eigen.sinn

76
NEWSTICKER ODER SONST WAS +++ NEWSTICKER ODER SONST WAS +++ NEWSTICKER sind wir So ! * * Eigen . Sinn 1/2013 Ausgabe 01/2013 Deutschland 6,80 Euro Österreich 6,80 Euro Schweiz 8.00 CHF Zeitschrift für Denkbar.Mögliches | Kommunikation | Wirtschaft | Loyalität | Kultur | Tourismus | Geschichte Wie uns die Idee zu etwas Anderem in den Sinn kam LABHARDS Eigensinn | Normalität

Upload: labhard-medien

Post on 28-Mar-2016

212 views

Category:

Documents


0 download

DESCRIPTION

Zeitschrift für Denkbar.Mögliches und Plattform für eigensinnige, selbst denkende Menschen.

TRANSCRIPT

Page 1: Eigen.Sinn

NEWSTICKER ODER SONST WAS +++ NEWSTICKER ODER SONST WAS +++ NEWSTICKER

sind

wirSo!*

*

Eigen.Sinn1/2013Ausgabe 01/2013Deutschland 6,80 EuroÖsterreich 6,80 EuroSchweiz 8.00 CHF

Zeitschrift für Denkbar.Mögliches

| Kommunikation | Wirtschaft | Loyalität | Kultur | Tourismus | Geschichte

Wie uns die Idee zu etwas Anderem in den Sinn kam

LAB

HA

RD

S

Eige

nsin

n |

Nor

mal

ität

Page 2: Eigen.Sinn

Bestellung unter www.labhard.de

Medien für Tourismus und StandortmarketingLabhard Medien

€ 3,90 / CHF 5,90

MAGAZIN 2013/2014Obe

rsch

wab

en M

AG

AZI

N

Der Reiseführer für die Region Oberschwaben-Allgäu

GESUNDHEITSLANDSCHAFT Wohlfühlen & Genießen

NATUR & AKTIVBäder, Moor & mehr

KULTUR & BAROCKMühlenschätze & Barockessen

STÄDTE & DÖRFERAusflugsziele & Veranstaltungen

OberLabhards

Oberschwaben MagazinGesundheitsLandschaft –Wohlfühlen & Genießen

Bodensee Magazin SpezialKirchen, Klöster & Konzil

MAGAZIN

Labhards

MA

GAZ

IN

SCH

WEI

Z-S

PEZ

IAL

SCHWEIZ-SPEZIAL

Bodensee Magazin SpezialSchweiz

Wirtschaftsmagazin BodenseeVierländerregion Bodensee

BODENSEEMAGAZIN 2013

Labhards

BO

DE

NSE

E

MAG

AZI

N 2

013

Deutschland/Österreich € 6,–Schweiz CHF 8,50Benelux/Italien € 6,70

GROSSE BODENSEEKARTE ZUM HERAUSNEHMEN

INTERNATIONAL

Die schönstenJahresseiten

���������������������DER MYTHOS LEBT!

� ������������� ����������VOM BESSEREN MEHR

� ��������� ��$����������!������DIE ROTEN VOM SEE

� �$��� �������!�!���������� ��VIEL GLÜCK!

� "�����!�#������������ ����!GUT, BESSER, AM BESTEN

Bodensee Magazin 2013Erhältlich im Zeitschriften-Fachhandel

Behandlung – Diagnostik – Rehabilitation

www.labhard.de

W I R T S C H A F T S M A G A Z I N

Business Magazine Saxony

MIT SPEZIAL OBERLAUSITZ – LEISTUNG. LEIDENSCHAFT. LAUSITZ.

SACHSEN2013/2014 Nr. 9

MIT SPEZIAL OBERLAU

ITZ – S L OBERLAU

LTUNG. SEILZ –

. CHAFTSEIDEN

ITZ.SAUL

Wirtschaftsmagazin SachsenStandorte, Branchen, Innovationen

SIGHTGEIST Englischsprachiges Reise- und Lifestylemagazin

AUSGEZEICHNETE WANDERSTRECKEN

ZU BESUCH IM MUSEUM

AUF DEN SPUREN DER VÖLKERSCHLACHT

RICHARD WAGNER ZUM 200.

KULTURERLEBNISSACHSEN IN FEIERSTIMMUNG

Angebote für Familien – Kreatives Handwerk Adressen, Termine und Katalogservice

SACHSENMAGAZIN

Labhards

SAC

HSE

N M

AGA

ZIN

2013 5 EURO

Angebote für Familien – Kreatives Handwerk Adressen, Termine und Katalogservice

A

Tessen,drAaFrüfetobegnA

talogseraermine und KTTermine und K

vitaerK–neilim

evicgser

krewdnaHsev

Sachsen Magazin 2013Das große Jahresmagazin mit Themen, Adressen, Terminen

GartenTourUnterwegs zu DeutschlandsSchlössern, Parks & Gärten

Besser eigen und sinnig ...... als abhängig und kopiert.

Page 3: Eigen.Sinn

1Eigen.Sinn

EIGEN(Punkt)SINN(Punkt)DENKBAR(Punkt)MÖGLICHES.Das ist das Spannungsfeld dieses Zeitschriftenprojektes, das wir Ihnen hiermit vorstellen.

Es geht um eigene Gedanken, Ideen, Fragen und AntwortenEIGEN

Wir wollen Sinnhaftigkeit in Zeiten der „Alternativlosigkeit“SINN

ist für uns vielesDENKBAR

wollen wir gestalten, Unmögliches möglich machenMÖGLICHES

Wir bringen unsere Positionen auf den Punkt >>PUNKT

Page 4: Eigen.Sinn

2Eigen.Sinn

denkbarIn den letzten Jahren haben wir vielfach die Erfahrung gemacht, dass politische, gesell-schaftliche und wirtschaftliche Themen immer weniger als persönliche Angelegenheitenwahrgenommen werden. Die große Politik hat das Schlagwort der „Alternativlosigkeit“ ganznach oben gestellt und kaschiert damit gleichzeitig ihre Orientierungslosigkeit.

Dann erleben wir eine scheinbar neue Konjunktur der „Wertediskussion“ und müssen dochimmer wieder feststellen, dass diejenigen, die alternativ- und orientierungslos in Politik, Ge-sellschaft und Wirtschaft Führungspositionen innehaben, die Inhalte der Wertediskussionbestimmen wollen. Gleichzeitig verbreiten sie Einschüchterung durch permanentes Krisen-gerede, Spardiktate, Enteignungen „kleiner Leute“ wie in Griechenland und Zypern, dasGanze dann überwacht durch die schier unbegrenzte Datensammlung der Geheimdienste.

>>

MÖGLICHES

Page 5: Eigen.Sinn

3Eigen.Sinn

>>

Vieles, was wir in der großen Politik vorfinden, zeigt sich auch im Diskurs verschie-dener Themen auf regionaler und lokaler Ebene, im Umfeld unserer Unternehmen.Gerade die Erfahrungen mit der Diskussion über die Veränderungen bei Medienund Kommunikation, mit den Themen Unternehmenskultur und Organisationsent-wicklung, oder auch in der Kultur und im Tourismus sowie in vielen anderen Be-reichen zeigen, dass die inhaltliche Debatte oft flach und oberflächlich geführt wird.Ein Lokalpolitiker hat es ohne rot zu werden auf den Punkt gebracht. „Von derSache verstehe ich nichts, ich weiß nur, wie ich meine Position mehrheitsfähigmache. Und 51% ist Demokratie“.

Gleichzeitig stellen wir fest, dass der Bedarf an qualifizierten Diskursen zunimmt,ob öffentlich, ob z.B. bei unseren Bodensee Salongesprächen oder auch im priva-ten Bereich. Dies stimmt uns zuversichtlich, dass wir einen Kreis von Menschenkennen oder auch noch kennen lernen werden, die an einer Zeitschrift Eigen.SINNinteressiert sind. Ziel ist es, dass die Zeitschrift Eigen.SINN als interessante The-menzeitschrift in kleiner und damit exklusiver Auflage ein Gewinn an Erkenntnissensein soll. Eigen.SINN soll Ihnen und uns gefallen.

Diese Zeitschrift greift aktuelle Themen auf und „besetzt“ diese. Sie ist ein Gegenpolzu den einfachen Antworten, die heute mehrheitlich in die Öffentlichkeit getragenwerden und den Diskurs auch in der Region bestimmen. Die Zeitschrift Eigen.SINN

soll eine Plattform für eigensinnige, d.h. selbst denkende Menschen sein undim Umfeld unserer Unternehmen und Partner und Freunde deutlich ma-

chen, dass es hier eine Vielzahl kluger und eigensinniger Persönlich-keiten gibt.

Diese erste Ausgabe soll mit ihrem breiten Themenspektrumeinen ersten Einblick geben in das, was uns bewegt. Themenund Layout unterstreichen unseren Eigen.SINN.

Nun sind wir auf Ihre Rückmeldungen gespannt.

[email protected]

P.S. Wir danken unseren Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge. Wir be-danken uns bei allen, die sich auf dieses Experiment eingelassen haben.

THOMAS WILLAUER

Geschäftsführender GesellschafterLabhard Medien GmbHwww.labhard.de

Page 6: Eigen.Sinn

4Eigen.Sinn

IMPRESSUM:

Eigen.SINN ist eine Publikation der Labhard Medien GmbHin gemeinsamer Herausgeberschaft mit dem Institut fürFührungskultur (Willauer+Partner) in Salenstein.

VerlagLabhard Medien GmbHMax-Stromeyer-Straße 116, D-78467 KonstanzPhone +49 7531 [email protected]; www.labhard.de

GeschäftsführungThomas Willauer ([email protected])Gabriele Schindler ([email protected])

InstitutWillauer+PartnerInstitut für FührungskulturErmatingerstrasse 17CH-8268 SalensteinPhone +41 71 660 12 00www.willauerpartner.ch

Geschäftsführender PartnerMartin Zuber ([email protected])

RedaktionThomas WillauerGabriele SchindlerChristian Huggenberg (Winterthur)Martin H. Zuber

Art DirectorHelga Stützenberger

Fotos: Archiv Labhard Medien GmbH.Weitere Bildnachweise siehe Fotos im Heft

Alle Rechte vorbehalten:Labhard Medien GmbH. Namentlich gekennzeichnete Beiträge können, mussen aber nicht die Meinung der Herausgeber und der Redaktion wiedergeben.

Die nächste Ausgabe von Eigen.Sinn erscheint im Frühjahr 2014

Page 7: Eigen.Sinn

5Eigen.Sinn

PARTIZIPATION UND EIGENSINNVon Beate Willauer.........................................................................06

DER GENUSS IM NORMALENVon Maria Schorpp ........................................................................12

ZEIT.GESCHICHTEVon Raimund Wilhelmi...................................................................16

QUALTÄT STATT VERWIRRUNGDie Zunkunft der PrintmedienVon Thomas Willauer .....................................................................22

DER SCHWEIZ ZULIEBEMit Walter Wittmann im Gespräch ..................................................28

DER MARKENCHECKWenn die Marke nicht hält, was sie versprichtVon Jean-Claude Parrent................................................................36

NACHDENKEN ÜBER LOYALITÄTWertvoll oder Augenwischerei?Von Beate Willauer.........................................................................42

BEMERKENSWERTÜber den Unterschied, der den Unterschied ausmachtVon Ann Seger und Michael Meier .................................................48

VIELFALT UND EINZIGARTIKEITBetrachtung der Kultur- und Kunstlandschaft am BodenseeVon Dr. Ursula Zeller ......................................................................52

TOURISTISCHE LEUCHTTÜRMEDas Festspielhaus BregenzVon Gerhard Stübe.........................................................................58

BILDERWELTENDas Fotomuseum WinterthurInterview von Christian Huggenberg ...............................................64

WUSSTEN SIE, DASS .. .750 Jahre Stadtrecht WinterthurVon Christian Huggenberg..............................................................70

INHALT!

Page 8: Eigen.Sinn

6Eigen.Sinn und Eigensinn,

und PartizipationE

INE S

KIZ

ZE V

ON B

EATE W

ILLA

UER

EIGENSINN

PARTIZIPATION

Page 9: Eigen.Sinn

Wir müssten alle auf die Straße gehen

auf die Plätze wir müssten schweigend

wie angewurzelt da stehen auf dem Marktplatz

wie die Menschen in der Türkei schreien vor Zorn und Empörung

Fragen fragen uns im Ant worten versuchen

nicht müde werden nicht nach Hause gehen das Unsichere aushalten

statt auf Beschwichtigungen einfachster Art

und scheinbare Lösungen zu bauen

7Eigen.Sinn

Page 10: Eigen.Sinn

Wir haben uns in den 1980er Jahren die Frage gestellt, warum sich sowenige Menschen an demokratischen Prozessen beteiligen.Begrundungen gab es viele: Politikverdrossenheit, Wohlstandssattheit,Individualisierung im Sinn von Vereinzelung, um nur einige der ublichenzu nennen. Man konnte jetzt rasch, voreilig sagen, ja, die Begrundungentreffen heute auch noch zu, wenn auch in unserem winzigen Ausschnittder Welt, indem wir das Wehe der großen Welt um uns herum ausblen-den: Ein riesiger blinder Fleck, ein weltumspannender. Claudio Magris,der 2009 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhielt, sprichtdavon, dass der 3. Weltkrieg langst wute, um uns herum. Der Kriegwutet: Wem fahren die Worte, die damit verbundenen Vorstellungendurch Mark und Bein? Ich weiß es nicht. Die Begrundungen fur denoben Ausstieg stehen stellvertretend fur und zusammenhangend mit alljenen Befunden, die wir alle kennen, beklagen und die uns mit der ‘Aus-sichtslosigkeit allen Handelns in einer u berkomplexen, wahnsinnigenund wahnwitzigen Welt’1 konfrontieren. Dass selbst eine messerscharfeFormulierung, die des 3. Weltkriegs, verhallt, konnte in die Reihe derBegrundungen aufgenommen werden: Die Shifting Baseline2, die sichverschiebende Toleranzschwelle, die immer unempfindlicher macht ge-genuber dem Wehen in der Welt, dem Weh vieler Menschen, die unsalle auf Knopfdruck medial vermittelt nah sind. Die große Unempfind-lichkeit breitet sich aus. Wir mu ssten alle auf die Straße gehen, auf diePlatze, wir mu ssten schweigend, wie angewurzelt da stehen auf demMarktplatz wie die Menschen in der Tu rkei, schreien vor Zorn undEmporung, Fragen fragen, uns im Antworten versuchen, nicht mudewerden, nicht nach Hause gehen, das Unsichere aushalten statt auf Be-schwichtigungen einfachster Art und scheinbare Losungen zu bauen.Wir mussten auf die Straße gehen gegen unsere eigene Unempfindlich-keit. Und statt dessen? Die große Unempfindlichkeit ist vielleicht politi-sches Kalkul? Und die große Hilflosigkeit? Ich mochte die anfangs ge-stellte Frage in Frage stellen: Handelt es sich noch um eine gute, stim-mige, richtige Frage fur uns, heute, im Jahr 2013, die wir an einem(außerlich) friedlichen und wohl(an)standigen Fleckchen Erde lebenund arbeiten? Sind die Begrundungen valide oder auch nur Schein-Losungen, Schein-Antworten auf eine – fur uns Heutige – Schein-Frage?Meine Hypothese ist, dass Menschen ihre Rechte, auch ihre demokra-tischen Rechte da wahrnehmen, wo sie sich eingeladen fuhlen und sichselbst einladen konnen, und sie nehmen ihre Rechte langst in einemgroßen Umfang wahr. Es existiert langst ein Schatten-Establishment jen-seits dessen, was unserer Wahrnehmung zugefuhrt wird.

„Meine Hypothese

ist, dass Menschen

ihre Rechte, auch

ihre demokratischen

Rechte da wahr-

nehmen, wo sie sich

eingeladen fühlen

und sich selbst einladen können, und sie nehmen

ihre Rechte längst in einem großen Umfang wahr.“

8Eigen.Sinn I.

Page 11: Eigen.Sinn

9Eigen.Sinn

Was mich immer wieder umtreibt ist die Verwunderung daruber, welcheGeschichten wir eigentlich erzahlen. Wir alle, in unseren Familien, beiunseren Freunden, in unseren Buros. Welche Geschichten sind das undin welchem Modus erzahlen wir sie und in welcher Sprache? Die Ver-wunderung verstarkte sich, als ich den Text von Ulrich Beck ‘Renais-sance des Politischen’ von 1992 wieder las. Der Modus und die Sprachelassen sich so beschreiben: Im Modus des Zorns, der Emporung, derkritischen Auseinandersetzung, in einer kraftvollen, nach angemessenemAusdruck, nach Klarheit, nach Differenzierung suchenden Sprache spre-chen und schreiben: Der angemessene Ausdruck ist immer der eigene,der eigenwillige, der eigensinnige, die eigene Stimme, die erhoben wird.Mit Kraft nach Antworten tasten. In einem tastenden Modus die Moglich-keiten des Sagbaren austesten, das, was wir heute verstehen, rekonstru-ieren konnen aus den Bruchstu cken, die uns zur Verfu gung stehen. DieKlarheit, den Wahnwitz und den Wahnsinn auszusprechen, wenn wir aufdie Welt und unser Tun darin schauen. Beck verschreibt und bekraftigtden Zweifel als ‘politisches Programm’: ‘Ich zweifle, also bin ich. Ichzweifle, also werde ich. Ich zweifle, also gebe ich dir Raum! (..) Wir zwei-feln, also werden wir moglich!’3 Die Frage nach 1989 konnte sein: Wo,an welcher Stelle, in welchem Kontext ist zweifeln moglich? Werermoglicht Zweifel? Wer gibt dem Zweifel und dem Zweifler Raum? ‘DieZweifelskultur, die den Zweifel kultiviert und zu Formen offentlicher Dar-stellung und Anerkennung verhilft, verbietet nichts, erzwingt nichts, mis-sioniert niemanden, ermoglicht vielmehr das Gegensatzlichste, das Wi-derstreitendste, aber in gedampften, eben vom Zweifel zersetzten undangeheiterten Formen.’4 Zweifeln ist, wie ich Beck verstehe, eine Formdes Dialogs, des Multilogs, Zweifel als Multilog als Form der Partizipation.

„Der angemessene Ausdruck ist immer der eigene,

der eigenwillige, der eigensinnige, die eigene Stimme,

die erhoben wird. Mit Kraft nach Antworten tasten.

In einem tastenden Modus die Möglichkeiten des

Sagbaren austesten ...“

II.

Page 12: Eigen.Sinn

10

Eigen.Sinn

Demokratische Prozesse sind dialogische Prozesse, Prozesse des Zweifelns,tastende Versuche, mit klarer Sprache Beobachtungen in Worte fassen, viel-leicht poetisch, vielleicht fremd klingend, in fremden Zungen sprechend. Ge-genuber den Dingen ist schon jeder Versuch, Dinge in Sprache zu fassen,eine fremde Zunge, ein fremder Zungenschlag, etwas, das den Dingen nieund nimmer gerecht werden kann. Das sollten wir wissen, wenn wir sagen:Ja, das ist so. Never in life. Ich u bersetze fur mich den Modus des Zweifelnsin den Modus des Tastens, der auch von einem in fremden Zungen sprechen-den Mitmenschen stammt, dem Philosophen Martin Heidegger. Das Tastenhat viele Qualitaten. Blinde tasten, die ihren Sehsinn kompensieren mussen.Sie entwickeln sensitive Hande, siebte Sinne, sie horen meist besser als wirSehende, sie lernen Spuren. Tasten heißt, Stuck fur Stuck weitergehen, Schrittfur Schritt, stehen bleiben und weiter gehen und dann diesen oder jenen Wegeinschlagen, diese Abzweigung nehmen oder jene. Als Metapher fu r eine be-stimmte Art der Reflexion ist das Tasten im Gewahr-Sein von Unsicherheit dasVersuchsweise, sucht das Versuchs-Labor, ‘ein paar Nummern kleiner,vorlaufiger, revidierbarer, lernfahiger’5 als alle politischen Programme, wendi-ger, agiler, flexibler auf der Suche nach einer ‘Lebensform des menschlichenMaßes’6. Tasten ist eigensinnig, weil ich mich auf meine Hande verlassenmuss, auf meine Schritte, auf meine Art des Nachdenkens, auf meine Sinne,darauf, dass ich Worte finde fur das, was ich vorfinde und Worte erfinde furdas, was ich ersehne. Tasten ist nie endgu ltig, erzieht zur ‘Gelassenheit ge-genuber den Dingen’ und der ‘Offenheit fur das Geheimnis’7.

