innovation durch management des informellen ||

259

Upload: stephanie

Post on 24-Dec-2016

270 views

Category:

Documents


21 download

TRANSCRIPT

Innovation durch Managementdes Informellen

Fritz Böhle � Markus Bürgermeister �Stephanie Porschen

Innovation durchManagementdes Informellen

Künstlerisch, erfahrungsgeleitet,spielerisch

HerausgeberFritz BöhleSozioökonomie der Arbeits- und BerufsweltPhilosophisch-SozialwissenschaftlicheFakultätUniversität AugsburgAugsburgDeutschland

Markus BürgermeisterSozioökonomie der Arbeits- und BerufsweltPhilosophisch-SozialwissenschaftlicheFakultätUniversität AugsburgAugsburgDeutschland

Stephanie PorschenISF MünchenMünchenDeutschland

Das diesem Buch zugrundeliegende Verbundvorhaben „Künstlerisch, erfahrungsgeleitet,spielerisch – Management des Informellen zur Förderung innovativer Arbeit“ (KES-MI)wurde aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und aus dem Euro-päischen Sozialfonds der Europäischen Union gefördert.Förderkennzeichen: 01FM08008–01FM08014

ISBN 978-3-642-24340-0 ISBN 978-3-642-24341-7 (ebook)DOI 10.1007/978-3-642-24341-7

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Springer Gabler© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nichtausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags.Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen unddie Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk be-rechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne derWarenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermannbenutzt werden dürften.

Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlagkeine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfallanhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden.

Einbandentwurf: WMXDesign GmbH, Heidelberg

Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier.

Springer Gabler ist eine Marke von Springer DE. Springer DE ist Teil der Fachverlagsgruppe SpringerScience+Business Mediawww.springer-gabler.de

Vorwort

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) richtete im Förder-programm „Arbeiten, Lernen, Kompetenzen entwickeln – Innovationsfähigkeit ineiner modernen Arbeitswelt“ 2007 den Förderschwerpunkt „Innovationsstrategienjenseits traditionellen Managements“ ein. Hierfür war die Erkenntnis ausschlagge-bend, dass zur nachhaltigen Förderung der Innovationsfähigkeit von Unternehmenneue Konzepte des Managements von Innovationen und ein erweitertes Innovati-onsverständnis notwendig sind. In diesem Rahmen entstand das Projekt KES-MI:Künstlerisch, erfahrungsgeleitet, spielerisch – Management des Informellen zurFörderung innovativer Arbeit.

Hieran beteiligten sich drei wissenschaftliche Einrichtungen, vier Unternehmenaus Produktion und Dienstleistung sowie zwei beratungsorientierte Unternehmen.Die wissenschaftlichen Einrichtungen waren: die Universität Augsburg (Sozioöko-nomie der Arbeits- und Berufswelt), das Institut für Sozialwissenschaftliche For-schung e.V. (ISF München) sowie die Gesellschaft für Ausbildungsforschung undBerufsentwicklung (GAB). Die Industrie- und Dienstleistungsunternehmen sindauf den Gebieten der Mess- und Regeltechnik, der Softwareentwicklung, des Bau-nebengewerbes und der Ingenieurdienstleistungen tätig. Die beratungsorientiertenUnternehmen waren die spiel & sport team GmbH/eo ipso Konzept & TrainingGmbH und die SportKreativWerkstatt GmbH.

Das Projekt KES-MI knüpfte an langjährige Untersuchungen zur Bewältigungdes Unplanbaren in Arbeitsprozessen an und erstreckte sich über drei Jahre. In die-sem Buch werden die Ergebnisse dieses Forschungsprojekts dargestellt.

Wir danken den Mitarbeitern und Führungskräften in den Unternehmen, ohnederen Engagement und Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen, dieses Projektnicht möglich gewesen wäre. Dem Projektträger im Zentrum der Deutschen Luft-und Raumfahrt e.V. (DLR), insbesondere Frau Dr. Aulerich, danken wir für die ko-operative Projektbegleitung. Frau Karla Kempgens danken wir für die hilfreicheUnterstützung bei der grafischen Gestaltung und Frank Seiß für das fachkundige

VI Vorwort

Lektorat. Unser Dank gilt auch PD Dr. Annegret Bolte, die mit uns das Projekteingeleitet und in den Anfängen begleitet hat.

Augsburg, München im Herbst 2011 Fritz BöhleMarkus Bürgermeister

Stephanie Porschen

Inhaltsverzeichnis

1 Management von Innovation –Ungewissheit und neue Herausforderungen . . . . . . . . . . 1Fritz Böhle und Markus Bürgermeister

1.1 Produktion vs. Innovation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

1.2 Ungewissheit und Grenzen der Planung von Innovation . . . . . . 3

1.3 Planungsorientiertes Innovationsmanagement . . . . . . . . . . 4

1.4 Ungewissheit und Ansätzezu einem „anderen“ Management von Innovation . . . . . . . . . 6

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8

2 Das Projekt KES-MI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11Fritz Böhle, Markus Bürgermeister und Stephanie Porschen

2.1 Konzeptuelle Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

2.2 Das Untersuchungsfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

2.3 Überblick über die Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . 18

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22

3 Innovationsarbeit – künstlerisch, erfahrungsgeleitet, spielerisch . 25Fritz Böhle, Karin Orle und Jost Wagner

3.1 Was ist Innovationsarbeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25

3.1.1 Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26

3.1.2 Anforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28

3.1.3 Arbeitshandeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28

3.2 Arbeitshandeln bei Innovationsarbeit – Umrisse eines Konzepts . . . 29

3.3 Subjektive Haltung: künstlerisch . . . . . . . . . . . . . . . . 32

VIII Inhaltsverzeichnis

3.4 Handlungsweise: erfahrungsgeleitet . . . . . . . . . . . . . . 35

3.5 Definition der Situation: spielerisch . . . . . . . . . . . . . . . 37

3.6 Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

4 Innovationsprozess – flexibel, offen, non-linear . . . . . . . . . 45Markus Bürgermeister

4.1 Innovationsprozess im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . 45

4.2 Konzept des KES-MI-Innovationsprozesses . . . . . . . . . . . 50

4.2.1 Aufbau des KES-MI-Innovationsprozesses . . . . . . . . . 51

4.2.2 Elemente des KES-MI-Innovationsprozesses . . . . . . . . 56

4.3 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66

5 Management des Informellendurch Situatives Projektmanagement . . . . . . . . . . . . . 69Eckhard Heidling

5.1 Projekte in vernetzten Unternehmensstrukturen . . . . . . . . . . 69

5.2 Projektmanagement in Innovationsprozessen . . . . . . . . . . . 75

5.3 Entwicklung messtechnischer Systemein vernetzten Strukturen und Innovation . . . . . . . . . . . . . 78

5.3.1 Das Innovationsprojekt MetDek . . . . . . . . . . . . . 80

5.3.2 Weitere Innovationsprojekte . . . . . . . . . . . . . . . 84

5.3.3 Von der Struktur zur Handlung in den Innovationsprojekten beiMessTech . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86

5.4 Innovationsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87

5.4.1 Künstlerische Haltung . . . . . . . . . . . . . . . . . 87

5.4.2 Erfahrungsgeleitete Handlungsweise . . . . . . . . . . . 90

5.4.3 Spielerische Situationsdefinition . . . . . . . . . . . . . 96

5.5 Situatives Projektmanagement – Management des Informellen . . . . 98

5.5.1 Förderung einer künstlerischen Haltung . . . . . . . . . . 99

5.5.2 Förderung einer erfahrungsgeleiteten Handlungsweise . . . . 100

5.5.3 Förderung einer spielerischen Situationsdefinition . . . . . . 109

5.6 Grundlegende Dimensionen des Situativen Projektmanagements . . . 110

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112

Inhaltsverzeichnis IX

6 Management des Informellendurch Kooperativen Erfahrungstransfer . . . . . . . . . . . 115Stephanie Porschen

6.1 Softwareentwicklung und Innovation . . . . . . . . . . . . . . 115

6.2 Innovationsarbeit in der Softwareentwicklung . . . . . . . . . . 118

6.2.1 Künstlerische Haltung . . . . . . . . . . . . . . . . . 118

6.2.2 Erfahrungsgeleitete Handlungsweise . . . . . . . . . . . 120

6.2.3 Spielerische Situationsdefinition . . . . . . . . . . . . . 121

6.3 Agile Entwicklungsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

6.3.1 Scrum – Organisationstechnik für den sozialen Prozessagiler Softwareentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . 125

6.4 Agile Entwicklungsprozesse und Kooperativer Erfahrungstransfer –Management des Informellen . . . . . . . . . . . . . . . . . 128

6.4.1 Das Informelle zulassen – offene Zieldefinitionund dynamische Planung . . . . . . . . . . . . . . . . 130

6.4.2 Mitarbeiter involvieren – realistische Ausgangswertemit spielerischen Planungsverfahren ermitteln . . . . . . . 131

6.4.3 Austauschkultur I – Koordination, Informationsflussund Austausch in Meetings . . . . . . . . . . . . . . . 133

6.4.4 Austauschkultur II – Genese und Transfervon Erfahrungswissen in informellen Kooperationsmodellen . 134

6.4.5 Das „wachsende Produkt“ als Wissen vermittelnder Gegenstand 138

6.4.6 Agilität und kooperativer Erfahrungstransferals Herausforderung an das Coaching . . . . . . . . . . . 140

6.5 Übertragungen agiler Prozesseund des Kooperativen Erfahrungstransfers auf Hardwareinnovation . . 144

6.6 Innovationsarbeit und Management des Informellen –neue Dienstleistungsethik in der Softwareentwicklung . . . . . . . 147

6.6.1 Entgrenzung von Arbeit und Leben . . . . . . . . . . . . 148

6.6.2 Estimation Poker als Selektionsinstrument? . . . . . . . . 148

6.6.3 Retrospektive Meetings – Transparenz als Gefahr? . . . . . 151

6.7 Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154

X Inhaltsverzeichnis

7 Management des Informellendurch Entscheidungen im Arbeitsprozess . . . . . . . . . . . 159Judith Neumer

7.1 Produktion als „Ort“ der Innovation . . . . . . . . . . . . . . 159

7.2 Entscheidungen außerhalb und innerhalb des Arbeitsprozesses . . . 163

7.2.1 Entscheidungsfindung in Meetings . . . . . . . . . . . . 164

7.2.2 Entscheidungsfindung im laufenden Arbeitsprozess . . . . . 165

7.3 Entscheidungen bei Innovationsarbeit . . . . . . . . . . . . . . 166

7.3.1 Künstlerische Haltung im Entscheiden . . . . . . . . . . 167

7.3.2 Erfahrungsgeleitete Handlungsweise im Entscheiden . . . . . 169

7.3.3 Spielerische Definition von Entscheidungssituationen . . . . 172

7.4 Management des Informellen zur Förderungvon Entscheidungen in laufenden Arbeitsprozessen . . . . . . . . 175

7.4.1 Arbeitsorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177

7.4.2 Führung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

8 Innovationsarbeit lernen – Lernkonzept und Rahmenbedingungen 189Hans G. Bauer, Christiane Hemmer-Schanze, Claudia Munz undJost Wagner

8.1 Das Erlernen von Innnovationskompetenzkann kein Beherrschungslernen sein . . . . . . . . . . . . . . 189

8.2 Innovationsarbeit: Welche Fähigkeiten werden benötigt? . . . . . . 193

8.2.1 Innovationsrelevante Fähigkeiten des künstlerischen Handelns . 194

8.2.2 Innovationsrelevante Fähigkeitendes erfahrungsgeleiteten Handelns . . . . . . . . . . . . 195

8.2.3 Innovationsrelevante Fähigkeiten des spielerischen Handelns . 196

8.3 Künstlerisch, erfahrungsgeleitet, spielerisch – Das Lernkonzept . . . 197

8.3.1 Exemplarische Lernsituationen schaffen . . . . . . . . . . 198

8.3.2 Arbeitshandeln aufbereiten und transformieren . . . . . . . 200

8.3.3 Lernprozessgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . 202

8.3.4 Rahmenbedingungen für künstlerisches, erfahrungsgeleitetesund spielerisches Lernen zum Erwerbvon Innovationskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . 203

8.3.5 Lernförderliche Arbeitsgestaltungfür kompetenzentwickelndes Lernen . . . . . . . . . . . 204

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

Inhaltsverzeichnis XI

9 Balanced Innovation Management Accounting –Verlässliche Evaluierung und Planung im Innovationsprozess . . 211Markus Bürgermeister

9.1 Innovationscontrolling im Überblick . . . . . . . . . . . . . . 211

9.2 Konzept eines Balanced Innovation Management Accounting . . . . 218

9.2.1 Evaluierung im Balanced Innovation Management Accounting 219

9.2.2 Planung im Balanced Innovation Management Accounting . . 239

9.3 Ausblick zum Balanced Innovation Management Accounting . . . . 243

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245

Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247

Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251

Kapitel 1Management von Innovation –Ungewissheit und neue Herausforderungen

Fritz Böhle und Markus Bürgermeister

Die Organisation und das Management von Unternehmen konzentrierten sich inder Vergangenheit auf die Produktion. Innovation wurde besonderen Abteilungenund Berufsgruppen zugeordnet und von sonstigen Unternehmensbereichen abge-sondert. Mit dem Innovationsmanagement werden demgegenüber Innovationspro-zesse in die Unternehmensorganisation insgesamt integriert. Leitend sind hierbeigrundlegende Prinzipien aus dem Management industrieller Produktion: Planen,Steuern und Kontrollieren. Dabei besteht aber die Gefahr, Ungewissheit und Un-bestimmtheit aus dem Innovationsmanagement auszugrenzen. Ungewissheit undUnbestimmtheit sind jedoch ein grundlegendes Merkmal von Innovation. Das Be-streben, sie zu beseitigen, kann bedeuten, dass Innovation nicht gefördert, sondernbehindert und eingeschränkt wird. Notwendig ist daher ein Management von Inno-vation, das Grenzen der Planung nicht als Mangel, sondern als ein Erfolgspotenzialvon Innovation erkennt und nutzt.

1.1 Produktion vs. Innovation

Marx und Engels beschrieben die kapitalistische Ökonomie als eine Produktions-weise, die auf „beständiger Umwälzung“ beruht (Marx u. Engels 1972). Auch inanderen Gesellschaftstheorien des 19. und 20. Jahrhunderts werden in der Dynamik

Fritz Böhle (B)Sozioökonomie der Arbeits- und Berufswelt, Philosophisch-Sozialwissenschaftliche Fakultät,Universität Augsburg, Eichleitnerstraße 30, 86159 Augsburg, [email protected]

Markus Bürgermeister (B)Sozioökonomie der Arbeits- und Berufswelt, Philosophisch-Sozialwissenschaftliche Fakultät,Universität Augsburg, Eichleitnerstraße 30, 86159 Augsburg, [email protected]

1F. Böhle et al. (Hrsg.), Innovation durch Management des Informellen,DOI 10.1007/978-3-642-24341-7_1,© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012

2 F. Böhle und M. Bürgermeister

und im Wandel wesentliche Merkmale der modernen industriellen Gesellschaftenund Unterschiede zu traditionellen vorindustriellen Gesellschaften gesehen.1

Der Begriff der Industriellen Revolution betont dabei in besonderer Weisedie Wirkungsmacht wirtschaftlich-technischer Erfindungen und neuer politisch-sozialer Orientierungen. Zugleich macht er aber auch auf eine andere Seite derDynamik und des Wandels aufmerksam: die Entwicklung und Herstellung einerneuen Ordnung und Stabilität. Entsprechend finden sich auch Beschreibungender industriellen Produktion und Gesellschaft, die sich auf andere Merkmale alsDynamik und Wandel stützen. Sombart (1919) sieht den Unterschied der industri-ellen Produktion gegenüber dem traditionellen Handwerk und der Landwirtschaftin der „Berechnung“ und „Herstellung von Berechenbarkeit“ und Weber (1956)charakterisiert die moderne bürokratische Verwaltung durch Regelhaftigkeit undBerechenbarkeit. Mit dem „scientific management“, dem sog. „Taylorismus“, wer-den diese Merkmale industrieller Produktion und Verwaltung zu wirkmächtigenLeitbildern der Unternehmensorganisation und zu grundlegenden Maximen desManagements.

Die Organisation von Unternehmen und das Management richteten sich dabeiin erster Linie auf die Produktion (vgl. Bürgermeister 2008, S. 54 ff.). Somit ginges primär nicht um die Entstehung und Erreichung, sondern um die Realisierungvon Innovation2, wobei auch teilweise der Wandel in geordnete, planbare und steu-erbare Bahnen gelenkt wurde. Beispiele hierfür sind die kontinuierliche Rationa-lisierung durch die Optimierung technischer Verfahren sowie die Festlegung aufbestimmte Entwicklungspfade in der Produktentwicklung und damit verbundeneinkrementelle Innovationen3. Die Frage, wie Innovation zustande kommt, wurdeweitgehend aus dem Zuständigkeitsbereich der Organisation und des Managementsausgegrenzt.

