anderen konomischen Vorbildln-der Japan und Deutschland volkswirtschaft-liche Schwierigkeiten, so dass Konzepte undMethoden des japanischen oder deut-schen Modells stark an Einfluss verloren ha-ben. Somit ist im 21. Jahrhundert der Wis-senstransfer ein asymmetrischer, wenn nichtsogar ein einseitiger Transfer von den USAauf andere Lnder. Die Verbreitung der engli-schen Sprache und der Rckgang des Fran-zsischen und Deutschen in der Welt tragen

    noch zu einer Beschleunigung dieser US-amerikanischen Dominanz bei. Wenn sicheine Annherung oder Angleichung franzsi-scher und deutscher Wissensbestnde und

    Managementpraktiken feststellen lsst, dannnicht, weil etwa in Deutschland entstandeneKonzepte in Frankreich rezipiert werdenoder umgekehrt, sondern weil beide LnderUS-amerikanische Konzepte bernehmen.

    Sprachbarriere: Ein Wissenschaftssys-tem erschliet sich insbesondere durch dieBeherrschung der jeweiligen Landessprache.Sie erffnet erst den direkten Zugang

    schriftlich-formell oder mndlich-informell und das Verstehen kommunikativer Prozes-se, ohne den Rckgriff auf bersetzungen.Mangelnde Fremdsprachenkenntnis insbe-sondere bei betriebswirtschaftlichen Fach-termini die in Frankreich gerade nicht inder Lingua Franca Englisch benutzt werden sind immer noch ein hemmendes Elementtransnationaler Forschung und wissen-schaftlicher Begegnungen.

    Kontextgebundenheit von Management:

    Forschung und Praxis belegen im Rahmender Internationalisierung, dass Theorien,Modelle und Konzepte des Managementsstrker als angenommen vom kulturellenEntstehungskontext ihrer Schpfer, etwaForscher und Berater, geprgt sind und sichnicht einfach auf andere Kontexte bertragenlassen. Weder Unternehmenswerte noch Ma-

    nagementpraktiken sind berall gleich er-folgreich transferierbar. Managementme-thoden sollen allgemein helfen, plausibleund erfolgsversprechende Lsungen fr Pro-bleme der Unternehmens- und Mitarbeiter-fhrung zu finden. Wie sollen jedoch zumBeispiel franzsische Anstze mit typischdeutschen Institutionen wie Mittelstand oderMitbestimmung zurecht kommen?

    hnlichkeitsannahme: Eng verbundenmit der Kontextgebundenheit von Manage-ment ist die Annahme, dass Strukturen undProzesse in beiden Lndern hnlich gelagertsind. Dies ist ein Trugschluss, denn bei ge-

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    1 Michel Albert: Capitalisme contre capitalisme. Seuil, Paris 1991; Christoph I. Barmeyer: Interkulturelles Management

    und Lernstile. Studierende und Fhrungskrfte in Frankreich, Deutschland und Qubec. Campus, Frankfurt/New York

    2000; Philippe D'Iribarne: Die franzsische Unternehmenskultur im Angesicht des Wandels. In: Frankreich-Jahrbuch 2002.

    Leske + Budrich, Opladen 2003, S. 125136; Emmanuel Todd: Aprs l'Empire. Essai sur la dcomposition du systme am-

    ricain. Gallimard, Paris 2002; Henrik Uterwedde:Abschied vom franzsischen Modell? Staat und Wirtschaft im Wandel.

    In: Marieluise Christadler / Henrik Uterwedde (Hg.): Lnderbericht Frankreich. Leske + Budrich, Opladen 1999, S.201227.

    2 Hans-Jrgen Lsebrink: Kulturtransfer methodisches Modell und Anwendungsperspektiven. In: Ingeborg Tmmel(Hg.):

    Europische Integration als Prozess von Angleichung und Differenzierung. Leske + Budrich, Opladen 2001, S. 213226.

    3 Christoph I. Barmeyer et al.: 50 fiches pour aborder la gestion stratgique des ressources humaines. Bral, Paris: 2003.4 Volker Stein: Emergentes Organisationswachstum. Eine Systemtheoretische Rationalisierung. Rainer Hampp, Mnchen

    2000, S. 20ff.

    5 Die ersten Ergebnisse sind Teil eines deutsch-franzsischen Forschungsprojekts der Verfasser zum Thema "Deutsch-fran-

    zsischer Wissenstransfer in der BWL mit Schwerpunkt Marketing und Personal."

    nauerem Hinsehen unterscheidet sich zumBeispiel eine deutsche Aktiengesellschaftstark von einer franzsischen Socit Ano-nyme. Ein deutscher Aufsichtsrat ist nicht

    mit einem franzsischen Conseil dadminis-tration vergleichbar, verfgt er doch ber an-dere Kompetenzen, Zustndigkeiten undKontrollmechanismen. Gleiches gilt fr dieanderen Organe der Aktiengesellschaft wieden Vorstand, das Directoire, oder den Be-triebsrat, das Comit dentreprise. Deutsch-franzsische Unternehmen wie Aventis ha-ben mit diesen unterschtzten Systemunter-

    schieden zu arbeiten.Was ist nun zu tun, um den Wissen-

    schaftstransfer zu beleben? Als eine Ma-nahme zur Intensivierung des Wissenschafts-

    transfers bietet sich die Initiierung bi- odermultikultureller Forschergruppen an: Eineoffene und relativierende Position betriebs-

    wirtschaftlicher Forschung kann erreichtwerden durch eine Bildung von deutsch-fran-zsischen Forscherteams oder Arbeitsgrup-

    pen, die Forschungsobjekte und Fragestel-lungen aus beiden Gesellschaftssystemen be-handeln. Auf diese Weise lassen sich unter-schiedliche Standpunkte, Perspektiven und

    Sichtweisen produktiv einbringen und kom-binieren. Erste Anstze bestehen in einigenFachverbnden der BWL. Auch der Aus-tausch und die Kooperation von Hochschul-lehrern im Rahmen deutsch-franzsischerStudiengnge ber Inhalte ihrer Curriculaund spezifische Kurse wrde zu einer Inten-sivierung des Wissenschaftstransfers beitra-gen. Es ist zu hoffen, das die in Bologna ver-

    abschiedete europische Harmonisierungvon Studiengngen und Abschlssen zu ei-ner Intensivierung des deutsch-franzsi-schen und europischen Wissenschaftstrans-fers beitragen wird. Denn sowohl Frankreichals auch Deutschland haben interessante Al-ternativmodelle zu US-amerikanischer For-schung zu bieten und knnen gegenseitig

    viel voneinander lernen.