Wenn man Horkheimer und Adorno8 folgt, so sind Versuche, Eigensinn unddie Eigensinnigen zu bestrafen, sie auszugrenzen, sie mundtot zu machen,sie zu ermorden, tief in unserer Geschichte, in unseren Mythen verwurzelt,Sedimente unseres heutigen Lebens, zu rekonstruierende Bruchstucke einerlangen Geschichte. Die Autoren, beide rechtzeitig geflohen vor dem deut-schen Volkermord, sind selbst Eigensinnige, die, um nur ein Beispiel zu nen-nen, im ersten Drittel des letzten Jahrhunderts in ihrem Frankfurter Institutfur Sozialforschung ihre Arbeit transdisziplinar betrieben haben im Span-nungsfeld von Psychoanalyse, Soziologie und Philosophie. Ungewohnlich da-mals wie heute, anspruchsvoll, auch: ausgrenzend - weil eigensinnig. Eigen-sinn grenzt aus, das ist eine der vielen Seiten des Eigen.SINNS - schwer zuhoren im Zeitalter von Integration und Inklusion? Horkheimer/Adorno fu hrendie eigensinnige Antigone als fru hes Beispiel dafu r an, wie wir uns der Eigen-sinnigen entledigen. Antigone, die sterben9 musste, weil sie sich das Rechtherausgenommen hatte, ihren Bruder zu beerdigen, er selbst auch ein Eigen-sinniger, der Rebell Polyneikes. Was ist das Bedu rfnis, einen geliebten Totenzu beerdigen, anderes als ein zugegebenermaßen dusteres, aber elementaresBeispiel, gemaß einer ‘Lebensform des menschlichen Maßes’ zu leben? Mankonnte Geschichte schreiben als eine des Eigensinns und seiner Folgen: Wieviel Eigensinn war, ist moglich: Eigensinn als Gradmesser fur die Qualitat einerLebensform. Die eigensinnige Antigone sucht nach ihrem eigenen Leben,einem vollstandigen, sie nimmt sich das Recht des Beerdigens heraus, dasRecht, den Kreislauf eines anderen Lebens, den ihres Bruders, zuvervollstandigen, indem sie ihn zur letzten Ruhe betten will. Ich, Antigone,und du, Polyneikes. Ich und Du, Wir. Eigensinn ist nicht außenseitig,randstandig, abseitig, exotisch. Eigensinniges Leben ist vollstandiges Leben,selbst bestimmend. Die Eigensinnigen sind nicht gefahrlich.

III.„Demokratische

Pro zesse sind

Prozesse des

Zweifelns, tastende

Versuche, mit

klarer Sprache

Beobachtungen in

Worte fassen,

vielleicht poetisch,

vielleicht fremd

klingend, in

fremden Zungen

sprechend.“

Page 13: Eigen.Sinn

11

Eigen.Sinn

Und die Eigensinnigen heute, diejenigen, die nach einer Lebensform ihresMaßes suchen? Wer sind sie? Wo sind sie zu finden? Sie sind zahlreich,vielfaltig, Teil- und Totalaussteiger, Total- und Teilverweigerer, Drop-Outs, die,die fur sich und ihr Leben Alternativen suchen. Was im Mainstream unterdem Stichwort Fachkraftemangel im Kontext von demografischem Wandelverhandelt wird, ist auch eine Folge von individuellen Versuchen, eigensinnigeLebensformen zu verwirklichen, Eigensinn ins eigene Leben einzufu hren. Ichmeine, die Subkultur sind die anderen, diejenigen, die sich dem Mainstreamverschreiben. Bis heute verweigern sich Frauen der Verwertung durch die Ar-beitsgesellschaft, immer mehr gut ausgebildete Menschen verweigern sichKarriereoptionen, Menschen sind wahlerisch, Burger verweigern sich der Po-litik. Die Sinnfrage, wie will ich leben und arbeiten, wird weitgehend individuellbeantwortet; Einladungen zum Aussteigen gibt es in der Tat viele. Ich haltedie Teilverweigerung fu r eine Massenbewegung, die weitgehend unterschatztwird. Diejenigen, die sich verweigern, formieren sich in einem rhizomformigendemokratischen Prozess, dessen systemische Auspragung das Netzwerk ist.Im Netzwerk rekrutieren sich Individuen selbst, sie laden sich selbst ein. Netz-werke, small worlds, das, was Martin Buber, der ju dische Religionsphilosophund Anarchist, vielleicht als menschliches Maß bezeichnen wurde: ‘... wirkli-che Gemeinschaft und Gemeinsamkeit, ein wirkliches Miteinander und Inei-nanderleben, eine lebendige Unmittelbarkeit zwischen den Menschen’ mussees geben. ‘Es kommt nicht darauf an, Einrichtungen zu andern, sondern dasmenschliche Leben, die Beziehungen der Menschen zueinander zu verwan-deln.’10 In unserer Gesellschaft ist Begegnung zwischen Menschen nicht vor-gesehen, auch wenn wir vermeintliche Gefaße dafur schaffen: ‘Der durchge-setzte Zweifel erfordert andere Entscheidungsstrukturen, andere Architekturvon Institutionen, eine andere Wissenschaft, andere Lernzirkel und Revidier-barkeiten von Entscheidungen.’11 Ich meine, es ist die Stunde der Gemein-schaften, in denen Begegnung stattfinden kann, Experten- Gemeinschaften,Burger-Gemeinschaften, Interessen-Gemeinschaften, Entwicklungs- Gemein-schaften, Forschungs-Gemeinschaften, Lebens-Gemeinschaften, Zweifels-Gemeinschaften. Martin Buber sagte dazu, Gesellschaft konstituiere sich ausGemeinschaftszellen, in denen Menschen Du und Wir sagen konnen. Undwir mussen hinzufugen: In denen Menschen Ich sagen konnen; die Empfind-lichkeit fur einen anderen zirkuliert mit der Empfindlichkeit fur ein Selbst.Und: ‘Was der heutigen Zeit fehlt, ist eine Theorie und eine Praxis des Ge-meinwillens, verstanden als oberste Fiktion eines unwiderruflichen Glaubens,die in dem Akt zum Tragen kame, bei dem ein Volk sich zum Volk zusam-menschließt.’12 Bei allem Pathos des Volksbegriffs: Das eigene Lebenvollstandig, eigensinnig zu leben ist ein Leben in Gemeinschaft, ist ein Lebenmit Blick auf das Eigensinnige und Vollstandige anderer Menschen in densmall worlds, in den Netzwerken und ein Vernetzen von Netzwerken zu einemVolk, zu einer Weltgesellschaft. Wir mussen vor dem Anfang anfangen. DieChance zur Renaissance der Politik: ‘Dinge betrachten, bevor sie existieren’13,Fragen zu erforschen, Fantasien zu entwickeln, Zukunfte aufzumalen, Emp-findlichkeiten zu kultivieren gegen die Hilflosigkeit, den Wahnwitz und denWahnsinn, als Absage an den kurzatmigen Hyper-Pragmatismus14 und be-schwichtigende Pseudo-Partizipation. Statt dessen: Zusage an eine ‘post-kon-sensuelle Praxis’, einem klaren Abgrenzen und Ausgrenzen, einem Aufkundi-gen der kollektiven Konfluenzvertrage und - dadurch - einer gemeinschaftli-chen und gemeinschaftsbildenden Teilhabe an den small worlds und der großen, in neuen Einrichtungen, in neuen, in radikal veranderten Institutionen.Vielleicht treffen sich da Demokratie und Politik.

IV.

1) Ulrich Beck (1992), Die Renaissance des Politischen. In: GMH10/92. Seite 596.

2) Das Shifting-Baseline-Syndrom beschreibt die Verschiebung, denWandel von ‘Wahrnehmungen und Deutungen’ z.B. im Zusammen-hang mit klimatischen Veranderungen, aber auch im Zusammen-hang mit der Frage, wie sich unter der Naziherrschaft scheinbar sta-bile Grundwerte in kurzer Zeit aushebeln liessen. Siehe dazu: HaraldWelzer (2006), Tater. Wie aus ganz normalen Menschen Morder wer-den. Und: Harald Welzer (2008), Klimakriege. Wofur im 21. Jahr-hundert getotet wird. Und zum Forschungsprojekt ‘Shifting Baseline’http://www.kwi-nrw.de/home/projekt-50.html.

3) Ulrich Beck (1992), Die Renaissance des Politischen. In: GMH10/92. Seite 602.

4) Ebenda Seite 603.5) Ebenda.6) Ebenda Seite 602. 7) Beides sind Wendungen des Philosophen Martin Heidegger. 8) Siehe hierzu Horkheimer, Adorno (1980), Dialektik der Aufklarung. 9) Bei Sophokles wurde sie lebendig eingemauert. Die Faktizitat desEinmauerns brutalisiert das Toten, sie steht fur ein langsames, qual-volles Sterben. Die Metapher des Einmauerns steht fur den Gewalt-akt sozialer Isolation.

10) In: Martin Buber (1920), Drei Reden uber das Judentum.11) Ulrich Beck (1992), Die Renaissance des Politischen. In: GMH

10/92. Seite 603. 12) Simon Critchley (2007), Der Katechismus des Burgers. Klappentext.13) Markus Miessen (2012), Albtraum Partizipation. Seite 26. 14) Siehe hierzu Joachim Kappner, Die bessere Demokratie. Die Stadt

als politisches Versuchslabor. In: Suddeutsche Zeitung Nir 212, 13.September 2013.

Am 23. Oktoberwurde dieser Beitragim Rahmen einesBodensee Salonge-sprächs vorgestellt.

PERSÖNLICHE EINLADUNG

Reden wir miteinanderSalongespräche am Bodensee

diesmal in Winterthur

Führung und Partizipation

Ein Gespräch mit Michael Künzle, Stadtpräsident Winterthur

und Uli Burchardt, Oberbürgermeister der Stadt Konstanz

Mittwoch 23. Oktober 2013, 18.00 UhrHaus zur Geduld, Marktgasse 22, CH–8400 Winterthur

Eine gemeinsame Veranstaltung mit der

Standortförderung Region Winterthur und der Wirtschaftsförderung Konstanz

LabhardMedien

[email protected] +49 (0)7531 907131

P

Page 14: Eigen.Sinn

12

Eigen.Sinn

DER GENUSSim Normalen

Page 15: Eigen.Sinn

13

Eigen.Sinn

EIN ERSTAUNLICHER SATZ, ausgesprochen bei Pizza und einem Glas Wein, derdas Zeug hat, gegenwärtiges Lebensgefühl zu pointieren: Keiner möchte mehr normal sein. Neu ist diese Vorstellung des Menschen von sich selbst nicht. Bereits im 18. Jahrhundertbildete sich ein Grüppchen von Zeitgenossen heraus, die mit dem Normalsein nichts zutun haben wollten. Normal, das war in ihren Augen etwas fürs gemeine Volk, für die unge-bildete Masse, die ihr Brot im Schweiße ihres Angesichts verdiente. Sich selbst sahen sieaus den Niederungen des Gewöhnlichen herausragen, verstanden sich als Inner Circle, indem sie die dünne Luft der Genialität teilten. Damals begann die Verachtung des Normalen. Sie begann mit dem Siegeszug des Rationalen über den christlichen Menschen, dessenÜberlegenheitsphantasien mit einem Mal der Stoff ausgegangen war: Kein Gott, keine Er-leuchtung, keine Unsterblichkeit mehr, die ihn vor den anderen auszeichneten. So suchteer Ersatz und fand ihn im Kult des außergewöhnlichen Menschen, der aufgrund seiner Ta-lente und seines Willens zum Hervorragen dem Normalsterblichen überlegen sein sollte.Letztlich mündete diese Überzeugung, selbst etwas Besonderes und Außergewöhnlicheszu sein, im gegenwärtigen Selbstverwirklichungskult. Der Geniekult hat sich demokratisiert,die Sehnsucht nach dem Besonderen hat die Massen erreicht. Und so kam es, dass heutekeiner mehr normal sein will.

„Ich bin gern mit Menschen zusammen, die normal sind.Ich hätte es aber nicht so gern, wenn jemand über michsagen würde, ich sei völlig normal.“

Page 16: Eigen.Sinn

14

Eigen.Sinn

Der Normalmensch an und für sich stecktin der Krise. Er führt Krieg gegen sich selbst. Doch dieseschlechte Nachricht birgt gleichzeitig eine gute: Nach nichtssehnt sich der Mensch in der Krise so sehr wie nach Nor-malität. „Hoffnung auf ein wenig Normalität“ hieß es nachdem Erdbeben in der Türkei im März 2012. Nach „ein biss-chen Normalität“ sehnt sich eine Familie mit einem krebs-kranken Kind. Israelis im Nahen Osten wünschen sich nor-male Zeiten. Unzählige Kriegstagebücher zeugen von demalles beherrschenden Wunsch, morgens aufzustehen, umanschließend zur Arbeit zu gehen. Ganz normal und ziem-lich langweilig. Wer solcherart Krisen durchmacht oder hinter sich gebrachthat, wird bestätigen, wie wertvoll es sein kann, sich auf dieroutinierte Normalität des Alltags verlassen zu können. Nor-malität ist somit kein Charakterzug eines möglicherweiseignoranten Zeitgenossen, sondern umreißt eine Lebensein-stellung, deren Besitzer es darum geht, etwas aus sich zumachen: einen Menschen, der im Alltag lebenstauglich ist.Extremzustände sind demnach Ausnahmezustände, Norma-lität ist die Grundvoraussetzung, um das Außerordentlicheüberhaupt erleben zu können. Tatsächlich befinden wir uns „in Zeiten florierenden Wohlstan-des“, wie Thomas Rolf die Gegenwart unseres Landes be-schreibt. In Zeiten, in denen die Grundbedürfnisse längst be-friedigt sind und damit die Sorge um die eigene Person undihre angemessene Rolle in den Vordergrund rückt. Dabei warSelbstbestimmung gestern, heute geht es um mehr: um Selbst-erfindung. Die Grenzen der Um- und Selbstgestaltung werdenimmer weiter hinaus geschoben. Wo einst etwa in Frauenzeit-schriften Schnittvorlagen zu finden waren, mit deren Hilfe sichdie Leserinnen selbst Kleider schneidern konnten, wird heutedie Mustervorlage für den ganzen Menschen mitgeliefert. Es herrscht ein unablässiger Gestaltungszwang, der Bauch,Beine, Po genauso betrifft wie das Gefühlsleben, das per„emotional design“ den letzten Schliff erhält. Selbstbe-stimmung reicht nicht mehr, heute gilt es,sich lebenslang neu zu erfinden. Selfness, SelfBranding, Ich-Veränderungsprogramme geben vor, was zutun ist, um ein optimales Bild von sich zu entwerfen, in dieindividuelle Realität zu übertragen und entsprechend zu ver-markten. Die gesamte Person steht zur Disposition. Mit demErgebnis, dass die Menschen nach Belieben an sich herum-werkeln (lassen). Extrovertiert, jung und sexy in allen Lebens-phasen ist genauso Pflicht wie Sporttreiben, mit dem Ziel, sei-nem Körper, auch gern allen biologischen Gegebenheitenzum Trotz, den formenden Willen seines Besitzers aufzuzwin-gen. Die lebenslange Machbarkeit des eigenen Ich ist längstzur Maxime erhoben.

Was einen bekennenden Normalo heute an Zuschreibungenerwartet ist nicht leicht zu verdauen. Hans Magnus Enzens-berger hat in seinem Essay „Zur Verteidigung der Normalität“ein eigenes „kleines historisches Wörterbuch zur Beschrei-bung des normalen Menschen“ zusammengestellt, das hin-sichtlich übler Nachrede keine Wünsche offenlässt. Von „klei-ner Moritz“, „stinknormal“, „stumpfsinnig“, „Massenmensch“,„Konsumidiot“, „Mitläufer“, „Kleinbürger“ bis hin zu den „klei-nen Leuten“ handelt es sich um eine akribische Aufzählungvon Beleidigungen. Des Weiteren besteht ein beliebter Ta-schenspielertrick darin, bestimmte öffentliche Figuren wieetwa Dieter Bohlen herauszugreifen, sie allein aufgrund derTatsache, dass sie irgendwie bei den Massen ankommen, für„normal“ zu erklären, um sie postwendend quasi als die wah-ren Irren zu entlarven. Als ob jemand allein da-durch als normal durchgehen würde, dasser mehrheitstauglich ist. Und als ob das Gegenteilvon normal irre wäre. So lautet der Buchtitel des Arztes MartinLütz: „Irre! Wir behandeln die Falschen. Unser Problem sinddie Normalen“. Es ist im materiellen wie politischen Sinn ein Zeichen vonLuxus, wenn Menschen nicht normal sein wollen, wenn sie esdespektierlich finden, als „normal“ bezeichnet zu werden. „InZeiten florierenden Wohlstandes, in denen ja in der Regelauch der Pluralismus der Meinungen und Auffassungen, unteranderem über das Normale, aufblüht, gerät die Normalität alssolche sehr leicht aus dem Blick“, wie es der Philosoph Tho-mas Rolf formuliert. Nach seinem Verständnis gleicht Norma-lität mehr einer Aufgabe denn einem Zustand, sie äußert sichin einem nicht auf Anhieb identifizierbaren inneren Bedürfnis,das handelnd Erfüllung findet. Letztendlich machen handfesteDinge wie Nahrung, Kleidung und Wohnung, die wir tatsäch-lich als Bedürfnisse empfinden, Normalität aus. Dinge somit,die nichts mit Luxus, aber viel mit (Über)Leben zu tun haben.Wem es an solch grundlegenden Dingen mangelt, wird esschwer haben, ein normales Leben zu führen.Daraus lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass diesesBedürfnis – entgegen allen Relativierungsversuchen, demdas „Normale“ ausgesetzt ist – nicht nur personen-, sondernsogar kulturübergreifend gilt. Fatal daran ist nur, dass es sicherst wieder spürbar regt, wenn es den Menschen schlechtgeht, wenn sich tatsächlich Not ausbreitet – sei es durcheine Krankheit, eine familiäre Krise, Naturkatastrophen oderdie politischen Umstände. Man stelle sich vor, es sei Krieg.Würde man sich da wünschen, dass diese außerordentlichangespannte Situation möglichst lange anhält, weil sie soaufregend ist? Es mag Abenteuernaturen geben, die so emp-finden. Die meisten Menschen würden sich eher danachsehnen, dass alles wieder normal wird.

Page 17: Eigen.Sinn

15

Eigen.Sinn

Heute ist es nicht eine selbsternannte Elite, die Exklusivitäteinfordert, sondern der Alltagsmensch drängt zur eigenenindividuellen Prominenz. Die Botschaft ist angekommen undbereits verinnerlicht: Der Normalmensch darf sich nichtmehr genügen, er muss etwas Außerordentliches aus sichmachen, am besten sich ganz neu erfinden. Nach dem ei-genen Bilde, das jedoch verdächtig dem ähnelt, das von dermedialen Welt der Schönen, Reichen und Erfolgreichen vor-gelebt wird. Eifrig werden die verfügbarenMöglichkeiten, sich zu modellieren, ge-nutzt, von der äußeren Rundumerneuerung bis zur um-fassenden Persönlichkeitsumbildung, die aus einervermeintlich grauen Maus ein Alphatiermachen soll. Endziel ist die optimale Selbstdarstellunginklusive Glücksgarantie.Von ähnlichen Vorurteilen wie die Normalität wird eines ihrereffektivsten Instrumente, der gesunde Menschenverstand,verfolgt. Ihm wird Bodenständigkeit vorgehalten, Beharrenauf dem Althergebrachten, dass er nicht flexibel genug seiund sich den schnelllebigen Zeiten nur ungenügend anpas-sen könne. Möglicherweise ist er jedoch gerade deshalb be-sonders geeignet, etwas Ruhe und Ordnung in die täglicheverwirrende Flut des Neuen zu bringen. „Der gesunde Men-schenverstand leistet weniger irrtumsfreie Erkenntnis als viel-mehr praktische Orientierung in unübersichtlichen, un-durchschaubaren sowie vor allem auch in mehr oder minderneuen Situationen und Lebenslagen“, lässt sich Thomas Rolfhier vernehmen. „Langweilig“ – werden an dieser Stelle die

Kritiker des Normalen einwerfen, einer der schlimmsten allerheutzutage denkbaren Vorwürfe, der allerdings in seinerAngst vor der „langen Weile“ deren immenses schöpferischePotential übersieht. Der gesunde Menschenverstand verur-sacht quasi das Störgeräusch hinter den Einflüsterungsver-suchen, die alles Neue als per se spannend und aufregendund in der Logik des permanenten Events als begrüßenswertanpreisen. Er ist die unbestechliche Instanz – die Urteilskraftder Normalität. Das Normale hat immer etwas zu tun mit Maß und Mitte,wobei selbigen verbissenen Kritikern des Normalen hier wiedernur das Ärgste in den Sinn kommt: Mittelmäßigkeit. Durch-schnittlichkeit. Otto Normalverbraucher. Normalsein, würdeder Philosoph Rolf ihnen jedoch erwidern, beinhaltet ein Wert-urteil und keinen Durchschnittswert. Dass das Normale oft ingroßer Zahl vorkommt, hat ganz einfach darin seinen Grund,dass es wert ist, von vielen wertgeschätzt zu werden.Es geht somit um Balance, wie es heute heißt. Denn derGötze Erfolg zeigt durchaus zwei Gesichter: „Nichts!War! Mehr! Normal!“ Hinter jedem Wort setzte derInterviewer ein Ausrufezeichen, um die Erschütterung zuvermitteln, die diese vier Worte begleiteten. Ausgesprochenwurden sie von Ulrike Meyfarth, die 1972 bei den Olympi-schen Spielen in München als 16-Jährige völlig überra-schend die Goldmedaille im Hochsprung gewann und dasauch noch mit neuem Weltrekord. Zur Normalität sagte sie:„Das ist das höchste Gut für einen Menschen, dass er daserlebt. Weil er das weitergeben kann.“ Sie muss es wissen.