Anknüpfend an Schumpeter (1934) sah man die wesentliche Quelle von Innova-tion in „Innovationspersönlichkeiten“ wie dem Erfinder oder auch dem Unterneh-mer (vgl. Hauschildt u. Salomo 2007, S. 212 ff.). In der weiteren Diskussion knüpfthieran die Suche nach für Kreativität verantwortlichen Persönlichkeitsmerkmalen(vgl. Mittelstraß 2008) an. Die Aufmerksamkeit richtet sich damit auf die Frage,wer Innovation hervorbringt. Die Fragen, wie Innovation entsteht und was zumGegenstand von Innovation wird, erscheinen nicht als etwas, was genauer geklärtwerden müsste und könnte. Dem entspricht auch, dass vor allem in Großunter-nehmen eigene Abteilungen und Berufsgruppen für Forschung und Entwicklungentstehen. Diese Abteilungen und Berufsgruppen erhalten eine eigene Stellung undwerden gegenüber der Produktion und Verwaltung abgegrenzt (vgl. Graham 1985;Rammert 1983).

1 Dies gilt für soziologische Theorien gesellschaftlicher Modernisierung bei Comte und späterParsons ebenso wie für Theorien wirtschaftlicher Entwicklung wie etwa bei Rüstow (vgl. Joas u.Knöbl 2004; Wehling 1992).2 Zum Innovationsbegriff vgl. Kap. 4.3 Zur Unterscheidung von inkrementeller Innovation und radikaler Innovation vgl. Kap. 4.

Management von Innovation – Ungewissheit und neue Herausforderungen 3

In der Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg finden sich demgegenüber inWissenschaft und Praxis verstärkt Bestrebungen, Prinzipien industrieller Organisa-tion auch bei Innovationen systematisch anzuwenden. Damit rückt das Wie in denBlick der wissenschaftlichen und praktischen Auseinandersetzung mit Innovation.Es geht somit um die „invention of the method of invention“ (Whitehead 1926,S. 141) als ein Kern der „Zweiten Industriellen Revolution“ im Übergang zum 20.Jahrhundert (vgl. Wolf 2011). Eine organisatorische „Antwort“ auf die Einmalig-keit konkreter Innovationsprozesse im Unterschied zur Re-Produktion industriellerProdukte ist die Projektorganisation. Sie entstand im Zweiten Weltkrieg im Rahmenmilitärischer Forschung und Entwicklung (vgl. Madauss 2000, S. 12).

In Verbindung mit der Projektorganisation entwickelte sich das Projektmanage-ment (vgl. Madauss 2000, S. 12 f.). Damit entstand ein Ansatz für das Wie vonInnovationsprozessen, wobei die Frage des Wer nicht verschwindet, sondern neueImpulse erhält. Zugleich bezieht sich die Frage nach dem Was nicht mehr nur aufdie Produktinnovation. Neben der Produktinnovation erstreckt sich das Projekt- undInnovationsmanagement nunmehr auch auf die Prozessinnovation, organisatorischeInnovation und soziale Innovation (vgl. Howaldt u. Jacobsen 2010; Hauschildt u.Salomo 2007, S. 9 ff.; Vahs u. Burmester 2005, S. 72 ff.).4 Im Unterschied zur Pro-duktion, bei der die Re-Produktion des bereits Bekannten im Vordergrund steht, istdas Innovationsmanagement mit anderen Gegebenheiten und Anforderungen kon-frontiert: Die für industrielle Produktion charakteristische Planung und Herstellungvon Planbarkeit lassen sich nicht umstandslos auf Innovationsprozesse übertragen.

1.2 Ungewissheit und Grenzen der Planung von Innovation

Forschungen zu Innovation zeigen in unterschiedlicher Weise Ungewissheit undGrenzen der Planung bei Innovationsprozessen auf. Im Einzelnen sind dies:5

� Ziel von Innovation ist es, Bekanntes durch bisher noch nicht Bekanntes undsomit Ungewisses zu ersetzen oder zu ergänzen. Innovation ist daher grundsätz-lich durch eine Offenheit des Ergebnisses charakterisiert (vgl. Rammert 2008,S. 294; Erdmann 1993; Wegner 1995, S. 88; Lazonick 2005). Ob eine Innovationerfolgreich ist, lässt sich aufgrund der Vielzahl materieller, sozialer und kulturel-ler Einflussfaktoren und Wirkungszusammenhänge ex ante nicht exakt erfassen(vgl. Wegner 1995, S. 189; Mistri 2008, S. 299 f.). Der Erfolg von Innovationist oft erst ex post definierbar, da vorab nicht erkennbar ist, welche Problemedurch die Innovation gelöst werden können und welche Effekte möglich sind(z. B. Siebel et al. 2001, S. 530 f.; Pavitt 2005, S. 100 ff.).

4 Zum Innovationsgegenstand vgl. Kap. 4.5 Siehe hierzu als Überblick auch Wolf (2011), Kädtler (2009) sowie Böhle (2011).

4 F. Böhle und M. Bürgermeister

� Innovationsprozesse verlaufen nicht sequenziell-linear, sondern iterativ. Je nachErfolg oder Misserfolg erfolgt ein Schritt in verschiedene Richtungen. Da In-novationsprozesse von Bekanntem abweichen müssen, lassen sich vorab auchweder ihre Hemmnisse und Widerstände noch ihre Erfolgsfaktoren vollständigabsehen (vgl. Pavitt 2005, S. 106 f.). Seit längerem gibt es im Innovationsprozesszudem eine zunehmende Parallelisierung von Innovationstätigkeiten und Innova-tionsprojekten bzw. Innovationsteilprojekten (vgl. Bürgermeister u. Schambach2005; Brockhoff 1999, S. 43 ff.). Dies führt zu einer deutlichen Steigerung derKomplexität im Innovationsprozess.

� Innovationsprozesse verlaufen aufgrund ihrer Einmaligkeit unterschiedlichje nach Gegenstand, technisch-organisatorischen und personellen Rahmen-bedingungen, Problemstellungen, Hemmnissen usw. und müssen daher, un-ter Bezug auf diese Einflussfaktoren, individuell gestaltet werden (vgl. Pa-vitt 2005, S. 95 ff.; Nippa 2007; Coopey et al. 1998, S. 279 f.). Innovati-onsprozesse verlaufen daher nicht allein nach Standardmodellen und BestPractices.

� Kreativität lässt sich weder verordnen noch regeln und kontrollieren (Amabile u.Gryskiewicz 1989; Schuler u. Görlich 2007; Kanter 2006).

Diese Merkmale von Innovationsprozessen treten umso mehr auf, je umfassen-der Innovationen sind und je mehr sie sich nicht auf Produktinnovationen beschrän-ken, sondern auch Prozessinnovationen sowie organisatorische und soziale Inno-vationen einbeziehen. Des Weiteren ist Innovation nicht nur eine Spezialaufgabebestimmter Personen und Berufsgruppen, sondern häufig Teil der Arbeit jedes Mit-arbeiters in Unternehmen sowie, über Unternehmensgrenzen hinaus, auch Arbeitvon Kunden, Lieferanten etc. (vgl. Moldaschl 2007; Chesbrough 2003). Das Er-fahrungswissen der Mitarbeiter in den operativen Prozessen ist daher eine wichtigeRessource für Innovation (vgl. Kocyba 2000, S. 50 ff.; Ortmann 2009, S. 208 ff.).

1.3 Planungsorientiertes Innovationsmanagement

Obwohl sich das Innovationsmanagement auf den besonderen Charakter von Inno-vation richtet, werden grundlegende Prinzipien aus dem Management industriellerProduktion abgeleitet und auf Innovation übertragen: Planung, Steuerung und Kon-trolle. Die vorherrschenden Konzepte des Innovationsmanagements zielen schwer-gewichtig darauf ab, Ungewissheit und Grenzen der Planung weitestmöglich zuminimieren und ein Höchstmaß an Planung, Steuerung und Kontrolle herzustellen.Ein möglicher Grund für ein planungsorientiertes Innovationsmanagement ist es,Ungewissheit und Grenzen der Planung per se zu unterschätzen und so Innovationals umfassend oder zumindest weitgehend planbar zu betrachten. Im Unterschieddazu kann einem planungsorientierten Innovationsmanagement auch eine Erset-zung von Ungewissheit durch Risiko zugrunde liegen, womit Ungewissheit durch

Management von Innovation – Ungewissheit und neue Herausforderungen 5

objektive und subjektive Eintrittswahrscheinlichkeiten ersetzt und in die Planungüberführt wird.6

Entwicklungsgeschichtlich lassen sich mehrere Perioden des Innovationsmana-gements unterscheiden (vgl. Trott 2008; van der Duin u. den Hartigh 2007):

� Von den 1950er Jahren bis in die 1970er Jahre wird von linearen Innovations-prozessen ausgegangen, gekennzeichnet durch sequenzielle Abläufe, eine kon-sequente Trennung von Prozessphasen und relativ einfache Ursache-Wirkungs-Beziehungen.

� In den 1980er Jahren werden verstärkt Kopplungen zwischen den linear ange-ordneten Phasen von Innovationsprozessen erkannt und berücksichtigt.

� Seit den 1990er Jahren geht es verstärkt um Innovation in Netzwerken und Wis-sensverbünden bzw. „Open Innovation“ (Chesbrough 2003).

Für eine aktuelle Diskussion wissenschaftlicher Konzepte planungsorientier-ten Innovationsmanagements liefern die Arbeiten von von Ahsen et al. (2010),Heesen (2009), Vahs u. Burmester (2005) sowie Cooper u. Edgett (2008) bzw.Cooper et al. (2002, 2002a) interessante Ansatzpunkte. So bieten von Ahsen et al.(2010) und Heesen (2009) im Rahmen einer „Bewertung von Innovationen imMittelstand“ bzw. eines „Innovationsportfoliomanagements“ unter anderem eineeingehende Analyse von Bewertungsinstrumenten zur Auswahl weiterzuverfolgen-der Projektideen. Vorgeschlagen werden hier beispielsweise eine Nutzwertanalyseund Verfahren zur Budget- und Zeitkontrolle, für die fortgeschrittene Auswahlzusätzlich Target Costing und Berechnungen nach der Kapitalwertmethode in Ver-bindung mit Entscheidungsbaumverfahren (vgl. von Ahsen et al. 2010, S. 46 ff.;Heesen 2009, S. 104 ff.). Für die Vervielfältigung der Erfindung, als eines weiterenAspekts im Innovationsmanagement, weisen Vahs u. Burmester (2005, S. 249) aufdie heutige hohe Relevanz von Konzepten des Computer Integrated Manufacturing(CIM) hin: „In vielen Unternehmen wird die Produktionseinführung heute durchden Einsatz von CIM-Konzepten erleichtert. Der Vorteil einer computerintegriertenFertigung ist dabei insbesondere darin zu sehen, dass die einzelnen Module daten-technisch miteinander vernetzt werden und eine integrierte Planung und Umsetzungder Produktinnovation ermöglichen.“ Und schließlich bringen Cooper u. Edgett(2008) bzw. Cooper et al. (2002, 2002a) ein vielbeachtetes Stage-Gate-Konzeptzum Innovationscontrolling hervor. Stage-Gates stehen zwischen den Elementendes Innovationsprozesses (vgl. Heesen 2009, S. 72). Sie markieren Zeitpunkte derBewertung der Innovationstätigkeiten und -ergebnisse, um nach jedem Elementdes Innovationsprozesses zu entscheiden, ob die Innovationstätigkeiten fortgeführtwerden (vgl. Heesen 2009, S. 72).

Die herausgegriffenen Ansatzpunkte des Innovationsmanagements richten sichschwergewichtig auf die Herstellung eines planmäßigen Verlaufs von Innovations-

6 Zur begrifflichen Abgrenzung zwischen Ungewissheit und Risiko vgl. Heesen (2009, S. 19 f.)sowie Perridon u. Steiner (1999, S. 99 ff.).

6 F. Böhle und M. Bürgermeister

prozessen. Dies schließt nicht aus, dass auch Ungewissheit berücksichtigt wirdund sich die betreffenden Konzepte des Innovationsmanagements hiermit ausein-andersetzen (vgl. Vahs u. Burmester 2005, S. 52; Heesen 2009, S. 19 f.). Zugleichbesteht aber die Tendenz, die Aufgabe des Innovationsmanagements primär in derHerstellung von Planbarkeit zu sehen. So wird bei Heesen (2009, S. 20) „davonausgegangen, dass die Entscheidungsträger in einem Innovationsprozess in der La-ge sind, zumindest subjektive Wahrscheinlichkeiten für das Eintreten zukünftigerUmweltzustände anzugeben“.

Zudem ist beobachtbar, dass die herausgegriffenen Ansatzpunkte des Innovati-onsmanagements in der Praxis tendenziell einer streng quantitativen Ausrichtungunterzogen werden, die Ungewissheit weitgehend ausgrenzt. Ein wichtiges Merk-mal dabei ist, dass das Erfahrungswissen der Mitarbeiter vor Ort zur Bewältigungvon Grenzen der Planung oftmals unberücksichtigt bleibt. Dies entspricht Ergeb-nissen einer Untersuchung von Wühr et al. (2011) zum Umgang mit Stage-Gate-Modellen in der Innovationspraxis des Maschinenbaus, die an dieser Stelle exem-plarisch für ein planungsorientiertes Innovationsmanagement in der Praxis stehen:„In der Empirie zeigt sich (. . . ), dass es faktisch zu einer Ungleichbehandlungbei der Begründung und Legitimierung der im Zentrum des Prozesses stehendenGate-Entscheidungen kommt: Nur wer nicht durch das Gate will, wird begrün-dungspflichtig, wer jedoch ,durchwinkt‘, ist es nicht – eine Lernerfahrung, die vieleBefragte sehr schnell gemacht haben. Offene Diskussionen über die anstehendenEntscheidungen im Gate-Meeting werden damit kaum noch geführt, die Meetingsund der Prozess selbst als Farce empfunden. (. . . ) Durch den Prozess wird eineBeteiligung der Innovationsakteure und eine Basierung von Planung und Entschei-dung auf sachlichen und gemeinsam generierten Bewertungskriterien entlang vonQualität und Kosten suggeriert; doch dies erweist sich in der Innovationsrealität alsSchein. Ignoriert werden überwiegend die auf dem Erfahrungswissen der Innova-tionsakteure basierenden Schätzungen von zeitlichen Aufwänden und Ressourcen,oft genug auch die dabei adressierten stofflichen Notwendigkeiten eines komplexentechnischen Innovationsprozesses. So entstehen Planungen, die schon von Beginnan von den Innovationsakteuren als unrealistisch eingeschätzt werden – was sich oftgenug bestätigt. Trotzdem wird an ihnen festgehalten“ (Wühr et al. 2011, S. 156;siehe hierzu auch Pfeiffer et al. 2012). Insgesamt werden solche Unzulänglichkei-ten planungsorientierten Innovationsmanagements in besonderer Weise durch dieTendenz zu einer stärkeren „Ökonomisierung“ von Innovationsprozessen auf Basisklassischer Prinzipien des Controlling forciert (vgl. Wolf 2011).

1.4 Ungewissheit und Ansätzezu einem „anderen“ Management von Innovation

Untersuchungen zu Forschung und Entwicklung in Unternehmen zeigen, dass diein der Praxis unabhängig vom Innovationsmanagement entstandene „Organisation“

Management von Innovation – Ungewissheit und neue Herausforderungen 7

von Innovation keineswegs ein bloßer Ausdruck von Beliebigkeit, Zufall und In-effizienz ist. Vielmehr finden sich hier Formen der Arbeit und Organisation, dieeinen hohen Grad an Selbstverantwortung und Selbststeuerung sowie geringe bü-rokratische Regelungen und Abläufe aufweisen. Sie weisen Merkmale auf, wiesie gegenwärtig für Wissensarbeit und eine post-tayloristische Arbeits- und Un-ternehmensorganisation als typisch und notwendig ausgewiesen werden (vgl. Wolf2011; Hage 1999, 2000; Burns u. Stalker 1994). Des Weiteren finden sich auchim Rahmen des Innovationsmanagements – allerdings eher an den Rändern desMainstreams – Ansätze, bei denen die Ungewissheit und Grenzen der Planung vonInnovation als ein strukturelles Merkmal berücksichtigt werden. Unbestimmtheitund Grenzen der Planung erscheinen so nicht als ein Mangel, den es möglichst zureduzieren gilt. Ein Beispiel hierfür sind in den 1950er Jahren propagierte „Orga-nisationskonzepte“, die als „laissez-faire laboratory non-organization“ bezeichnetwerden (vgl. Shapin 2008, S. 140; Wolf 2011). Als maßgeblich für die „Orga-nisation“ von Innovationsprozessen wird hier die Selbstdisziplin der Mitarbeiterund das Vertrauen seitens des Managements gesehen. In der neueren Entwicklungwerden Unternehmen folgende Empfehlungen gegeben: erstens auf eine zu strikteKontrolle bei der Budget- und Terminverfolgung zu verzichten, weil dies Innova-tion verhindere; zweitens Abweichungen von Planvorgaben einzukalkulieren, davon Beschäftigten, die nur ihre vorgegebenen Aufgaben erfüllen, keine innovativenIdeen zu erwarten seien; und drittens den Austausch zwischen den Beschäftigtenunterschiedlicher Abteilungen sowie mit Geschäftspartnern und Kunden zu unter-stützen, da die Neukombination unterschiedlicher Wissensbestände für innovativeAnsätze entscheidend sei (vgl. Kanter 2006).