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    Dokumente 2/200430

    Dossier

    Wagen wir eine Expedition ins Niemands-land unserer Forschungswelt. Die Nicht-erfassung des dabei zu durchmessendenRaums gerade seitens deutscher Kartogra-phen muss Buchmarkt-Kenner verblffen.War doch die Bundesrepublik des spten20. Jahrhunderts das nach Titelzahl weltweitfhrende Land fr Literaturbertragung.Und dieser Spitzenrang fiel nicht vom Him-mel: Schon im 18. Jahrhundert stammte jederzweite Titel des deutschen Marktes aus frem-den Sprachen,1 und eine sprichwrtlicheLust am bersetzen prgte das Jahrhun-dert Goethes2. Nach dem Tod jener epocha-len Leitgestalt der wir nicht zufllig den Be-griff Weltliteratur verdanken betontenexterne Beobachter weiterhin kein Landbersetzt so viel wie Deutschland, in dem

    sie wahre bersetzungsfabriken ausmach-ten.3 Diese Hochkonjunktur deuten neuestefranzsische Forschungen aus starkem kul-turellem West-Ost-Geflle und einer Mangel-lage: Die deutsche Literatur habe sich im18. Jahrhundert erst in ihrer Bildungsphasebefunden, sei noch von niederem Niveauund unfhig gewesen, den Markt selbst aus-reichend mit Qualittsprodukten zu be-schicken. Daher rhre auch die damaligeSchchternheit deutscher bersetzer, die ho-

    he Selbsteinschtzung ihrer franzsischenKollegen.4 Als Zusatzgrund des rechtsrheini-schen Nachholbedarfs wird der verheerendeDreiigjhrige Krieg des vorangegangenen

    Jahrhunderts benannt. Es muss hier offen-bleiben, wieweit inlndischen Altgermanis-ten oder Frhneuzeitlern eine These zusagt,die das Deutungsmuster der versptetenNation ausweitet zu dem einer versptetenKultur.

    Doch zurck zur Gegenwart: Im weltwei-ten Ranking ist das heutige Frankreich ver-gleichsweise wenig offen fr fremde Litera-turerzeugnisse. Dies belegen nicht nur Sta-tistiken der UNESCO. Und es zhlt zu denGemeinpltzen, die Wurzel solch geringerEmpfnglichkeit fr Geistesprodukte ande-rer Kulturen im Grand Sicle einer National-

    literatur zu suchen, deren Modellcharakterim Europa der Folgeepoche lange unbestrit-ten blieb. Franzsischem Selbstverstndnisschien seitdem grozgiges Geben seligerdenn Nehmen. War Frankreich also vier Jahr-hunderte lang nur Geberland, das anderen

    von seinem berfluss abtrat, aber selbstkaum nach literarischer Zufuhr verlangte?Kam der vom Titel dieses Beitrags evozierteImportbetrieb seitdem nie mehr in Schwung?Wie sah es aus vor den um klassische Spit-

    Fritz Nies*

    Importbetrieb franzsische LiteraturEin Jahrtausend bersetzungen

    * Prof. Dr. (emer.) Fritz Nies, Universitt Dsseldorf. Der fr DOKUMENTE berarbeitete Beitrag wurde in erster Fassung

    verffentlicht in den Giessener Universittsblttern, Jg. 36, 2003, S. 8999.

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    Dossier | Importbetrieb franzsische Literatur 31

    zenprodukte errichteten Zollmauern, wie inden Frhphasen der Nationalliteratur? Stiegdas literarische Importvolumen nach denlangen Religionskriegen stark an, fiel es im

    klassischen Jahrhundert und in der Folgezeitebenso klar ab? uerte sich das hohe Selbst-

    wertgefhl franzsischer bersetzer erst im18. Jahrhundert und speziell gegenber deut-schen Zunftgenossen?

    Die Literaturwissenschaft Frankreichsscheint zur Beantwortung solcher und ver-

    wandter Leitfragen kaum gerstet. Zum ei-nen gilt ihre Aufmerksamkeit im gngigen

    Glauben an eine weit ber das 18. Jahrhun-dert hinausreichende europische Hegemo-nie ihrer Nationalliteratur primr derenAuenwirkung, kaum aber dem, was ihr von

    jenseits der Grenzen zuwuchs.5 Zum anderenrichten franzsische Forscher ihr Augen-merk meist auf eine einzige Epoche odernoch knappere Abschnitte, wenn nicht aufEinzelautoren. So halten sie manches Phno-men vorschnell fr zeittypisch und verken-nen Zeitenbergreifendes. Bei dem hier ge-

    whlten umfassenden Zeitraum brauchen ih-re Mikroanalysen Ergnzung durch die Fern-sicht von auen etwa jener teutonischenRomanisten, die sich weniger als hochspe-zialisierte Experten verstehen denn als for-schende Mdchen wenn nicht fr alles, sodoch fr vieles.