MARIA SCHORPPGeboren 1957 in Würmersheim/Kreis Rastatt1977 Abitur am Ludwig-Wilhelm-Gymnasium, RastattAb Herbst 1977 Studium der Philosophie, Geschichte und Germanistik an der Universität Konstanz1991 Promotion im Fach Philosophie bei Prof. Jürgen MittelstraßSeit 1986 Tätigkeit als Freie Journalistin bei diversen Zeitungen und MagazinenSeit 1994 Mitarbeiterin bzw. stellvertretende Leiterin der Stabsstelle Kommunikation und Marketing der Universität Konstanz

Page 18: Eigen.Sinn

„Esist n

ichtzu we

nig Zeit, die wir haben,

16

Eigen.Sinn

Page 19: Eigen.Sinn

sondern zu viel Zeit, die wir nicht nutzen.“

17

Eigen.Sinn

„Als ich jung war, konnte ich es kaum erwarten, dass die Glocke

läutete, die das Ende des Unterrichts in der Schule ankundigte, dass

es Freitag wurde und das Wochenende mit seinen Verheiß ungen

begann, dass die Sommerferien endlich kamen. Der Sommer schien

endlos, ich erinnere nur heiße Tage, die ich mit Gleichaltrigen im

Bodensee – meist im immerwarmen Wasser – verbrachte ...

RAIMUND WILHELMI

Geschäftsführer Klinik Buchinger Wilhelmi GmbHwww.buchinger.com

ZEIT.GESCHICHTE

Page 20: Eigen.Sinn

die zeit ist jemand wie du und ich. einfach da wie du und ich. was da bedeutet? da ist die mitte von gegeben und ge-nommen. da ist, wenn die luft ver-sch-

wimmt. da ist, wenn die biene lüs-

tern am nektar nippt. und da ist, wenn du sagst „bitte geh“. die zeit ist also

immer da. und immer ist sehr oft.

die zeit

iwo randoja

18

Eigen.Sinn

Page 21: Eigen.Sinn

19

Eigen.Sinn

... Auch das Erwachsenwerden dauerte Ewigkeiten – speziell die sechzehner und dieachtzehner Marke wurden herbeigesehnt. Danach beruhigte sich das Beobachten derEieruhr, das Lauschen des Pendels, das Mitzählen des Schlagens der Turmglocken etwas.Die erste Wohnung, der erste Käfer, die erste Liebe waren unvergessliche Glu cksmomente.Das Älterwerden schien weit, sehr weit – die Jahrtausendwende 2000 warepochal, dass man eine 2 am Anfang der Jahreszahl schreiben wu rde, schien eine Sensa-tion. Wie der Fall der Berliner Mauer: ich als 18jähriger im Erstsemester an der Freien Uni-versität Berlin – anders als etwa Martin Walser – hatte mich mit dem Gedanken der Teilungabgefunden, ich konnte es mir gar nicht anders vorstellen.

Jetzt rast die Zeit. Die Woche ist schon durchgeplant – was heißt Woche: das Jahr stehtWoche fur Woche fest. Meine tuchtige Assistentin trägt im Januar schon die wiederkehren-den Termine ein, die Geburtstage, die Besprechungen, die Tagungen, die Betriebsversamm-lungen, das Sommerfest, das Weihnachtsfest, meinen Hochzeitstag – ja auch die Urlaube.Und an diesen durch Outlook und Blackberry festgezurrten Terminen rattert das Jahr dahin,es rattert allerdings von Jahr zu Jahr schneller. An den Bäumen im Gartenund den Blumen auf den Beeten erkennt man die saisonalen Veränderungen: noch liegtauf dem Säntis Schnee, noch fährt die weiße Flotte nicht auf dem See, auch die „Hohen-twiel“ lässt ihr stolzes Horn noch nicht erschallen.

Aber die Knospen der Krokusse und Forsythien platzen, es schmu cken sich Kirschbäumeund Apfelbäume – lieblich und wurdig – und endlich kommen die herrlichen Tulpen im Aprilund Magnolien im Mai – und schon ist wieder Herbst! Die Blätter vor der Turemussen gekehrt werden. Auf der Fahrt nach Zurich gibt es in Singen und Schaffhausen denersten Nebel.

Wir planen schon die Weihnachtsreparaturen! Das Weihnachtsgeld! Das Weihnachtsessen!War nicht gerade erst Pfingsten? Waren wir nicht gerade das erste Mal in den See gesprun-gen? Saßen wir nicht bis 22 Uhr abends draußen und es war hell? Jetzt dämmert es gegen18 oder 19 Uhr und um 20 Uhr ist es dunkel.

Wo geht sie hin, die Zeit? Verwenden wir sie richtig? Verschwenden wir sie? Waskommt dann? Sollten wir nicht noch ein paar außergewöhnliche Dinge erleben, ein paar in-teressante Menschen kennenlernen, noch etwas Wichtiges zustande bringen?

Es sind wohlfeile Gedanken. Anhalten können wir die Zeit nicht. Gerade höre ich im Au-toradio, man solle die Uhr ablegen, das Handy abmelden und den Terminkalender weg -werfen. Ist das eine Lösung? Ist es richtig, wie Martin Suter („Die Zeit, die Zeit“) meint, dieZeit einfach als nicht-existent zu erklären? Wahrscheinlich ist es wichtig, jede Begegnung,jeden visuellen Eindruck, jedes Hörerlebnis bewusst zu erleben. Mit allen Sinnen. EinenMenschen kennenzulernen, ein außergewöhnliches Bauwerk zu sehen, eine Symphonielive zu erleben – wenn man sich mit vollem Bewusstsein, mit allen Sinnen auf einen solchenKontakt einlässt, dann scheint die Zeit stillzustehen. Man wird buchstäblich durchdrungen,erfullt, in eine neue Dimension entzuckt.

Eine Sekunde der Ewigkeit.“

Page 22: Eigen.Sinn

20

Eigen.Sinn

Page 23: Eigen.Sinn

FutterSUCHEDieses Foto von Achim Mende zeigt Wildschweinspuren im Schnee. Orientierung oder Chaos? Verzweiflung oder systematische Nahrungssuche?Ein Abbild über den aktuellen Zustand bei Teilen der Medienbranche.

21

Eigen.Sinn

Page 24: Eigen.Sinn

22

Eigen.Sinn

QualitätVerwirrung

STATT

THOMAS WILLAUER

„Im Zeitalter des Internets kann jeder alles sein: Verleger, Autor, Journalist.Jeder kann partizipieren, jeder Geld verdienen. Das ist das Mantra. Keinedieser Aussagen stimmt. Trotzdem werden sie weiter nachgeplappert. Werprofitiert eigentlich von dieser Ideologie?“ fragt Frank Schirrmacher, Heraus-geber der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung in einem be-merkenswerten Aufsatz zum Thema „Zukunft des Journalismus“1. In dieserDebatte wollen auch wir unsere Antwort geben.

ZUKUNFT DENKENJedes Unternehmen muss Zukunft denken, denn wenn eines eine feste Größeist, dann ist es der permanente Wandel. Deshalb haben wir in den vergan-genen 25 Jahren die Produktfamilie Bodensee Magazin entwickelt, habenuns ein zweites Standbein in Sachsen mit der Produktfamilie Sachsen Mag-azin aufgebaut. Wir haben zahlreiche neue Produkte ausprobiert und, nochwichtiger, auch etabliert, verstehen Marketing und Kommunikation immer alsein ganzheitliches Projekt von Print, Internet und direkten Kundenkontakten,Events, Diskussionsveranstaltungen, Beratungsangeboten. Zukunft denkenheißt auch immer, die eigene Unternehmenskultur weiter zu entwickeln. Mit -arbeiterinnen und Mitarbeiter müssen den Spirit eines Unternehmens verste-hen, nur dann können sie im Umgang mit unseren Kunden und Lesern dieseüberzeugen und gewinnen, für unsere Produkte, aber auch für unser Un-ternehmen. Das heißt eben auch, dass man qualifizierte Mitarbeiterinnen undMitarbeiter braucht. „Das Schlimme ist, schaut man beispielsweise auf dieSparmaßnahmen in Regionalzeitungen, dass Selbstausbeutung jetzt überallinstitutionalisiert zu werden beginnt. Von Apple lernen heißt siegen lernen!Wenn das magische iPhone von chinesischen Arbeitern in einer Charles-Dick-ens-Welt produziert wird, kann das auch mit Gedanken geschehen. Werglaubt denn im Ernst, dass gerade ausschließlich auf Profite und Reflexedressierte Verlagsunternehmen nicht begeistert von der Internetökonomie ler-nen könnten (…).“ Wir wollen unsere Produkte nicht „veräppeln“, sondernmit Qualität echten Kundennutzen stiften.

Die Zukunft der Printmedien

Im Jahr 2014 erscheint im 30. Jahr das Bodensee Magazin, das wichtigste touristische Medium fürdie internationale Bodenseeregion. Das Bodensee Magazin ist Ausgangspunkt einer ganzen Produkt-familie im Printbereich. Nicht ganz so lange, aber immerhin auch schon über 20 Jahre, ist LabhardMedien in Sachsen verlegerisch unterwegs. Unsere Kernkompetenz ist Kommunikation in Print. Unddabei bleiben wir auch. Tierfutterverkauf ist für uns keine Alternative. Doch dazu dann später.

Page 25: Eigen.Sinn

»Wir wollen unsereProdukte nicht„veräppeln“, sondernmit Qualität echtenNutzen stiften«

Denk im Kleinen.Denk im Großen.

23

Eigen.Sinn

Page 26: Eigen.Sinn

Denk im Ganzen.

24

Eigen.Sinn

Page 27: Eigen.Sinn

DER „DUMME" KUNDEEinige Internetfirmen und Werbeagenturen haben einenneuen Markt für sich entdeckt: Social-Media-Beratung. Dendafür sehr übersichtlichen Leitfaden für richtiges Verhaltenbei Facebook und Co. lassen sie sich teuer bezahlen undman hat den Eindruck, dass viele, die sich auf solche „So-cial-Media-Strategien“ einlassen, dies vor allem tun, weil sieglauben, etwas zu versäumen. Die Qualität der Beratung istmeist kaum besser als der Hinweis, man dürfe Gästen ausarabischen Ländern keinen Alkohol als Begrüßungsdrink imHotel anbieten. Und das Bild der Teilnehmer an Social-Media-Prozessen, also vom User, vom Kunden, vom Gast,dem ich was verkaufen möchte, ist nicht das eines aufge -klärten Partners, sondern es geht vor allem darum, welcheAspekte seines sozialen Verhaltens noch vermarktet werdenkönnen. „Wir wissen, eine Person ist einDepp und gibt viel Geld für nutzlose Dingeaus. Anzeigenkunden werden mehr Gelddafür ausgeben, um diese Leute ins Ziel zunehmen und diese Leute sind nicht er-fahren genug, um zu verstehen, was mitihnen geschieht.“2 So zynisch diese Denke da-herkommt, und es mag solche Leute geben (wie es auchimmer noch Bildzeitungsleser gibt und solche die„Schwiegertochter gesucht“ glotzen), wahr ist auch, dass esviele gibt, die sich nicht für dumm verkaufen lassen. Nichtjeder „Facebookschuss“ aus der Kundendatenbank vor denBug eines „Freundes“ kommt dort auch als Freundschafts-geste an, sondern eher als Belästigung.

KAPITAL STATT SOCIALGoogle und Facebook, wie auch andere Plattformanbieter imNetz, verdienen ihr Geld konventionell mit Anzeigenschaltun-gen, meist mit der Anmutung aus der Anfangszeit primitiverGrafikprogramme. Und ihr unternehmerisches Auftreten istdas aggressiver multinationaler Konzerne, die, nehmen wirdie Ölmultis, rücksichtslos Mensch und Natur ausbeuten. BeiGoogle, Facebook und Co. sind es soziale Bedürfnisse undgeistiges Eigentum, die man ausbeutet. Diese Unternehmenversuchen kulturelle Normen rücksichtslos im eigenenGeschäftsinteresse zu dominieren. „Die Informations -ökonomie hat in ihrer heutigen Alpha-Version ausschließlichzum Entstehen industrieller Giganten geführt, zu Konzentra-tionsprozessen, die den Einzelnen immer häufiger zum Aus-beuter seines eigenen Ichs machen … die sogenannten‚neuen Regeln für die neue Ökonomie‘, die in allen Köpfenrumspuken … tarnen diese Wiederkehr des Neoliberalismusin Gestalt der Techno-Utopie.“

PSYCHOLOGIE UND KRISEMilliarden haben Medienunternehmen im Internet schon ver-brannt. Es sind vor allem die über Fünfzigjährigen (Atari undCommodoregeneration), und dazu gehört auch vielfach dasFührungspersonal in den Medienunternehmen, die immer sotun, als würde das Web alles Mediale auf den Kopf stellen.Und ihr selbstgemachtes Krisengerede über Print verun-sichert dann die meist jungen Berufsanfänger in den Media-Agenturen, die als Generation „Internet“ zeitgeistorientiertWerbegelder flugs von Print ins Online umschichten. Docheine Erfolgsrechnung kann auch da nicht wirklich erfolgen.Die Verteilung von Werbegeldern besteht eben auch hier aus50 Prozent Psychologie. Aber wer heute auf Online setzt,kann zeitgeistgetrieben scheinbar nichts falsch machen.

SICH SELBST ABSCHAFFEN?Das Internet hat zweifellos das Informationsmonopol von Medi-enunternehmen aufgebrochen und ermöglicht eine um-fassende Informationsrecherche und auch die Weitergabe vonInformationen schnell, selbstständig und unabhängig von Me-dienunternehmen. Insoweit hat das Internet auch einenemanzipatorischen Charakter, wie z. B. die Plagiatsnachweisediverser Doktorarbeiten eindrucksvoll beweisen. Das Netz ver-langt aber auch einen qualifizierten, differenzierten und verant-wortungsbewussten User. Dies bei der Informationsaufnahme,aber auch bei der Informationsbereitstellung. Der Trend, Jour-nalisten durch User zu ersetzen, hat jedenfalls die Qualität invielen Medienhäusern drastisch nach unten getrieben. An-gesichts der fast schon krampfhaften Bemühungen einigerGroßverlage, sich den Content im Internet finanzieren zu lassen,denn nur so könne „Qualitätsjournalismus“ erhalten werden,bleibt dennoch die Frage berechtigt, ob das eine Trendwendeoder Propaganda angesichts einer schwierigen betriebs -wirtschaftlichen Gesamtsituation ist. Springer wird ein internet-basierter Gemischtwarenhandel und Burda verkauft im Netz in-zwischen erfolgreich Tierfutter. Von daher ist es nur konsequent,dass Burda als Fernsehpreis einen „Bambi“ verleiht.Geht die Tourismusbranche als nächstes diesen Weg dereigenen Abschaffung? Man hat den Eindruck, dass bewusstoder unbewusst daran gearbeitet wird, Tourismusfachleutedurch internetaffine Gäste zu ersetzen. Imagebildung für Des-tinationen, Tipps, Erfahrungen, Beratungsleistungen soll Be-suchern und Gästen überlassen werden, die sich in Blogsoder Facebook austoben. Auch dies ist ein Schritt in diefalsche Richtung. So wenig der User ein Journalist wird, sowenig wird er ein qualifizierter Tourismusexperte. Allein dietechnischen Möglichkeiten der Kommunikation, so Schirr -macher, sind nicht in der Lage diejenigen kommunikativenProzesse auszulösen, die allenthalben versprochen werden.Es geht weder um eine Internetstrategie, noch um eine So-cial-Media-Strategie. Es geht immer um eine integrative undsynergetisch organisierte Kommunikationsstrategie. Und diesbraucht qualifizierte Leute und Qualität. Es geht nicht billiger.

25

Eigen.Sinn

Page 28: Eigen.Sinn

Titelblatt zu schreiben bringt also überhaupt nichts. Im Gegen-teil: Es verstört die Leser, weil es Erwartungen enttäuscht.

PRINT WIRKTReisemagazine dienen der Information und der Imagebil-dung. Wir erleben gerade bei touristischen Medien eine Ren-aissance der Imagewerbung. Dem Gedruckten kommt dieAufgabe zu, in Wort und Bild die Geschichten der touristi -schen Destination zu erzählen, Interesse zu wecken,neugierig zu machen, grundlegende Informationen zu ver-mitteln. Print aktiviert die potentiellen Gäste. Print und In-ternet machen dann als gesamthafte Kommunikationsstrate-gie Sinn, wenn sie komplementär und nicht substitutivgenutzt werden. Deshalb haben selbst Reisekataloge eineZukunft und werden in immer höheren Auflagen heraus-gegeben. Print ist werthaltig, punktet – wenn gut gemacht –durch Haptik und Optik und hat sogar einen Glaub-würdigkeitsvorsprung gegenüber den ach so flüchtigen undoberflächlichen digitalen Formaten. Das trifft neuerdings fürdie nicht mehr überschaubare Anzahl von Hotelbewertun-gen zu. Fachleute raten dazu, nicht zuletzt angesichts pro-fessioneller Fälschungen in Hotelbewertungsportalen, min-destens neun Bewertungen eines Hotels zu suchen und zulesen, um einigermaßen sicher zu sein. Da ist die Beratungim Reisebüro oder ein Anruf in der Tourist-Informationsichtlich seriöser und zeitsparender. Auch das Reisebürowurde schon oft für tot erklärt.

DIE BESSERE IDEE GEWINNTDer Fehler, der heute bei vielen Verlagen gemacht wird ist,dass Magazine/Publikationen, die erfolgreich sind, kopiertwerden und als „me-too-Produkte“ erscheinen. Das istgenau das, was die Käufer/Leser frustriert, die Konsumentenabschreckt und auch die Werbekunden nicht brauchen. Dasmacht Print kaputt, weil es Printprodukte systematisch ent -wertet. Es kommt nicht darauf an zu kopieren, sondern esgeht darum, dass man die schlauere Idee hat, dass manZugänge hat zu Themen, die andere nicht haben, dass manDinge weiß, die andere nicht wissen, dass man Dinge fühlt,die andere vielleicht nicht fühlen.

LIST DER DIALEKTIKUnd eines ist gewiss. Sollte es jemals so weitkommen, dass es keine Magazine mehrgibt, die auf Papier gedruckt sind, dannwird das auf Papier gedruckte Magazineine Markt lücke sein. In diesem Sinne freuen wiruns auf die Herausforderungen der nächsten 30 Jahre l

Verweise1) Wenn nicht anders vermerkt, alle Zitate aus: Frank Schirrmacher, Zukunft des Jour-nalismus. Das heilige Versprechen, aus Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom25. November 20122) Natasha Singer, Reporterin der „New York Times“, zitiert nach Frank Schirrmacher,ebenda

LUXUS, ZEIT UND MUSSETrotz Internet sind im vergangenen Jahr über 500 Printtitelneu auf den deutschen Markt gekommen. Die intelligenten,die anspruchsvollen Konsumenten wollen Medien haben, fürdie sie sich Zeit nehmen dürfen. Ich sage, in dem Moment,in dem bedrucktes Papier nicht mehr allein unseren Informa-tionsalltag bestimmt, sondern das Internet an Bedeutung zu-nimmt, wird Papier noch viel interessanter. Es entwickelt sichzum Luxusgegenstand. Luxus verstanden als Zeit und Muße.In dem Moment, in dem Papier scheinbar überflüssig wird,bekommt es eine ganz andere Qualität, auch Lebensqualität.Und für Leute, die das suchen, ist eine Zeitschrift etwasBesonderes, was Sinnlichkeit hat, eben das, was das Internetnicht hat. Um als Printmagazin erfolgreich zu bleiben, mussein Titel dem Leser ein sinnliches Vergnügen bieten – mithochwertigen Inhalten, Hintergrundanalysen und einem über-raschenden Design. Man braucht nur Autoren, Illustratorenund Fotografen zu fragen – in Print veröffentlicht zu werdenbedeutet ihnen nach wie vor mehr als in digitalen Medien.Die Zukunft des Zeitschriftenmarktes liegt in den Nischen-produkten. Die Nische ist anspruchsvoll, denn da geht eswirklich um Inhalte und nicht nur um Disposition und Preiseund Cover-Fotos. Nischentitel werden auch als Printaus-gaben generell von jüngeren Menschen genutzt. Nischen-produkte sind unabhängig von der Massennachfrage. DieMacher von Magazinen haben so alle Freiheiten, das in-haltliche und grafische Potenzial des physischen Formatsauszunutzen. Dies stärkt die Leser-Blatt-Bindung.