Darüber hinaus finden sich vor allem in der Software-Entwicklung alternativeAnsätze zum Projektmanagement. Hieraus ergeben sich wiederum neue Anstößefür die Organisation und das Management von Innovationsprozessen insgesamt. ImKern beziehen sich die neuen Anstöße darauf, dass sich die Ziele und Ergebnissevon Innovationsprozessen sowie die Wege ihrer Erreichung vorab nicht festlegenlassen, sondern erst im und durch den Entwicklungsprozess eruiert und definiertwerden. Beispiel hierfür sind die Konzepte des agilen und des evolutionären Pro-jektmanagements (vgl. Peters 2011). Des Weiteren werden in Forschungen zu un-ternehmensübergreifenden Innovationsregimen und -netzwerken unterschiedlicheEntwicklungen festgestellt. Neben einem „specialized and standardized system ofcoordination“ zeigt sich auch eine „fragmented and fluid order of interactive net-working“ (vgl. Rammert 2006). Für Letzteres charakteristisch ist eine hohe Bedeu-tung von informellen Prozessen und implizitem Wissen (tacit knowing).

Solche Entwicklungen in der Organisation und im Management von Innovationberuhen auf der Erkenntnis, dass Ungewissheit ein strukturelles Merkmal von In-novation ist. Sie verweisen somit auf die Gefahr, dass durch das Bestreben einerweitestmöglichen Planung und Herstellung von Planbarkeit Innovationen nicht ge-fördert, sondern be- und verhindert werden. Um Innovation zu fördern, ist es dahernotwendig, Ungewissheit und Grenzen der Planung bei Innovation anzuerkennen.Sie sind nicht als ein Defizit zu sehen, das es zu beseitigen gilt, sondern als ein Po-

8 F. Böhle und M. Bürgermeister

tenzial zur Förderung von Innovation. Dies bedeutet nicht, sich nun wieder primärauf das Wer von Innovation zu konzentrieren und das Wie aus der Zuständigkeit desManagements auszugrenzen. Notwendig ist vielmehr ein „anderes“ Management,das auf der Grundlage von Ungewissheit Innovation fördert. In diesem Buch wirdein solches Management von Innovation vorgestellt. Es beruht auf Erkenntnissenaus dem Forschungs- und Entwicklungsprojekt KES-MI (vgl. Kap. 2).

Literatur

Ahsen A von, Heesen M, Kuchenbuch A (2010) Grundlagen der Bewertung von Innovationenim Mittelstand. In: Ahsen, A von (Hrsg) Bewertung von Innovationen im Mittelstand. Springer,Berlin u. a., S 1–38

Amabile TA, Gryskiewicz ND (1989) The Creative Environment Scales. Work Environment In-ventory. In: Creativity Research Journal, Jg 2, H 4, S 231–253

Böhle F (2011) Management der Ungewissheit. Ein blinder Fleck bei der Förderung vonInnovationen. In: Jeschke S, Isenhardt I, Hees F, Trantow S (Hrsg) Enabling Innovation. Inno-vationsfähigkeit – deutsche und internationale Perspektiven. Springer, Berlin u. a., S 17–30

Brockhoff K (1999) Forschung und Entwicklung. Planung und Kontrolle, 5. Aufl. Oldenbourg,München u. a.

Bürgermeister M (2008) Change und Planung. Zu einem Balanced Change Management. Hampp,München u. a.

Bürgermeister M, Schambach C (2005) Beim Entwickeln kooperieren. Optimierung unterneh-mensübergreifender Fahrzeugentwicklung. Hampp, München u. a.

Burns T, Stalker GM (1994) Management of Innovation, 3. Aufl. Oxford University Press, Oxfordu. a.

Chesbrough, HW (2003) Open Innovation. The New Imperative for Creating and Profiting fromTechnology. Harvard Business School Press, Boston

Cooper RG, Edgett SJ (2008) Maximizing Productivity in Product Innovation. In: Research Tech-nology Management, Jg 51, H 2, S 47–58

Cooper RG, Edgett SJ, Kleinschmidt EJ (2002) Optimizing the Stage-Gate-Process. What Best-Practice Companies Do (I). In: Research Technology Management, Jg 45, H 5, S 21–27

Cooper RG, Edgett, SJ, Kleinschmidt, EJ (2002a) Optimizing the Stage-Gate-Process. What Best-Practice Companies Do (II). In: Research Technology Management, Jg 45, H 6, S 43–49

Coopey J, Keegan O, Emler N (1998) Managers’ Innovations and the Structuration of Organizati-ons. In: Journal of Management Studies, Jg 35, H 3, S 263–284

Duin P van der, Hartigh E den (2007) Managing the Future. In: Duin P van der (Hrsg): KnowingTomorrow? How Science Deals with the Future. Eburon Academic Publishers, Delft, S 149–165

Erdmann G (1993) Elemente einer evolutorischen Innovationstheorie. Mohr, Tübingen

Graham MBM (1985) Industrial Research in the Age of Big Science. In: Rosenbloom RS (Hrsg)Research on Technological Innovation. Management and Policy, Bd 2. JAI Press, Greenwich CT,S 47–79

Hage I (1999) Organizational Innovation and Organizational Change. In: Annual Review of So-ciology, Jg 25, S 597–622

1 Management von Innovation – Ungewissheit und neue Herausforderungen 9

Hage I (2000) Die Innovation von Organisationen und die Organisation von Innovationen. In:Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Jg 11, H 1, S 67–86

Hauschildt J, Salomo S (2007): Innovationsmanagement, 4. Aufl. Vahlen, München

Heesen M (2009) Innovationsportfoliomanagement. Bewertung von Innovationsprojekten in klei-nen und mittelgroßen Unternehmen der Automobilzulieferindustrie. Gabler, Wiesbaden

Howaldt J, Jacobsen H (Hrsg) (2010) Soziale Innovation. Auf dem Weg zu einem postindustriellenInnovationsparadigma. VS – Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden

Joas H, Knöbl W (2004) Sozialtheorie. Zwanzig einführende Vorlesungen. Suhrkamp, Frank-furt/Main

Kädtler J (2009) Innovation, Innovationsarbeit und Mitbestimmung. In: Kistler E, Mußmann F(Hrsg) Arbeitsgestaltung als Zukunftsaufgabe. VSA, Hamburg, S 248–267

Kanter RM (2006) Innovation. The classic traps. In: Harvard Business Review, Jg 84, H 11, S 72–83

Kocyba H (2000) Jenseits von Taylor und Schumpeter. Innovation und Arbeit in der „Wissensge-sellschaft“. In: Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung (ISF) (Hrsg) Jahrbuch sozialwissen-schaftliche Technikberichterstattung. Schwerpunkt Innovation und Arbeit. Edition sigma, Berlin,S 25–58

Lazonick W (2005) The Innovative Firm. In: Fagerberg J, Mowery DC, Nelson RR (Hrsg) TheOxford Handbook of Innovation. Oxford University Press, Oxford, S 29–55

Madauss BJ (2000) Handbuch Projektmanagement. Mit Handlungsanleitungen für Industriebetrie-be, Unternehmensberater und Behörden, 6. Aufl. Schäffer-Poeschel, Stuttgart

Marx K, Engels F (1972) Das kommunistische Manifest, 2. Aufl. Dietz, Berlin

Mistri M (2008) Innovative processes and procedural rationality. Innovation as outcomes of asequence of strategic actions. In: Human Systems Management, Jg 27, H 4, S 295–304

Mittelstraß J (2008) Kreativität ohne Fesseln. Über das Neue in Wissenschaft und Kultur. UVKVerlagsgesellschaft, Konstanz

Moldaschl M (2007) Innovationsarbeit. In: Ludwig J, Moldaschl M, Schmauder M, Schmierl K(Hrsg) Arbeitsforschung und Innovationsfähigkeit in Deutschland. Hampp, München u. a., S 135–146

Nippa M (2007) Zur Komplexität der Innovationsorganisation. In: Engel K, Nippa M (Hrsg) Inno-vationsmanagement: Von der Idee zum erfolgreichen Produkt. Physica, Heidelberg, S 15–33

Ortmann G (2009) Management in der Hypermoderne. Kontingenz und Entscheidung. VS – Verlagfür Sozialwissenschaften, Wiesbaden

Pavitt K (2005) Innovation Process. In: Fagerberg J, Mowery DC, Nelson RR (Hrsg) The OxfordHandbook of Innovation. Oxford University Press, Oxford, S 86–114

Peters S (2011) Neue Formen von Projektorganisation und Projektmanagement. Dynamisch undoffen. In: Jeschke S, Isenhardt I, Hees F, Trantow S (Hrsg): Enabling Innovation. Innovationsfä-higkeit – deutsche und internationale Perspektiven. Springer, Berlin u. a., S 53–65

Perridon L, Steiner M (1999) Finanzwirtschaft der Unternehmung, 10. Aufl. Vahlen, München

Pfeiffer S, Schütt P, Wühr D (2012) Smarte Innovation. Ergebnisse und neue Ansätze im Anlagen-und Maschinenbau. VS – Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden

Rammert W (2008) Technik und Innovation. In: Maurer A (Hrsg) Handbuch der Wirtschaftssozio-logie. VS – Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, S 219–319

Rammert W (2006) Two Styles of Knowing and Knowledge Regimes. Between „Explication“ andExploration under Conditions of „Functional Specialization“ or „Fragmental Distribution“. In:

10 F. Böhle und M. Bürgermeister

Hage I, Meens M (Hrsg) Innovation, Science and Institutional Change. Oxford University Press,Oxford, S 256–284

Rammert W (1983) Soziale Dynamik der technischen Entwicklung. Theoretisch-analytische Über-legungen zu einer Soziologie der Technik am Beispiel der „science based industry“. WestdeutscherVerlag, Opladen

Shapin S (2008) The Scientific Life. A Moral History of a Late Modern Vocation. University ofChicago Press, Chicago

Schuler H, Görlich Y (2007) Kreativität. Ursachen, Messung, Förderung und Umsetzung in Inno-vation. Hogrefe, Göttingen

Schumpeter JA (1934) The Theory of Economic Development. Harvard University Press, Cam-bridge

Siebel W, Ibert O, Mayer HN (2001) Staatliche Organisation von Innovation: Die Planung desUnplanbaren unter widrigen Umständen durch einen unbegabten Akteur. In: Leviathan, Jg 29,H 4, S 526–543

Sombart W (1919) Die deutsche Volkswirtschaft im neunzehnten Jahrhundert und im Anfang des20. Jahrhunderts. Bondi, Berlin

Trott P (2008) Innovation Management. An Introduction. In: Trott P (Hrsg) Innovation Manage-ment and New Product Development, 4. Aufl. Pearson Education, Essex, S 2–41

Vahs D, Burmester R (2005) Innovationsmanagement. Von der Produktidee zur erfolgreichen Ver-marktung, 3. Aufl. Schäffer-Poeschel, Stuttgart

Wegner G (1995) Innovation, Komplexität und Erfolg. Zu einer ökonomischen Handlungstheo-rie des Neuen. In: Seifert EK, Priddat BP (Hrsg) Neuorientierung in der ökonomischen Theorie.Zur moralischen, institutionellen und evolutorischen Dimension des Wirtschaftens. Metropolis,Marburg, S 181–204

Weber M (1956) Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Mohr, Tü-bingen

Wehling P (1992) Die Moderne als Sozialmythos. Zur Kritik sozialwissenschaftlicher Moderni-sierungstheorien. Campus, Frankfurt/Main u. a.

Whitehead AN (1926) Science and the Modern World. Macmillan, New York

Wolf H (2011) Jenseits von Planung und Kontrolle. Alternative Ansätze des Managements indus-trieller Forschung und Entwicklung. In: Jeschke S, Isenhardt I, Hees F, Trantow S (Hrsg) EnablingInnovation. Innovationsfähigkeit – deutsche und internationale Perspektiven. Springer, Berlin u. a.,S 35–46

Wühr D, Pfeiffer S, Schütt P (2011) Smarte Innovation. Analysen und Strategien zur Inno-vationspraxis. In: Schallock B, Jacobsen H (Hrsg) Innovationsstrategien jenseits traditionellenManagements. Wissenschaftliche und praktische Ergebnisse des Förderschwerpunktes. Fraunho-fer, Stuttgart, S 152–162

Kapitel 2Das Projekt KES-MI

Fritz Böhle, Markus Bürgermeister und Stephanie Porschen

KES-MI steht für „Künstlerisch, erfahrungsgeleitet, spielerisch – Management desInformellen zur Förderung innovativer Arbeit“. Das Projekt KES-MI ging der Fra-ge nach, in welcher Weise es möglich ist, Ungewissheiten und Unbestimmtheitenvon Innovationen beim Management von Innovationen nicht nur zuzulassen, son-dern sie gezielt als Potenzial zur Förderung der Innovationsfähigkeit von Unterneh-men zu nutzen. Hierzu sollten nicht nur theoretische und empirische Forschungendurchgeführt, sondern auch in der Praxis geeignete Modelle des Managements vonInnovationen entwickelt und erprobt werden.1

Das Projekt KES-MI richtet den Blick speziell auf die Arbeit bei Innovation unddie Rolle informeller Prozesse beim Management von Innovationen. Beides wirdin den vorherrschenden Konzepten des Innovationsmanagements kaum beachtet, eshandelt sich um weitgehend blinde Flecken. Hierin liegen jedoch wesentliche undbisher kaum genutzte Potenziale für die Förderung von Innovationen in Unterneh-men. In diesem Kapitel wird zunächst kurz der konzeptuelle Rahmen des ProjektsKES-MI näher erläutert; daran anschließend folgt ein Überblick über die in dennachfolgenden Kapiteln dargestellten Ergebnisse.

1 Siehe zu den am Projekt KES-MI beteiligten wissenschaftlichen Einrichtungen und Unternehmenden Hinweis im Vorwort.

Fritz Böhle (B)Sozioökonomie der Arbeits- und Berufswelt, Philosophisch-Sozialwissenschaftliche Fakultät,Universität Augsburg, Eichleitnerstraße 30, 86159 Augsburg, [email protected]

Markus Bürgermeister (B)Sozioökonomie der Arbeits- und Berufswelt, Philosophisch-Sozialwissenschaftliche Fakultät,Universität Augsburg, Eichleitnerstraße 30, 86159 Augsburg, [email protected]

Stephanie Porschen (B)ISF München, Jakob-Klar-Straße 9, 80796 München, [email protected]

11F. Böhle et al. (Hrsg.), Innovation durch Management des Informellen,DOI 10.1007/978-3-642-24341-7_2,© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012

12 F. Böhle et al.

2.1 Konzeptuelle Grundlagen

Breites Innovationsverständnis:

Dem Projekt KES-MI liegt ein breites Verständnis von Innovationen zugrunde.Es bezieht sich auf unterschiedliche Gegenstandsbereiche. Daraus folgt, dass Pro-duktinnovationen, Prozessinnovationen sowie organisatorische und soziale Inno-vationen in sämtlichen Bereichen von Unternehmen stattfinden können und zurEntwicklung von Unternehmen notwendig sind (vgl. Kap. 4). Des Weiteren erfol-gen Innovationen sowohl unternehmensintern als auch unternehmensübergreifendin Kooperation mit externen Dienstleistungs- und Forschungsinstitutionen, anderenUnternehmen sowie Kunden (vgl. Kap. 5). Und schließlich werden Innovationennicht nur in bestimmten Abteilungen, wie der Forschung und Entwicklung, odervon bestimmten Berufsgruppen, wie Ingenieuren, hervorgebracht, sondern – imPrinzip – in sämtlichen Unternehmensbereichen und von sämtlichen Mitarbeitern(vgl. Kap. 3 und 7). Insbesondere in Klein- und Mittelbetrieben ist es notwendig,die Innovationsfähigkeit sämtlicher Mitarbeiter zu nutzen und zu fördern, da hierbesondere Innovationszentren kaum vorhanden und möglich sind (vgl. Tintelnot1999; Ridolfo 2005).

Innovationsarbeit:

Bei der Frage, welchen Einfluss der menschliche Faktor auf Innovationen hat, rich-tet sich die Aufmerksamkeit zumeist auf die für Innovation und Kreativität förderli-chen Persönlichkeitsmerkmale. Das konkrete Handeln der Mitarbeiter, die Innovati-on hervorbringen, wird dabei jedoch kaum beachtet oder pauschal und oberflächlichbetrachtet (vgl. Kap. 3). Zumeist wird die Tätigkeit von naturwissenschaftlich-technischen Fachkräften in der Forschung und Entwicklung als typisch für Innova-tionsarbeit angesehen. Diese Arbeit wird traditionell als „geistige“ Arbeit und in derneueren Entwicklung als „Wissensarbeit“ bezeichnet. Im Unterschied zu Theoriender Wissensgesellschaft, die eine Ersetzung von Arbeit durch Wissen behaupten(z. B. Willke 1998, S. 161; Miegel 2001, S. 209), verweist der Begriff Wissens-arbeit zumindest darauf, dass Wissen generiert sowie praktisch angewandt werdenmuss und hierzu Arbeit erforderlich ist. Zugleich verbindet sich jedoch mit dem Be-griff der Wissensarbeit die Vorstellung, dass sich die Arbeit ausschließlich auf denUmgang mit abstrakten Symbolen und immateriellen Gegebenheiten richtet (vgl.Reich 2000).