    Starten wir also zum Marathonlauf, mag

    auch das bibliographische Schuhwerk nochso lchrig sein. Einsatzpunkt des franzsi-schen bersetzungswesens sei die Renais-sance, versichert der namhafte Komparatist

    Yves Chevrel.6 Doch der lteste Text seinerSprache ist zugleich die lteste bersetzungund entstand ganze sechs Jahrhunderte vor-her: die Straburger Eide, ein zweisprachiggehaltener Vertrag zwischen den KnigenCharles le Chauve und Ludwig dem Deutschen. Beiden frhesten in Frankreich verfassten rein

    volkssprachlichen Handschriften, die erhal-ten und um die Wende vom 12. zum 13. Jahr-hundert entstanden sind, handelt es sich um

    bersetzungs-Manuskripte. Und das erste inFranzsisch gedruckte Buch war im 15. Jahr-hundert wieder eine bersetzung. Solche Da-ten geben nur einen ersten Eindruck vom Ge-

    wicht, das der bertragung aus anderenIdiomen schon im franzsischen Sprach-raum des Mittelalters zukam. Denn ber ei-nen Gutteil der Epoche hin war die Anzahl

    von bersetzungen deutlich grer als diejener Werke, die auf keine fremdsprachigenVorlagen zurckgingen. Nicht von ungefhrist das Wort translater seit dem Cambrid-ger Psalter von 1120 belegt. Hatte doch, wie

    erwhnt, rege bersetzungsttigkeit schonzu Jahrhundertbeginn eingesetzt, und biszum Ende der Epoche sollte sich die Zahl unsbekannter bertragungen auf mehrere hun-dert belaufen.

    Am Anfang war die bersetzungWelche Texte waren es, von denen franzsi-sche Versionen entstanden? Hier gilt es, Vor-urteile auszurumen. Nicht nur aus deut-scher Sicht ist das Klischee verbreitet, vordem reformatorischen Aufbruch des 16. Jahr-hunderts htten keine volkssprachlichen Bi-belfassungen existiert. Die Geschichte derfranzsischen Prosa beginnt indes, Anfangdes 12. Jahrhunderts, mit bersetzungen desPsalters; und bald danach folgten die weite-ren Bcher des Alten oder Neuen Testaments

    oder der gesamten Bibel, ebenso diverserfrhchristlicher Standardtexte. Als ebensofalsch erweist sich eine andere gngige An-sicht: Der Kampf des Papsttums gegenheterodoxe Bibelbertragungen habe erstmit der Reformation eingesetzt. Er begannschon Anfang des 13. Jahrhunderts in Metzund Lttich, mit der Verbrennung von ber-setzungen, die aus dem Umkreis der Walden-ser stammten.

    Eine weit grere Anzahl von bertra-gungen jedoch galt bereits jener nichtchrist-lichen Antike, deren berlieferung daschristliche Mittelalter nach verbreiteter An-

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    sicht keinen Raum mehr lie und die vorge-blich erst durch die Renaissance wiederbe-lebt werden sollte. Auch diese Einbrgerungantiker Texte setzte bereits um 1140 ein; und

    ab dem 13. Jahrhundert folgte die einer statt-lichen Reihe lateinisch schreibender Auto-ren, die deutlich ber den Schulkanon spte-rer Zeiten hinausging. Auch manche grie-chischen Texte wurden Nichtgelehrten zu-gnglich gemacht, und allein um Aristotelesbemhten sich vier verschiedene bersetzer.Nur selten wurden allerdings griechischeOriginale direkt angegangen, die meisten

    volkssprachlichen Versionen entstanden aufGrundlage lateinischer Transit-Texte. hn-lich verfuhren die bersetzer einiger Manu-skripte aus anderen Sprachen. Sogar zweiZwischenstadien durchliefen Aristoteles und

    sop (mit allen Folgerisiken potenzierterMissverstndnisse).

    Der weitaus grte bersetzungseifergalt einem reichlichen hundert lateinischerTexte des Mittelalters selbst. Angesichts deshohen Zeitaufwands fr Erstellung und Ko-pieren von Handschriften wie rudimentrerVerkehrsmittel ging natrlich, aus heutigerSicht, deren Verbreitung ungemein langsam

    vonstatten. Es nimmt so nicht wunder, wennim Normalfall zwischen Entstehung mittella-teinischer Originale und ihrer bertragung

    Jahrzehnte lagen oder gar ein Jahrhundertund mehr verstrich. Doch es gab Ausnahmen

    verblffend rascher Umsetzung, wie die un-verzglich bertragene Legenda aurea.Einzelne Autoren schoben selbst volks-sprachliche Fassungen ihrer lateinischenOriginale nach, um deren Leserkreis zu er-

    weitern. Die Flle von bertragungen mittel-lateinischer Texte demonstriert zweierlei:Das seit dem 13. Jahrhundert verstrkte Be-mhen, ber die Koine der Gelehrten hinausfr deren Wissen ein breites Publikum vonUngelehrten zu erschlieen. Aber auch dieSchwierigkeiten, denen selbst Angehrigeder Gelehrtenwelt beim vollen Verstndnisihrer Standessprache begegneten (was hn-

    lich fr das Global English unserer Tagegelten drfte). Wurden doch viele Traktatebertragen, deren Inhalt auer Absolventenhoher Schulen kaum jemand verlockt haben

    kann.Ihren Beitrag zur lexikalischen Anreiche-

    rung der Volkssprache erhoben bersetzerdes Mittelalters noch nicht zum Programm.Doch so wenig Aufhebens sie von ihm mach-ten, so bedeutend drfte dieser Beitrag gewe-sen sein. Dafr sprechen zahlreiche Indizien,die allerdings von der historischen Linguistiknoch nicht systematisch erfasst wurden.

    Die MittlergildeWer gehrte der Mittlergilde an, die franzsi-sche Sprache und Literatur in ihrer Frhpha-se so wesentlich bereicherte? Der anfangs ho-he Anteil anonymer bersetzungen nahm imVerlauf von vier Jahrhunderten kontinuier-lich ab ein klares Zeichen wachsendenSelbstbewusstseins. Unter den bersetzern,

    von denen wir mehr als den Namen wissen,bildeten natrlich Kleriker die erdrckendeMehrheit. Sie beschrnkten sich keineswegsauf religise Texte, sondern bertrugen auchLehrbcher der Kriegs- und Regierungs-kunst und sonstiges hchst Weltliches. An-gehrige diverser Erziehungsberufe undfrstliche Sekretre formierten ebenfallsnennenswerte Gruppen. Obwohl der groen