WIR MACHEN WERBUNGDas grundlegende Verständnis unserer Arbeit geht dahin, dasswir mit unseren Medien unseren Kunden und Partnern Nutzenstiften, d. h. Gäste bringen. Nutzen stiften wir auch unserenLesern, indem wir unsere Informationen und die unserer Kun-den so aufbereiten, dass sie stimmig sind, dass es Vergnügenmacht, sie zu lesen, dass die (Werbe-)Bot schaften stimmenund dabei gleichzeitig positive Gefühle und Emotionen aus-lösen. Wir produzieren „Appetitmacher“, sind Gästebringer fürdie Region. Unsere Magazine transportieren das Image derDestination, sie prägen es aber auch aktiv mit. Wir unterstützendie touristische Produktentwicklung, die Markenbildung, er-möglichen das Voranbringen der multithematischen Kommu-nikation und haben nachweislich eine hohe Werbekraft. DasMagazin als Kommunikationsinstrument bietet die einzigartigeMöglichkeit, z.B. die Einheit der Bodenseeregion in ihrer Vielfaltzu kommunizieren, sei es im Tourismus oder als Wirtschaftsre-gion. Hier verbinden sich gemeinsamer Auftritt und Individu-alität der Akteure. Unsere Magazine sind damit auch Plattfor-men, auf denen unterschiedliche Interessen gebündelt werdenkönnen. Erfolgreich sind diese Magazine aber nur, wenn sieselbst eine erfolg reiche Kommunikationsmarke sind. Dies trifftbei den Marken Bodensee Magazin und Sachsen Magazinzweifellos zu. Auf Werbebotschaften einfach „Magazin“ auf das

26

Eigen.Sinn

Page 29: Eigen.Sinn

Denk anders!27

Eigen.Sinn

Page 30: Eigen.Sinn

28

Eigen.Sinn

DER SCHWEIZZULIEBE„DIE BANKEN SOLLEN MITBEZAHLEN“

Mit Walter Wittmann im Gespräch

"Soziale Marktwirtschaft statt Wohlfahrtsstaat"Walter Wittmann ist emeritierter Wirtschaftsprofessor der UniversitätFreiburg/Schweiz und erfolgreicher Lehr- und Sachbuchautor. Inseinem neuen Buch "Soziale Marktwirtschaft statt Wohlfahrtsstaat"(orell füssli/März 2013) kritisiert Prof. Dr. Walter Wittmann den Fi-nanzsektor, der seit der Lehman-Pleite für ihn nichts dazugelernthat. "Das Hauptproblem ist, dass keine Regulierungen stattgefun-den haben", so Wittmann. "Wenn diese fehlen, können sie ja weiter -hin machen, was sie wollen."

Die Schweizer Banken haben jahrzehntelang von deutschen Kunden mit unversteuertem Ver-mögen profitiert. Jetzt wollen die Banken diese Kunden loswerden. Das findet Walter Wittmannnicht in Ordnung. Die Banken sollen mitzahlen. Der ehemalige Wirtschaftsprofessor WalterWittmann gilt als unerschrockener Kritiker von Finanzindustrie und überholten politischenStrukturen – vor allem auch in der Schweiz.

Interview: Christian Huggenberg

Page 31: Eigen.Sinn

29

Eigen.Sinn

Page 32: Eigen.Sinn

30

Eigen.Sinn

Immer wieder kritisieren Sie die Schweiz. Finden Sie, inder EU ist es besser?Walter Wittmann: Ich bin pro-EU. Damit bin ich für vieleSchweizer sicher ein Landesverräter. Aber das macht mirnichts aus.

Marode Staatsfinanzen und Euro-Krise. Inzwischen gibt esaus Schweizer Sicht wohl genügend Argumente, die dage-gen sprechen, sich der EU weiter anzunähern.Walter Wittmann: Natürlich hat die EU Probleme. Abervieles, was man sich einredet, stimmt so nicht. Zum Beispielspricht man von der Euro-Krise, was so nicht richtig ist.Wenn schon, dann sollte man von der Schuldenkrisesprechen. Der Euro hat keine Krise. Das Problem sind dieSchulden einzelner Länder. Gemäß Maastricht-Vertrag dürftekein Land zur Tilgung der Schulden eines anderen einsprin-gen. Um diesen Punkt umgehen zu können, spricht manvon der Euro-Krise. Tatsächlich ist der Euro gegenüber demDollar eine starke Währung.

Mit einer Flut von Sachbüchern schreiben Sie seit Jahrengegen Schweizer Eigenheiten an. Zum Beispiel die direkteDemokratie, den helvetischen Föderalismus oder dasSchweizer Bankgeheimnis. Macht Ihnen diese Rolle Spaß?Walter Wittmann: Was heißt Spaß? Wenn ich Dinge lese, dieich für falsch halte und ich über genügend Zahlen und Faktenverfügen, die etwas anderes zeigen, dann schreibe ichdarüber. Der Mehrheit gefällt es in der Regel nicht, was ichschreibe. Mir ist zum Beispiel aufgefallen, die „Neue ZürcherZeitung“ hat mein neustes Buch nicht einmal rezensiert.

Früher war das anders. Was hat sich geändert?Walter Wittmann: Ich nehme an, dass es denen nicht passt,was ich über die Exzesse der Finanzindustrie geschriebenhabe. Ich stelle nämlich fest, dass sich gegen Bankenrefor-men vor allem diejenigen Medien stellen, in denen es vor In-seraten der Finanzindustrie nur so wimmelt.

Page 33: Eigen.Sinn

Das Bankgeheimnis ist jetzt am Ende.“

31

Eigen.Sinn

„Das Schweizer Modell ist weitgehend am Ende.

Die Schweiz hat es besser. Die Staatsverschuldung ist ver-gleichsweise niedrig.Walter Wittmann: Da liegen sie völlig falsch. Wenn wir dieHypothekarschulden der Schweizer mitberücksichtigen,dann gehören die Schweizer Konsumenten mit zu denhöchst verschuldeten Personen in der Welt. Man sollte alsobei der Beurteilung einer Volkswirtschaft nicht nur dieStaatsverschuldung anschauen. Übrigens: Die geringeStaatsverschuldung rührt daher, dass man seit Jahrzehntendie Infrastruktur vernachlässigt.

Der Druck von außen auf die Schweiz hat in den vergan-genen Jahren stetig zugenommen. Zudem agiert das Landoft ziemlich ungeschickt im Umgang mit dem Ausland.Sind Sie als EU-Befürworter der Ansicht, das SchweizerModell ist am Ende?Walter Wittmann: Ja, das Schweizer Modell ist weitgehendam Ende. Das Bankgeheimnis ist jetzt am Ende. Das habeich schon in den 80er Jahren geschrieben. Aber es kann janicht sein, dass einer im Nachhinein Recht hatte. Es ist jaimmer die Mehrheit der Versager, die dafür sorgen, dass sieRecht behalten.

Nennen Sie mir ein Beispiel, an dem Sie festmachen, dassdas Modell Schweiz ans Ende kommt.Walter Wittmann: Nehmen wir den Föderalismus. Eine un-sägliche Angelegenheit. Da gibt es Kantone mit 35.000 Ein-wohnern, die sich benehmen wie selbstständige Staaten in derglobalisierten Welt. Die kleinen Kantone bestimmen durch dieRegelung des Ständemehrs, was in der Schweiz läuft. DerGrundsatz, dass jede Person eine Stimme hat, wird dadurchaufgehoben. Im Ständerat hat jeder Kanton gleichviel Gewicht.Der Kanton Glarus oder die beiden Appenzell haben genau soviele Ständeräte wie der Kanton Zürich. Das ist un-demokratisch. Auch ist das System Schweiz völlig ineffizient.Stellen sie sich vor, in 26 Kantonen herrschen überall andereGesetze, gibt es selbstständige Regierungen und Behörden.Das kostet enorm viel Geld und ist ineffizient. Und wenn estatsächlich mal drauf ankommt, dann wendet die Regierungin Bern sogenanntes Notrecht an. Das ist doch der Beweis,dass das System nicht funktioniert.

Page 34: Eigen.Sinn

32

Eigen.Sinn

Die föderalen Strukturen sind also schuld am Versagen. Walter Wittmann: Ja. Und sehen Sie, wie das funktioniert:In den 90er Jahren etwa bei der Abstimmung über denBeitritt der Schweiz zum EWR war das Ständemehr nachAuszählung von 15 Prozent der Stimmen schon da. Die Vor-lage war gescheitert.

Hat der Kleinstaat Schweiz überhaupt noch eine Zukunft?Walter Wittmann: Ja, dank den Managern aus aller Welt, diemittlerweile eigentlich so ziemlich alle großen Unternehmenin der Schweiz anführen. Wir können froh sein, dass dieManager überhaupt noch kommen. Oder die guten Ärzteund das Pflegepersonal vor allem aus Deutschland, dieheute in unseren Krankenhäusern arbeiten. Wir können frohsein, dass die da sind, sonst würde unser Gesundheitssys-tem zusammenbrechen.

Zukunft ja oder nein?Walter Wittmann: Die Wachstumsschwäche wird sich fort-setzen. Doch immerhin haben wir jetzt das Glück, dass dasBankgeheimnis am Ende ist. Das Schwarzgeld fließt abund neues Schwarzgeld wird nicht mehr kommen. Dasschwächt den Franken und hilft der Exportwirtschaft.

Finden Sie es in Ordnung, dass die Schweizer Bankenihren langjährigen Kunden aus Deutschland jetzt einenBrief schreiben, dass diese doch bitte ihr Konto bisEnde des Jahres auflösen?

Walter Wittmann: Nein. Natürlich nicht. Das ist wirklich un-rühmlich. Über Jahrzehnte verkaufte sich die Schweiz alssicherer Hafen. Jetzt fordern die Banken ihre Kunden auf,bis Ende des Jahres ihre Konten beim deutschen Fiskusanzugeben. Andernfalls würden die Konten geschlossen.Das geht doch nicht. So kann man die Leute doch nicht imStich lassen.

Auf der einen Seite begrüßen sie die Auflösung desBankgeheimnisses. Andererseits klagen Sie die

Banken an, welche ihre Kunden im Stich lassen.Ihre Argumentation klingt widersprüchlich.

Walter Wittmann: Auch wenn ich fürden automatischen Informations -austausch bin. So heißt dies nochlange nicht, dass ich dafür bin,langjährige Kunden im Stich zulassen. Hier geht es doch nur

darum, dass sich die Banken selber retten. Den Kundenlassen sie im Regen stehen. Das finde ich nicht in Ordnung.

Was schlagen Sie vor?Walter Wittmann: Es soll das geschehen, was in denAbkommen steht und in den Verträgen mit den USA oderauch Deutschland steht. Die Vereinbarung mit den USA(Fatca) sieht Bußen vor. Das wird der Schweiz auch mit Eu-ropa blühen. Eine Möglichkeit wäre, dass die SchweizerBanken bei den deutschen Kunden wenigsten die Nach -steuer oder die Buße übernimmt. Das wäre fair, nachdemman Jahrzehntelang profitiert hatte. Aber das wollen dieBanken natürlich nicht. Die wollen Gewinne machen.

„Wenn ich trotzdem kritisiere, dann ist

Page 35: Eigen.Sinn

dies doch eigentlich

33

Eigen.Sinn

Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen der Schweiz undDeutschland generell?Walter Wittmann: Den Schweizern sollte bewusst sein, dassDeutschland noch immer mit großem Abstand der wichtigsteMarkt ist. Ansonsten kann man feststellen, dass derDeutschschweizer den Deutschen nicht sonderlich mag. Daswird erst recht sichtbar, nachdem Deutsche zum Arbeiten indie Schweiz geholt wurden und sich jetzt herausstellt, dassdiese tüchtiger sind wie die Schweizer. Noch schlimmer istes, wenn der Deutsche ein Vorgesetzter ist. Das passt denkleinkarierten Deutschschweizern gar nicht.

Wird sich an der Beziehung nach den Bundestagswahlen(am 22. September) etwas ändern?Walter Wittmann: Nein. Nicht grundsätzlich. Das Steuer-abkommen wurde abgelehnt und eine Neuauflage wird esnicht geben. Stattdessen werden die Deutschen jetzt gemäßder Gleichbegünstigungsklausel dasselbe verlangen wie dieUSA. Das heißt, was man dem einen gewährt, muss manauch allen anderen gewähren.

Sie lassen nicht viel Positives übrig an den Eidgenossen.Gibt es auch etwas, das Ihnen an diesem Land gefällt?Walter Wittmann: Das Gesundheitswesen in der Schweiz istweltweit einmalig. Da wird wirklich etwas geboten.

In Ihrem neuen Buch „Soziale Marktwirtschaft stattWohlfahrtsstaat“ beschreiben Sie, wie das internationaleSystem immer mehr in die Dauerkrise abrutscht. Da siehtdie Schweiz doch eigentlich noch ganz gut aus.Walter Wittmann: Auch die Schweiz ist abgerutscht.

Ja, aber im Vergleich alleine schon zu Deutschland siehtes in der Schweiz doch gar nicht so schlecht aus. Hartz IVund ein Rentensystem, das auch für Beitragszahler bisweit in die Mittelklasse zukünftig nicht viel übrig lässt. Dasist doch ziemlich beklemmend. Da hat es die Schweizdoch besser.Walter Wittmann: Nein, es sieht nicht gut aus und ich stauneimmer wieder, wie die Deutschen damit zurechtkommen.

Also Deutschland ist auch nicht unbedingt der Idealtyp.Walter Wittmann: Nein. Eigentlich nicht.

Was wäre denn ein gutes Vorbild für die Schweiz?Walter Wittmann: Ein Vorbild gibt es so nicht. Die sozialeAbsicherung in der Schweiz nach dem Drei-Säulen-Prinzipist wirklich gut gemacht. Und auch das Gesundheitswesenist wie bereits gesagt, außerordentlich gut.

Also gibt es kein Land, das es besser macht?Walter Wittmann: Eigentlich nicht. Und schauen Sie sichdie USA an, die immer sagen, wie toll sie sind. Ich weiß abernicht, was toll ist an einem Land, wo die Leute drei Jobsbrauchen, um über die Runden zu kommen. Und eineKrankenversicherung gibt es erst noch nicht.

Folglich könnte man sagen, die Schweiz ist zwar nicht per-fekt, doch ziemlich gut im Vergleich zu anderen.Walter Wittmann: Ja, das kann man so sagen. Wenn ichtrotzdem kritisiere, dann ist dies doch eigentlich positiv.Dafür sollte man mich nicht diskriminieren.

positiv.“

Page 36: Eigen.Sinn

34

Eigen.Sinn

Page 37: Eigen.Sinn

35

Eigen.Sinn

statt hinfallenAuffallen

Page 38: Eigen.Sinn

36

Eigen.Sinn

MARKENCHECK

der

WENN D IE MARKE N ICHT HÄLT, WAS S IE VERSPRICHT

Page 39: Eigen.Sinn

37

Eigen.Sinn

Wer nicht echt ist und nicht authentisch agiert, verliert schon im Vorfeld ...

JEAN-CLAUDE PARENT

Mitinhaber der GWA MarkenagenturSchindler Parent GmbH in Meers-burg und Gastdozent am Institut fürFamilienunternehmen der ZeppelinUniversität Friedrichshafen.

Page 40: Eigen.Sinn

KONZERNE ODER MANAGEMENTGEFÜHRTEUNTERNEHMEN betreiben oftmals eine Art Identitäts-design im Sinne von Marktgefälligkeit. Strategien ändern sichin relativ kurzen Zyklen oder sind abhängig von derFührungsriege, die gerade den Laden führt oder von derLaufzeit des Arbeitsvertrages. Identität und Strategien vonfamilien- oder inhabergeführten Unternehmen dagegengründen auf dem authentischen Vorleben einer Haltung, aufganz grundsätzlichen Einstellungen und auf Vorbild – oft-mals über Generationen hinweg aufgebaut und überliefert.Auch die Planungshorizonte unterscheiden sich grundle-gend von denen der Konzerne. Der ganz wesentliche Unter-schied zum Konzern aber ist, dass Familienunternehmen fürihre Versprechen persönlich haftbar gemacht werden kön-nen. Claus Hipp ist hierfür ein gutes und bekanntes Beispiel,der mit seinem Namen persönlich für seine Produkte, fürdie Marke Hipp und deren einwandfreie Qualität einsteht.Während man bei Konzernen oft vergeblich nach jemandemsucht, der das Markenversprechen dann einlöst und dafürgerade steht, wenn etwas schiefgeht.

DIESES VERHALTEN „des sich Drückens vor der Ver -antwortung“ hat sich nicht nur auf Konzernebenen breit ge-macht, es hat große Teile der Finanzwirtschaft, der Politikund damit der breiten Gesellschaft erreicht. Denn mittler-weile wurde hochoffiziell das Risiko von der Haftung ge-trennt. So werden z. B. Banken (allen voran Landes- undStaatsbanken) für die eingegangenen Risiken und die da-durch entstandenen Verluste, für die deren Mitarbeiter auchnoch dicke Boni erhalten haben, nicht mehr direkt zur Ver-antwortung gezogen. Stattdessen werden Gründe wie Sys-temrelevanz herangezogen, um diese Verluste zu sozialisie-ren und am Ende des Tages dem Steuerzahler zu übertra-gen. Dadurch werden nicht nur Regeln der Marktwirtschaftoder des ehrbaren Kaufmanns ad absurdum geführt – ethi-sche und moralische Grundfesten geraten damit grundsätz-lich ins Wanken. Von den volkswirtschaftlichen und soziolo-gischen Folgen, die sich heute überhaupt noch nicht ab-schätzen lassen, ganz zu schweigen.

FAMILIENUNTERNEHMEN sollten daher bei der Ent-wicklung einer Marke stets darauf achten, dass sie die Ver-sprechen, die sie dem Markt und den Konsumenten geben,auch einhalten können. Denn eine Marke ist vor dem Kaufzunächst eine Leistungsvermutung, die immer wieder neueingelöst und bestätigt werden will. Eine Marke genießt so

etwas wie ein Vor-Vertrauen, für das der Kunde in vielen Fällen bereit ist, etwas mehr auszugeben als für Produkte,die ihm weniger bekannt sind. Dieses Vertrauen einer Markegegenüber ist ein enormes Präferenzkapital, was Wettbewer-ber, selbst durch viele Werbegelder, oft nicht aufzubauenvermögen.

WIE STELLT MAN SICHER , dass sich die CorporateIdentity in einer Marke auch widerspiegelt? Nun, die Grund-lage für eine identitätsorientierte Markenführung ist, den ei-genen Markenkern (die DNA) zu entdecken und ihre Einzig-artigkeit zu identifizieren. Dieses gleicht einer echten Kärr-nerarbeit, die sich jedoch lohnt. Denn letztlich bildet derMarkenkern die Grundlage für die Formulierung einer Posi-tionierung und eines Markenversprechens. BMW, auch einFamilienunternehmen, ist mit seinem Markenkern „Freude“und dem Markenversprechen „Freude am Fahren“ ein wun-derbares Beispiel dafür, wie ein solcher Markenkern nichtnur als Führungsinstrument im Alltag unternehmensinternfunktioniert. Auf der Grundlage dieser formulierten Identität,nichts anderes ist der Markenkern, lässt sich ein markenty-pisches und adäquates Gestaltverhalten – das so genannteCorporate Design – wunderbar aufsetzen und dieses in kom-munikative Codes wie Sprache, Formen, Bilder, Farben,Töne einzigartig übersetzen. Schlussendlich sind dann auchKunden bereit, für Produkte dieser Marke einen höherenPreis in Kauf zu nehmen, weil ein BMW sein Markenverspre-chen immer wieder aufs Neue einzulösen scheint. Dabeisind Preisabstände zu vergleichbaren Produkten andererAutomobilmarken von mehr als 30 Prozent keine Seltenheit.

WENN ABER MARKE UND IDENTITÄT nichtzusammenpassen, ist das wie bei einer Persönlichkeit: dieKleidung passt nicht zu dem Typ, der drin steckt. Das siehtman auf den ersten Blick. Jeder spürt das, ob als Mitarbeiteroder als Konsument. Irgendwann wird das Identitätsdesignentlarvt, wenn etwa Produktversprechen nicht gehalten wer-den können. Oder wenn dekoratives und gefälliges Designden wahren Charakter einer Firma oder einer Markeübertünchen. Der Wettbewerb ist heute zu hart, die Welt zutransparent, als dass man damit über längere Zeit erfolgreichüberleben könnte. Angesichts dessen, dass in den Beschaf-fungsmärkten das Angebot an qualifizierten Mitarbeitern engwird, wird ein Unternehmen, das nicht identitätsorientiertgeführt wird, erst gar nicht an die Ressourcen gelangen, ummarktfähig zu bleiben.