Bei Innovationen in Unternehmen spielt jedoch sowohl bei technischen als auchbei organisatorischen Entwicklungen gerade auch der Umgang mit materiellen Ge-gebenheiten eine wichtige Rolle. Vor allem bei Innovationsarbeit außerhalb ab-gegrenzter Forschungs- und Entwicklungsabteilungen ist dies der Fall. Mit demBegriff „geistige“ Arbeit oder „Wissensarbeit“ wird des Weiteren die Vorstellungverbunden, dass wissenschaftlich begründetes Wissen angewandt und planmäßig-rational gehandelt wird oder dies zumindest vorherrscht und weitestmöglich er-

2 Das Projekt KES-MI 13

reicht werden sollte. Grundlegende Merkmale der Arbeit bei Innovationen werdenhierdurch jedoch ausgeblendet. Ebenso wie Innovation insgesamt ist auch die Inno-vationsarbeit durch hohe Ungewissheit und Unbestimmtheit gekennzeichnet. Diesbetrifft Ziele und Ergebnisse ebenso wie die Wege ihrer Erreichung. Um Innovati-onsarbeit zu erfassen, sind Handlungskonzepte notwendig, die zeigen, in welcherWeise es möglich ist, Ziele zu erreichen, ohne dass sie und die Wege ex anteentschieden und festgelegt sind. Im Projekt KES-MI wurden hierzu drei Hand-lungskonzepte, die sich in besonderer Weise auf den Umgang mit Ungewissheitenund Unbestimmtheiten richten, aufgegriffen und unter Bezug auf Innovationsar-beit miteinander verbunden und spezifiziert: das Konzept des künstlerischen, deserfahrungsgeleitet-subjektivierenden und des spielerischen Handelns (vgl. Kap. 3sowie 5, 6 und 7).

Innovationsprozess:

Richtet man den Blick auf Innovationsarbeit, so stellt sich nicht nur die Frage, wiegearbeitet wird, sondern auch, was der Inhalt von Innovationsarbeit konkret ist.Systematisch bestimmen lässt sich dies unter Bezug auf den Innovationsgegenstand(Produkt, Prozess, organisatorisch, sozial) sowie auf unterschiedliche Teilprozessevon Innovationen. Letzteres verweist darauf, dass der Inhalt von Innovationsarbeitdavon abhängt, an welcher Stelle sie im Innovationsprozess stattfindet und welcheAnforderungen hier konkret bestehen. Die als typisch für Innovationsarbeit angese-hene Forschungs- und Entwicklungsarbeit von Ingenieuren bezieht sich auf einenwichtigen, jedoch begrenzten Teilprozess im Innovationsprozess insgesamt. Unter-belichtet bleibt so eine systematische Bestimmung des Innovationsursprungs undStarts von Innovationsprojekten. Weitgehend ausgegrenzt wird dabei aber vor al-lem die praktische Realisierung der Ergebnisse von Forschung und Entwicklung inder Produktion sowie bei der Markteinführung oder der Durchsetzung im Unter-nehmen. Eng definiert bezieht sich der Innovationsbegriff indessen genau auf dieVerwertung der Erfindung (vgl. Brockhoff 1999, S. 35 ff.).

Insgesamt ist daher ein breites Innovationsverständnis (vgl. Brockhoff 1999,S. 38 ff.) erforderlich, um zu erfassen, was der Inhalt von Innovationsarbeit konkretist (vgl. Kap. 4). Klassische Konzepte zur Systematisierung des Innovationsprozes-ses erweisen sich vor diesem Hintergrund als unzulänglich. Sie grenzen wesentlicheBestandteile des Innovationsprozesses aus oder erfassen ihn undifferenziert. Zudemsind sie unter Bezug auf die Ungewissheit und Unbestimmtheit von Innovationen zulinear und zu starr (vgl. Trott 2008; van der Duin u. den Hartigh 2007). Im ProjektKES-MI wurde demgegenüber ein erweitertes Konzept des Innovationsprozessesentwickelt, das sich in besonderer Weise auf die Ungewissheit und Unbestimmtheitvon Innovationen bezieht und die Rolle von Innovationsarbeit in unterschiedlichenTeilprozessen systematisch verortet (vgl. Kap. 4).

14 F. Böhle et al.

Management des Informellen:

In der Innovationsforschung und zunehmend auch in der Praxis besteht weitge-hend Einigkeit darüber, dass hierarchische Strukturen und bürokratische Regelninnovationshemmend sind. Dezentralisierung und Selbststeuerung durch die Mit-arbeiter sind inzwischen als wichtige Voraussetzungen zur Ermöglichung und Un-terstützung der Arbeit bei Innovationen anerkannt (vgl. Gärtner u. Lederle 2006).In der Vergangenheit haben sich solche Arbeitsformen in der Praxis vielfach inForschungs- und Entwicklungsabteilungen jenseits der tayloristischen Rationalisie-rung von Arbeit in anderen Unternehmensbereichen entwickelt (vgl. Kap. 1); inder neueren Entwicklung erhalten diese Arbeitsformen speziell durch die Propa-gierung und Realisierung post-tayloristischer Arbeitsorganisation eine besondereUnterstützung und weitere Verbreitung. Damit verbindet sich vor allem auch eineEntbürokratisierung von Entscheidungswegen und Stärkung der Selbstverantwor-tung (Kotthoff 1997; Kotthoff u. Wagner 2008).

Dezentralisierung, Selbstverantwortung und Selbststeuerung sind notwendige,aber keineswegs hinreichende Voraussetzungen für Innovationsarbeit. Wie sich inder Praxis zeigt, werden in Unternehmen verstärkt neue Kontroll- und Steuerungs-instrumente eingesetzt, die darauf abzielen, selbstverantwortliches Handeln weitest-möglich transparent und „von außen“ nachvollziehbar und überprüfbar zu machen.Sie reichen von der Pflicht zur Dokumentation und der Orientierung an Kennzah-len, Zielvereinbarungen und formellen Verfahren im Qualitätsmanagement bis hinzu Abstimmung und Koordination in formell geregelten Gremien und Meetings(vgl. Böhle et al. 2011; Bolte et al. 2008).

Auch die Prinzipien und Instrumente des planungsorientierten Innovationsma-nagements (vgl. Abschn. 1.3) richten sich u. a. darauf, Transparenz und Kontrol-lierbarkeit von Innovationsarbeit zu gewährleisten. Speziell der Umgang mit Unge-wissheiten und Unbestimmtheiten im Innovationsprozess erfordert jedoch nicht nurSpielräume für selbstverantwortliches Handeln, sondern auch die Möglichkeit fürein informelles, situatives Handeln, das sich nicht durch formalisierbare Verfahrenbeschreiben und erfassen lässt. Des Weiteren ist neben explizitem wissenschaft-lich begründetem Wissen auch das Erfahrungswissen, das in der Praxis gewonnenwird und sich nur begrenzt explizieren lässt, eine unverzichtbare Wissensressour-ce (Rüdiger u. Vanini 1998; Brodbeck 1999; Mildenberger 2006). Das Informelleist dabei nicht nur eine „Abweichung“ von formalisierbaren Verfahren, es ist nichteinfach etwas, was nur „noch nicht“ formalisiert ist. Die hier maßgeblichen Arbeit-spraktiken und -prozesse weisen vielmehr eine eigenständige Struktur auf, die derFormalisierung nicht oder nur begrenzt zugänglich ist (vgl. Böhle u. Bolte 2002).Gleiches gilt auch für das Erfahrungswissen. Es ist zu großen Teilen ein implizitesWissen, das nicht in ein explizites Wissen transformiert werden kann.2 Dies schließt

2 Der Begriff des impliziten Wissens wurde in der neueren Entwicklung insbesondere im Wis-sensmanagement aufgegriffen. Hier wird jedoch davon ausgegangen, dass sich ein solches Wissenexplizieren lässt (z. B. Nonaka u. Takeuchi 1997). Demgegenüber zu Grenzen der Explizierbarkeitimpliziten Wissens und Erfahrungswissens Neuweg (1999) und Böhle (2009).

2 Das Projekt KES-MI 15

nicht aus, dass implizites Wissen kommuniziert werden kann. Es sind jedoch hier-für besondere Formen der Darstellung und des Austauschs erforderlich (Porschen2008). Und ebenso resultiert aus der Nicht-Formalisierbarkeit informeller Praktikenund Prozesse nicht, dass sie sich der Organisation und dem Management entziehen.Erforderlich sind jedoch Formen der Organisation und des Managements, die dasInformelle nicht in formalisierbare Verfahren und Abläufe transformieren, sondernes vielmehr ermöglichen und unterstützen. Ein Beispiel hierfür sind organisatori-sche Rahmenbedingungen und Gelegenheitsstrukturen, durch die eine informelleKooperation und Abstimmung der laufenden Arbeit unabhängig von formell ge-regelten Verfahren und Meetings ermöglicht wird (vgl. Bolte u. Porschen 2006).Das Konzept „Management des Informellen“ knüpft hieran an. Im Projekt KES-MI wurden hierzu drei Gestaltungsansätze für ein Innovationsmanagement auf derGrundlage des Managements des Informellen erforscht und entwickelt: die situativeProjektsteuerung, der kooperative Erfahrungstransfer in agilen Entwicklungspro-zessen und die Entscheidung in der laufenden Arbeit (vgl. Kap. 5, 6 und 7).

Entwicklung von Kompetenzen für Innovationsarbeit:

Mit dem Verständnis von Innovationsarbeit als „geistige Arbeit“ und „Wissensar-beit“ verbindet sich auch die Vorstellung, dass hierfür eine schulische und speziellakademische Bildung notwendig ist. Hierdurch allein werden jedoch grundlegen-de Kompetenzen, die für Innovationsarbeit notwendig sind, weder vermittelt nochkönnen sie auf diesem Wege erworben werden. Speziell die künstlerischen, er-fahrungsgeleiteten und spielerischen Elemente der Innovationsarbeit erfordern einLernen im und durch praktisches Tun (vgl. Kap. 8). Es ist daher notwendig, im Inno-vationsprozess selbst zu lernen und entsprechende Lernmöglichkeiten zu haben. Einsolches Lernen beruht wesentlich auf einem selbst gesteuerten informellen Lernen.Jedoch wäre es (auch) hier ein Irrtum, dies als einen Gegensatz zu einer besonderenOrganisation und Unterstützung des Lernens zu sehen. Es ist vielmehr notwen-dig, selbst gesteuertes informelles Lernen im Arbeitsprozess gezielt zu unterstützenund entsprechende Lernarrangements und lernförderliche Arbeitsbedingungen und-umgebungen zu schaffen (vgl. Bauer et al. 2004). Anknüpfend an bereits entwi-ckelte und erprobte Konzepte zur Unterstützung informellen Lernens wurden imProjekt KES-MI Prinzipien praxisbezogener lernförderlicher Arbeitsgestaltung und-umgebung speziell für Innovationsarbeit entwickelt (Kap. 8).

Controlling:

Im Rahmen des Innovationsmanagements erlangt das Controlling eine zunehmendeBedeutung. Klassische Prinzipien des Controlling legen nahe, zunächst planba-re Aktivitäten und relativ exakt messbare Innovationseffekte zu betrachten (vgl.Bürgermeister u. Habler 2010; Holtrup u. Littkemann 2005). Zweifellos könnenhieraus wichtige Informationen gewonnen werden, häufig mit fundamentalem Cha-rakter. Für ein verlässliches Innovationscontrolling und zielgerichtetes Innovati-

16 F. Böhle et al.

onsmanagement ist es daher unstrittig, sich an planbaren Aktivitäten und relativexakt messbaren Innovationseffekten zu orientieren. Ist dies jedoch alleiniger Ori-entierungspunkt, besteht die Gefahr, dass der Erfolg und die Erfolgsursache vonInnovation realitätsfern bewertet werden (vgl. Bürgermeister u. Habler 2010).

Auf diese Weise wird speziell durch das Controlling ein planungsorientiertesInnovationsmanagement begünstigt. So liegt auch der Schluss nahe, dass die Ori-entierung an höchstmöglicher Planung und Reduzierung von Ungewissheit einenotwendige Voraussetzung ist, um Innovationsprozesse nicht nur steuern, sondernauch ökonomisch bewerten und kontrollieren zu können. Dies ist jedoch ein Irrtum,ähnlich wie die Annahme, dass die Berücksichtigung und Akzeptanz informel-ler Prozesse grundsätzlich im Gegensatz zur Organisation und dem Managementvon Improvisationsprozessen steht. Im Projekt KES-MI wurde dementsprechendein Controllingkonzept entwickelt, das sich auf Grenzen der Planung richtet unddie Evaluierung relativ exakt messbarer Innovationseffekte systematisch um struk-turell schwieriger zu erfassende Innovationsmerkmale ergänzt. Daneben zielt dasentwickelte Controllingkonzept auch auf eine Stärkung der Verlässlichkeit in derBewertung planbarer Aktivitäten und relativ exakt messbarer Innovationseffekte(Kap. 9).

Abbildung 2.1 zeigt den konzeptuellen Rahmen des Projektes KES-MI im Über-blick:

Abb. 2.1 Konzeptueller Rahmen des Projekt KES-MI im Überblick

2 Das Projekt KES-MI 17

2.2 Das Untersuchungsfeld

Im Projekt KES-MI erfolgten die empirischen Untersuchungen zu Innovationsarbeitund Innovationsprozessen sowie die Entwicklung und Erprobung eines Manage-ments des Informellen schwergewichtig in den am Forschungsverbund beteiligtenUnternehmen. Dabei wurden unterschiedliche Teilprozesse und Unternehmensbe-reiche, unterschiedliche Gegenstandsbereiche und unterschiedliche Beschäftigten-gruppen bei Innovationen sowie unternehmensinterne und unternehmensübergrei-fende Innovationsprozesse einbezogen.

Teilprozesse und Unternehmensbereiche: Unter Bezug auf unterschiedliche Teil-prozesse im Innovationsprozess (vgl. Kap. 4) wurden einbezogen: Forschung, Ent-wicklung, Produktion und Einbringung in den Markt (Kap. 5), Entwicklung, Pro-duktion und Einbringung in den Markt (Kap. 6) und die Produktion (Kap. 7). Unge-wissheit und Grenzen der Planung werden in der bisherigen Diskussion zumeist aufdie Phase der Entstehung von Innovationen, die Invention, beschränkt. Im ProjektKES-MI werden demgegenüber Ungewissheit und Grenzen der Planung speziell inden nachfolgenden Teilprozessen der Innovation in den Blick gerückt.

Beschäftigtengruppen: In zwei Unternehmen ist die Innovationsarbeit eine Kern-aufgabe der Tätigkeit der Beschäftigten. Dies ist bei Ingenieuren, Technikern undPhysikern (Kap. 5) sowie Ingenieuren, Technikern, Informatikern und Physikern(Kap. 5 und 6) der Fall. In einem Unternehmen ist die untersuchte und gestalteteInnovationsarbeit eine zusätzliche Arbeit, die in der Praxis auftritt, aber bei der ex-pliziten und offiziellen Definition der Arbeitsaufgabe kaum auftaucht. Dies gilt dortvor allem bei Mitarbeitern in der Produktion (Kap. 7).

Gegenstandsbereiche: Die Innovationsprozesse in den Unternehmen richten sichschwergewichtig auf technische Produktinnovation (Kap. 5), technische und or-ganisatorische Prozessinnovation (Kap. 6) und organisatorische Prozessinnovation(Kap. 7).

Rolle von Kunden: In einem Unternehmen liegt der Schwerpunkt auf innerbe-trieblichen Innovationsprozessen. Aus dem teils engen Kontakt zu Kunden überden Vertrieb ergeben sich jedoch wichtige Impulse für Innovationen (vgl. Kap. 7).In den beiden anderen Betrieben besteht ein enger Kontakt zu Kunden im Innova-tionsprozess. In dem einen Fall kommt der Anstoß für die Innovation durch eineNachfrage des Kunden, der im Weiteren auch in den Innovationsprozess eingebun-den wird. Zudem bestehen Kontakte zu technischen Instituten etc. (vgl. Kap. 5).In dem anderen Fall finden die Innovationen unmittelbar beim Kunden statt (vgl.Kap. 6).

18 F. Böhle et al.

2.3 Überblick über die Ergebnisse

In den folgenden Kapiteln werden die Ergebnisse des Projekts KES-MI dargestellt.Ergänzend zu den Hinweisen in den vorangegangenen Ausführungen hierzu einkurzer Überblick:

Kapitel 3 befasst sich mit Innovationsarbeit und stellt ein allgemeines Modell desArbeitshandelns bei Innovationsarbeit vor. Fritz Böhle, Karin Orle und Jost Wagnerzeigen, dass sich Innovationsarbeit von sonstiger Arbeit, bei der die Anwendungbekannter Verfahren und die Realisierung bekannter Ziele im Vordergrund stehen,unterscheidet. Gegenüber dem Modell planmäßig-rationalen Handelns bestehen beiInnovationsarbeit maßgebliche Unterschiede in der notwendigen subjektiven Hal-tung, mit der gehandelt wird, der Handlungsweise und der Definition der Situation,in der gehandelt wird.

