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Woher hat die immanente Kritik ihre Normen? Sozialontologische Überlegungen zumPotenzial sozialer Praktiken
Konferenz „Immanente Kritik”Institut für SozialforschungNovember 2011
Titus StahlGoethe-Universität Frankfurt [email protected]
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Marx über immanente Kritik IBisher hatten die Philosophen die Auflösung aller Rätsel in ihrem Pulte liegen, und die dumme ... Welt hattenur das Maul aufzusperren, damit ihr die gebratenen Tauben der absoluten Wissenschaft in den Mund flogen.[…] Ich bin nicht dafür, dass wir eine dogmatische Fahne aufpflanzen, im Gegenteil.
-- K. Marx, Brief an Ruge, 1843
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Marx über immanente Kritik IIWir entwickeln der Welt aus den Prinzipien der Welt neue Prinzipien. […] Wir zeigen ihr nur, warum sieeigentlich kämpft, und das Bewusstsein ist eine Sache, die sie sich aneignen muss, wenn sie auch nicht will.
-- K. Marx, Brief an Ruge, 1843
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KritikDie Gesellschaft kritisieren, heißt, sie an normativen Standards zu messen.
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Normative Standards(A) Dogmatische ("externe") Kritik
Verwendet die Standards, die der Kritiker akzeptiert.
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Normative Standards(B) Konservative ("interne") Kritik
Verwendet die Standards, die de facto in einer Gemeinschaft akzeptiert sind.
• Diese Kritik muss einen Teil der sozialen Realität (die akzeptierten Normen) von der Kritik ausnehmen,
• ist nicht besonders informativ.
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Normative Standards(C) Immanente Kritik
Verwendet Standards, die in der Realität eine Basis haben, die aber weder mit den akzeptierten, noch mit denbefolgten Normen identisch sind.
• Diese Form der Kritik kann die ganze soziale Realität kritisieren,
• ist informativ,
• ist weder dogmatisch noch konservativ.
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Das Problem der Methode• Hinsehen alleine reicht nicht.
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Drei Fragen1. Ontologie: Was heißt es, dass immanente Normen „in” einer Gesellschaft existieren?
2. Epistemologie: Wie können wir wissen, welche immanenten Normen existieren?
3. Rechtfertigung: Wieso sollte die Existenz immanenter Normen für Personen einen Grund darstellen, ihreGesellschaft zu verändern?
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Die ontologische FrageZwei Strategien:
1. Hermeneutische Strategie: Die akzeptierten Normen haben einen Überschuss an Sinn, der interpretativerschlossen werden kann.
2. Praxistheoretische Strategie: In den praktischen Interaktionen sind Ansprüche institutionalisiert, die überdie akzeptierten Normen hinausgehen.
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Die hermeneutische Strategie• Kritik aus der Teilnehmerperspektive
• Vorschlag eines besseren Verständnis der geteilten Normen oder Werte, aufbauend auf dem bereitsvorhandenen Verständnis
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Die hermeneutische Strategie: Leistungen• Vorteil: Vermeidung autoritärer Kritik
• Ontologie: Sinn geteilter Werte
• Epistemologie: Interpretation
• Begründung: Authentizität
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Die hermeneutische Strategie: Nachteile• Unterstellung geteilter Werte ist problematisch und droht, Exklusion zu reproduzieren.
• Wie kann man die Verbindlichkeit einer bestimmten Interpretation begründen? Übereinstimmung kannnicht das Kriterium sein.
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Die praxistheoretische Strategie• Sozialwissenschaftliche Aufklärung
• Probleme bisheriger Ansätze: Voraussetzung des Werts spezifischer Praktiken, Begrenztheit
• Aber: Keine vollständig immanente Begründung der normativen Privilegierung bestimmter Praxisformen.
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Eine allgemeine Theorie immanenterNormenSoziale Praktiken als normativ strukturierte institutionalisierte Handlungsschemata mit internen, normativenUnterscheidungen zwischen korrektem und inkorrektem Verhalten
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Das RegelfolgenproblemWittgenstein:
(1) Der Verweis auf die Akzeptanz expliziter Regeln sind nicht ausreichend, um die Tatsache zu erklären, dassPersonen eine Regel befolgen; denn jede explizite Regel kann in verschiedener Weise angewendet werden.
(2) Auch die Einführung weiterer Regeln, die die Anwendung festlegen, reicht nicht aus: Ein Regress droht.
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Das Regelfolgenproblem(3) Auch der Verweis auf faktische Konformität löst das Problem nicht, denn diese Erklärung der Tatsache,dass eine Regel befolgt wird, nimmt Regeln die Normativität.
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Die Notwendigkeit immanenter NormenSchlussfolgerung: Wenn es überhaupt soziale Praktiken geben soll, muss es immanente Normen geben.
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Die Funktion der Rede von Normen1. Erklärende Funktion
2. Normative Funktionen: Bewertung, Rechtfertigung in der Praxis
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Sozialpragmatistische LösungenBrandom: Die Behauptung, dass eine Person einer Regel folgt, bezeichnet einen sozialen Status.
Basales Phänomen: Zuschreibungen sozialen Status (Kritik, Sanktion, Korrektur).
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StandardautoritätAber: Genauso wie das faktische Verhalten die Norm nicht konstituiert, konstituieren auch die faktischenZuschreibungen die Geltung einer Norm nicht.
In einer normativ regulierten Praxis gilt vielmehr, dass eine Norm nur dann gelten kann, wenn sich dieBeteiligten hinsichtlich eines Verhaltensspektrums gegenseitig eine Standardautorität der Bewertungzuschreiben, das heißt, Sanktionen entweder akzeptieren oder wiederum selbst normativ sanktionieren.(„Anerkennung”)
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Die Ontologie immanenter NormenImmanente Normen sind die Normen, die sich in der Gesamtheit der Struktur der wechselseitigen, sozialregulierten Dispositionen in einer Gemeinschaft verwirklichen, sich gegenseitig eine Standardautorität derBewertung zuzuschreiben.
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Vorteile einer Anerkennungskonzeptionimmanenter Normen
• Dieses Modell identifiziert immanente Normen weder mit geglaubten, noch mit befolgten Normen.
• Es hat eine überzeugende Antwort auf das epistemologische Problem: Identifizierung praktischhandlungsleitender Normen.
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Vorteile einer Anerkennungskonzeptionimmanenter Normen
• Keine Unterstellung ethischer Uniformität
• Begründung stützt sich auf bereits vorhandene, implizite Akzeptanz
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Vorteile einer Anerkennungskonzeptionimmanenter Normen
• Das Modell kann zur Explikation von Voraussetzungen zeitgenössischer kritischer Theorien dienen.
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Ein gutes BeispielDie amerikanische Debatte über die Krankenversicherung.
• Die beste Interpretation dieser Debatte verweist darauf, dass beide Positionen ihre Basis in inkompatiblenpraktischen Normen haben
• Keine Entscheidung, aber Grundlage für Gesellschaftskritik
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Ein problematisches BeispielDiskriminierende immanente vs. progressive explizite Normen
• Immanente Kritik ist kein Mittel zur Entdeckung des moralisch Guten.
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Die Funktion immanenter Kritik• Immanente Kritik zeigt uns, ob wir Hoffnung haben dürfen.
• Sie ersetzt aber keine Parteinahme.