    Mehrzahl von Autoren nur ein einziges Werkzugeordnet werden kann, kamen doch man-che auf acht, zehn, gar 15 Titel. Angesichtsder langwierigen Handschriften-Erstellungund des Fehlens lexikographischer Hilfenspiegeln solche Zahlen ein imposantes ber-setzerisches Lebenswerk und beachtlicheProfessionalitt. Folgten doch die ProdukteVielbeschftigter oft innerhalb weniger Jah-re aufeinander, und fr Jean de Vignay etwascheint der Jahresrhythmus Norm gewesenzu sein. Dazu kommt, dass schon seit dem12. Jahrhundert unter den bersetzern eineReihe von Namen auftaucht, deren Trger

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    heutzutage auch zu den namhaftesten Dich-tern des Zeitalters zhlen. Denn in einer Epo-che, der die Ideologie einmaligen Schpfer-tums fremd und freie Umformung von Vor-

    gefundenem selbstverstndlich, ja ein Gte-siegel war, gab es zwischen eher originellerdichterischer Hervorbringung und berset-zender Nachgestaltung weder Wesensunter-schiede noch ein Reputationsgeflle.

    Arbeit an der FormIm Selbstverstndnis der Epoche bedeutete

    bersetzen primr Arbeit an der Form, unddamit bereits Erfllung sthetischer Anspr-che. Nicht zufllig betonten bersetzer alseine ihrer Hauptleistungen wieder und wie-der die berfhrung des Originals in gebun-dene Sprache. Was den Leistungsanteil be-trifft, der in semantischer Umsetzung frem-der Texte liegt, soll (einem verbreiteten Kli-schee zufolge) theoretische Reflexion erstmit der Renaissance eingesetzt haben. Doch

    viele Einzelstellen zeigen, dass einschlgigeGedanken dem Mittelalter durchaus vertraut

    waren. In einer Zeit, der die Glaubwrdig-keit von Geschriebenem als hohes Gut galt,mndlich Tradiertes dagegen schnell indie Nhe von Unwahrheit rckte, bedeutetebersetztsein eines Textes Beglaubigung sei-nes Wahrheitsgehalts, basierte er doch aufeiner der kostbaren schriftlichen Vorlagen.

    Entsprechend galt die Hauptsorge vielerbersetzer der Zusicherung grtmglicherOriginaltreue. Dass diese nur schwer mit denZwngen der Versdichtung in Einklang zubringen war, wurde indes keineswegs ber-sehen. Dennoch gab es Stimmen, die zumin-dest bei Texten vorchristlicher Herkunft einKleben am Originalwortlaut fr unpassendhielten und bereits freiere, sinngemebertragung forderten. Neben solchen bisheute fortwirkenden Anstzen von berset-zungstheorie existierten schon Frhformender Kritik, vor allem an Vorgnger-Produk-ten.

    Was die Meriten ihres Tuns angeht, betontenbersetzer der Epoche gerne dessen Mhsalund das unabdingbare Arbeitsethos. EinenGutteil ihres Selbstwertgefhls drften sie je-

    doch dem Rang ihrer Auftraggeber verdankthaben, mit denen Bilddokumente sie in per-snlichem Umgang zeigen: Kirchenfrstenund weltliche Herrscher, nicht zuletzt Da-men des Adels und Hochadels. Als Adressa-ten bersetzter Texte wurden natrlich pau-schal die des Lateinischen unkundigen Laiengenannt, vor allem aber Nonnen und vorneh-me Damen. Was den Wirkungsradius volks-

    sprachlicher Fassungen angeht, gibt die An-zahl bekannter Handschriften erste Anhalts-punkte: Hier brachten es manche bertra-gungen auf stolze zwei oder gar drei DutzendExemplare. Und bekanntlich beschrnktesich der Rezipientenzirkel jeder Handschriftnicht auf einzelne Leser, wurde doch aus ihroft in grerem Kreis vorgetragen.

    Kommen wir zum 16. Jahrhundert:7 DieGesamtzahl der bersetzungen stieg nun grob geschtzt auf reichlich eineinhalbTausend, das heit ein Mehrfaches dessen,

    was in smtlichen Jahrhunderten des Mittel-alters entstanden war. Was die Herkunft dereingebrgerten Originale betrifft, ist gegen-ber dem Mittelalter eine Schwerpunktver-schiebung unverkennbar. Doch falsch wrees, Renaissance-Klischees folgend zu glau-ben, die bersetzer htten sich radikal von

    den volkssprachlich lngst greifbaren Schls-seltexten der christlichen Tradition abge-

    wandt, um sich voll der Wiederbelebung ei-ner sinnenfroh-heidnischen Antike zu wid-men. In dieser Epoche erbitterten Streitensum den Sinn des Gottesworts mhte mansich wieder und wieder um verbesserte An-

    verwandlung der Heiligen Schrift und derKirchenvter; und nicht zufllig gehrt dieMehrzahl solcher bertragungen in jenezweite Jahrhunderthlfte, in der die Reli-gionskriege vier Jahrzehnte lang das Landspalten sollten. Offenbar fiel gerade berset-zern eine doppelte Schlsselrolle zu: einmal

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    im Theologenstreit um das rechte Verstnd-nis der gttlichen Offenbarung wie derfrhchristlichen Autoritten, zum anderenbeim Bemhen der streitenden Experten, je-

    ne breiten Schichten von Glubigen zu ge-winnen, denen die alten Sprachen verschlos-sen blieben. Kaum verwunderlich ist so, dassnicht wenige bersetzer erneut zum Opfer

    von Zensur und Verfolgung wurden.Die groe Mehrzahl der bertragungen

    allerdings diente nun erwartbar weitererAnreicherung des volkssprachlichen Vorratsan Texten der nichtchristlichen Antike. Nichts

    knnte deutlicher machen, dass humanisti-sche Gelehrte ihren Willen zur Wiedergeburt

    jener Hochkultur nicht auf den eigenen Zir-kel beschrnkt sehen wollten. Verwundernmgen, aus deutscher Sicht, die Anteile bei-der antiker Leitkulturen. Pflegte doch unserlanglebiger (gern politisch-ideologisch aus-geschlachteter) Griechenkult spterer Zeit dasgeistige Erbe Griechenlands zu beanspru-chen, Frankreich dagegen in einer meist ab-schtzig bewerteten Romnachfolge zu se-hen. Das bergewicht der HerkunftsspracheLatein verschwindet jedoch schnell, ziehtman franzsische Einbrgerungen von Tex-ten nachantiken und christlichen Ursprungsab. Falsch wre allerdings zu meinen, Folgeder erhhten Griechenbegeisterung sei ge-

    wesen, dass smtliche bertragungen vonTexten dieser Sprache nun direkt erfolgten.

    bersetzungen aus dem Gelehrtenlatein hat-ten, mit rund einem Fnftel, weiter einenstattlichen Anteil am Gesamtaufkommen;und manche jener Titel zeigen, wie wenignoch immer das gesamte Gelehrtenmilieuseine gngige Verkehrssprache beherrschte.