Innovationsarbeit erfordert eine künstlerische Haltung, die sich durch Offenheitauszeichnet. Dies beinhaltet die Bereitschaft, sich auf einen offenen Prozess einzu-lassen, ohne genau zu wissen, wohin dieser Prozess führt und was sein Ergebnissein wird. Dies (erst) eröffnet die Möglichkeit dafür, dass sich im Prozess des prak-tischen Tuns Inspirationen für neue Lösungen zeigen und diese wahrgenommen undgenutzt werden können. Damit verbunden ist auch die Bereitschaft und Fähigkeit,Krisen bis hin zum Scheitern hinzunehmen und auszuhalten. Und schließlich be-ruht die künstlerische Haltung auf einer inneren Verbindung des Handelnden mitdem Inhalt und Gegenstand des Handelns. Das, was getan wird, ist immer auch per-sönliches Anliegen und persönlicher Ausdruck. Es genügt somit nicht, nur einemäußeren Anlass oder Auftrag zu folgen.

Die Handlungsweise und damit die Frage, wie eine Aufgabe oder ein Problemangegangen und gelöst werden, folgt nicht dem Prinzip: erst entscheiden/planenund dann praktisch handeln. Innovationsarbeit erfordert vielmehr ein explorativesund entdeckendes Vorgehen, bei dem Ziele und Wege erst im und durch praktischesHandeln eruiert und festgelegt werden. Damit wird nicht einseitig auf die Umwelteingewirkt, sondern eher im Dialog und in der Interaktion mit den „Dingen“ er-kundet, welche Anforderungen bestehen und wie sie bewältigt werden können.Notwendig hierfür ist eine sinnliche Wahrnehmung, die sich nicht nur auf ein-deutig und exakt erfassbare Informationen richtet, sondern auch vielschichtige unddiffuse Eigenschaften und Verhaltensweisen konkreter Gegebenheiten wahrnimmtund als wichtige Informationsquellen nutzt. Charakteristisch hierfür ist ein Gespürfür noch unbekannte und nicht realisierte, aber praktisch mögliche Ergebnisse undWege. Neben analytischem Denken und logischen Schlussfolgerungen spielen beieinem explorativ-entdeckenden Vorgehen Imaginationen und Assoziationen zur Er-reichung eines angestrebten Ergebnisses eine wichtige Rolle.

Obwohl Innovationsarbeit im Normalfall im Kontext von Erwerbsarbeit statt-findet, ist es bei ihr notwendig, die sich daraus ergebenden ökonomischen undzweckorientierten Anforderungen und Zwänge situativ auszublenden. Die Orien-tierung am Spiel ist hierfür eine hilfreiche soziale Rahmung. Sie macht es möglich,

2 Das Projekt KES-MI 19

einen Zweck zu erreichen, ohne dass er im konkreten Handeln bewusst ist undangestrebt wird. Des Weiteren ermöglicht die Wahrnehmung und Definition derArbeitssituation bei Innovationsarbeit als Spiel die Möglichkeit eines hohen subjek-tiven Involvements (flow) und ein Sich-Einlassen auf mögliche Risiken bis hin zumScheitern. Und schließlich wirken, entsprechend den Regeln beim Spiel, bereits be-kannte Verfahren und Kenntnisse nicht als Beschränkung und Zwang, sondern alsGrundlage für ein offenes und selbst bestimmtes Handeln.

Das in Kap. 3 entwickelte allgemeine Modell wird in den nachfolgenden Kapi-teln unter Bezug auf unterschiedliche Formen und Gegenstandsbereiche von Inno-vationsarbeit empirisch konkretisiert.

Das Konzept eines flexiblen, offenen und non-linearen Innovationsprozessesist Gegenstand von Kap. 4. Markus Bürgermeister stellt hierzu den KES-MI-Innovationsprozess vor, basierend auf Ungewissheit als konstitutivem Merkmal vonInnovation und unter besonderer Berücksichtigung künstlerischer, erfahrungsgelei-teter und spielerischer Innovationsarbeit. Die Flexibilität des Innovationsprozesseszeigt sich dabei in zweierlei Hinsicht: in der Flexibilität zwischen den einzelnenElementen und in der Flexibilität innerhalb der Elemente. Planung und Berech-nung werden hierbei nicht aufgegeben, weil sie für Innovation zweifellos wichtigsind. Standardisierte Abläufe werden so bewusst genutzt und nicht per se ne-giert, dürfen aber insgesamt die Entfaltung künstlerischer, erfahrungsgeleiteterund spielerischer Innovationsarbeit nicht behindern. Aufbauend auf den Arbeitenvon Brockhoff (1999) und Moritz (2008) besteht der KES-MI-Innovationsprozessaus den folgenden Elementen: Impuls, Ideenpool, Auswahl und Initiierung, For-schung, Entwicklung, Produktion, Einbringung in den Markt/das Unternehmensowie Durchsetzung im Markt/Unternehmen. Mit Bezug auf das Ungeplante sinddiese Elemente nicht starr in einem sequenziellen Ablaufschema verortet, son-dern flexibel kombinierbar, was in Kap. 4 an mehren Beispielen veranschaulichtwird. Ebenfalls veranschaulicht wird im Anschluss die Flexibilität des KES-MI-Innovationsprozesses innerhalb der einzelnen Elemente, womit künstlerische,erfahrungsgeleitete und spielerische Innovationsarbeit systematisch in einzelnenAnwendungsfeldern betrachtet wird.

In Kap. 5 beschäftigt sich Eckhard Heidling mit Innovationsarbeit in vernetztenStrukturen am Beispiel eines innovativen Unternehmens der Mess- und Regeltech-nik. In dem Beitrag wird zunächst die aktuelle Diskussion um unternehmensüber-greifende Projektstrukturen skizziert. Anschließend richtet Eckhard Heidling denBlick auf die für Innovationsprozesse typische Projektarbeit und legt das Augen-merk auf die tatsächliche Realisierung in geeigneten Strukturen. Für das Unter-nehmen zeigt er die Facetten künstlerischer, erfahrungsgeleiteter und spielerischerInnovationsarbeit bei anspruchsvollen Forschungs- und Entwicklungsaufgaben, diein Kooperation mit der Großindustrie sowie Forschungsinstitutionen des regiona-len Umfeldes realisiert werden. Für die Arbeitsprozesse kennzeichnend sind einegroße Offenheit im Umgang mit unterschiedlichen theoretischen und praktischenLösungsansätzen, eine am Gegenstand ausgerichtete erfahrungsgeleitete Kommuni-kation sowie spielerische Elemente bei der Anlage der experimentellen Verfahren.

20 F. Böhle et al.

Gezeigt wird, wie sich diese Innovationsarbeit im Rahmen eines situativen Pro-jektmanagements „informell managen“ lässt. Ein wichtiges Moment des situativenProjektmanagements besteht darin, dass es Planungsdefizite nicht als Sonderfall,sondern als Normalfall betrachtet und produktiv nutzt. Herausgearbeitet werdenwichtige Bestandteile des situativen Projektmanagements in den Dimensionen derZielbestimmung, der zeitlichen Planung, der Art des Vorgehens und der Art derSteuerung.

Den Besonderheiten der Innovationsarbeit geht Stephanie Porschen in Kap. 6anhand agiler Softwareentwicklung für technische Anlagen, sog. „Embedded Sys-tems“ nach. Im Mittelpunkt steht der in den Innovationsprozessen in hohem Aus-maß notwendige Austausch sowohl expliziten als auch impliziten Wissens. Es giltdabei die Eigenheiten der Innovationsarbeit in Rechnung zu stellen: Sie zeigensich etwa in einem persönlichen Ausdruck, der sich in der Ästhetik eines Pro-gramms wiederfindet, oder Resilienz gegenüber Rückschlägen bei den unwägbarenEreignissen bzw. „Erfahrung machen lassen“ statt Belehrung. Hier gibt es zahl-reiche Anknüpfungspunkte für ein Management des Informellen. Es wird gezeigt,inwieweit Methoden der agilen (Software-)Entwicklung zur Förderung von Inno-vationsarbeit genutzt sowie erweitert werden können. Die Autorin erläutert dazuauch Hintergründe. Im Ganzen werden neue Ansätze für den arbeitsprozessnahenWissensaustausch aufgezeigt sowie Grundlagen für flexible Zieldefinitionen undPlanungsverfahren entwickelt, in die „spielerische“ Elemente einfließen. Das Kapi-tel widmet sich auch Ansprüchen an die Begleitung solcher Prozesse, sollen diesenachhaltig angestoßen werden. Es wird zudem aufgezeigt, wie das hier vorgestellteManagement des Informellen durch kooperativen Erfahrungstransfer in verschiede-ne Kontexte übertragen werden kann.

Innovationsarbeit und deren Gestaltung sind nicht nur ein Thema der Entwick-lungs- und Realisierungstätigkeit von Ingenieuren. Wie Judith Neumer in Kap. 7darlegt, ist die ausführende Produktion selbst Ort und Quell für Innovationen. Hiermüssen permanent Entscheidungen bezüglich der besten Wege zur tatsächlichenRealisierung getroffen und die Arbeitsplätze und -prozesse dementsprechend ge-staltet und angepasst werden. Dafür sind die Mitarbeiter vor Ort die Experten, diesich Veränderungen und Verbesserungen in der Regel nicht planend, sondern er-fahrungsgeleitet erschließen: indem sie beispielsweise Prototypen bauen und amGegenstand die Verbesserung erklären oder durch ihr Erfahrungswissen schnelleAbschätzungen zur Verwendbarkeit einfließen lassen. Die Produktion als Ort derInnovation ist aber auch mit einer künstlerischen Haltung verbunden, zu der maß-geblich ein Perspektivenwechsel gehört. Ob durch bereichsübergreifende Koopera-tion mit anderen Fertigungsbereichen oder durch Mitarbeiterbesuche aus Einkauf,Vertrieb oder technischem Büro – Details können hier im konkreten Umfeld ausverschiedenen Blickwinkeln betrachtet und erfahrbar gemacht werden. Das greifendie Mitarbeiter des in Kap. 7 vorgestellten Produktionsunternehmens ebenso aufwie die Möglichkeit, die hier entstehenden Ideen im geschützten Raum gemeinsam„zu jonglieren“. Wie Judith Neumer aufzeigt, bedarf es dazu der Gewährung vonSchutzräumen, ebenso wie Gelegenheitsstrukturen zum Ausprobieren und für infor-

2 Das Projekt KES-MI 21

melle Kooperation und Kommunikation zum Reifen von Ideen gebraucht werden.Dieses Management des Informellen geht mit der Anerkennung des Erfahrungs-wissens der Mitarbeiter und der besonderen Führungsaufgabe einher, Planung undPraxis zu versöhnen. Eine Vertrauenskultur jenseits von Lippenbekenntnissen wirdhier zur Grundlage der produkt- und prozessnahen Innovationen.

In Kap. 8 wird von Hans Bauer, Christiane Hemmer-Schanze, Claudia Munzund Jost Wagner die Erlernbarkeit des in den Fallstudien deutlich gewordenen In-novationshandelns beleuchtet. Die Autoren erörtern mit der Lernebene verbunde-ne komplexe Fragen des Erwerbs von Kompetenzen, damit verbundene Aspektemethodisch-didaktischer Art und lernförderliche Rahmenbedingungen. Ausgangs-punkt ist hierbei die Abkehr von einem rein kognitiv-wissensvermittelnden „Be-herrschungslernen“. Es findet aber auch kein einfacher Rückgriff auf den Kompe-tenzbegriff statt, der bekannte Umgangsweisen für eine zu postulierende Innovati-onskompetenz verspricht. In den Blick geraten vielmehr die besonderen Fähigkeitenhinter der künstlerisch-erfahrungsgeleitet-spielerischen Innovationsarbeit, die in in-novatorischen Handlungssituationen handlungsentscheidend sein können. Für siebedarf es eigener Formen des Erwerbs. Zum Curriculum müssen das nötige Durch-haltevermögen in schwierigen offenen Situationen oder ein produktiver Konfliktum-gang mit Störungen und Fehlern ebenso gehören wie ein Vertrauen in Lösungen, dieerst im Prozess erwachsen. Dies kann nur in der Praxis geschehen, die allerdings zugestalten und begleiten ist. Die Lernenden brauchen Möglichkeiten, in bewusst ge-stalteten Lernarrangements und Lernprozessen sowie geeigneten Handlungssitua-tionen die künstlerischen, erfahrungsgeleiteten und spielerischen Handlungsformenselbst aktiv zu vollziehen. Dazu werden Freiräume mit bestimmten technischen, or-ganisationalen und personalen Bedingungen notwendig. Näher vorgestellt werdenauch die Voraussetzungen, an die das individuelle Lernen zur Weiterentwicklungder Kompetenzen geknüpft ist. Alles in allem wird die Analogie zwischen dem nichtvollständig beherrschbaren innovativen Arbeitshandeln und dem kompetenzorien-tierten Lernen deutlich. Beides erfordert Mut zu Offenheit, Unsicherheit und Risiko.

Die Stärkung der Verlässlichkeit des Controlling von Innovation ist das Grundan-liegen des abschließenden Kapitels 9. Markus Bürgermeister stellt hierzu das Kon-zept eines Balanced Innovation Management Accounting vor, das im Projekt KES-MI entwickelt wurde. Das Konzept richtet sich auf eine verlässliche Evaluierungund Planung im Innovationsprozess. Gestärkt wird hierbei eine verlässliche Iden-tifikation und Bewertung von planbaren Aktivitäten und relativ exakt messbarenInnovationseffekten. Gleichermaßen Berücksichtigung finden aber auch „weiche“Innovationseffekte, künstlerische, erfahrungsgeleitete und spielerische Innovations-arbeit und eine informelle, flexible Organisation von Innovationsarbeit. Angesichtsvon Grenzen der Planbarkeit, die heute im Innovationsprozess immer mehr auf-treten, stimmen Planung und Ist-Zustand oftmals nicht mehr hinreichend überein.Sinnvoll erscheint es daher, Planung und Evaluierung als jeweils eigenständigeControllinginstrumente zu betrachten. Die Evaluierung und Planung sind im entwi-ckelten Controllingkonzept für sich an jeder Stelle des Innovationsprozesses denk-bar. Soweit sinnvoll und personell möglich, werden Controller von Messexperten,

22 F. Böhle et al.

Statistikern und faktisch mit den betreffenden Innovationen befassten Führungs-kräften, Mitarbeitern und auch externen Partnern bei der Evaluierung und Planungunterstützt (vgl. Littkemann 2005, S. 270 f.). Einen Rahmen für die Evaluierung unddie Planung bilden die Balanced Evaluating Innovation Scorecard und die BalancedPlanning Innovation Scorecard. Anknüpfend an das Konzept der Balanced Score-card (Kaplan u. Norton 1996, 2001) werden hierbei grundlegend die folgendenDimensionen der Scorecards vorgeschlagen: Innovationsgegenstand, Innovations-kunden, Innovationspotenzial sowie Innovationsfinanzen. Vertieft wird das Konzeptbeispielhaft in der Dimension Innovationsfinanzen, da mit Blick auf das externe undinterne Rechnungswesen oftmals der errechnete finanzielle Innovationserfolg vonbesonderem Interesse ist.

Literatur

Bauer HG, Brater M, Büchele U, Dahlem H, Maurus A, Munz C (2004) Lernen im Arbeitsalltag.Wie sich informelle Lernprozesse organisieren lassen. W. Bertelsmann, Bielefeld

Böhle F (2009) Erfahrungswissen. Wissen durch objektivierendes und subjektivierendes Handeln.In: Bolder A, Dobischat R (Hrsg) Eigen-Sinn und Widerstand. Kritische Beiträge zum Kompe-tenzentwicklungsdiskurs. VS – Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, S 70–88

Böhle F, Bolte A (2002) Die Entdeckung des Informellen. Der schwierige Umgang mit Koopera-tion im Arbeitsalltag. Campus, Frankfurt/Main u. a.

Böhle F, Pfeiffer S, Porschen S, Sevsay-Tegethoff N (2011) Herrschaft durch Objektivierung. ZumWandel von Herrschaft in Unternehmen. In: Bonß W, Lau C (Hrsg) Herrschaft durch Uneindeu-tigkeit. Velbrück Wissenschaft, Weilerwist, S 244–283

Bolte A, Porschen S (2006) Die Organisation des Informellen. Modelle zur Organisation von Ko-operation im Arbeitsalltag. VS – Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden

Bolte A, Neumer J, Porschen S (2008) Die alltägliche Last der Kooperation. Abstimmung alsArbeit und das Ende der Meeting-Euphorie. Edition sigma, Berlin

Brockhoff K (1999) Forschung und Entwicklung. Planung und Kontrolle. Oldenbourg, München

Brodbeck KH (1999) Entscheidung zur Kreativität, 2. Aufl. Wissenschaftliche Buchgesellschaft,Darmstadt

Bürgermeister M, Habler T (2010) Aspekte erweiterten Innovations-Controllings. In: Controller-Magazin, Jg 35, H 3, S 60–66

Duin P van der, Hartigh E den (2007) Managing the Future. In: Duin P van der (Hrsg) KnowingTomorrow? How Science Deals with the Future. Eburon Academic Publishers, Delft, S 149–165

Gärtner C, Lederle S (2006) Der Rand ist die Heimat der Innovation. Eine theoretische undempirische Diskussion der Beziehung von Innovationen und Rändern. Augsburger Beiträge zurOrganisationspsychologie und Personalwesen, H 21, Universität Augsburg

Holtrup M, Littkemann J (2005) Probleme der Erfolgsevaluierung von Innovationsprojekten. In:Littkemann J (Hrsg) Innovationscontrolling. Vahlen, München, S 253–284

Kaplan RS, Norton DP (1996) The Balanced Scorecard. Translating Strategy into Action. HarvardBusiness Press, Boston

2 Das Projekt KES-MI 23

Kaplan RS, Norton DP (2001) The Strategy-Focused Organization. How Balanced ScorecardCompanies Thrive in the New Business Environment. Harvard Business Press, Boston

Kotthoff H (1997) Führungskräfte im Wandel der Firmenkultur. Quasi-Unternehmer oder Arbeit-nehmer. Edition sigma, Berlin

Kotthoff H, Wagner A (2008) Die Leistungsträger. Führungskräfte im Wandel der Firmenkultur.Eine Follow-up-Studie. Edition sigma, Berlin

Littkemann J (2005) Einführung in das Innovationscontrolling. In: Littkemann J (Hrsg) Innovati-onscontrolling. Vahlen, München, S 3–55

Miegel M (2001) Von der Arbeitskraft zum Wissen. Merkmale einer gesellschaftlichen Revolution.In: Merkur, Jg 35, H 3, S 203–210

Mildenberger G (2006) Wissen und Können im Spiegel gegenwärtiger Technikforschung. Tech-nikphilosophie, Bd 15. Lit, Berlin u. a.