38

Eigen.Sinn

Page 41: Eigen.Sinn

39

Eigen.Sinn

»Die Kleidung muss zum Typ passen, der drin steckt.«

EISWAS HEISST DAS? Wer nicht echt ist und nicht authentisch agiert, verliert schon im Vorfeld den Kampf umqualifizierte Leute, die eine der Grundlagen bilden, um über-haupt exzellente Produkte zu entwickeln, herzustellen undzu vertreiben. Solche Unternehmen werden sich in der Folgeauch am Kapitalmarkt schwer tun. Und letztlich werden sieganz schnell aus dem Markt gemobbt. Auf die Frage „wasist zu tun?“ kann man nur empfehlen, gründlich über dieBücher zu gehen und den Status quo zu analysieren, dieFakten auf den Tisch zu legen und ganz offen die Differen-zen zwischen Selbst- und Fremdbild zu identifizieren.Danach geht es an die Arbeit in den Eingeweiden eines Un-ternehmens oder einer Organisation: die Entdeckung dereigenen DNA. Daraufhin wird alles überprüft: die Produkteund ihre Marktposition, die grundsätzliche Positionierungund das Marktversprechen, das kommunikative Verhalten,das Pricing usw. Mit dem Ergebnis, dass ein Unternehmenvöllig neu justiert wird. Womit es in vielen Fällen durch dieseKenntnis an neuer Kraft, Motivation und Stärke gewinnt. ImSinne von: gute Markenführung ist exzellente Un-ternehmensführung. Und umgekehrt lJean-Claude Parent

Page 42: Eigen.Sinn

40

Eigen.Sinn

Page 43: Eigen.Sinn

Ich denk dann mal

weiter

41

Eigen.Sinn

Page 44: Eigen.Sinn

42

Eigen.Sinn

Page 45: Eigen.Sinn

43

Eigen.Sinn

NACHDENKEN

über LoyalitätWERTVOL L ODER AUGENW ISCHERE I ?

Werte sind zum Thema geworden, sei es als Klage über deren Wandel und Zerfall, sei esals Ruf nach ‘Mehr Wert!’. Nehmen wir an, Loyalität sei einer dieser Werte. Was ihn aus-zeichnet ist, dass er von nicht allzu vielen im Munde geführt wird, im professionellen Kontextvor allem auf Kundenloyalität reduziert ist, bei dem einen oder anderen Militäraffinen mitdem Geschmack von Gehorsam, mehr oder weniger blind, ausgestattet wird. Loyalität wirdim Bauchladen der Werte nachgeordnet gehandelt.1 Allesamt gute Voraussetzungen, umnicht in einen mainstreamigen Jubel zu verfallen: Aber jetzt haben wir ein Allheilmittel ge-funden! Im Gegenteil. Loyalität ist ein Gegengift. Gegen welche Vergiftungen? Zunächst ein-mal gegen zwei, die sich möglicherweise als Ingredientien einer einzigen herausstellen:Gegen die Überforderung durch Werte und den Trend zur Individualisierung von Risiken.

ÜBER 3 LOYALITÄTEN UND DARÜBER, WAS ES FÜR EINEN WERT HAT,SICH MIT LOYALITÄT ZU BESCHÄFTIGEN.

Page 46: Eigen.Sinn

BEATE WILLAUERist Gesellschafterin und geschäftsführende Partnerin desWillauer+Partner Instituts für Führungskultur. Sie begleitet

Persönlichkeiten und Organisationen.

44

Eigen.Sinn

Page 47: Eigen.Sinn

45

Eigen.Sinn

DIE ERSTE VERGIFTUNG IST RASCH ERKLÄRT:Werte bleiben in den meisten Fällen seltsam blutleer, obwohl siegelegentlich blutige Auseinandersetzungen begründen und ent-scheiden. Wobei sich hinter der Fassade von Werten immer nochtrefflich streiten und kämpfen lässt und Werte zur Durchsetzungwertfremder Interessen missbraucht werden. Die Beispiele sindLegion. Blutleer auch deshalb, weil Werte in Ahnengalerien ge-halten und als Zeugen einer vermeintlich besseren Vergangenheitaufgerufen werden. Ich meine, wir sollten die Werte von unserenWänden abhängen, diese lieber weiß streichen und als Leinwandfür ein kollektives Brainstorming nutzen: Was will ich, was willstdu, was wollen wir erleben, wie will ich, wie willst du, wie wollenwir handeln? Es werden Generalisierungen, Bilder, Begriffe vonErlebenssehnsüchten und Handlungsvielfalt entstehen. Eben:Werte. Nur wären diese dann mit Vorstellungen aus Verständigungdurchblutet und sie hätten etwas zu tun mit Erleben und Handeln.Damit wären sie (arbeits-)lebensnah reflektierbar und würdenStoff liefern für wirkungsrelevante Diskurse. Wobei Handeln undErleben, Erleben und Handeln in einem zirkulären, multidirektio-nalen und damit komplexen Verhältnis zu denken sind: Erlebenlenkt Handeln, Handeln Erleben und Erleben wirkt auf Erlebenwie auch Handeln Handeln einfärbt, jeweils für alter wie für ego,immer unberechenbar.

DIE ZWEITE VERGIFTUNG bezieht sich auf eine gesell-schaftliche Praxis, die seit dem 18. Jahrhundert unvermindert an-hält, nämlich den Transfer von Lebens- und Arbeitsrisiken auf dieIndividuen und die Erzeugung von Risiken vielgestaltiger Art mitvielgestaltigen Absichten. Eine Folge dieser Praxis ist, dass Loya-litäten dadurch gemindert, wenn nicht verhindert werden. DiePhänomene sind Legion, die im einzelnen einer sorgfältigen Ein-ordnung bedürfen.

Die weiße Leinwand ist nun zwar eine weiße und das, was darauf(nicht) geschrieben, (nicht) gemalt, (nicht) geklebt, (nicht) ge-worfen, (nicht) geschmiert, (nicht) wieder ausgelöscht wird, ist alsAusdruck eines Hier-und-Heutigen alles andere als unbeschrie-ben, vielmehr durchzogen mit Intarsien von Vergangenem, kennt-lichen und unkenntlichen Ablagerungen. Das, was auf dieserLeinwand landen wird, braucht unsere gesamte Ausdruckskraft.Werte, sofern sie Ausdruck von Erlebnissehnsüchten und Hand-lungsvielfalt sind, ergreifen uns geradezu: Dieses ‘Ergriffen-Sein’,wie Hans Joas2 sagt, zeigt sich in einem ‘intensiven Gefühl äußersten ‘Bei-sich-Sein’’, einem ‘Gefühl, ganz besonders mit (...)

Page 48: Eigen.Sinn

46

Eigen.Sinn

(sich) identisch zu sein’. Werte sind, so weit sehen wir andieser Stelle, ‘hochgradig emotional besetzt’ und emotionalfundiert, tief verwoben mit existentiellen Fragen. Mir gefälltdieses Wort vom ‘Ergriffen sein’, weil es sich einer rationa-listischen Vereinnahmung und deutungshoheitlichen An-sprüchen entzieht.

Loyalität auf diesen Hintergrundfolien betrachtet scheint mirdas Potenzial zu haben, ein zentraler Wert in unseren pro-fessionellen Umfeldern zu werden. Warum?

ICH DEFINIERE LOYALITÄT IN DREIERLEIHINSICHT als Loyalität zum Selbst, als Loyalität zum Ge-genüber, als Loyalität dem Werk gegenüber. Meine Theseist: Wenn wir in unseren professionellen Kontexten, in Orga-nisation und Netzwerken, diese dreifache Loyalität pflegen,wird dies Auswirkungen auf die Qualität der Produkte, derDienstleistungen, der Leistungen und Zukunftsentwürfe, aufdie Qualität der Interaktionen zwischen Peers sowie in hie-rarchischen Konstellationen und auf die Qualität des Selbst-bezugs, der Selbstkompetenz haben. Oder nochmals an-ders: Wenn wir in professionelle Loyalitäten investieren, ge-winnen wir Sicherheit und wir werden einen Klimawandel er-leben, der allen überraschend gut tun wird. Nicht zuletztwird dies auch auf der Kostenseite sichtbar, Kosten als Auf-wände, als energetische Investitionen aller Art verstanden. Ich bemühe Josiah Royce3 und sein spätes Werk ‘Philosophyof Loyalty’, eines der wenigen Werke, das sich explizit mitLoyalität beschäftigt: Eine Ausgrabung aus einer ungefähr100 Jahre alten Sedimentschicht, heute auf die Leinwandgeworfen. Loyalität im Royce’schen Sinn auf den Punkt ge-bracht: Kenne deine Motive, Ziele und Aufgaben, bekennedich dazu, schließe dich einer Gemeinschaft an und arbeite

mit anderen Menschen an diesen Zielen. Die authentischeLoyalität – was treibt mich an, was zieht mich an, wann binich ‘ganz bei mir’ – hat ihr Pendant in der ‘genuine commu-nity’, einer authentischen Gemeinschaft: ‘Mein Leben meintnichts, weder theoretisch noch praktisch, wenn ich michnicht als Mitglied einer Gemeinschaft begreife.’ Loyalitätheißt Selbst-Treue und Gemeinschaft, das Eigene als Ge-meinsames, Gemeinsames als Eigenes bearbeiten. Die ‘ge-nuine community’, wie sie Royce versteht, geht über dieZiele von einzelnen Menschen und einzelnen Gruppen hi-naus. Mit heutigem Vokabular versehen, würde sich Roycevielleicht so anhören: Wir müssen bei unseren Communitiesdarauf achten, dass sie ein großes Ganzes im Blick haben,auf die Eigenarten von Personen und Gemeinsamkeiten ach-tend Zugehörigkeit ermöglichen. Die Vagheit ist gewollt.Denn die Arbeit beginnt jetzt. Dies, in der schönen Sprachevon Royce, als ‘practical devotion’.

SO SCHÖN, SO NOSTALGISCH? Weit gefehlt. Theo-rieinteressierte finden Anschlüsse an die wissenschaftlichenDiskurse der Zwischenzeit. Philosophisch vorweggenommenwird die neurobiologische Forschung, die - was Weisheitstra-ditionen quer über den Globus bereits wissen - die Trennungvon Individuum und Gemeinschaft, von Individualität und So-zialität aufhebt. Die Adresse, so stellvertretend der Neurochi-rurg Detlef B. Linke, unter der das Ich auffindbar ist, scheintnicht so leicht identifizierbar: ‘Wir können uns der Sozialitätgar nicht entziehen.’4 Die Zugehörigkeitsdimension zeigt sichals ein grundlegender strukturierender Prozess, innerhalbdessen all das stattfindet, was Einzelne für ihr Eigenes halten. Eine dritte Vergiftung wird an dieser Stelle sichtbar und könntesich angesichts dieser Betrachtung vom Zwang zur Diskurs-Notwendigkeit wenden: Der Originalitätszwang, unter dem

1) Dies ist u.a. aufgearbeitet in Ulf Bernd Kassebaum (2004), Interpersonelles Vertrauen. Entwicklung eines Inventars zurErfassung spezifischer Aspekte des Konstrukts.

2) Ich beziehe mich auf und zitiere aus Hans Joas (1999), Die Entstehung der Werte sowie Hans Joas (Vortrag 2006), Wie entstehen Werte?

3) Josiah Royce (1908), The Philosophy of Loyalty.4) Detlef B. Linke (2004), Die Zeiten des Gehirns. Hörbuch.

Page 49: Eigen.Sinn

47

Eigen.Sinn

Personen stehen, der Innovationszwang, dem sich Organisa-tionen unterwerfen. Auch hier: Die Arbeit beginnt jetzt mit derbescheidenen Frage: Was bedeutet neu für mich, für uns undwas ist neu an meinem und unserem Neuen? Schärfer formuliert kann man sich mit Royce einem Diskursnähern, der grob skizziert unter dem Stichwort ‘Dezentrierungdes Subjekts’ geführt wird. Kurz und einfach geht es darum,dem fundamentalen und existentiellen Angewiesensein deseinzelnen Menschen auf andere Rechnung zu tragen und dieAlleinstellung des Einzelnen zu relativieren. Positive und ne-gative Heldenverehrungen - jemand ist der Retter, jemand istder Schuldige, wenn wir den kriegen, wird alles gut, wenn derweg ist, wird alles wieder gut - sind damit obsolet. Und wofürsollten Organisationen aufhören Saläre zu bezahlen? Für die,die sich als Helden anbieten. Damit beginnt die Arbeit erst,die der Führungskräfte, derer, die sich einmischen, in der Aus-einandersetzung mit Fragen wie: Wie sollen Leistungen, dieEinzelnen zuschreibbar scheinen, gleichzeitig auf bewusst-un-bewussten Böden Frucht getragen haben und sich im Bezugzu anderen und anderem entfalten konnten, wie sollen dieseLeistungen belohnt werden, sollen ‘Erfinder’ belohnt werden?Belohnung auch verstanden als Bedienung der neuronalenBelohnungssysteme. Wie sollen individuelle Fähigkeiten undEigenschaften in Differenz zu anderen zwar differenziert, abernicht in einen Kanon von Aufwertung und Abwertung einge-hen? Wenn man der Frage nachgeht, wodurch ein System Er-folge, Fehler, Fortschritte und Katastrophen ermöglicht, kommtdie gleich hinterher, wie denn ein System zu instruieren sei,ohne dass man auf die Elemente dieses Systems direkt durch-greift? Die Fragen haben kein Ende. Als methodische Haltunghilft es, sich auf die drei Loyalitäten als Spiel der Differenzenzu besinnen, um die Komplexität der Fragen und der Antwor-ten als never ending work in progress im Auge zu behalten.

Wenn man Loyalität als heute noch unentdeckte und ver-nachlässigte Schönheit sehen möchte, wäre die Suche nachBedingungen sinnvoll, die ein Klima von Loyalität erlauben,Loyalität individuell, sozial, praktisch-faktisch in einer undfür eine ‘genuine community’.

DREI HINWEISE DAZU: Loyalität funktioniert nur als Prinzip der Gegenseitigkeit, querzu Hierarchien und Gewohnheitsrechten.

Kontakt, gegenseitige Bezugnahme, Pflege von qualitativhochwertigen Beziehungen, gemeinsame Sinnproduktion,gemeinsames Wirken ist Voraussetzung für eine ‘genuinecommunity’.

UND DIE SACHE MIT DER FÜHRUNG?Führungspersonen sollten sich als CLO, als Chief Loyalty Officer begreifen, Hüterinnen und Hüter der genuinecommunities, der practical devotion, die ihr eigenes Ergrif-fensein offenlegen. Und mit Hans Joas: Wir brauchen dieZeugen, die für ihre Überzeugungen einstehen. Und damithätten wir zu guter Letzt auch noch eine theologische oderbesser, eine spirituelle Dimension an Bord.

Wovon ich ergriffen bin, überfordert mich nicht, im Gegen-teil. Wovon wir ergriffen sind, mindert Risiken. Und Origina-lität, Zukunftsschau stellt sich ein, weil Ergriffene eine Zu-kunft wollen. Wie lässt sich Loyalität entwickeln? Zufall, Ab-sicht, Wertlos oder aus Ergriffenheit? Unsere Einladung: Ge-stalten wir den Loyalitäts-Raum als ‘practical devotion’,schreiten wir ihn ab, vermessen ihn und erhöhen so denWirkungsgrad von Organisationen.

Page 50: Eigen.Sinn

48

Eigen.Sinn

BEMERKENSWERT

ÜBER DEN UNTERSCHIED, DER DEN UNTERSCHIED AUSMACHT.

Page 51: Eigen.Sinn

49

Eigen.Sinn

Ohne Norm keine Abweichung, also auch kein Unterschied.Um aus der Fülle an Angeboten – gleichgültig, ob es sich umWaren, Dienstleistungen oder auch Informationen handelt – herauszuragen, bedarf es einer besonderen Kommunikationoder Handlung: Sie muss den kleinen Unterschied ausmachen,der sie von den anderen unterscheidet. Dabei darf diesem ein-maligen Effekt allerdings nicht die Integrität geopfert werden.

Normen und ihre Einhaltung sind uns wohl vertrautund lieb. Sie spielen sowohl im alltäglichen Lebenals auch in der Welt des Business eine wichtigeRolle. Sie gewähren den reibungslosen Ablauf von

Prozessen und machen damit das Leben leichter. Normbrü-che dagegen können ärgerlich sein - wer jemals auf einerReise in die USA den Adapter für das Notebook vergessenhat, weiß nur zu gut, wovon hier die Rede ist. Auf der anderenSeite stehen uns die Normen im Weg, wenn es darum geht,neue Kontakte zu knüpfen, zu kommunizieren und Beziehun-gen aufzubauen oder zu pflegen - „Normal sein“ kann in die-sem Fall ebenfalls zum Problem werden. Hier heißt es auffal-len, die Regeln überschreiten, damit uns die Aufmerksamkeitgeschenkt wird, die wir im Sinn haben. Denn wer sich zu sehrauf die Regeln eines Spiels konzentriert, nimmt kaum wahr,

wenn sich etwas Ungewöhnliches ereignet, wie Daniel Simonund Christopher Chabris in einem berühmt gewordenen Ex-periment nachgewiesen haben. Die Aufgabe für den Betrach-ter lautete, fünf Basketballspielern zuzuschauen und die An-zahl der geworfenen Pässe zu zählen. Je ernsthafter diesesZiel verfolgt wird, desto weniger nimmt der Betrachter wahr,dass sich ein als Gorilla verkleideter Mitspieler unter die Bas-ketballer mischt. Das außergewöhnliche Ereignis, das den Un-terschied zu einem herkömmlichen Spiel ausmacht, wird vomGehirn aus Gründen der Effizienz ausgeblendet. Der eigent-lich offensichtliche Normbruch - Gorillas spielen nicht Bas-ketball - wird nur gesehen, wenn die Testnorm (Würfe zählen)gebrochen wird. Die Anzahl der Pässe wird dabei zwar nichtmehr korrekt erfasst. Dafür wird der Zuschauer mit einerneuen „Erkenntnis“ belohnt.

Page 52: Eigen.Sinn

50

Eigen.Sinn

Eine Lehre aus dem Experiment lautet aber auch: Es gehörtMut dazu, die Aufmerksamkeit auf sich ziehen zu wollen,und zwar sowohl für den Betrachter als auch für die Spieler.Übertragen auf die Welt der Kommunikation bedeutet das,für einen starken Auftritt bereits geschaffener Markenwertezu sorgen, damit bestehende Kundenbeziehungen gewah-ren, bestätigt und verstärkt werden, und erst recht, wennneue Kunden angesprochen und gewonnen werden sollen.Marketing und Markenpflege müssen sich etwas zutrauen -und nicht zuletzt auch die Arbeitgebermarke.

DOCH WIE MACHT MAN DAS? Ein bisschen Nabelschau lässt sich hier nicht vermeiden. Ineinem ersten Schritt heißt es, die Werte zu klären, für die eineMarke einsteht. Das sagt sich leichter, als es getan ist. InWorkshops ist immer wieder zu erleben, dass in der Ge-schäftsleitung jeder das Bild einer Marke mit unterschiedli-chen Charakterzügen zeichnet, wobei kleinere Abweichungennicht von Bedeutung sind. Die Tücke liegt oft im Markenbildselbst, wie etwa der Markenwert „Genuss“ veranschaulichenkann. „Reiner Genuss“ trifft hier auf „Genuss mit Verantwor-tung“, und schon sind Missverständnisse vorprogrammiert.Im letzteren Fall genügt es nämlich nicht, Kaviar als Bild zuwählen, so lange die Fischeier nicht, was leider die Norm ist,in Russland unter umweltverträglichen und artgerechten Be-dingungen gewonnen werden. Die Umsetzung des Marken-werts will also wohl gewählt sein. Dem folgt in einem zweitenSchritt die Evaluation des Marktes, sprich der Zielgruppenund Branchentrends, die sich wiederum kontinuierlich in Be-wegung befinden, und das in einem immer schneller werden-den Rhythmus. Im ständigen Meereswogen des Marktes

muss die eigene Marke Orientierung bieten, schließlich istgenau das ihre Aufgabe. Sie fungiert quasi als Bezugspunktfür die Kunden, die sich ihrerseits dadurch eine Position in-nerhalb des Marktsystems einrichten. Die Marke hilft ihnendabei – und zwar als Norm. Doch was, wenn sie nicht gese-hen wird, etwa, weil sie zu unauffällig geworden oder zur un-beweglichen Norm erstarrt ist, die kein Überraschungspoten-zial mehr bietet? Um ihre Funktion als Bezugspunkt innerhalbdes Marktgeschehens auf Dauer tatsächlich erfüllen zu kön-nen, muss sich eine Marke regelmäßig für einen kalkuliertenNormbruch entscheiden – mit knallgelben Socken getragen,gewinnt ein klassischer Businessanzug an Format, an Auf-merksamkeit, an Gewicht. Marken funktionieren nach dem-selben Muster. Wobei natürlich nicht immer gesagt ist, dassein möglichst schriller Normbruch immer die beste Wahl ist,speziell im B2B Bereich.Hier genügt es oft, auf den (kleinen)Unterschied zur Konkurrenz hinzuweisen, etwa auf eine tech-nische Innovation, die den (großen) Unterschied ausmacht.Die Differenz muss für den Kunden jedoch klar sichtbar ge-macht werden, und genau an dieser Stelle kommt der Gorillawieder ins Spiel. In der Kommunikation mit dem Kunden darfsich die Marke nicht den Fehler erlauben, die Aufmerksam-keit allein auf die bereits bestehenden Spielregeln zu lenken.Sie muss den Kunden auch zum Normbruch animieren, zurÄnderung seiner Position. Der Gorilla fällt ins Auge, wenn in-nerhalb der gewohnten Spielregeln die Verletzung der Normals Sprungbrett genutzt werden kann, das Neue zu erken-nen – im besten Fall sogar als Bereicherung des Spiels selbst.Eine Marke, die sich in dieser Weise als Normbruch insze-niert, darf sich mitunter sogar auf die Fahne schreiben, dieSpielregeln neu definiert zu haben – was nichts anderes be-deutet als Marktführer zu sein.