    Doch vor Abhandlungen dieses Milieusschoben sich nun, mit weit ber einem Vier-tel aller Publikationen, bertragungen aus

    jenen Volkssprachen, deren Produkte fortanmit den antiken Vorbildern in offenen Wett-bewerb treten sollten: vor allem aus dem Ita-lienischen, auch dem Spanischen, aber seltennur aus nichtromanischen Sprachen. Aus-

    richtung an der literarischen Aktualitt bliebweiter die Ausnahme. Doch Dutzende vonTexten wurden schon wenige Jahre nach Er-scheinen des Originals bertragen, einzelne

    sogar noch im selben Jahr.

    Steigende Wertschtzungdes bersetzensDas bersetzen war nun ein wichtiger Be-standteil jener Ideologie gezielter Bereiche-rung, die dem eigenen Idiom Konkurrenz-fhigkeit mit den hochentwickelten antiken

    Sprachen sichern sollte. Poetiken der Epochegestanden diesem Thema breiten Raum zu.Sebilleterhob die bersetzung gar zur Wrdeeines selbstndigen und hochgeschtzten li-terarischen Genres. Manche Theoretikerzwar sprachen dem Original einen prinzipiellhheren Status zu als dessen Nachschp-fung. Doch findet sich schon die Ansicht, je-de gute bersetzung sei mehr wert als einemauvece invancion. Ein Gewhrsmannhielt gar die Herstellung volkssprachlicherFassungen fr die beste Art, sich der Nach-

    welt zu empfehlen. Durch all diese Argu-mente wurde das im Mittelalter gewachseneSelbstwertgefhl der Zunft weiter untermau-ert.

    Wie war faktisch deren soziales Profil be-schaffen? Soweit wir Geburtsdaten kennen,lag das mittlere Einstiegsalter um die Mitte

    der Dreiiger, angesichts damaliger Lebens-erwartung also in den reifen Mannesjahren.bersetzen galt demnach mitnichten als blo-e Fingerbung fr sptere literarische Ei-genproduktion. Kleriker bildeten weiterhin,

    wenn auch nicht so dominant wie im Mittel-alter, die strkste Fraktion. Weltliche Absol-

    venten Hoher Schulen und Vertreter desKleinadels schoben sich nun, neben den zu-

    vor aktiven Gruppen, in den Vordergrund.Auch deren Status als Mitglieder der Bil-dungs- und Gesellschaftselite drfte auf dieWertschtzung ihres bersetzerischen Tunsstark abgefrbt haben.

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    Hinsichtlich der zum jeweiligen Lebenswerkgehrenden Titelzahl verstrkt sich derTrend zur Professionalitt. Die Gruppe derEinmal-bersetzer schrumpft auf ein Drittel,

    die Titelzahl pro bersetzer steigt. Gegen-ber dem Mittelalter verdoppelt sie sich beiden Spitzenreitern auf 30 Titel und mehr. Sol-che Grenordnungen wrden, am Rand be-merkt, selbst heutzutage fr vollbeschftig-te Spezialisten ein stattliches uvre dar-stellen. All dies hatte zur Folge, dass sich dieArbeitsgeschwindigkeit deutlich steigerte.Vieldutzendfach publizierten bersetzer

    mehrere bertragungen innerhalb von zweiJahren oder sogar eines einzigen Jahres.Nicht wenige kamen auf drei, vier, gar fnfTitel pro Jahr. Unntig zu betonen, dass sichfr solche Leistungen auch heute Berufsber-setzer, mit all ihren modernen Hilfsmitteln,keineswegs verstecken mssten. Auf mehre-re Titel im Jahresverlauf brachte man es vorallem whrend der bersetzungsschwemme,die mit den 1540er und 1550er Jahren einsetz-te. Dies lsst vermuten, ein Grund fr diestark beschleunigte Arbeitsweise liege in derextrem verstrkten Nachfrage. Dafr warennun wenngleich frstliche Mzene weiteraktiv blieben vor allem Verleger und Buch-hndler als neuer, gewinnfixierter Typ vonAuftraggebern verantwortlich, deren Reser-

    voir sprachkundiger Mittler sich offenbarnicht konjunkturgerecht vergrern lie.

    Was lge nher, als dass Dutzende von ber-setzern unter solch neuem Zeitdruck denAusweg fanden, bei ein und demselben Titeldie Last mit Kollegen zu teilen? Vorerst mussoffenbleiben, wie sich Zeitmangel und Ar-beitsteilung auf Qualitt wie Homogenittder Texte auswirkten. Auffllig ist ein weite-res Phnomen: Mit dem 16. Jahrhundert be-ginnt in Frankreich die Bltezeit mehrspra-chiger Wrterbcher. Wieweit deren Entste-hung und stndige Verbesserung zu tun hatmit erhhtem Bedarf von bersetzern anHilfsinstrumenten, wrde nhere Prfunglohnen.

    ffnung zu fremden KulturenDer Lebensraum einer stattlichen Gruppe

    von Literaturmittlern lag nun jenseits derfranzsischen Grenzen. Nicht selten war ein

    Exil im Kontext der Religionswirren derGrund. Doch ganz allgemein wuchs, im Ver-gleich zum Mittelalter, der Drang zu Aufent-halten in fremden Sprach- und Kulturru-men. Dutzendfach hie das Zielland Italien,aus dem nicht selten die bertragenen Origi-nale stammten. Fast zwei Drittel aller ber-setzer spezialisierten sich auf eine Ausgangs-sprache; die brigen brachten es auf bis zu

    drei Idiome. Ob daran ein Mehr an Markt-konformitt, Professionalitt oder Dilettan-tentum ablesbar ist, wre zu prfen. Unver-ndert hoch blieb der Anteil, den noch heuteberhmte Poeten und Literaten an der Ein-brgerung fremder Texte hatten.