Moritz EF (2008) Holistische Innovation. Konzept, Methodik und Beispiele. Springer, Berlin u. a.

Neuweg HG (1999) Könnerschaft und implizites Wissen. Waxmann, Münster

Nonaka I, Takeuchi H (1997) Die Organisation des Wissens. Wie japanische Unternehmen einebrachliegende Ressource nutzbar machen. Campus, Frankfurt/Main u. a.

Porschen S (2008) Austausch impliziten Erfahrungswissens. Neue Perspektiven für das Wissens-management. VS – Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden

Reich R (2000) The Future of Success. Work and Life in the New Economy. Heinemann, London

Ridolfo E (2005) Ideenmanagement. Chancen und Möglichkeiten für Klein- und Mittelbetriebe.Kosten einsparen durch Mitarbeiterideen, 2. Aufl. Tectum, Marburg

Rüdiger M, Vanini S (1998) Das Tacit Knowledge-Phänomen und seine Implikationen für dasInnovationsmanagement. In: Die Betriebswirtschaft, Jg 58, H 4, S 467–480

Tintelnot C (1999) Grundlagen und Rahmenbedingungen für Innovationen. In: Tintelnot C, Meiß-ner D, Steinmeier I (Hrsg) Innovationsmanagement. Springer, Berlin

Trott P (2008) Innovation Management. An Introduction. In: Trott P (Hrsg) Innovation Manage-ment and New Product Development, 4. Aufl. Pearson Education, Essex, S 2–41

Willke H (1998) Organisierte Wissensarbeit. In: Zeitschrift für Soziologie, Jg 27, H 3, S 161–177

Kapitel 3Innovationsarbeit – künstlerisch,erfahrungsgeleitet, spielerisch

Fritz Böhle, Karin Orle und Jost Wagner

Bei der Frage, wie Innovationen entstehen und gefördert werden können, richtetsich bisher die Diskussion entweder auf innovationsförderliche Persönlichkeits-merkmale wie insbesondere Kreativität oder auf die Organisation von Innovations-prozessen. Damit wird jedoch übersehen, dass Innovationen durch menschlichesHandeln entstehen und wesentlich von der Arbeit in Innovationsprozessen abhängigsind. Innovationsarbeit weist besondere Merkmale auf, die sie von sonstiger Arbeitunterscheiden und die beim Management von Innovationen berücksichtigt werdenmüssen. Nicht nur in der Innovationsforschung, sondern auch in der Arbeitsfor-schung wurden bisher die besonderen Merkmale der Innovationsarbeit kaum beach-tet. In diesem Kapitel werden Forschungsansätze zu Innovationsarbeit vorgestelltund hieran anknüpfend aufgezeigt, in welcher Weise Innovationsarbeit ein künstle-risches, erfahrungsgeleitetes und spielerisches Handeln erfordert.

3.1 Was ist Innovationsarbeit?

Fragt man in Unternehmen danach, welche Mitarbeiter mit Innovationen befasstsind, so wird in der Regel auf die Forschungs- und Entwicklungsabteilungen ver-

Fritz Böhle (B)Sozioökonomie der Arbeits- und Berufswelt, Philosophisch-Sozialwissenschaftliche Fakultät,Universität Augsburg, Eichleitnerstraße 30, 86159 Augsburg, [email protected]

Karin Orle (B)eo ipso Konzept, Talangerstraße 7, 82152 Krailling-München, [email protected]

Jost Wagner (B)GAB München – Gesellschaft für Ausbildungsforschung und Berufsentwicklung,Lindwurmstraße 41/43, 80337 München, [email protected]

25F. Böhle et al. (Hrsg.), Innovation durch Management des Informellen,DOI 10.1007/978-3-642-24341-7_3,© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012

26 F. Böhle et al.

wiesen. Speziell die Tätigkeit von Ingenieuren erscheint demnach typisch für dieArbeit bei Innovationen. Soweit sich die Arbeitsforschung bisher mit der Arbeitvon Ingenieuren befasst hat, ging sie vor allem der Frage nach, in welcher Weisediese ähnlich wie Produktionsarbeit technisiert und rationalisiert wird bzw. werdenkann (z. B. Wolf et al. 1992). Die Arbeit von Ingenieuren wird dabei als prototy-pisch für geistige Arbeit angesehen und mit geistiger Arbeit wird vor allem einplanmäßig-rationales Arbeitshandeln verbunden.1

Auch in den Ingenieurwissenschaften sind theoretische Modelle und Richtlinienzum methodischen Vorgehen bei Entwicklungs- und Konstruktionsarbeit an ex antegeplanten, linear sequenziell verlaufenden Arbeitsschritten orientiert (vgl. Ehrlen-spiel 2009, S. 252). Der Entwicklungsprozess wird demnach „als ein methodischbestimmbarer ,Optimierungsprozess‘ zwischen feststehenden Anforderungen undtechnischen Lösungen aufgefasst“ (Rogalla 2011, S. 192). Demgegenüber findensich aber auch Untersuchungen, die dieses Verständnis von Innovationsarbeit alsIngenieursarbeit in mehrfacher Weise erweitern und modifizieren – und zwar so-wohl hinsichtlich des Geltungsbereichs als auch der Anforderungen und der Artdes Arbeitshandelns.

3.1.1 Geltungsbereich

Untersuchungen im Maschinenbau zeigen, dass nicht nur Ingenieure, sondern auchFacharbeiter in der Produktion zur technischen Entwicklung beitragen. Innovations-arbeit beschränkt sich demnach nicht auf Forschungs- und Entwicklungsabteilun-gen, sondern findet auch beim Bau von Prototypen bis hin zur Weiterentwicklungund Verbesserung bestehender Produkte und Prozesse statt (Kowol 1993; Asdonket al. 1993). Damit verbindet sich ein Verständnis von Innovationsarbeit, das sichinsgesamt auf „Weiterentwicklungen, Modifikationen und Detailveränderungen ge-gebener Verfahren und Prozesse richtet“ (Kowol 1993, S. 119). Auch Untersuchun-gen zur Entwicklung von Arbeit bei fortschreitender Technisierung kommen zu demSchluss, dass bei der Überwachung und Regulierung komplexer technischer Syste-me die Arbeit in der Produktion eine „notwendige Grundlage einer permanentenProzess- und Produktinnovation“ wird (Hoß 1989, S. 35). Und schließlich wurde inForschungen zur Humanisierung der Arbeit gezeigt, dass auch ungelernte Arbeiterfähig sind, neue Formen der Arbeitsorganisation und Maßnahmen zur Verbesserungder Arbeitsbedingungen zu entwickeln (vgl. Fricke 2009). Allerdings ist dabei zuunterscheiden zwischen einerseits der Abweichung von vorgegebenen Regeln undder Entwicklung eigenständiger Vorgehensweisen im Arbeitsprozess und anderer-seits der Veränderung eines „bestehenden Praxiszusammenhangs“, der „über dieeigene Zuständigkeitssphäre“ hinausgeht (Moldaschl 2007, S. 139). Ersteres ist vor

1 Siehe allgemein zum Verständnis von Arbeit als planmäßig-rationales Arbeitshandeln Böhle(2010).

3 Innovationsarbeit – künstlerisch, erfahrungsgeleitet, spielerisch 27

allem dann notwendig, wenn nicht vorhersehbare Unwägbarkeiten in technischenund organisatorischen Prozessen auftreten. Die Bewältigung von Unwägbarkeitenist bei fortschreitender Technisierung und Komplexität von Organisationen einezentrale, aber oft unterschätzte Aufgabe menschlicher Arbeit (Böhle et al. 2004).Bezeichnet man dies jedoch als Innovationsarbeit, so verliert der Begriff an Trenn-schärfe und wird zum Synonym für nahezu jegliche Arbeit.2 Das Hervorbringenvon Neuem, bisher Unbekanntem, das über die aktuelle Situation und die eigenenArbeitspraktiken hinausreicht und nutzbar wird, ist demgegenüber eine besondereForm von Arbeit, die als Innovationsarbeit bezeichnet werden kann3 – im Unter-schied zur sonstigen Arbeit, die sich primär auf die Anwendung und Gewährleis-tung bekannter Verfahren und Ergebnisse richtet.4 Auch wenn man diese präzisierteBegriffsbestimmung von Innovationsarbeit zugrunde legt, zeigt sich, dass Innovati-onsarbeit nicht nur in Forschungs- und Entwicklungsabteilungen, sondern auch inder Produktion und anderen Abteilungen stattfindet.5 Dies ist vor allem dann derFall, wenn neben Produktinnovationen auch Prozessinnovationen bzw. technischeund soziale Innovationen berücksichtigt werden (vgl. Brockhoff 1999; Howaldt u.Jacobsen 2010). Dies beinhaltet auch, dass Innovationsarbeit nicht nur im Rah-men von Tätigkeiten stattfindet, denen in der betrieblichen Organisation explizit dieAufgabe zugewiesen wird, Veränderungen und Neues hervorzubringen – von derForschung und Entwicklung bis hin zu besonderen Projektgruppen im Rahmen vonChange Management oder kontinuierlichen Verbesserungsprozessen (KVP).6 Inno-vationsarbeit findet in unterschiedlichen Arbeitsprozessen statt und kann sowohlein Kernelement der Arbeit sein als auch ergänzend zu anderen Arbeitsaufgabenund -inhalten geleistet werden. Dies bedeutet zum einen, dass auch Arbeitskräf-te in der Produktion und anderen Abteilungen Innovationsarbeit leisten, und zumanderen, dass in Forschungs- und Entwicklungsabteilungen nicht ausschließlich In-novationsarbeit erfolgt, sondern auch sonstige Arbeit, wie Dokumentation und dieAnwendung bereits erprobter Verfahren.

2 Siehe in dieser Perspektive zur allgemeinen Erweiterung des Konzepts des Arbeitshandelns Böh-le (2010).3 Moldaschl unterscheidet in diesem Zusammenhang „innovatives Handeln“ und „innovatorischesHandeln“ und betrachtet innovatorisches Handeln als das Merkmal der Innovationsarbeit (Mol-daschl 2007, S. 139).4 Auch wenn hier im konkreten Fall Unwägbarkeiten auftreten und die Bewältigung des Unplan-baren eine wesentliche Aufgabe ist, so ist letztlich das Ziel und Ergebnis, auf das sich die Arbeitausrichtet, bekannt.5 Siehe hierzu ausführlicher Kap. 7.6 Moldaschl schlägt vor, Innovationsarbeit nur auf das „dezidierte, systematische und vorrangige“Hervorbringen von Neuem zu beziehen (Moldaschl 2007, S. 138). Damit werden jedoch Beiträ-ge zu Innovationen in Arbeitsbereichen und von Arbeitskräften, die nicht „vorrangig“, sondernergänzend zu ihrer sonstigen Arbeit innovatorisch tätig sind, a priori ausgegrenzt.

28 F. Böhle et al.

3.1.2 Anforderungen

In sämtlichen Untersuchungen, die sich mit Besonderheiten der Innovationsarbeitgegenüber sonstiger Arbeit befassen, wird als ein wesentliches Merkmal die Unbe-stimmtheit, Offenheit und Nicht-Planbarkeit der Arbeitsanforderungen und des Er-gebnisses der Arbeit herausgestellt. Neben diesen allgemeinen Charakterisierungenwird im Speziellen darauf hingewiesen, dass nicht nur die Anforderungen unbe-stimmt und ungewiss sind, sondern auch die Entstehung neuer Ideen nicht planbarist. Entscheidende Ansätze und Lösungsmöglichkeiten ,kommen‘ Entwicklern ofterst außerhalb der Arbeit, ,zu Hause‘. Im Abstand zum Arbeitsalltag finden sie ofterst die Ruhe und Konzentration, um die Ideen reifen zu lassen und ihre Mach-barkeit und Stimmigkeit zu durchdenken (Bolte 2000, S. 114 f.). Lösungen, dieerarbeitet werden, erweisen sich in der Praxis als immer nur zeitlich begrenzt sta-bil. Sie können „plötzlich und unerwartet“ wieder kippen und müssen daher immerwieder revidiert und an variierende Einflussfaktoren wie Umweltbedingungen, Ma-terialien, Fertigungsverfahren usw. angepasst werden (ebd., S. 142).7 Ungewissheitund Grenzen der Planung von Innovationsprozessen insgesamt sind damit in beson-derer Weise für Innovationsarbeit kennzeichnend (vgl. Moldaschl 2007).

3.1.3 Arbeitshandeln

Aufgrund der Unbestimmtheiten und Ungewissheiten der Arbeitsanforderungenund Ergebnisse bei Innovationsarbeit unterscheidet sich diese von planmäßig-rationalem Handeln. So werden in Untersuchungen sowohl bei Ingenieuren als auchFacharbeitern in der Produktion der Wert und die Notwendigkeit eines besonderenErfahrungswissens neben wissenschaftlich begründetem Fachwissen herausgestellt(Bolte 2000; Hoß 1989). Dies bezieht sich nicht nur auf besondere Kenntnisse, son-dern auch auf besondere Arbeitspraktiken und Fähigkeiten, wie: auf „unbekannteSituationen mit seinen fünf Sinnen unsystematisch, assoziativ und diskontinuier-lich zu reagieren bzw. Unbekanntes zu planen und kreativ zu gestalten“ (Hoß 1989,S. 35); oder das Erleben der praktischen Anwendung und Nutzung technischerEntwicklungen „am eigenen Leib“ (Bolte 2000, S. 116 f.). Auch in den Ingenieur-wissenschaften und anderen Disziplinen finden sich Forschungsansätze, bei denenspeziell das Entwickeln und Konstruieren nicht nur nach dem Modell planmäßig-rationalen Handelns beschrieben wird. So wird in Analysen des konkreten Ablaufsvon Konstruktionsprozessen festgestellt: „Auch erfolgreiche und methodisch aus-

7 Unbestimmtheit und Ungewissheit entstehen beispielsweise bei der Produktentwicklung imMaschinenbau durch – trotz Simulationstechnik – nicht vorhersehbare Auswirkungen des verar-beiteten Materials auf die Maschinen; durch das betriebliche Umfeld (Verschmutzung, Temperaturetc.); beim konkreten Einsatz von Maschinen; durch Instabilitäten in Fertigungsprozessen usw.(Bolte 2000, S. 141).

3 Innovationsarbeit – künstlerisch, erfahrungsgeleitet, spielerisch 29

gebildete Konstrukteure gehen nicht strikt nach den Plänen vor, sondern benötigenVor- und Rücksprünge, um die Lösungsentwicklungen ganzheitlich besser voran-treiben zu können“ (Pahl 1998, S. 9). Nicht-Begriffliches, bildhaft-anschaulichesDenken, Intuition und Erfahrungswissen werden dabei als unverzichtbare Elementedes Konstruktionshandelns beschrieben (Ferguson 1992; Petroski 1985; Vincenti1990) und „erfahrungsgeleitete Zugänge und spielerisch-heuristische Verfahren“gegenüber „abgeklärten Algorithmen (. . . ) oft als überlegen“ ausgewiesen (Hey-mann u. Wengenroth 2001, S. 116). Die Nähe des Entwickelns und Konstruierenszur Kunst zeigt sich damit nicht nur in der historischen Entwicklung (König 1999;Krohn 1977, S. 49), sondern scheint auch gegenwärtig bedeutsam. Das im Folgen-den umrissene Konzept der Innovationsarbeit knüpft hieran an.