Page 53: Eigen.Sinn

51

Eigen.Sinn

SCHNÖDE PAPPKARTONS –NICHT MIT IGGESUND! Ein kleines Beispiel mag das Gesagte kurz illustrieren. Fürden schwedische Weltmarktführer Iggesund haben wir da-rauf verzichtet, als Kommunikationsstrategie ein weiteresLook Book für den Kartons Invercote herzustellen. Stattdes-sen wurden Designer und Künstler aus aller Welt damit be-auftragt, ihre Visionen umzusetzen, die deutlich machensollten, welches Potenzial in einem schnöden Karton steckt.Als Rahmen wurde eine schwarze Box gewählt, innerhalbdieser gezeigt wurde, was sich aus und mit Karton alles ma-chen lässt. Präsentationsorte der Box waren acht Städte, ver-teilt um den ganzen Globus von New York über Hamburgund Mailand bis nach Moskau. Die Ausstellungen, die zurPräsentation der jeweiligen neuen Box veranstaltet wurden,haben mittlerweile Kultstatus erreicht. Der Normbruch, alsoder Verzicht auf ein weiteres Look Book, hat die Marktfüh-rerposition von Iggesund nachhaltig gestärkt und gleichzeitigeine neue Spielregel der Produktpräsentation erfunden - unddamit auch des Kartons selbst.

Ann Seger, Michael Meier

Das Gorilla-Experiment gibt es übrigens zum Nachspielen als Video auf Youtube: http://www.youtube.com/watch?v=vJG698U2Mvo.

KONTAKT:Ann SegerGeschäftsleitung / [email protected]. +49 7532 4301-138www.schindlerparent.de

„Der Gorilla fällt ins Auge,wenn innerhalb der ge-wohnten Spielregeln dieVerletzung der Norm alsSprungbrett genutztwerden kann, das Neuezu erkennen ...“

Page 54: Eigen.Sinn

52

Eigen.Sinn

11.10.2013 – 12.01.2014

DIE WELT VON

OBENDIE VOGELPERSPEKTIVE

IN DER KUNST INS

TALL

AT

ION

SAN

SIC

HT:

RE

MO

TE

WO

RD

S 2

013

1

01.1

012.0

1–31

0.21

02.1

401

Page 55: Eigen.Sinn

Da der Erfolg immer recht hat, darf man die Frage ruhig mitJa beantworten. Andererseits: die Angebotsvielfalt birgt nichtnur viele Chancen für den Tourismus am See; sie ist gleich-zeitig auch Ursache für Mittelmaß und unterbleibende Profi-lierung, auch wenn dies gewiss nicht für alle Angebotsspar-ten gleichermaßen gilt. Nicht jeder Freizeitpark muss dieGröße von Rust haben, um erfolgreich so viele Besucher an-ziehen zu können, dass sein Geschäftsmodell aufgeht; schie-re Größe kann auch abschrecken. Bei Museen und Ausstel-lungsinstitutionen verhält sich die Sache ein wenig anders,zumal, wenn sie sich die Bildende Kunst auf die Fahne ge-schrieben haben. Fast jede Stadt am See hat inzwischen ihrMuseum und veranstaltet Kunstausstellungen – ein Zug eherzur Breite als zur Stärke. Die IBK, der Zusammenschluss derum den Bodensee liegenden Länder und Kantone Deutsch-lands, der Schweiz, Österreichs und Liechtensteins, könnteauf diese Entwicklung beratend und regulierend Einflussnehmen; sie sieht ihre Aufgabe jedoch eher in der Überwin-dung der Grenzen und der Erhaltung von Kunst und Kultur,so dass sie mehr in die Breite als in die Spitze arbeitet und

versucht, die Teilhabe aller an Kulturereignissen zu ermögli-chen. Eine Folge davon ist aber, dass die Fülle der Aktivitätenso groß wird, dass diese leicht unter die Wahrnehmungs-schwelle fallen und meist nur auf die nähere Umgebung aus-strahlen. Kaum ein Haus wirkt mit seinen Veranstaltungenüber den eigenen Standort hinaus. Genauso geht es den –ohnehin wenigen – privaten Galerien und auch den hier an-sässigen Künstlerateliers. Würde man eine Umfrage bei denKunstinteressierten Deutschlands machen, so würde dieBodenseeregion sicher nicht als bedeutende Kunstland-schaft bewertet werden – trotz ihrer herausragenden Aus-nahmen: das KUB in Bregenz hat einen exzellenten nationa-len und internationalen Ruf und genießt Bekanntheit – nur,kaum einer besucht es. Ganz ähnlich ergeht es den Museenin Winterthur, St. Gallen und Vaduz. Der deutsche Bodenseehat schon überhaupt kein vergleichbar international oderauch nur national bekanntes Haus zu bieten – mit Ausnahmedes Zeppelin Museums in Friedrichshafen, das aber kein rei-nes Kunstmuseum ist, sondern seinen Schwerpunkt auf dieVerbindung von Technik und Kunst legt und dadurch seinen

Der Tourismus am Bodensee ist ein Wachs-tumsmarkt. Selbst zu Zeiten, da andere Urlaubs-regionen Deutschlands stagnieren, kann der Bo-denseetourismus zulegen. Seine Abhängigkeit vomdeutschsprachigen Markt ist offensichtlich, denn der An-teil der ausländischen Gäste (ohne Österreich und Schweiz) beträgt nur 11 % – eine Um-standskonstante, die sich auch als Potential für die Zukunft und nicht als Schwäche beurteilen lässt.Mit dem Zuwachs steigen auch jährlich die Vielfalt der Attraktionen und damit das Angebot für die Besucher.Keine Saison vergeht, in der nicht neue Erlebnisparks, Museen und Ausstellungshäuser eröffnet werden. Auch die vor-handenen Attraktionen investieren und entwickeln sich zu Ganzjahres- und vor allem zu Allwetteranbietern. Es gibt groß-artige Highlights in allen vier Ländern um den See: Die Festspiele in Bregenz, die Insel Mainau, das Weltkulturerbe in St.Gallen, das der Reichenau und der Pfahlbauten – und nicht zu vergessen: die Schifffahrt mit ihren zahlreichen Ausflugs-möglichkeiten. Kultur- und Technikinteressierte kommen also am Bodensee ebenso auf ihre Kosten wie Blumenfreunde,Badegäste, Wanderer und Fahrradfahrer. Also alles prima?

&VIELFALTEINZIGARTIGKEITEINE TOURISMUSGETRIEBENE BETRACHTUNG DER KULTUR- UND KUNSTLANDSCHAFT AM BODENSEE

53

Eigen.Sinn

Page 56: Eigen.Sinn

Katr

in W

egem

ann,

ATM

EN, 2

010.

Gal

erie

art

plos

iv, F

reib

urg.

Fot

o: A

nnet

te Jo

nak.

© K

atrin

Weg

eman

n

Seestraße 22 · 88045 Friedrichshafen · Telefon: +49 / 75 41 / 38 01- 0 · www.zeppelin-museum.deÖffnungszeiten: Di – So von 10:00 – 17:00 Uhr

LUFTKUNST4.2. – 1.5.2011

54

Eigen.Sinn

Page 57: Eigen.Sinn

55

Eigen.Sinn

Alleinstellungs-Rang gewinnt. Infolgedessen rangieren seineBesucherzahlen um ein Vielfaches höher als bei den genann-ten Schweizer, Österreichischen und Liechtensteinischen In-stitutionen. Bezeichnenderweise liegt der Anteil ausländi-scher Besucher ohne Schweizer und Österreicher im Zeppe-lin Museum mit knapp 20 % ums Doppelte über dem Bo-denseetouristendurchschnitt.

Gewiss, die Museen leisten ihren Beitrag für die touristischeGesamtperformance und helfen, den Gästen den Aufenthaltvielfältig und abwechslungsreich zu machen. GemeinsamesWerbemotiv ist dabei die Bildung, die Museen und Touris-mus verbindet. Als zentrale Aufgabe der Museen markiertdas Bildungserlebnis gleichzeitig den Punkt, an dem Touris-mus einmal seinen Anfang nahm: Reisen galt als Bildungs-instrument seit der Renaissance – und „Reisen bildet“ giltbis heute. Museen verrichten hierbei wichtige Aufgaben undhaben sich dazu über die Jahrzehnte stetig gewandelt. Deralte Typ von Museen wurde im Wesentlichen repräsentiertvon Institutionen aus der Tradition der fürstlichen Residen-zen und aus den Museen, die sich die großen Bürgerstädtezulegen konnten. Vom neuen Museumstyp geht die Zahl indie Tausende; als Träger traten neben die öffentlichen Kör-perschaften Vereine, Stiftungen oder auch Privatleute. In dieMuseen neuer Konzeption strömten mehr und mehr Men-schen – gern wird der Vergleich mit den Fußballstadien be-müht, die sie quantitativ weit hinter sich lassen. DieserEntwicklung sah die Politik aufmerksam zu und förderte ausökonomischen Gründen besonders solche Museen, diegroße Besucherzahlen vorweisen konnten. Das waren nebenden Technikmuseen die Kunstmuseen.

Der Kunstboom der letzten 40 Jahre brachte fast jeder Stadtüber 20.000 Einwohnern ein eigenes Museum oder Ausstel-lungshaus, auch wenn einige inzwischen wieder geschlos-sen sind. Diese Entwicklung sehen wir auch am Bodensee,wo aus demselben Grund eine vielfältige Museums- undAusstellungslandschaft aufblühte. Eine Frage, die mich seit2008 beschäftigt, ist, wie man diesen reichen, aber kleinge-musterten Teppich zu einer wirklichen Stärke ausbauenkann; wie sich erreichen lässt, über die Vielfalt des Angebotshinaus ein nationales, wenn nicht gar internationales Profilin der Kunstwelt für die Bodenseeregion aufzubauen.

Denn Bildende Kunst ist wie wenig anderes geeignet, die Bo-denseeregion an der Spitze zu verorten. In der Schweiz sinddie Museen als Angebotsform von Kunst und Kultur inner-halb des Tourismus gut untersucht. Es wird klar gesehen,dass die 1000 Museen der Schweiz 1. einen Beitrag zur kul-turellen Vielfalt des Landes leisten, 2. das Interesse bildungs-williger Einheimischer genießen und 3. eine motivsetzendeAttraktion für Reisende darstellen. In Basel entfallen 93%

des Kulturtourismus auf den Museumstourismus, in Bernsind es 81%. Und auch in Deutschland nahm der Kultur-tourismus deutlich zu. Insofern ist es folgerichtig, dass auchviele Tourismusverantwortliche am Bodensee auf den FaktorKunst und Kultur setzen. Dies umso mehr, als uns ein Blickin die Geschichte hilft: die große Epoche des Bodenseerau-mes als Europäische Zentralregion in Mittelalter und früherNeuzeit war politisch-kulturell geprägt; zwischen Konstanz,St.Gallen, Ravensburg und der Reichen auch entstandengeistige Höchstleistungen, bis das Gebiet in den politischenWindschatten geriet. Durch Hochtechnologie ist die Regionwirtschaftlich wieder ins Zentrum gerückt, aber auch durchTourismus und Kultur können ihr neue Kräfte zuwachsen,wenn sie gefördert und beworben werden.

Ein beliebtes Modell kulturellen Engagements ist das He-rausstellen großer Namen. Es nahm 1978 seinen Ausgangs-punkt in Tübingen. Dort konnten Politiker lernen, dass sichmit Kunst systematisch Besucherschlangen erzeugen undBusunternehmen anlocken lassen. Das vermittelte ihnenden Eindruck, als ob sich mit Kunst Geld verdienen ließe –was zumindest bezogen auf die Sekundärnutzenrechnungenauch zutrifft. Museumsverantwortliche, die nicht nach demTübinger Modell arbeiten, müssen sich seither für kommer-zielle Erfolglosigkeit rechtfertigen. Selbstverständlich sindnicht alle Projekte, die ein Massenpublikum anziehen undsich rechnen, per se qualitativ minderwertig. Dafür gibt esgenügend Gegenbeispiele – nicht zuletzt in Tübingen. Aberes gab und gibt, auch am Bodensee, genügend Ausstellun-gen, die Qualität nur noch vortäuschen – was sich der Ur-teilsfähigkeit des Massenpublikums jedoch entzieht. Sie prä-sentieren nur noch den ruhmreichen Künstlernamen, ver-zichten aber fast ganz auf dessen wichtige Werke. Wegenihrer Massenattraktivität sind solche Veranstaltungen beiStadtvätern und Touristikern beliebt. Die Fachwelt weiß aber,dass sie sich in einer Grauzone der fachlichen Kompetenzbewegen und langfristig eine Adresse diskreditieren. Des-halb eignen sie sich nicht wirklich für die nachhaltige Profi-lierung einer Kunstregion.

Es gibt in den vielen kleinen und großen Städten rund umden See viele Initiativen und Ausstellungshäuser, die gute Ar-beit am Thema der Bildenden Kunst leisten. Um allerdingsdiesen Bereich zu einem überregionalen Attraktionspunktauch für den Tourismus zu entwickeln, müsste einiges zumBesseren verändert werden. Eine Voraussetzung wäre z.B.die Überwindung der „Kleinstaaterei“. Jeder Teilnehmermüsste, statt nur auf sich, auf seine Ortschaft, sein Landoder seinen Kanton zu schauen, das Ganze in den Blickfassen. Notwendig wäre zudem, die seeübergreifende Ko-operation zwischen den betreffenden Institutionen und Mu-seen auszubauen; der gemeinsame Willen, wäre herzustel-

Page 58: Eigen.Sinn

56

Eigen.Sinn

Öffnungszeiten: November – April: Di – So von 10:00 bis 17:00 Uhr

Seestraße 22 · 88045 FriedrichshafenInfo-Telefon: +49 / 75 41 / 3801-0 · www.zeppelin-museum.de

ANDREAS FEININGERINDUSTRIEFOTOGRAFIEIN AMERIKA23. NOVEMBER 2012 BIS 24. FEBRUAR 2013

Andr

eas

Fein

inge

r -

All

ison

, Ind

iana

poli

s, I

ndia

na, 1

941

© A

ndre

as F

eini

nger

Arc

hive

c/o

Zep

peli

n M

useu

m F

ried

rich

shaf

en

Z E P P E L I N M U S E U M F R I E D R I C H S H A F E NT E C H N I K U N D K U N S T

WIR SIND ALLE ASTRONAUTENUNIVERSUM BUCKMINSTER FULLER IM SPIEGEL ZEITGENÖSSISCHER KUNST

3. FEBRUAR BIS 6. MAI 2012

Öffnungszeiten: Di – So von 10:00 bis 17:00 Uhr

Seestraße 22 · 88045 FriedrichshafenInfo-Telefon: +49 / 75 41 / 3801-0 · www.zeppelin-museum.de

Z E P P E L I N M U S E U M F R I E D R I C H S H A F E NT E C H N I K U N D K U N S T

Z E P P E L I

Z E P P E L I

M U S E UNZ E P P E L I

M U S E U

FMM U S E U

R I E D R I C H S H AF

R I E D R I C H S H A

R I E D R I C H S H A

E NFR I E D R I C H S H A

E N

Z E P P E L I

Z E P P E L I

CETM U S E UNZ E P P E L I

H N I KM U S E U

UH N I KFMM U S E U

N DR I E D R I C H S H AF

N SUKR I E D R I C H S H A

TN SR I E D R I C H S H A

E NFR I E D R I C H S H A

E N

Ö

ffnungszeiten: Ö

Dffnungszeiten:

von o S– i D

10:00 bis von

17:00 10:00 bis

hrU17:00

elefon: TTelefon: nfo-I

9 +4elefon: eestraße S

1 75 4/ 9 22 · eestraße

3801-0 / 88045 Friedrichshafen22 ·

· www3801-0 88045 Friedrichshafen

.zeppelin-museum.de· www· www.zeppelin-museum.de88045 Friedrichshafen

.zeppelin-museum.de88045 Friedrichshafen

.zeppelin-museum.de

Öffnungszeiten: Mai – Oktober: täglich von 9:00 bis 17:00 Uhr

November – April: Di – So von 10:00 bis 17:00 Uhr

Seestraße 22 · 88045 FriedrichshafenInfo-Telefon: +49 / 75 41 / 3801-0 · www.zeppelin-museum.de

Selb

stpo

rtra

it, 1

946,

Pho

to v

on A

ndre

as F

eini

nger

© A

ndre

asFe

inin

gerA

rchi

ve.c

om

Z E P P E L I N M U S E U M F R I E D R I C H S H A F E NT E C H N I K U N D K U N S T

ANDREAS FEININGERTHAT’S PHOTOGRAPHY

24. SEPTEMBER 2010 BIS 9. JANUAR 2011

Bernd-Blindow-SchuleFriedrichshafen

In Kooperation mit:

Z E P P E L I

H N I KCETM U S E UNZ E P P E L I

N D UH N I KF R I E D R I C H S H A F E NMM U S E U

TN SUKF R I E D R I C H S H A F E N

F R I E D R I C H S H A F E N

elefon: +4Info-TInfo-Telefon: +4

November

1 475 9 / elefon: +4Seestraße 22 ·

April: Di – November täglich Oktober: – Mai Öffnungszeiten:

www· 3801-0 / Friedrichshafen88045 Seestraße 22 ·

10:00 bis von So – April: Di 9:00 von täglich

Öffnungszeiten:

.zeppelin-museum.dewwwwww.zeppelin-museum.deFriedrichshafen

Uhr17:00 10:00 bis Uhrbis 17:00

.zeppelin-museum.de

In Kooperation mit:

Friedrichshafennd-Blindow-SchuleBer

In Kooperation mit:

Friedrichshafennd-Blindow-Schule

ohne

Tite

l, Fo

to: S

tudi

o M

icha

el S

ails

torf

er

CRASHMICHAEL SAILSTORFER

Di – So von 10:00 bis 17:00 Uhr (im Oktober ab 9:00 Uhr, auch montags)Seestraße 22 · 88045 Friedrichshafen · +49 / 75 41 / 3801-0 · www.zeppelin-museum.de

Di – So von 11:00 – 17:00 UhrBuchhornplatz 6 · 88045 Friedrichshafen · +49 / 75 41 / 21950 · www.kunstverein-friedrichshafen.de

Z E P P E L I N M U S E U M F R I E D R I C H S H A F E NT E C H N I K U N D K U N S T

7.10.2011 BIS 8.01.2012

RegierungspräsidiumTübingen

SDi

Z

10:00

TE L IP PEZ

17:00 Uhr (im bis 10:00

H N I KCETS EM UNE L I

ktober ab O17:00 Uhr (im

UH N I KF R I EMUS E

9:00 Uhrktober ab

UKN DR IDF R I E

9:00 Uhr

TN SUH S H A F ECR I

montags)auch

NH S H A F E

montags)

eestraße S

22 · eestraße o S– Di

riedrichshafen · +4F88045 10:00 von o

riedrichshafen · +417:00 Uhr (im bis 10:00

75 4/ 9 riedrichshafen · +4ktober ab O17:00 Uhr (im

3801-0 1 / 75 49:00 Uhrktober ab

· www3801-0 auch , 9:00 Uhr9:00 Uhr,

.zeppelin-museum.de· www· www.zeppelin-museum.demontags)auch

.zeppelin-museum.demontags)

.zeppelin-museum.de

Buchhornplatz 6 ·

88045 Buchhornplatz 6 ·

riedrichshafen F88045

· riedrichshafen o S– Di

475 / 9 +4· 11:00 von o

21950 / 1 4Uhr– 17:00 11:00

.kunstverein-friedrichshafen.de· www· www.kunstverein-friedrichshafen.deUhr

.kunstverein-friedrichshafen.de

.kunstverein-friedrichshafen.de

.kunstverein-friedrichshafen.de

übingenTTübingenRegierungspräsidium

Regierungspräsidium

Page 59: Eigen.Sinn

57

Eigen.Sinn

len, überregionale Wirkung anzustreben, statt sich mit Er-reichtem zu begnügen. Dazu gibt es von Themenabsprachenbis zu Werbekonzepten vielfältige synergetische Möglichkei-ten. Die „Erlebnismuseen Rhein Ruhr“ böten dafür ein gutesModell. Vor allem aber bedarf es eines kulturellen Highlightsals Zentralmotiv, das über die Region hinaus ausstrahlt undihren Namen trägt. Die Welterbe-Kulturstätten am See erfül-len diese Funktion mittelfristig nicht, auch wenn sie sich ge-waltig anstrengen. Bis sie eine Strahlkraft entwickeln wie z.B.Dresden mit seinen einzigartigen Sammlungen, Rothenburgmit seinem Stadtambiente oder Kassel mit seiner documentafließt noch einiges Wasser durch den Bodensee.