    Was die Leserschaft eingebrgerter Wer-ke angeht, ist sie bei der vervielfachten Ziel-gruppe gedruckter Bcher natrlich schwe-rer zu bestimmen als fr Handschriften-Unikate des Mittelalters. Hinsichtlich derBreitenwirkung mgen ein paar Hinweise ge-ngen: Nicht wenige bersetzungen wurdenmehrfach oder vielfach nachgedruckt. Man-che brachten es in wenigen Jahrzehnten aufacht oder zwlf, Le Maons Decameron-Fas-sung gar auf 16 Auflagen. Anschaulicher ge-sagt: Sie waren ungleich beliebter als die ori-ginalsprachlichen Hauptwerke von Zeitge-

    nossen wie Du Bellay oder Montaigne. bertra-gungenAmyotsvon Daphnis et Chlo undPlutarchs Vie des hommes illustres wiederzeigten sich erstaunlich zeitresistent: berdas 19. Jahrhundert hinweg bis zur Mitte des20. dienten sie wieder und wieder als Basis

    von Neueditionen angesehener Publikums-verlage ein Phnomen, fr das Parallelen imdeutschsprachigen Raum undenkbar wren.Ziehen wir eine Zwischenbilanz: Das Zeit-alter verstrkten Strebens nach nationalerIdentitt fhrte keineswegs zu literarischerAbschottung vor ueren Einflssen. Eslebte vielmehr vom Willen zur Bereicherung

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    auch der Nichtgelehrten an allem, was Anti-ke, europisches Mittelalter und zeitgenssi-sche Nachbarkulturen an Werten zu bietenhatten, und die Garanten jener Bereicherung

    standen in hohem Ansehen.

    Prfstein bersetzungPrfen wir nun, ob im nationalstolzen GrandSicle die Zufuhr fremder Literatur und, alsFolge daraus, die Wertschtzung ihrer Im-porteure abfiel.8 In der Tat legen Schtzun-gen den Schluss nahe, dass die Gesamtzahl

    bersetzter Titel gegenber dem 16. Jahr-hundert deutlich abnahm, aber weit davonentfernt war, bis zur Unerheblichkeit zuschrumpfen. Auf diesem Hintergrund konn-ten sich Urheber franzsischer Versionen

    wohl mit Blick auf das vorangegangene Jahr-hundert nun entrstet distanzieren vonschludrigen Schnellprodukten. Zwar heit esin Sorels Francion pauschal, das bersetzensei chose trs servile. Diese Verachtung, dieoffenbar Lohnarbeiten gilt, fllt allerdingskaum ins Gewicht angesichts vieler positiverWertungen, die keineswegs in der Rubrikbersetzerisches Eigenlob zu verbuchensind. Eine vonVaugelas stammende Neufas-sung des Quintus Curtius sei dem Originalmehr als ebenbrtig, verkndet soWiderhold1675. Er markiert damit einen Quanten-sprung der Bewertungsgeschichte; denn die

    Hherrangikeit der franzsischen Fassungwird nicht mehr, wie im 16. Jahrhundert, imVergleich zu einem schlechten Original kon-statiert, sondern gegenber einem angesehe-nen Vertreter jener Antike, die noch unlngstals unerreichbares Ideal galt. Damit avancie-ren bersetzungen zum Prfstein, der dieberbietung einstiger Vorbilder zweifelsfreinachweisbar macht.

    Im Frankreich Ludwigs XIV., das den Vor-rang vor dem antiken Rom anstrebte, gingenbersetzungen aus dem Griechischen auffal-lend zurck, der Lwenanteil fiel nun an Au-toren der rmischen Antike. Nicht von unge-

    fhr wurde in dominanten Bildungskonzep-ten fr die Gesellschaftseliten (Oratorianer,

    Jesuiten, Port-Royal) dem bersetzen, undzwar speziell von Werken der Rmer, hoher

    Rang eingerumt, obwohl ja jene Konzeptechristlicher Motivation entsprangen. Den-noch galt fast die Hlfte aller bertragungeneines Zeitraums, den die jansenistische Be-

    wegung ebenso stark prgte wie der Widerrufdes Edikts von Nantes, weiter Texten mit re-ligiser Thematik. Dazu passt, dass wiederein hherer Teil des Gesamtaufkommens aufbersetzende Kleriker entfiel als im 16. Jahr-

    hundert. Unter ihnen bildeten Jesuiten ei-ne der beiden fhrenden Gruppen im Janse-nismusstreit die strkste Fraktion. Eindeutlicher Schwund gegenber dem 16. Jahr-hundert fllt bei bersetzungen aus dem Ge-lehrtenlatein ins Auge. Zu prfen wre, ob je-ner Schrumpfungsprozess daraus folgt, dassnun Gelehrte nach dem Beispiel von Descar-tes verstrkt direkt in der Volkssprache pu-blizierten, um die neue mondne Gesell-schaftselite der Honntes Gens (nichtzuletzt deren weibliche Mitglieder) zu errei-chen.