3.2 Arbeitshandeln bei Innovationsarbeit –Umrisse eines Konzepts

Wie gezeigt, lässt sich Innovationsarbeit allgemein definieren als Arbeit, die sichauf die Hervorbringung von Neuem, bisher Unbekanntem richtet, das über die ak-tuelle Situation hinausreichende und nutzbare Wirkungen erzielt. Sie kann in kon-kreten Arbeitsprozessen ein Kernelement sein oder auch ergänzend zu sonstigerArbeit auftreten. Des Weiteren erscheint es angesichts der Ungewissheiten, Un-bestimmtheiten und Grenzen der Planung von Innovationsprozessen kaum strittig,dass auch Innovationsarbeit in besonderer Weise durch Unbestimmtheiten und Un-gewissheiten sowohl in den Arbeitsanforderungen als auch im Weg ihrer Bewäl-tigung gekennzeichnet ist. Und schließlich verweisen neuere Forschungsansätzedarauf, dass Innovationsarbeit nicht, wie ursprünglich angenommen, der Proto-typ geistigen, planmäßig-rationalen Handelns ist und nach diesem Modell wederbeschreibbar noch praktisch gestaltbar ist. Eine systematische Bestimmung der be-sonderen Merkmale des Arbeitshandelns bei Innovationsarbeit und somit des Wieder Arbeit liegt bisher allerdings nur in ersten Ansätzen vor.8 Hieran anknüpfendwird im Folgenden ein komplexes Handlungsmodell vorgestellt, mit dem sich be-

8 Zu nennen ist hier insbesondere die von Hacker vorgenommene Modifizierung der Handlungs-regulationstheorie. Diese orientierte sich ursprünglich am Modell planmäßig-rationalen Handelns.Bei der Untersuchung der Arbeit in Forschung und Entwicklung zeigten sich allerdings grund-legende Grenzen dieses Ansatzes, da er davon ausgeht, dass die Ziele des Arbeitshandelns vordem praktischen Vollzug festgelegt werden. Demgegenüber kamen Untersuchungen der Arbeit inder Entwicklung zu dem Ergebnis, dass es sich dabei nicht nur um „eine systematische Dekom-position eines Gesamtauftrags in Teilaufträge und eines Gesamtziels in Teilziele“ handelt (Hacker2003, S. 11). Die Entwicklungstätigkeit beschreibt Hacker als fortlaufenden, rückkoppelnden Feh-lerkorrekturprozess, bei dem sich hypothetisch-intuitive Gestaltungsschritte und deren Bewertungabwechseln. Ziele sind zu Beginn des Entwicklungsprozesses meist sehr unspezifisch, daher ist dieiterative Zielentwicklung selbst ein wesentlicher Bestandteil des Konstruierens (vgl. Hacker 2010).Das im Folgenden umrissene Konzept knüpft hieran an und erweitert Hackers Beschreibung.

30 F. Böhle et al.

sondere Merkmale von Innovationsarbeit – im Unterschied zu sonstiger Arbeit –aufzeigen lassen. Wir unterscheiden dabei drei grundlegende Elemente menschli-chen Handelns: die subjektive Haltung, mit der gehandelt wird, die Art und Weise,wie praktisch gehandelt wird, und die Definition der Situation, in der gehandeltwird. Diese Elemente des Handelns werden zunächst am Modell des planmäßig-rationalen Handelns allgemein erläutert. Daran anschließend wird gezeigt, welchebesondere Ausprägung diese Elemente bei Innovationsarbeit – im Unterschied zuplanmäßig-rationalem Handeln – aufweisen.

Subjektive Haltung: Weber unterscheidet bei seiner Typologie des Handelnszwischen zweckrationalem, affektuellem und traditionalem Handeln (Weber 1956,S. 17 f.). Obwohl nicht explizit ausgeführt, liegen dieser Unterscheidung jeweilsunterschiedliche Annahmen über die subjektive Disposition und Haltung des Han-delnden zugrunde. Zweckrationales Handeln setzt voraus, dass der Handelnde derWelt bewusst und rational gegenübersteht. Im Unterschied zu affektuellem Han-deln lässt er sich weder unmittelbar durch Bedürfnisse noch durch Anreize ausder Umwelt zum Handeln bewegen, sondern reflektiert und wägt Mittel und Zieleverstandesmäßig ab. Im Unterschied zu traditionalem Handeln orientiert er sichnicht an eingelebten Gewohnheiten, sondern trifft Entscheidungen für sein Han-deln bewusst und autonom. Mit autonomem Handeln werden in der soziologischenTheorie sowohl die Selbstverantwortung als auch die Kenntnis und Kontrolle vonHandlungsbedingungen verbunden (Parsons 1980; Bonß 2010).

Das Verständnis von Arbeit als planmäßig-rationales Handeln geht ebenfalls vonsolchen Annahmen über die subjektive Haltung der Arbeitenden aus. Speziell beiindustrieller Arbeit richtet sich die Kenntnis und Kontrolle der Umwelt auf die„Beherrschung der Natur“ und fordert dementsprechend eine Haltung, die daraufabzielt, die Umwelt den eigenen Zielen und Plänen zu unterwerfen, zu kontrollie-ren und zu manipulieren.

Eine solche Haltung gegenüber der Umwelt ist jedoch nur sehr begrenzt ge-eignet, Innovationen hervorzubringen. Die Unbestimmtheit und Ungewissheit derInnovationsarbeit erfordern eine andere subjektive Disposition und Haltung. Sielässt sich schlagwortartig als Offenheit für Unbekanntes benennen. In modernenGesellschaften findet sie sich vor allem in Lebensbereichen außerhalb der Ökono-mie, speziell der Kunst. Doch nicht nur das künstlerische Schaffen, sondern auchInnovationsarbeit in Forschung und Entwicklung bis hin zur Produktion erforderteine „künstlerische Haltung“. In Abschn. 3.3 wird dieses Merkmal der Innovations-arbeit weiter dargestellt.

Handlungsweise: Planmäßig-rationales Handeln beruht auf der Trennung undsequenziellen Abfolge der Planung des Handelns und seiner praktischen Durch-führung. Planung beinhaltet die Analyse von Handlungsmöglichkeiten und -be-dingungen sowie hierauf bezogene Entscheidungen. Je besser die Planung, umsoeinfacher erscheint die praktische Aus- und Durchführung des Handelns. Dement-sprechend gilt die Planung auch als die höherwertige geistige und eigentlichmenschliche Arbeit. Die praktische Durch- und Ausführung des Handelns giltdemgegenüber als weniger anspruchsvoll; sie ist lediglich der Vollzug der Pla-

3 Innovationsarbeit – künstlerisch, erfahrungsgeleitet, spielerisch 31

nung und dient bestenfalls zu deren Überprüfung. Die Entscheidungsfindung undPlanung beruhen auf verstandesmäßig-rational geleiteter Wahrnehmung und Ana-lyse sowie logischen Folgerungen. Der Körper und die Sinne spielen hierbei eineuntergeordnete Rolle.

Bei Innovationsarbeit können jedoch weder die Ziele noch die Vorgehensweise,mittels derer Innovationen zuwege gebracht werden, vor dem praktischen Handelneruiert und festgelegt werden. Nicht nur die Planung, sondern vor allem auch diepraktische Durchführung des Handelns ist bei Innovationsarbeit notwendig, um er-folgreiche Ziele und Vorgehensweisen zu erschließen. Dabei müssen auch solcheInformationen wahrgenommen werden, die sich nicht präzise definieren lassen. Esmuss mit Gespür und Empfinden wahrgenommen werden. Des Weiteren müssenandere mentale Prozesse als verstandesmäßig-logisches Denken zugelassen undgenutzt werden. Solche Abweichungen von einem planmäßig-rationalen Handelnlassen sich systematisch als erfahrungsgeleitet-subjektivierendes Handeln erfassen.Charakteristisch hierfür ist ein entdeckend-exploratives Vorgehen in Verbindungmit einer spürend-empfindenden Wahrnehmung. Diese Handlungsweise wurde inder Arbeitsforschung vor allem bei der Bewältigung von Unwägbarkeiten in techni-schen und organisatorischen Prozessen beobachtet. Sie erweist sich in Verbindungmit einer künstlerischen Haltung als ein zentrales Element von Innovationsarbeitund erhält hier eine besondere Ausprägung. In Abschn. 3.4 wird dieses Merkmalder Innovationsarbeit weiter ausgeführt.

Definition der Situation: Goffman hat darauf aufmerksam gemacht, dass Han-deln immer innerhalb eines natürlichen oder sozialen Rahmens stattfindet, durchden es – neben den unmittelbaren Handlungsbedingungen und Zielen – beein-flusst wird (Goffman 1974). Für das konkrete Arbeitshandeln besagt dies, dass esnicht nur durch die unmittelbaren Arbeitsanforderungen und Arbeitsbedingungenbestimmt wird. Maßgeblich sind auch die allgemeine kulturelle Deutung und in-stitutionelle Verankerung von Arbeit. In modernen Gesellschaften zählen hierzubeispielsweise die soziale Ausdifferenzierung und Trennung von Erwerbsarbeitgegenüber sonstigen Lebensbereichen sowie die grundsätzliche Zweckbezogenheitund der damit verbundene instrumentelle Charakter von Arbeit. Des Weiteren giltArbeit als Beweis für die individuelle Leistungsfähigkeit und unterliegt speziell inihrer betriebsförmigen Organisation externen Kontrollen und Bewertungen. Daherist es für die Arbeitenden nicht nur notwendig, Arbeitsanforderungen fachlich zubewältigen, sondern auch, sich im betrieblichen System und auf dem Arbeitsmarktzu behaupten. Und schließlich wird mit Arbeit, auch dann, wenn sie der Selbstver-wirklichung dient, sowohl Ernsthaftigkeit und Anstrengung als auch eine sozialeVerpflichtung verbunden, die speziell in der vertraglichen Regelung des Arbeits-verhältnisses zum Ausdruck kommt. Dieser für Erwerbsarbeit weithin als normalgeltende soziale Rahmen muss für Innovationsarbeit in besonderer Weise angepasstwerden.

Wie bereits bei dem Überblick über Forschungsansätze zu Innovationsarbeit er-wähnt, ergeben sich in der Praxis neue Einfälle gerade dann, wenn sie nicht bewusstund zielorientiert gesucht werden. Sie entstehen eher ,nebenbei‘. Auch finden sich

32 F. Böhle et al.

oft Hinweise auf einen ,Flow‘-Zustand, bei dem die Umwelt ausgeblendet und ver-gessen wird, oder man bewegt sich in einem ,offenen Raum‘, in dem verbindlicheRegeln nicht völlig fehlen, aber nur sehr begrenzt handlungsleitend sind. Die hier-mit angedeutete Rahmung von Innovationsarbeit hat eher Ähnlichkeiten mit demSpiel als mit der vorherrschenden sozialen Rahmung von Arbeit. In Abschn. 3.5wird dieses Merkmal weiter ausgeführt.

Die hiermit umrissenen Elemente des Arbeitshandelns bei Innovationsarbeit be-ziehen sich auf deren besonderen Charakter und die Unterschiede gegenüber sons-tiger Arbeit. Im Folgenden werden sie weiter ausgeführt, begründet und differen-ziert.

3.3 Subjektive Haltung: künstlerisch

Was Innovationsarbeit gegenüber planerisch-rationaler Arbeit auszeichnet, ist ins-besondere die Notwendigkeit zum schöpferischen und gestalterischen Umgang mitder dem Innovationsprozess immanenten Unsicherheit und Unplanbarkeit. Wennman zu Beginn nicht weiß, was am Schluss herauskommen wird – und ob über-haupt etwas herauskommen wird –, wenn also Beherrschung des Arbeitsprozessesnicht das Mittel der Wahl ist, da es den Weg zu innovativen Lösungen eher verbautdenn ermöglicht, bedarf es eines anderen Handlungsmodells und einer anderen derHandlung zugrundeliegenden Haltung. Künstler sind die Berufsgruppe, der gesell-schaftlich allgemein zugestanden wird, besonders innovativ und schöpferisch zusein, und für die gleichzeitig der Umgang mit Offenheit und Unplanbarkeit gera-dezu konstitutiv ist. Will man verstehen, welche Haltungen und Handlungsweisenfür Innovationsarbeit von Bedeutung sind, lohnt sich also ein Blick auf das Handelnvon Künstlern. Denn wie Brater et al. (2011) in einer jüngst veröffentlichten Studie9

aufzeigen: Bei aller Verschiedenheit der Ergebnisse und bei aller inhaltlichen Breitevon Kunst lässt sich so etwas wie ein künstlerisches Handlungsmodell beschreiben,das gerade keinen planerisch-rationalen Charakter hat, aber dennoch zu tragfähigenund vor allem originären Ergebnissen kommt.

Fragt man Künstler, wie sie beim Schaffen ihrer Werke vorgehen, tauchen bei al-len individuellen Unterschieden bestimmte Handlungselemente immer wieder auf,die sich unter anderem durch eine spezifische Haltung gegenüber dem Prozess unddem Handlungsgegenstand auszeichnen (vgl. ebd.):

� Künstler begegnen der offenen Handlungssituation nicht durch Planung oder ei-ne Klärung von Zielen etc., sondern durch Handeln. Das heißt, sie beginnen zuhandeln, ohne eine konkrete Vorstellung von dem Ergebnis oder dem Prozess zu

9 Diese Studie ist im Kontext des BMBF-Projekts „Dienstleistung als Kunst – Wege zu innova-tiver und professioneller Dienstleistungsarbeit“ entstanden und baut auf älteren Vorarbeiten zumkünstlerischen Handeln auf (vgl. Brater et al. 1989 u. 1996).

3 Innovationsarbeit – künstlerisch, erfahrungsgeleitet, spielerisch 33

haben. Im Gegenteil: Haben sie solche Vorstellungen, versuchen sie aktiv, sichmöglichst davon zu lösen.

� Dennoch verbinden Künstler mit ihrem Handeln ein Ziel in Gestalt eines sehrpersönlichen Anliegens, eines bestimmten Interesses, einer künstlerischen Frageetc. Ausgangspunkt ihres Handelns ist also nicht (nur) ein von außen an sie her-angetragener Auftrag, sondern ein aus sich selbst gewonnener Handlungsanlass– ohne dass dieser klar greifbar wäre.

� Sie lassen sich ganz auf den Prozess im Wechsel von Tun und Wahrnehmen ein,treten mit dem Gegenstand oder Material in einen Dialog, in dem sie sich ihmscheinbar ,zwecklos‘ nähern und Impulse, die sich aus dem Prozess ergeben,wach aufgreifen (vgl. Abschn. 3.4 und 3.5).

� Sie lassen ihr Handeln durch das leiten, was ihnen aus dem Gegenstand ent-gegenkommt, was ihr Interesse weckt, was ihnen subjektiv der Bewahrung undWeiterverfolgung wert scheint – ohne dass sich dies objektiv begründen lässt.

� Der künstlerische Prozess verläuft in der Regel alles andere als störungs- und kri-senfrei, im Gegenteil: Krisenerfahrungen sind oftmals immanenter Bestandteildes künstlerischen Schaffens. Für Künstler besteht die Herausforderung darin,nicht aufzugeben, sondern die Krise auszuhalten und dennoch weiter zu handeln– wobei sie sich oft von den Prozess leitenden Vorstellungen und Denkrichtun-gen verabschieden, sich also noch weiter öffnen müssen.

� In diese Offenheit tritt dann oft ein überraschender, neuer Impuls, eine Idee,eine Perspektive, die auch den Künstler überrascht und die ihm eher zu- denneinfällt. Diesen Impuls greift der Künstler aktiv auf und geht nun gezielt demnach, was sich da zeigen will. Was bisher fraglich war, scheint plötzlich evi-dent. Die Künstler berichten davon, dass sich Offenheit aus sich selbst herausschließt.

Innovativ zu handeln, dies lässt sich von Künstlern für Innovationsarbeit ler-nen, bedeutet vor allem, eine spezifische Haltung gegenüber der Offenheit undUnwägbarkeit des Prozesses einzunehmen. Es gilt, nicht gegen die, sondern mitder Offenheit von Innovationsprozessen zu arbeiten, also dem Gegenstand und demProzess nicht mit einer auf Beherrschung und Kontrolle ausgerichteten Haltung zubegegnen, sondern Offenheit aktiv zu bejahen, ja sie sogar überall dort, wo sie nichtvorherrscht, bewusst zu suchen und herzustellen. Künstler schaffen Offenheit, in-dem sie rahmende Vorstellungen und Zielüberlegungen bewusst beiseite legen, ummöglichst unvoreingenommen mit dem Handeln beginnen zu können. Denn, wie esder Maler Gerhard Richter ausdrückt: „Ich möchte ja gerne etwas Interessantereserhalten als das, was ich mir ausdenken kann“ (Elger u. Obrist 2008, S. 262). Inno-vativ zu handeln setzt also zum einen die Bereitschaft voraus, sich ganz auf einenoffenen Prozess einzulassen, ohne genau zu wissen, wohin dieser Prozess führt,was am Schluss das Ergebnis sein wird – und ob es überhaupt zu einem Ergebniskommen wird. Innovationen entstehen ja oftmals gerade nicht im Rückgriff auf ge-wohnte und eingeübte Denkstrukturen und Handlungsweisen, sondern durch derenbewusstes Aufbrechen und die Öffnung gegenüber Neuem. Um dies zu schaffen,

34 F. Böhle et al.

bedarf es zum anderen jedoch der Bereitschaft, sich gerade naheliegenden Lösun-gen und Ansätzen zu verweigern, also nicht einfach schnell das Problem lösen zuwollen, sondern dies auf eine neue und originäre Art und Weise zu tun. Innovationbraucht nicht (nur) die Orientierung an der scheinbaren Realität, dem auf den erstenBlick faktisch Gegebenen, sondern auch an dem Möglichen, faktisch (noch) nichtGegebenen. Sie braucht also – wie es der Schriftsteller Robert Musil ausdrückt –den Möglichkeitssinn, also die „Fähigkeit (. . . ) alles, was ebenso gut sein könnte,zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist“ (Musil1970, S. 16). Die bewusste Bejahung der Offenheit und die Orientierung an dem,was noch nicht ist, ermöglicht es, dass sich im Prozess die Inspiration für neue undinnovative Lösungen zeigen kann.