Nein, die Möglichkeit für ein in greifbarer Nähe liegendesHighlight wäre vielmehr mit der Zeitgenössischen Kunst ver-bunden. Warum machen wir vom See es nicht einfach sowie alle Städte und Regionen in der Welt, wenn sie einentouristischen Anziehungspunkt schaffen wollen? Gründenwir eine Biennale, eine internationale Bodensee-Biennale,die wie die „manifesta“ zwar institutionalisiert wäre, aberkeinen festen Austragungsort hätte und stattdessen umden Bodensee wandern könnte. Eine absurde Idee? Nichtwirklich. Wenn wir das Phänomen Biennale ein wenig näherbetrachten, sehen wir, dass schon die Gründung der erstenBiennale der Welt, der Venedig Biennale von 1896 alsHauptargument die Förderung des Tourismus zum Zielhatte. Und das Beispiel der Bergen Assembly, eine derjüngsten Biennalen, die erstmals 2013 stattfand, zeigt, dassStadtprofil bis heute ein beliebtes, wenn nicht das einzigeArgument bei pragmatischen Kommunalpolitikern ist, eineBiennale ins Leben zu rufen. Also könnte auch dem Boden-seetourismus eine Biennale gut zu Gesicht stehen.

Biennalen haben aber auch positive Effekte, die weit über dieTourismusförderung hinausgehen. Sie waren von ihrer Ent-stehung her übernationale Wettbewerbe. Davon übrig geblie-ben ist heute der Wunsch, mit der Gründung einer Biennaledas jeweilige Land und die jeweilige Stadt auf der Weltkarteder Kunst konkurrent zu positionieren. Eine Biennale kannsich daher ganz schnell zu einem international beachtetenEreignis entwickeln, wenn dazu nicht nur die Künstler der Re-gion eingeladen sind, sondern auch internationale Künstler.2008 wollten die weitsichtigen Kuratoren der Triennale Ober-schwaben, die in Friedrichshafen stattfand, genau dies errei-chen: sie versuchten, die regional verortete Triennale zueinem internationalen Ereignis zu machen. Dies ist ihnenauch gelungen – sehr zum Missfallen der ursprünglichen Ini-tiatoren, die eine regionale Leistungsschau einem internatio-nalen Kunstereignis vorzogen. Dabei muss Regionalität undInternationalität noch nicht einmal einen Gegensatz darstel-len. Denn Biennalen sind in der Lage, die jeweils heimischeKunstszene in Wettbewerb mit der globalen Kunstöffentlich-

keit zu bringen sowie Bindungen zwischen der regionalenKunstszene und der „Welt“ herzustellen – einzige Bedingung,für die ein unabhängiges Kuratorium zu sorgen hätte, wäre,Provinzialität auszuschließen. Davon würden auch die Künst-ler und Kunstinstitutionen um den See profitieren.

Denn unbestreitbar kann die Wirkung von Biennalen vorallem an solchen Orten nachhaltig sein, wo Ambitionen undArtikulationsmöglichkeiten der zeitgenössischen BildendenKunst noch nicht deutlich ausgeprägt sind. Dort lässt sichihr positiver Effekt in der Schaffung von Netzwerken und In-frastrukturen für die Teilhabe am künstlerischen Austauschfeststellen – ein Effekt, der den von Einzelvorhaben durchdie periodische Verlässlichkeit und die institutionelle Unab-hängigkeit – eine Biennale MUSS kommen, eine Ausstellunglässt sich aus welchen Gründen auch immer leichter absa-gen – übertrifft. Zudem fordern das globale Renommee, dieinstitutionelle Stärke und der zukunftsgerichtete Vektor vonBiennalen oft zur „fruchtbaren Reibung“ an regionaler undnationaler Politik heraus.

Und es gibt noch weitere wichtige Nebeneffekte von Bien-nalen zur Gegenwartskunst. Sie erreichen auf jeden Fall,eine breitere Öffentlichkeit für die zeitgenössische Kunst zuerschließen – und zwar regionales ebenso wie internationa-les Publikum, zumal die Sprachbarriere hier entfällt. Unddas Label „Biennale“ erweist sich auch als besonders nütz-lich, um Aufmerksamkeit bei örtlichen Behörden sowie beilokalen und überregionalen Sponsoren zu wecken, indemes auf die Autorität und den Erfolg des Modells rekurriert.Eine Biennale bietet so den idealen Aufhänger für die Fi-nanzierung großer internationaler Ausstellungsprojekte, daallein schon der markenzeichenhafte, positiv besetzteName vermag, viel Geld für die Präsentation zeitgenössi-scher Kunst zu bewegen. Jede einzelne Biennale trug bisherauf ihre Weise zur Stärkung von lokaler und globaler Kunst-szene bei, indem sie einen Fluchtpunkt für künstlerisch In-teressierte aus allen Teilen der Erde konstituierte.

Darüber hinaus gibt es aber noch eine andere, durch dieBiennalisierung der Kunst beförderte Konsequenz: die Ent-stehung neuer Berufsfelder, ein neuer Arbeitsmarkt und einneu strukturierter Kunstmarkt. Das war in Asien der Fall, woin den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts wirtschaftlicherWohlstand entstand und eine verlässliche Infrastruktur auf-gebaut wurde, um kulturelle Bedürfnisse zu wecken und zubefriedigen. Warum sollte das nicht auch am Bodensee ge-lingen, wenn man für die Region einen großen, gemeinsa-men, in die Zukunft reichenden Entwurf wagen wollte? Erwürde dem Bodenseeraum wieder kulturelles Gewicht imHerzen Europas geben.

Dr. Ursula Zeller

Page 60: Eigen.Sinn

58

Eigen.Sinn

Page 61: Eigen.Sinn

59

Eigen.Sinn

TOURISTISCHELEUCHT

TÜRME„Das Festspielhaus ist – wie andere Veranstaltungseinrichtungen am See auch –Motor fur verschiedenste Branchen und daher auch Mittel zum Zweck. Dabei gehtes um immaterielle Vorteile fu r den jeweiligen Standort (Image) genauso wie ummaterielle Vorteile (Umwegrentabilität). Zwar ist der Tourismus im Vergleich zu Han-del und Industrie ein vermeintlich kleiner Umsatzträger, umso größer ist aber seineBedeutung als Imageträger fur die Außenwirkung der Region. Dies macht deutlich,dass es fur eine florierende Region eben beides braucht: Wirtschaftliche Fundamente und touristische Leuchttü� rme."

DAS FESTSPIELHAUS BREGENZ Wirtschaftsfaktor am Ostufer des Bodensees

Page 62: Eigen.Sinn

60

Eigen.Sinn W

enn heuer im Sommer die Wiener Symphoniker ihre Instrumente zu Mozarts„Zauberflöte“ erklingen lassen, die ca. 180.000 Besucher staunend und ap-plaudierend der spektakulären Inszenierung im Bodensee gegenubersitzen,dann haben die Wirtschaftstreibenden am See ein Schmunzeln auf den Lip-pen und die beruhmten Lachfalten im Gesicht. Denn mit dem Programm

der Bregenzer Festspiele fullen sich nicht nur die Ränge auf der 6.900 Besucher fassendenTribune des Bregenzer Festspielhauses, sondern auch die Kassen der Restaurantbetreiber,Barbesitzer und Hoteldirektoren, der Schifffahrt, den vielen Ausflugszielen und Einkaufszen-tren im Umfeld des Sees. Einer Studie aus dem Jahre 2004 zu Folge sorgen alleine die Bre-genzer Festspiele fur mehr als 1.150 ganzjährige Arbeitsplätze am See.

Was im Jahre 1946 als „Sport- und Kulturwoche“ seitens des BregenzerVerkehrsvereins ins Leben gerufen wurde, avancierte u ber die vielen Jahre voneinem „Side – Event“ fur den touristischen Sommer am See zu einem internationalrenommierten Opernfestival, welches Jahr fur Jahr an die 180.000 Besucher andie Ufer des Bodensees lockt. Es war daher nicht u berraschend, dass Fest-spielleitung wie Kunstler schon in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts eineMöglichkeit forderten, trockenen Hauptes proben zu können, auch die eine oderandere Festspielinszenierung in einem Konzertsaal abhalten zu können. Aber erstgute 20 Jahre später hat sich fu r den Bau eines „Festspiel- und Kongresshauses“die notwendige politische Mehrheit in Bregenz gefunden. 1980 war esschlussendlich soweit: der erste Besucher betrat das neue Haus am See. Ausge -stattet mit Großem Saal und neuer Tribune, sollte das Bregenzer Festspiel- undKongresshaus nicht nur den Auffuhrungen der Bregenzer Festspiele, sondern auchzur Durchfuhrung von Tagungen und Kongressen, Firmenveranstaltungen,Fernseh aufzeichnungen und weiteren kulturellen Veranstaltungen dienen.

25 Jahre und ca. 4 Millionen Besucher später sorgten die Subventionsgeber fu r ein klaresBekenntnis zur Standortsicherung. Mit einer Bausumme von 38,5 Millionen Euro wurdedas Festspielhaus zukunftsfähig saniert und ausgebaut. Mittlerweile hat sich das Festspiel-haus auch im Konzert der großen Kongress-Städte einen Namen gemacht und sorgte so z.B. 2011 fu r 37.000 Kongress-Nächtigungen in der Vorarlberger Landeshauptstadt. Mit12.500 möglichen Sitzplätzen im und am Festspielhaus bietet das Veranstaltungszentrumauch größeren Kongressen mit bis zu 2.000 Teilnehmern Platz. Doch wie fu r die gesamteDestination Bodensee typisch, ist das Haus nicht in großstädtische Strukturen eingebettet.Die Dichte an Beherbergungsbetrieben wie in Metropolen fehlt, die eigene Größe jedochwurde ein solches Umfeld rechtfertigen. Und so beleben Einrichtungen wie das Festspiel-haus auch Hotels und Restaurants in der gesamten Region. Dies bedeutet aber auch gle-ichzeitig im umgekehrten Sinne, dass wenn im Kongress- und Messegelände OLMA St.Gallen ein größerer Kongress stattfindet oder z. B. die Eurobike in Friedrichshafen IhrePforten öffnet, sich dies auch positiv auf die Beherbergungsbetriebe in Bregenz auswirkt.

Page 63: Eigen.Sinn

61

Eigen.Sinn

Page 64: Eigen.Sinn

DIEGEBURTDER NEUEN

IDEE

62

Eigen.Sinn

Page 65: Eigen.Sinn

63

Eigen.SinnA

us der Vergangenheit uber die Gegenwart in die Zukunft. Im Rahmen des Posi-tionierungsprozesses der Marke Bodensee wurde dem Bereich MICE (Meeting, Incentive, Congress, Event) ein hohes Zukunftspotential bescheinigt.Vor allem die Möglichkeit, durch die Stärkung dieses Bereiches auch die näch-tigungsschwächeren Monate am Bodensee zu beleben, fuhrte zur Entscheidung,

MICE zukunftig als eines der strategischen Geschäftsfelder des Tourismus am Bodensee zudefinieren. Das Festspielhaus als eines der Säulen im MICE–Segment am Bodensee hat sichin diese Entwicklung mit eingebracht. Gemeinsam mit den Partnern im BodenseeMeetingwird an der Zielsetzung gearbeitet, die „Schultern“ des Bodensee Tourismus um dieses in-teressante Segment zu verbreitern.

Vergleicht man nämlich die Umwegrentabilität des MICE–Sektors mit jener des Urlaubs-tourismus, so herrscht hier ein klares Ungleichgewicht zu Gunsten der Kongresse undTagungen: während der Urlaubsgast im Schnitt 280 Euro pro Tag fu r die Urlaubsreise aus-gibt, spulen Tagungsteilnehmer ca. 450 Euro pro Tag in die Kassen der jeweiligen Region*(*Präsident Christian Mutschlechner vom Austrian Convention Bureau zur österreichischenKongressstatistik 2010). Weitere Zahlen aus der Branche lassen das Potential des Tagungs-tourismus fur das wirtschaftliche Umfeld erahnen: gemäß Schätzungen stehen einem imKongresshaus ausgegebenen Euro ca. 17 Euro an weiteren Ausgaben in Hotels, der Gas-tronomie, bei Fluggesellschaften oder im Einzelhandel gegenuber*.(*Quelle: http://www.bundesdekane.de/web/webcontent/documents/80_bdk/GDG_Praesentation_4_Notizen_2011_10_17.pdf. )

IDEE

GERHARD STÜBE

Geschäftsführer Bregenzer Festspiel- undKongresshaus GmbHwww.festspielhausbregenz.atwww.bregenzerfestspiele.com

Page 66: Eigen.Sinn

64

Eigen.Sinn

James Welling

Meriden, 1992

Aus „Light Sources", 19

77-2005

Inkjet-Print, 38.4 x 34 c

m

Courtesy der Künstler u

nd David Zwirner,

New York / London

BILDERWELTEN

Page 67: Eigen.Sinn

65

Eigen.Sinn

Das Fotomuseum zählt heute zu den führenden Häusernseiner Art weltweit. Wie erklären Sie sich diesen Erfolg? Duncan Forbes: Seit der Gründung anfangs der 90er Jahrekonzentrierte sich Winterthur voll und ganz und äußerst prä-zise auf das Medium Fotografie. Andernorts war dies trotzteils hervorragender Fotografie-Abteilungen viel schwieriger,da sich die Fotokunst üblicherweise in ständiger Konkurrenzzu anderen Kunstformen befindet. Ein weiterer ganz großerVorteil ist die Reaktionsfähigkeit, mit der unser Haus auf diehohe Geschwindigkeit reagieren kann, mit der sich das Me-dium Fotografie entwickelt.Thomas Seelig: Wir haben es aus meiner Sicht sehr früh ver-standen, dass man Fotografie nicht nur zeigen sondern auchals Medium diskutieren muss. Was wir tun, erfordert ein hohesMaß an Kommunikation. Das Wort ist genauso wichtig wie dasBild, was sich auch in unserer Corporate Identity der Einla-dungskarte spiegelt. Alle unsere Publikationen folgen dieserDialektik. In diesem Sinne haben wir in den letzten Jahrenimmer neue Veranstaltungsformen entwickelt, etwa diePlat(t)form für junge Europäische Künstler oder unser BlogStill Searching. Wir werden in der Zukunft noch tiefer in diesenkommunikativen Prozess hineingehen, weil dies der Schlüsselfür ein aktives Museumsleben ist: Das Museum als sozialerOrt, wo Menschen sich begegnen und sich austauschen.

Das Fotomuseum als Gegenentwurf musealer Verstaubung?Duncan Forbes: Absolut. Dafür verändert sich die Fotografieviel zu rasant. Fotografie steckt heute so tief in der Digitali-sierung und erfindet sich immer wieder neu in einer sich fort-während beschleunigenden Dynamik. Das verursacht eineunglaubliche Schnelligkeit, mit der man mithalten muss. Dableibt keine Zeit, um Staub anzusetzen. Andererseits möchteich behaupten, dass das Foto einen Platz braucht. Der Ortist sehr wichtig, unsere Ausstellungshallen sind sehr wichtig.

Wieso eigentlich? Kann es nicht sein, dass in einer Zeit derDigitalisierung auch die Museen eines Tages virtuell sind? Duncan Forbes: Ich sage Ihnen weshalb. Weil Fotografieüberall ist! Jeder Aspekt unseres Lebens ist heute mit einerKamera oder auf dem Iphone festgehalten. Und deshalb istes so wichtig, dass wir einen Ort haben, um herausdestillie-ren zu können, was da passiert. Es geht darum, die Überflu-tung zu reduzieren und zu deuten. Und es dann in einer an-deren kreativen Form zusammenzubringen. Dafür brauchtes das Fotomuseum Winterthur. Hier kann man sich konzen-trieren als Betrachter, um Dinge anders zu sehen. Natürlichwird das Web immer wichtiger. Nichtsdestotrotz braucht esdie Architektur, den physischen Ort für unsere Sammlung

Das Fotomuseum Winterthur hat seit dem Sommer 2013eine neue Leitung. Die beiden Co-Direktoren Duncan Forbesund Thomas Seelig zu ihrer Arbeit und wie es das Fotomu-seum in wenigen Jahren geschafft hat zu einem der renom-miertesten Zentren für die moderne Fotografie zu werden.

Das Interview führte Christian Huggenberg

James Welling

Tota Lamp, 1996

Aus „Light Sources", 19

77-2005

Inkjet-Print, 41 x 33.5 c

m

Courtesy der Künstler u

nd David Zwirner,

New York / London

BILDERWELTENBILDERWELTEN

Page 68: Eigen.Sinn

66

Eigen.Sinn

James Welling

#A91Aus „Diary o

f Elisabeth and James D

ixon (1840-41)

Connecticut Landscape

s”, 1977-86

Silbergelatine-Abzug, 9.

5 x 11.7 cm

Courtesy der Künstler u

nd David Zwirner,

New York / London

© James Welling

James Welling

#12, 1998

Aus „New Abstractions"

, 1998-2000

Silbergelatine-Abzug, 86

.4 x 68.6 cm

Courtesy der Künstler u

nd David Zwirner,

New York / London

© James Welling

Page 69: Eigen.Sinn

67

Eigen.Sinn

und den Platz, um Menschen zusammenzubringen.

Mit welchen Institutionen vergleichen sie sich, wo schauensie selbst hin?Thomas Seelig: Unser Programm setzt sich zusammen auseigens produzierten Ausstellungen und aus solchen, die vonunseren Partnerinstitutionen erarbeitet werden. An unserenPartnern kann man sehr gut unser Netzwerk erkennen. Wirarbeiten nächstes Jahr beispielsweise mit der Albertina inWien und dem Folkwang Museum in Essen zusammen, un-sere Ausstellungen zu Ai Weiwei oder Mark Morrisroe wur-den in der ganzen Welt gezeigt. Gerade in Zeiten der be-grenzten Mittel sind wir angehalten, dieses Netzwerk nochweiter auszubauen. An dieser Stelle wird natürlich deutlich,wie wichtig eine starke eigene Sammlung ist.

AKZENTE SETZEN

Das Telefon ist heute auch ein Fotoapparat. Bilderweltenexplodieren. Wo gibt es da noch Halt und wie lässt sich fürall dies, was heute an Bildmaterial produziert wird, über-haupt noch Ordnung schaffen?Duncan Forbes: Die Visualisierung hat sich durch die Digita-lisierung verändert. Doch die zentralen Fragen in der Foto-grafie sind geblieben. Es geht um Ereignisse und die Frage,wie diese auf den Betrachter wirken, wie er ein Ereignis fest-hält und welche Wirkung es wiederum beim Betrachter derBilder auslöst. Der große Unterschied zu früher ist die schiereMenge an Reproduktion und die unglaubliche Geschwindig-keit der Reproduzierbarkeit. Darin sehe ich eine wichtige He-rausforderung.

Und wie gehen Sie damit um?Thomas Seelig: Diese Frage stellt sich zu allererst der be-trachtende Fotograf. Wir sind diejenigen, welche die Bilderals Objekte an der Wand oder im Fotobuch filtern und aus-stellen. Wir arbeiten mit Künstlern zusammen, die genaudiese Fragen in den Raum stellen. Vielleicht haben wir an-dere Antworten als sie. Aber genau dies ist das Herausfor-dernde, so entsteht ein zeitgenössischer Dialog.