    Annhernd gleich bleibt der Anteil vonTexten nachantiker Volkssprachen. Die Ori-entierung bersetzerischer Vorhaben an derliterarischen Aktualitt allerdings war, wiebei der zeittypischen Romfixiertheit erwart-bar, schwcher als im vorangegangenen Jahr-

    hundert. Auch dessen sprachpolitisches Ar-gument kam auer Gebrauch, literarischeImporte trgen bei zur Bereicherung des ei-genen Idioms. War man doch zunehmendberzeugt, dieses habe nun einen Stand derVollkommenheit erreicht. Der Wunsch, ihnfestzuschreiben, fhrte zur wohlbekanntenHaltung strikten Neologismenverbots. Dochgegen die herrschende Ideologie verteidigtenbersetzungsexperten ihr altes Vorrecht zu-mindest in Teilbereichen. Wussten sie doch,dass beim Einbrgern fremder Texte eineNutzung entlehnter und neuer Ausdrckeunverzichtbar bleibt. Wie wenig sie sich da-

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    ran hindern lieen, beweist eine stattlicheZahl von Vordatierungen gegenber denWrterbuch-Erstbelegen. Warnungen be-schrnkten sich auf bertriebenen Gebrauch

    von Modewrtern der Gens de la Cour & dugrand Monde, da solche Vokabeln bald wie-der veraltet und unverstndlich sein knnten.

    Die Einsicht, allzu modische Sprachge-bung knne das Veralten einer bersetzungauslsen, gehrt zu den Indizien fr ein seitden 1660er Jahren verbreitetes Bewusstsein:bersetzungen seien einem Alterungspro-zess unterworfen, bedrften daher stetiger

    Erneuerung. Dieses Handicap wurde jedochsofort ins Positive gewendet und zum Privilegerklrt: Einzig die bersetzung knne lau-fend dem Zeitgeschmack angepasst werdenund Spitzenwerke ber die Jahrhunderte hin

    jung erhalten. Vieldutzendfach versprachenfolglich Titel, vor allem der klassischen Pe-riode, eine traduction nouvelle oder ver-

    wiesen mit hnlichen Formeln auf ihrenNeuheitswert. Sie galten vorwiegend anti-ken Autoren, aber auch Schlsseltexten derchristlichen Tradition oder der italienischenRenaissance.

    Das vielstrapazierte Bild vom Zeitalter derBelles Infidles wird meist ausschlielichals Kritik an fehlender Originaltreue gedeu-tet. Eine solch einseitige Sicht unterschlgtdas schon im Mittelalter wohlvertraute Di-lemma, dass absolute Worttreue Hlichkeit

    gebiert, ebenso wie den nun deutlich gestie-genen sthetischen Ehrgeiz bersetzerischenWirkens. Er ist an einer Flle von Symptomenablesbar. Zu ihnen gehrt, dass zahlreicheBuchtitel wieder verstrkt in der zweiten

    Jahrhunderthlfte stolz eine bersetzungin Versen ankndigten, selbst von religisenProsatexten oder dem Schelmenroman La-zarillo de Tormes. Schon diese Betonungder anspruchsvollen Versform signalisierte,

    wie einst im Mittelalter, Zugehrigkeit zumengeren Bezirk der Dichtung. Aufgrund derbeaut de ces chefs-duvre wurden diebertragungen eben jenes Perrot dAblancourt

    als modellhaft gerhmt, die spter als Proto-typ der Belles Infidles in Verruf gerieten.Ein wiederholt gebrauchtes Schlsselwortsthetisierender Bewertung war traduire

    lgamment. Andere Forderungen entspra-chen Stilidealen jener die Jahrhunderthlftedominierenden sthetik, die gleichermaenRichtschnur originr franzsischer Texte

    waren: grce und naturel, finesse undclart, Vermeidung von obscurit undamplification. Typisch klassische, auf Maund Migung zielende Ideale spiegeltensich auch in Stellungnahmen zum berzeit-

    lichen Dilemma allen bersetzens: wie mangrtmgliche Treue wahren und doch skla-

    vischen Nachvollzug des Originalwortlautsvermeiden knne. Verdammt werden hierexcs und extremitez, empfohlen unmilieu judicieux. Das wurde zum Freibrieffr teils schon im Titel angepriesene Retu-schen und Schnitte aus Grnden der Moral

    wie der herrschenden sthetik. All dies be-sagte zweierlei: bersetzen bedeutet zum ei-nen, ohne Abstriche, Schaffen von SchnerLiteratur; zum andern kann, darf, ja soll manOriginale verbessern und berbieten. Da einGutteil jener Originale der Antike entstamm-te, schlugen sich geschickte bersetzer inder legendren Querelle des Anciens et desModernes also auf Seiten der Modernes. Sienutzten jene das Jahrhundertende berdau-ernde Grundsatzdebatte der letzten Jahr-

    zehnte, um die Schlsselrolle des eigenenTuns im Epochen-Wettstreit ins rechte Lichtzu rcken.

    Ein knigliches AmtDie hier durchscheinende stolze Selbstge-

    wissheit nhrte sich noch aus weiteren Wur-zeln. Schon 1651 war La guerre des Suisses,traduite du premier livre des Commentairesde Jule Cesar par Louis Dieudonn, roi deFrance erschienen. Daran ist in unseremKontext nebenschlich, dass bersetzenzum Erziehungsplan des jungen Knigs ge-

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    hrte, oder welchen Anteil er faktisch an derDruckfassung hatte, oder dass er sich inTexte eines Feldherrn und Eroberers vertief-te, der lngst Vorbild aller europischen

    Herrscher war. Vielsagender scheint, dassman die Resultate seines Bemhens denUntertanen wie Europas Eliten vor Augenstellte als Hervorbringung, die des knftigenSonnenknigs wrdig war. Wenig erstaun-lich wirkt so, wenn die meisten Spitzenauto-ren seiner Zeit ihrem bersetzenden Jung-monarchen nachstrebten. Nicht zu ber-schtzen fr den Ansehenszuwachs berset-

    zerischen Wirkens war schlielich jene Aca-dmie franaise, die sich schnell als Urteils-instanz fr Fragen der Sprachpflege wie derliterarischen Wertung etablierte: Einer derersten Vortrge bei den Wochentreffen jeneserlauchten Kreises war dem bersetzen ge-

    widmet. Und bis zum Jahrhundertende tatensich ber 40 Akademiemitglieder als ber-setzer hervor, manche zhlten sogar zu denseltenen Vielbersetzern der Epoche. Symp-tomatisch fr die hohe Bewertung ihrer T-tigkeit ist, dass sie und andere in RicheletsDictionnaire nicht als dienende Mittler,sondern als stolze Autoren firmierten und diedurch sie Eingebrgerten in den zweitenRang verdrngten.

    Das mittlere Lebensalter beim Verffent-lichen der Erstbersetzung lag nun ein run-des Jahrzehnt hher als in der vorangegange-

    nen Epoche eine auffallende Parallele zuder von Escarpitkonstatierten beralterungder klassischen Autorengeneration.9 Ande-rerseits fllt der Durchschnitt zum Lebens-

    werk eines bersetzers gehrender Titelgegenber dem 16. Jahrhundert deutlich ab.Das verbreitete Sichbegngen mit einem,maximal zwei bertragenen Titeln mag teilsaus dem erwhnten Sptstart folgen, teils ausdem Niederschlag des klassischen Postulatssorgsamer Durchstilisierung, schlielichdem zunehmend wichtigen Honntet-Ideal.Galt doch den Honntes Gens als erstre-benswert, von mancherlei etwas zu verste-

    hen, Professionalitt aber als verchtlichesPedantentum. Dieser Trend zur dilettieren-den Einmalbersetzung trotz verbesserterlexikographischer Hilfsmittel scheint stan-

    desneutral gewesen zu sein.Was den Buchmarkterfolg angeht, erziel-

    ten Dutzende bersetzter Titel Mehrfachauf-lagen. Die 14 000 Exemplare von Lemaistrede Sacys Hymnen-Version waren nach nur14 Monaten vergriffen. bertragungen etwa

    Ariosts oder Quevedos entfalteten betrchtlicheBreitenwirkung ber die Billigbndchen derBibliothque bleue, nisteten sich also im

    Boden der so genannten Volkskultur ein.Doch weit hher als Verkaufsrekorde ist derErtrag des bersetzergeschfts fr die Geis-tesgeschichte der Epoche anzusetzen. DieWirkmacht, die etwa franzsische Fassungender Schriften Leonardo da Vincis oder Galileis frdie Wissenschaft, die von Gracins Hommede Cour fr das Menschenbild der Hoch-klassik besaen, lsst sich nur erahnen.Nicht von ungefhr entwickelte die mchtigeBewegung von Port-Royal ein eigenes ber-setzungskonzept. Die groe sthetisch-ideo-logische Querelle des Anciens et des Moder-nes in der hochklassischen Periode schlie-lich wre undenkbar ohne die bersetzungen

    von Boileau und Madame Dacier. Bilanzierenwir: Unabhngig von der Titelmenge warenAnsehen und Selbstwertgefhl der berset-zer so hoch wie nie zuvor. Das Grand Sicle

    endete mitnichten an der Sprachgrenze; eswurde vielmehr zu einem groen Zeitalterauch der franzsischen bersetzungsge-schichte.

    Trotz Hegemonieflorierender ImportWie prsentiert sich diese franzsische ber-setzungsgeschichte in jenem 18. Jahrhun-dert, von dem lange europaweit ein kulturel-ler Hegemonieanspruch Frankreichs akzep-tiert wurde, den die vorangegangene Blte-zeit begrndet hatte?10 Entgegen der ein-

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    gangs erwhnten These florierte der literari-sche Importbetrieb prchtiger denn je. DieFrequenzkurve bersetzter Titel stieg (nachmigen Anfngen) in der zweiten Jahrhun-

    derthlfte sprunghaft an und erreichte imvorrevolutionren Jahrzehnt ein nie dagewe-senes Maximum. Dazu kam, im Vergleichzum Grand Sicle, ein neuartiges Phnomen:Die groe Mehrzahl aller in diesem Halbjahr-hundert bersetzten Originale stammte ausdem 18. Jahrhundert selbst und spiegeltdamit ein auffallendes Bestreben, geradegegenwartsnahe Stimmen des Auslands ver-

    nehmbar zu machen.Genauer zu prfen bleibt, wie eng solche

    damals beispiellose Offenheit und Aktua-littsnhe zusammenhing mit den politi-schen, sozialen, ideologischen Umwlzun-gen, die in den Folgedekaden das Land unddann ganz Europa erschttern sollten. Dennnicht nur der Anteil von bersetzungen ausden alten Sprachen schrumpfte um die Hlf-te. Auch solche aus dem Italienischen undSpanischen im 17. Jahrhundert unter dennachantiken Volkssprachen noch fhrend fielen zurck. An deren Stelle rckte nun vorallem das Englische, in der zweiten Jahrhun-derthlfte gefolgt vom Deutschen, mit zu-sammen ber der Hlfte aller bertragenenTitel. Eben diese beiden groen Sprachru-me und Kulturkreise aber bildeten (im Hin-blick auf religise, politische, wirtschaftliche

    Organisation) krasse Gegenmodelle zurfranzsischen Gesellschaftsordnung, undderen Bekanntwerden beraubte diese ihrerunanfechtbaren Geltung. Nicht zufllig tra-ten die namhaftesten Aufklrer als berset-zer aus den nun fhrenden Ausgangsspra-chen hervor: Holbach, Meister und La Mettrie,Diderot,Voltaire, Rousseau und Formey ebenso

    wie Dutzende von Protagonisten der Revolu-tionsjahre. Allein die Zahl jener bersetzun-gen, deren Titel Wissensgewinn ber Eng-land und sein schnell wachsendes Kolonial-reich versprach, erreichte eine dreistelligeHhe. In diesem Kontext ist gewiss nicht be-

    langlos, wenn von den bersetzungen ausdem Englischen und Deutschen ein weithherer Anteil jenseits der franzsischenStaatsgrenzen erschien als etwa bei bertra-

    gungen aus den alten Sprachen. Grund dafrmag oft gewesen sein, dass es sich um bri-sante geistige Konterbande handelte, dereninnerfranzsische Publikation zu gewagtschien.

    Selbstwert der bersetzungDie Gewissheit ihrer aufklrerischen Schls-

    selrolle drfte das Selbstwertgefhl der be-treffenden bersetzer betrchtlich gesteigerthaben. Weit augenflliger noch wird die ho-he Wertschtzung und Faszinationskraft vonbersetzungen durch ein Phnomen, das zumindest als Massenerscheinung