Muss man die Rolle des Künstlers nicht überdenken ineiner Zeit wo wir doch alle zu Bildermachern gewordensind und uns die Technik so dermaßen hilft, tolle Bilderzu schießen?Thomas Seelig: Gerade in der Fotografie ist ständig alles neu,der technische Fortschritt, die ästhetischen Veränderungen.Man kann auch als Laie genau erkennen, in welcher Zeit einBild entstanden ist. Und so werden immer Bilder in ihrerZeit entstehen. Die Bewertung des Digitalen ist mehr einequantitative Frage, wie Medien benutzt werden. Die Fotogra-

fie ist ein reproduktives Medium und die Reproduktion damitein genetischer Teil von ihr.Duncan Forbes: Die Beschleunigung ist ein neues Phäno-men. Diese schiere Geschwindigkeit, mit der sich die Bilder-welt verändert. Das kann müde machen. Doch Künstlerhaben auch hierauf eine interessante Antwort gefunden. Diesogenannte Late Photography – Künstler folgen einem be-wussten Entschleunigungsprozess. Fotografie als Monument.Künstler benutzen alte Kameratechniken aus dem letztenund vorletzten Jahrhundert.

ENTWICKLUNG UND SCHWERPUNKTE

In welche Richtung wird sich das Fotomuseum unter IhrerFührung weiterentwickeln?Thomas Seelig: Das stehende Bild und der Film werden ver-schmelzen, weil eine Kamera heute beides kann. Diese Ent-wicklung wirkt sich selbstverständlich auf den Künstler aus.Der Visual Artist arbeitet schon heute mit beiden Techniken,was wiederum Auswirkungen auf unsere zukünftigen Aus-stellungsformen hat.

Bedeutet dies, dass das Fotomuseum unter Ihrer Leitungmehr und mehr zum Film- oder Multimediamuseum wird?Wo sind die Grenzen, die Sie auch in Ihrem Haus ziehenwerden?Thomas Seelig: Grenzen, die sich verschieben werden, ken-nen wir zum Glück noch nicht. Was sich dank der Technikaufzulösen scheint, verschmilzt auch wieder miteinander. Diedigitale Welt und die analoge. Das ist doch genau das Span-nende. Dank neuer Techniken etwa kann jeder heute sein ei-gener Verleger sein. Der Schaffensprozess ist damit wesent-lich demokratischer geworden. Duncan Forbes: Die Medien vermischen sich mehr undmehr. Darauf werden wir reagieren, indem wir mehr bewegteBilder zeigen. Ein Weg, den man zum Beispiel schon an deraktuellen Themenausstellung „Cross Over“ sehr gut erken-nen kann.

Ein anderer Aspekt ist die Tätigkeit des Sammelns. Das Fo-tomuseum ist als Sammlerin sehr aktiv und verfügt überein großes Archiv. Wie gewichten Sie alt und neu?Thomas Seelig:Wir sind als Museum ja erst 20 Jahre alt undin den ersten Jahren fiel das Bewahren nicht allzu sehr insGewicht. Doch je länger wir nun existieren, desto wichtigerwird auch das Sammeln, weil sich darin auch die Geschichtedes Museums widerspiegelt. An dieser Stelle entwickelt sichder einzigartige Charakter eines jeden Museums in Formeines umfangreichen Bildspeichers. Duncan Forbes:Wir sammeln für die Zukunft. Und wir wollendafür den besten Rahmen setzen, den wir mit unseren be-

Page 70: Eigen.Sinn

68

Eigen.Sinn

grenzten Mitteln schaffen können.

Die nächste große Ausstellung zeigt den Amerikaner JamesWelling. Ein Künstler, der sich über Jahrzehnte immer wie-der auf Neues eingelassen hat. Ist Welling ein gutes Bei-spiel dafür, welche Schwerpunkte das Fotomuseum Win-terthur unter Ihrer Führung setzen wird?Thomas Seelig: Es gibt wahrscheinlich keinen zeitgenössi-schen Künstler, der auf die vorher erwähnten Paradigmen-wechsel der letzten 30 Jahre in der Fotografie so intelligentreagiert hat wie James Welling. Sein Werk ist gleichzeitig abs-trakt, dokumentarisch, analog, digital, ernst, lustvoll undschön! Es berührt Fragen der Malerei und der Fotografie.Welling lässt sein großes Wissen beispielsweise ganz neben-bei in seine wirklich großartigen Blumenbilder einfließen, dieer in der Tradition von Fotogrammen kreiert hat.Duncan Forbes: Allgemein ist es wichtig Kontinuität zu bewah-ren. Engagement und Neugier waren und sind Stärken unse-res Hauses. Wir haben ein gut aufgestelltes, dynamisches

Team und schauen in eine hoffentlich großartige Zukunft!

20 JAHRE FOTOMUSEUM WINTERTHUR –VON DER PIONIERLEISTUNG ZUR WELT-WEITEN ANERKENNUNG

Die Gründung des Fotomuseum Winterthur vor 20 Jahren wareine mutige Tat. In unscheinbaren Hallen eines ehemaligenIndustriegebäudes etwas außerhalb der Altstadt von Winter-thur begann die Geschichte mit zweieinhalb Angestellten.Zwanzig Jahre später genießt das Fotomuseum Weltruf. DerErfolg des Hauses erklärt sich aus einer Mischung aus Hart-näckigkeit und schlichter Begeisterung für das Medium Fo-tografie. Von Anfang an verstanden es die Macher, Verände-rung als Chance aufzufassen und als mannigfaltige Spielwiesefür die Präsentation immer neuer Künstler zu nutzen. DasHaus sog den Strom der Veränderung förmlich in sich auf.Ausstellung folgte auf Ausstellung und dokumentierte so wiekaum an einem anderen Ort den radikalen Veränderungspro-zess in der Fotografie der letzten 20 Jahre. Gleichzeitig suchtedas Museum von Anfang an den intensiven Dialog mit der Außenwelt oder wie es der ehemalige Direktor Urs Stahel(1993 – 2013) ausdrückte: „Ausstellungen entwickeln eineKerntemperatur, mit der ein Netzwerk gesponnen und erwei-tert wird, das Besucher und Presse, Kuratoren und Künstler,Schüler und Lehrer, regionale Vereinsmitglieder und weltweiteInternetbesucher miteinander verbindet und in Schwingungversetzt.“ Mit dieser oszillierenden Kraft entstand ein leben-diger Ausstellungsort, der inzwischen bereichert durch die

Im Juni 2013 haben Thomas Seelig und Duncan Forbesals Nachfolger von Urs Stahel gemeinsam die Co-Direkti-on des Fotomuseum Winterthur übernommen.

Thomas Seelig (*1964 in Köln) hat das Fotomuseum Winterthur bereits seit 2003 maßgebend mitgeprägt. AlsSammlungskurator konzipierte und realisierte er in den letz-ten zehn Jahren nicht nur die jährlichen Set-Ausstellungenzur Sammlung, sondern ebenso zahlreiche weitere Ausstel-lungsprojekte, darunter «Forschen und Erfinden – Die Re-cherche mit Bildern in der zeitgenössischen Fotografie»(2007), «Status – 24 Dokumente von heute» (2012) und«Concrete – Fotografie und Architektur» (2013). Nacheinem Studium der Visuellen Kommunikation/Fotografie ander Fachhochschule Bielefeld und einem kuratorischen Auf-baustudium an der Jan van Eyck Akademie in Maastricht/NLarbeitete Thomas Seelig zunächst als freier Kurator.

Page 71: Eigen.Sinn

69

Eigen.Sinn

Fotostiftung Schweiz Winterthur zur Hauptstadt der Fotografiemachte. Drei Hauptbereiche werden durch das Museum ab-gedeckt: Zeitgenössische Ausstellungen, Meister des 19. und20. Jahrhunderts sowie kulturhistorische/soziologische Aus-stellungen (mit Bild-Projekten zur Industrie, zum Welthandel,zum Gegenstandsfetischismus, zur Medizin und Mode, zuKörper und Krankheit u.a.). Heute bietet das Fotomuseummit 30 Angestellten neben den Ausstellungsräumen und denzahlreichen Publikationen ein Netz von Zugängen zur Foto-grafie, ein Geflecht von Präsentations- und Diskussionsmög-lichkeiten, das die 2650 Vereinsmitglieder, die 50.000 realenBesucher pro Jahr und die 50.000 virtuellen Besucher proMonat auf ihre je eigene Weise nutzen können.

BEGLEITER DES FUNDAMENTALEN WANDELS

Eine gute Gelegenheit, die Vielschichtigkeit des Fotomuse-ums kennenzulernen, bietet die kommende Ausstellung Au-tograph von James Welling, die im November startet. Deramerikanische Fotograf James Welling (1951) bewegt sichals Künstler in den hybriden Grenzzonen zwischen Malerei,Bildhauerei und traditioneller Fotografie. Seit über 40 Jahrengeht er Themen der Darstellung und Abstraktion nach undwird heute von Kritikern, Künstlern und Sammlern gleicher-maßen als zentrale Figur der internationalen zeitgenössi-schen Fotografie geschätzt. Die Ausstellung Autograph zeigtnebst seinen quasi dokumentarischen Werkserien in der Tra-dition der klassischen Kunstfotografie eines Paul Strand auch

abstrakte Fotogramme, wie sie die Avantgarde mit Moholy-Nagy, Christian Schad und Man Ray hervorbrachte. Fasziniert von den Möglichkeiten des Mediums begleitetJames Welling den fundamentalen Wandel der Fotografie bisin die heutige Zeit: Ob es um die kritischen und ideologi-schen postmodernen Debatten der Pictures Generation geht,in denen Konzepte wie Autorschaft, Originalität und fotogra-fische Einzigartigkeit kritisch hinterfragt wurden, oder um dieaktuelle neumodernistische Betonung der Fotografie alsüberhöhtes Objekt. Wellings stete Erkundung der konzeptu-ellen und ästhetischen Grundlagen, die das Medium formenund definieren, macht ihn zum wichtigen Vorbild für eineganze Generation zeitgenössisch arbeitender Fotokünstler.Die Weigerung, sich auf eine bestimmte Produktionsform vonBildern festzulegen, charakterisiert das Werk des Amerika-ners. Er arbeitet analog und digital, in Farbe und Schwarz-Weiß, mit und ohne Kamera. Mit Autograph realisiert das Fo-tomuseum Winterthur die erste große Werkübersicht desKünstlers in der Schweiz.

JAMES WELLING – AutographFotomuseum Winterthur 30.11.2013 - 16.02.2014

Weiter im Programm des Fotomuseums sind derzeit zu sehen:This infinite World – Set 10Jubiläumsausstellung aus der Sammlung des Fotomuseums 08.06.2013 – 09.02.2014Cross Over – Fotografie der Wissenschaft +

Duncan Forbes (*1967 in Paris) war von 2000 bis 2013 alsKurator in den National Galleries of Scotland tätig, wo er fürden Bereich Fotografie verantwortlich war. In dieser Funktionhat er die zeitgenössische Sammlung der Scottish Gallery ofModern Art, die ARTIST ROOMS in Kollaboration mit der TateModern sowie die Scottish Collections in der Scottish NationalPortrait Gallery betreut und ausgebaut. Er ist ein Kenner derzeitgenössischen wie auch der historischen Fotografie undhat regelmäßig publiziert, unter anderem für die britischenFotomagazine History of Photography, Portfolio und Source.Duncan Forbes hat an der University of St. Andrews einenDoktortitel in Kunstgeschichte erworben und war währendmehrerer Jahre Dozent an der University of Aberdeen.

Page 72: Eigen.Sinn

70

Eigen.Sinn

Im kommenden Jahr jährt sich zum 750. Mal die Verleihung desStadtrechts an die Bürger von Winterthur. Stifter war der jungeGraf Rudolf von Habsburg, der spätere Begründer des habsburgi-schen Weltreichs. Mit der Verleihung des Stadtrechts genoss dieStadt schon früh ein hohes Maß an Selbstständigkeit, was die Entwicklung von Gewerbe und Handwerk begünstigte und einerfrühen Industrialisierung Vorschub leistete.

Von Christian Huggenberg

Wussten Sie,DASS...750 JAHRE STADTRECHT WINTERTHUR: EIN HABSBURGER WECKT DEN LIBERALEN GEIST

Page 73: Eigen.Sinn

71

Eigen.Sinn

Winterthur ist nicht nur eine sehr alte Stadt,deren Wurzeln bis in die Römerzeit zu-rückreichen. Winterthur hat auch einenweitgehend intakten idyllischen Altstadt-kern, in dem heute in etwa immer noch so

viele Menschen leben wie vor 400 Jahren. Es sind rundzweieinhalb Tausend Menschen. Nicht sehr viele wenn manbedenkt, dass sich Winterthur seit rund 2 Jahren offiziellGroßstadt nennen darf. Das bedeutet über 100.000 Einwoh-ner, was für Schweizer Verhältnisse eben schon groß ist. InChina, wo es Städte gibt, die in einem einzigen Monat so vielZuwanderung zu bewältigen haben, dürfte dies kaum je-manden bewegen. Für Winterthur indes bedeutet es viel.Denn große Träume träumte die Stadt immer wieder. Mitdem Aufschwung der Industrie kamen die Menschen zuTausenden. Die Bevölkerung Winterthurs wuchs von 1850bis 1970 um rund 80.000 Personen und die Stadt begannim großen Maßstab zu planen. Zum Beispiel die Wartstraßeals 8 Kilometer langes Quartier zur Unterbringung der gan-zen Arbeiter. Gebaut wurden die ersten 200 Meter. Dabeiblieb es, obwohl der Bedarf an Menschen damals sehr großwar. Winterthur entwickelte sich als Industriestandort wiekaum ein anderer Ort in der Schweiz. 1778 wird in Winter-thur die erste chemische Fabrik der Schweiz gegründet.1802 eröffnete die Spinnerei Hard als erste mechanischeGroßspinnerei des Kontinents. Winterthur ist damit die ersteoder älteste Industriestadt der Schweiz. In Deutschlandwürde eine Stadt wie Winterthur heute wohl Werbung ma-chen mit dem Slogan „Winterthur – die älteste Industriestadtder Schweiz“. Die Winterthurer selbst sind da etwas beschei-dener. Auf dem Plakat an der Autobahn lesen Vorbeifahren-de einfach winterthur …

Großtaten und bescheidenes Auftreten sind zwei Attribute,die sehr gut zum Charakter der Menschen und zur Ge-schichte Winterthurs passen. Bereits sehr früh war es derStadt vergönnt, sich aus feudalen Strukturen herauszulösenund sich als relativ selbstständiger Ort mit frühdemokrati-schen Spielregeln, eigener Rechts- und Steuerhoheit zu ent-wickeln. Zu verdanken hatten sie die frühe Reichsfreiheitihrem Stadtherren Graf Rudolf von Habsburg. Der spätereKönig und Begründer des Habsburgischen Weltreichs hatteals Heranwachsender einige Zeit auf der nahegelegenen Ky-burg verbracht und war der Stadt sehr wohlgesonnen. Alser 1264 sein Erbe antrat, verlieh er den Winterthurern dasStadtrecht, womit er den Bürgern erlaubte, einen der ihrenzum Schultheiß oder Amtmann (Gerichtsvorsitzender undSteuereinzieher) zu wählen. Auch war es den Bürgern er-laubt, Güter zu besitzen, zu vererben und zu verkaufen, wasdie Entwicklung des Bürgertums begünstigte.

Mit der Verleihung des Stadtrechts schuf Rudolf von Habs-burg somit die Keimzelle, die Winterthur später zur Wiege derliberalen Bewegung in der Schweiz machte. So hatten dieWinterthurer großen Einfluss auf die Ausarbeitung der erstenBundesverfassung 1848 und stellten mit Jonas Furrer denersten Bundesrat der Schweiz. Dabei schien die Geschichteerst einmal eine ganz andere Wendung vorzusehen. Mit derAnlehnung an das Habsburger Reich kam die Stadt im 15.Jahrhundert immer mehr in Konflikt mit der erstarkenden Eid-genossenschaft. Die ständige Auseinandersetzung mit denalten eidgenössischen Orten – allen voran Zürich – hatte Win-terthur ruiniert, sodass die Stadt 1467 an Zürich verpfändetwurde. Ein Umstand, der offenbar aber auch Vorteile hatte.So musste sich Winterthur schon früh internationale Absatz-

750 JAHRE STADTRECHT WINTERTHUR: EIN HABSBURGER WECKT DEN LIBERALEN GEIST

Links: Kesselhaus Sulzerareal Stadtmitte. Quelle: Sulzer AG

Page 74: Eigen.Sinn

72

Eigen.Sinn

märkte suchen, da der Heimmarkt den Zürchern vorbehaltenwar. Die Dynamik dieser frühen Form der Globalisierungwurde in Zürich nicht erkannt. Während die Zürcher an ihremZunftwesen festhielten, befassten sich junge Winterthurer imausgehenden 18. Jahrhundert intensiv mit dem Aufbau desFernhandels und neuer Industrien, um sich der Zürcher Will-kür zu entziehen. Umgekehrt zog der offene Geist der Stadtauch helle Köpfe aus dem Ausland an. Allen voran JohannSebastian Clais, der aus dem Badischen stammte und als jun-ger Mann die Chance hatte, nach England zu reisen, um sichmit dem technischen Fortschritt vertraut zu machen. Clais trafauf wichtige Persönlichkeiten seiner Zeit wie Benjamin Frank-lin, James Watt und Alexander von Humboldt und unterhieltweltumspannende Beziehungen und geschäftliche Kontakte.1776 kam Clais nach Winterthur und gründet mit dem Win-terthurer Unternehmer und Arzt Johann Heinrich Ziegler dieerste chemische Fabrik der Schweiz. Umgekehrt waren esaber auch Winterthurer, die auszogen und Geschichte schrie-ben. So kümmerte sich der Winterthurer Jakob „Jacques“Biedermann unter Georg Danton um die Finanzierung derfranzösischen Revolution. Johann Georg Sulzer war am HofeFriedrich des Großen tätig und als Professor der Philosophieein wichtiger Wegbereiter der Aufklärung. Mit der frühen In-dustrialisierung und der engen Vernetzung der Stadt zu denZentren des Fortschritts kamen immer wieder wichtige Per-sönlichkeiten in die Stadt, die den wirtschaftlichen Aufstiegbeflügelten. Ab 1851 arbeitete der englische IngenieurCharles Brown bei der Firma Gebrüder Sulzer. Mit der erstenVentildampfmaschine, die der englische Dampfmaschinen-fachmann entwickelte, erreichte Sulzer Weltruhm. 1871 ver-ließ Brown die Firma Sulzer und gründete erst die Schweize-rische Lokomotiv- und Maschinenfabrik in Winterthur undspäter die Firma Brown Boveri Corp., heute ABB. Neben derIndustrie blühte das Handelsgeschäft in Winterthur. Allenvoran die Familie Volkart und später Reinhart, die in kurzerZeit ein sehr erfolgreiches Handelsunternehmen aufbauten.Winterthur erlebte eine wirtschaftliche Blütezeit. Die Unter-nehmerfamilien gründeten Wohlfahrtseinrichtungen, förder-ten den genossenschaftlichen Wohnungsbau und betätigtensich als Mäzene, was der Stadt viele Kunstschätze eintrug,

die Winterthur den Namen einer bedeutenden Museumsstadteintrugen. Dazu kam die Gründung von Berufsschulen, einerUnfallversicherung für die Werktätigen sowie die Bank vonWinterthur, welche später in Schweizerische BankgesellschaftSBG umbenannt wurde. Der Erfolg brachte allerdings auchFehlentscheidungen mit sich, welche teils fatale Folgen hat-ten. Vor allem der Ruin der Schweizerischen Nationalbahnwar ein Lehrstück, an dem Winterthur über Generationen zubeißen hatte. Auch der industrielle Niedergang gegen Endedes letzten Jahrhunderts setzte Winterthur arg zu. Inzwischenhat sich die Stadt doch weitgehend von diesen Rückschlägenerholt. Winterthur gilt heute dank einem breiten Bildungsan-gebot als junge, trendige Stadt mit guten wirtschaftlichen Aus-sichten und einer positiven Grundstimmung, die es im kom-menden Jahr zu feiern gilt.

Oben: „Laboratorium“ (Hauptgebäude), gebaut 1778, abgebrochen 1960.Bildaufnahme 1960. Quelle: Winterthurer Bibliotheken, Studienbibliothek

Mitte: Spinnerei Hard, Tuschzeichnung um 1820. Quelle: Winterthurer Bibliotheken, Studienbibliothek

Unten: Sulzerareal Stadtmitte um 1915. Quelle: Sulzer AG

www.schindlerparent.de

Bereit für neue Spielzüge.Alles, was gute Kommunikation ausmacht: Strategie,Taktik und kreative Umsetzung. Lassen Sie sich inspirieren. Auf unserer neuen Website.

Page 75: Eigen.Sinn

www.schindlerparent.de

Bereit für neue Spielzüge.Alles, was gute Kommunikation ausmacht: Strategie,Taktik und kreative Umsetzung. Lassen Sie sich inspirieren. Auf unserer neuen Website.

Page 76: Eigen.Sinn

Unser Ziel: Ihre gepflegte Organisation

Unsere Profession: Organisationsberatung

Unser Vorzeichen: Führungskultur

„Ihr macht keine gewöhnliche Organisationsentwicklung,

sondern was ihr entstehen lasst, bezeichne ich als Spirit

of Leadership“

www.willauerpartner.ch

und jetzt?