Innovationsprozesse sind des Weiteren, ähnlich wie künstlerische Prozesse, oftvon Störungen und Krisen gekennzeichnet: Das, was man sich ausgedacht hat, funk-tioniert nicht wie erwartet, Lösungsideen stellen sich als unbrauchbar heraus, Such-bewegungen führen in die Irre, finanzielle und zeitliche Ressourcen werden knappetc. Innovationsarbeit zeichnet sich durch eine spezifische Haltung gegenüber sol-chen Krisen aus, die sich ebenfalls bei Künstlern beobachten lässt: Krisen werdennicht als Anzeichen für das Misslingen des Prozesses verstanden, sondern als Quelleder Inspiration, als notwendige Zerstörung von hindernden Denkmodellen und Vor-stellungen. Schon der Ökonom Joseph Schumpeter spricht im Zusammenhang mitInnovationen von der „schöpferischen Zerstörung“ (vgl. Schumpeter 1912)10, dieerst Raum für Neues schafft. Das Wort „Zerstörung“ impliziert dabei, dass es sichum einen schmerzhaften, eben gerade nicht erfreulichen oder auf den ersten Blick„inspirierenden“ Prozessschritt handelt. Es geht also nicht darum, Krisen einfachweg- oder umzudefinieren. Krisen mit einer künstlerischen Haltung zu begegnenstellt vielmehr eine paradoxe Anforderung an den Handelnden: sich der Krise undden damit verbundenen Schmerzen zu stellen und gleichzeitig nicht darin verlo-ren zu gehen, loszulassen und zugleich dranzubleiben, gewohnte Handlungsweisenaufzugeben und dennoch weiter zu handeln. Oder, um es in Anlehnung an PabloPicasso auszudrücken: mit dem Suchen aufzuhören und mit dem Finden zu begin-nen.11 Um zu innovativen Lösungen zu kommen, braucht es also die Bereitschaft,,kreativ zu scheitern‘ – wobei in dieser Formulierung die Ambivalenz des Sachver-halts gut zum Ausdruck kommt.

Damit dies gelingt, auch dies lässt sich von Künstlern lernen, bedarf es schließ-lich der inneren Verbindung des Handelnden mit dem Handlungsanliegen. Kunst

10 Wobei Schumpeter die schöpferische Zerstörung nicht als Ausgangspunkt von Innovationen,sondern umgekehrt Innovationen als Auslöser für schöpferische Zerstörung – also die ständigeAuflösung und Neuerzeugung von Marktstrukturen im Kapitalismus – beschreibt. Letztendlichläuft beides auf Ähnliches hinaus: Man muss sich erst relativ radikal von Vorhandenem trennen,um zu Neuem zu kommen.11 Picasso wird folgendes Zitat zugeschrieben: „Ich suche nicht – ich finde. Suchen ist, wenn manvon alten Dingen ausgeht und im Neuen das bereits Bekannte wiederfindet. Finden ist etwas völligNeues, neu auch in der Bewegung. Alle Wege sind offen, und was gefunden wird, ist unbekannt“(vgl. Gohr 2006).

3 Innovationsarbeit – künstlerisch, erfahrungsgeleitet, spielerisch 35

hat immer etwas mit dem Künstler und seinem persönlichen Ausdruck zu tun:Nicht umsonst suchen viele Kunstkritiker in ihrer Interpretation moderner Kunst-werke den Zugang über die Persönlichkeit und Biografie des Künstlers. Ähnlichesgilt auch für Innovationshandeln: Um Neues, Innovatives zu schaffen, genügt nichtein äußerer Anlass oder Auftrag, sondern es muss ein persönliches Anliegen, eineFragestellung, etwas, was den Handelnden um- und antreibt, hinzutreten. So habenneurobiologische Forschungen der letzten Jahre aufgezeigt, dass Kreativität, Lernenund die Herausbildung neuer, innovativer Denkmuster besonders dann zu beobach-ten sind, wenn sich der Handelnde emotional mit dem (Lern-)Gegenstand verbindet,wenn Gefühle wie Begeisterung und Freude oder Leidenschaft den kognitiven Pro-zess begleiten (vgl. Hüther 2011). Innovationsarbeit lässt sich also nicht verordnenoder erzwingen, sondern gelingt nur, wenn der Handelnde mit dem an ihn herange-tragenen Arbeits- oder Unternehmensanliegen ein persönliches, inneres Anliegenverbindet. Und insofern sind Innovationen auch immer Ausdruck der Persönlich-keiten, die sie hervorbringen.

3.4 Handlungsweise: erfahrungsgeleitet

Vor allem im Arbeitsbereich erscheinen Abweichungen von planmäßig-rationalemHandeln zumeist als mangelhaft und als bloßes ,muddling through‘ infolge un-zureichenden Wissens und Könnens. Damit wird übersehen, dass auch bei einemnicht-planmäßigen Vorgehen zielorientiert gehandelt werden kann und Expertenoft auf diese Weise Probleme lösen. In der neueren Forschung wird dies als si-tuatives Handeln (Suchman 2007), gegenstands- und kontextbezogenes Handeln(Nardi 1996), intuitiv-improvisatorisches Handeln (Volpert 2003), kreatives Han-deln (Joas 1992) oder erfahrungsgeleitet-subjektivierendes Handeln (Böhle 2009)bezeichnet. Diese Konzepte gehen davon aus, dass die Ziele und Wege des Han-delns nicht ex ante, sondern erst im praktischen Handeln festgelegt werden. Diepraktische Durch- und Ausführung des Handelns ist nicht nur der Vollzug vor-angegangener Entscheidungen und Planungen, sondern dient dazu, Ziele und daskonkrete Vorgehen zu eruieren. Wir beziehen uns speziell auf das Konzept deserfahrungsgeleitet-subjektivierenden Handelns.12 Der Begriff „erfahrungsgeleitet“betont die zentrale Rolle von Erfahrungen, die im Handeln erworben werden. Er-fahrung bezieht sich dabei nicht primär auf in der Vergangenheit angesammelteErfahrung im Sinne eines Erfahrungsschatzes, sondern auf das Erfahrung-Machenund das Erfahren im und durch Handeln. Durch ein exploratives und entdeckendesVorgehen entsteht demnach ein besonderes (Erfahrungs-)Wissen über Handlungs-möglichkeiten und -bedingungen. Dementsprechend wird nicht einseitig auf die

12 Siehe als Überblick hierzu Böhle (2008 u. 2009) sowie Böhle et al. (2004).

36 F. Böhle et al.

Umwelt eingewirkt, um sie zu beherrschen, sondern im Dialog und in der Inter-aktion wird eruiert, welche Anforderungen und Möglichkeiten bestehen.13

Bei diesem Vorgehen beschränkt sich die sinnliche Wahrnehmung nicht auf ver-standesmäßig exakte und eindeutig erfassbare Informationen, sondern richtet sichauch auf vielschichtige und diffuse Eigenschaften und Verhaltensweisen konkreterGegebenheiten. Die Wahrnehmung ist dabei mit subjektivem Empfinden und Er-leben verbunden. Exemplarisch hierfür ist ein Gespür für technische Abläufe oderdie Wahrnehmung einer Atmosphäre als angespannt, angenehm u. Ä. Eine solchespürende und empfindende Wahrnehmung beruht nicht – wie meist unterstellt – aufeinem rein „inneren“ Vorgang, sondern richtet sich auf das Erkennen „äußerer“ Ge-gebenheiten (Böhle u. Porschen 2011). Eine allgemeine theoretische Fundierunghierfür findet sich in philosophisch-phänomenologischen Theorien der Wahrneh-mung und des leiblichen Spürens bzw. der leiblichen Kommunikation (Merleau-Ponty 1966; Schmitz 1978 u. 1994). Mit der spürend-sinnlichen Wahrnehmungverbindet sich ein bildhaft-assoziatives Denken. Es ist im Unterschied zur Analy-se und Reflexion unmittelbar ins praktische Handeln eingebunden. Im Unterschiedzu „reflection on action“ ist dies „reflection in action“ (Schön 2002), auch als„mitlaufendes Denken“ sowie ein „waches Bei-der-Sache-Sein“ bezeichnet (Vol-pert 2003, S. 63 f.). Die Bezeichnung erfahrungsgeleitet-subjektivierend beziehtsich auf die besondere Rolle subjektiver Faktoren wie Gefühle und Empfinden unddie Beziehung zur Umwelt: Diese beruht nicht auf Distanz, sondern auf Nähe undVerbundenheit. Auch materielle Gegebenheiten werden als bzw. wie Subjekte wahr-genommen, die ein ,Eigenleben‘ haben und weder vollständig berechenbar nocheinseitig manipulierbar sind.

In den bisher vorliegenden Untersuchungen zum erfahrungsgeleitet-subjektivie-renden Handeln im Arbeitsbereich wird gezeigt, dass dieses vor allem für die Be-wältigung von Unwägbarkeiten in technischen und organisatorischen Prozessennotwendig und erfolgreich ist. Ein planmäßig-rationales Handeln ist hier kaummöglich, da Handlungsmöglichkeiten und -bedingungen instabil und nicht eindeu-tig erkennbar sind. Dies ist auch bei Innovationsarbeit der Fall. Es ist daher notwen-dig, explorativ und entdeckend vorzugehen und sich an mögliche Lösungswege her-anzutasten. Im Unterschied zur Bewältigung von Unwägbarkeiten beschränkt sichInnovationsarbeit aber nicht darauf, jeweils situativ geeignete Wege zur (Wieder-)Herstellung eines stabilen Ablaufs zu finden. Bei Innovationsarbeit ist es darüberhinaus notwendig, ein bisher noch nicht realisiertes oder gänzlich unbekanntes Er-gebnis zu erzielen. Die Anforderungen sind bei Innovationsarbeit daher noch weitunbestimmter und offener. Das explorativ-entdeckende Vorgehen sowie der Dialogund die Interaktion mit der Umwelt richten sich bei Innovationsarbeit vor allem aufdie Eruierung bisher noch nicht bekannter und realisierter Handlungsmöglichkeiten.Im Unterschied zu der Vorstellung, dass Neues plötzlich und unerwartet als „kreati-ver Einfall“ eintrete, zeigt die Betrachtung der Innovationsarbeit eine prozesshafte

13 Siehe hierzu auch die Feststellung von Schön, dass Experten bei der Lösung von Problemen ineinen Dialog mit den Dingen treten (Schön 2002).

3 Innovationsarbeit – künstlerisch, erfahrungsgeleitet, spielerisch 37

Entwicklung, bei der die Ergebnisse einzelner Schritte jeweils das weitere Vorge-hen beeinflussen und gerade auch unerwartete und überraschende Wirkungen undReaktionen nicht als Störung und Fehlschlag, sondern als Hinweise auf bisher nichtbeachtete Handlungsmöglichkeiten wahrgenommen werden. Der plötzliche krea-tive Einfall entpuppt sich daher bei genauerer Betrachtung zumeist als Endpunkteiner bereits sehr viel früher eingeleiteten Suche nach Neuem. Und ebenso entstehtdas Neue nicht allein aus einer „individuellen Schöpfung“, so wie dies bei der Dis-kussion kreativitätsförderlicher Persönlichkeitsmerkmale anklingt (vgl. Mittelstraß2008), sondern im Dialog und der Interaktion mit der Umwelt und den Wirkungendes eigenen Handelns. Eine wichtige Voraussetzung hierfür ist die empfindend-spürende Wahrnehmung. Gerade für die Hervorbringung von Neuem ist eine hoheSensibilität für vage und nicht präzise definierte Anzeichen und Hinweise auf Erfolgversprechende Lösungswege und Ergebnisse notwendig. Innovationsarbeit erfor-dert ein besonderes Gespür für noch unbekannte und nicht realisierte, aber zugleichpraktisch mögliche Ergebnisse und Wege. Im Unterschied zur bloßen Fantasie undfreien Kreativität ist es bei Innovationsarbeit notwendig, das Neue immer auch imKontext des bereits Bestehenden und der darin angelegten Möglichkeiten der Verän-derung wahrzunehmen. Es ist ein besonderes Gespür für potenziell angelegte, aber(noch) nicht erkannte und realisierte Entwicklungen notwendig. So wird gerade beierfolgreichen Innovationen im Rückblick oft festgestellt, dass diese ,in der Luft la-gen‘. Auch das Gespür für die in einem Entwicklungsprozess enthaltene immanente,Logik‘ zählt hierzu. Es befähigt zu einem ,Erahnen‘, wie die weitere Entwicklungverlaufen wird. Die mit einer empfindend-spürenden Wahrnehmung verbundenenmentalen Imaginationen und Assoziationen beziehen sich bei Innovationsarbeit vorallem auf Vorstellungen über mögliche Verwendungen von Ergebnissen und denKontext, in dem sie verwendet werden. Typisch hierfür ist die Aussage eines Ent-wicklers, dass er sich bei der Suche nach einer technischen Lösung für einen Sensorvorgestellt habe, ein Sensor zu sein. Nur auf diesem Weg war es ihm möglich zuerkennen, was der Sensor im konkreten Fall zu leisten hat und unter welchen Bedin-gungen dies erfolgt. Solche Vorstellungen entstehen nicht aus der Fantasie, sondernberuhen ihrerseits auf eigenen Erfahrungen. Auch die imaginative Antizipation vonLösungswegen und Ergebnissen zählt hierzu. Sie ist wie das mitlaufende Denkenin das praktische Handeln eingebunden und entsteht (erst) im praktischen Handelnund durch praktisches Handeln.

3.5 Definition der Situation: spielerisch

Arbeit und Spiel werden zumeist als Gegenpole (Huizinga 1956, S. 49) verstan-den; der Begriff des Spiels weckt in erster Linie Assoziationen wie „Zeitvertreib“,„Nutzlosigkeit“ oder „Zwecklosigkeit“ (Runkel 2003; Fritz 2004; Huizinga 1956,S. 183). Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass die Deutung der Arbeits-situation als Spielwelt genau die Qualitäten hervorbringt, die für Innovationsarbeit

38 F. Böhle et al.

förderlich sind. Geht es doch beim Spiel um spielerische Leichtigkeit, um kind-liche Neugierde, um ein lustvolles Einlassen auf Unbekanntes und spielerischesAusprobieren. „Das Besondere am Spiel ist seine Möglichkeit, ausschnittweise dieFreiheit des Noch-Nicht-Gewordenen (. . . ) zu vermitteln. (. . . ) Das Spiel reprä-sentiert den dialektischen Vorgriff und die Antizipation wirklicher Tätigkeiten“(Fritz 2004, S. 114). Das Konstruieren einer „Als-Ob-Welt“ (Keller 1998, S. 58)scheint angesichts der Unbestimmtheit, Offenheit und begrenzten Planbarkeit vonInnovationsprozessen und damit verbundenen Anforderungen an Innovationsarbeitfür das Generieren innovativer Lösungen und Veränderungen ein tragfähiges al-ternatives Handlungskonzept zu sein. Durch die Transformation einer Situation ineine Handlungssituation14, die Wesensmerkmale des Spiels aufweist, setzen sichdie Handelnden über die objektive Realität des Alltags, die durch gemeinsamesHandeln im gleichen kulturellen Kontext konstituiert wird, hinweg und „konstitu-ieren eine neue Realität, die ihren momentanen Bedürfnissen und Zielsetzungenentspricht und deren Erfüllung zulässt“ (Oerter 1999, S. 9).

Die soziale Deutung und Rahmung einer Handlungssituation als Spielsituati-on ist an fünf Dimensionen erkennbar: zweckhafte Zwecklosigkeit, geregelte Un-berechenbarkeit, fiktive Realität, geschütztes Involvement, entspannte Spannung.Diesen Dimensionen ist ein zentrales Merkmal gemeinsam: die Ambivalenz. Scheu-erl bezeichnet diese auch als „die Doppelwertigkeit im Wesen der spielerischenDynamik“ (Scheuerl 1979, S. 88). Callois schreibt, dass sich das Spiel zwischen„paida“ und „ludus“ bewegt, wobei „paida“ die freie Improvisation und Lebens-freude, „ludus“ das Prinzip der strengen Regularität umfasst. Somit ist das Spieleine Bewegung zwischen diesen Spielweisen (Callois 1960). Die Ambivalenz desSpiels oszilliert folglich zwischen den Aspekten der einzelnen Dimensionen, dieim Modus des Sowohl-als-auch zueinander stehen.15 Nachfolgend werden die fünfDimensionen beschrieben.

Zweckhafte Zwecklosigkeit: Es ist ein zentrales Kriterium des Spiels, dass dasSpiel seinen Zweck in sich selbst findet (Scheuerl 1979; Piaget 1969, S. 189; Oerter1999, S. 5).16 Das Spiel ist in der Perspektive des Spielens nicht auf einen außer-halb des Spiels liegenden Zweck gerichtet und erscheint daher als zwecklos. Diesermöglicht es den Handelnden, tief in das Spiel einzutauchen, darin zu ,versinken‘

14 Auch Scheuerl stellt fest: Ob eine Bewegung oder Handlung als Spiel erkannt wird, hängt vomVorverständnis und von der Sinngebung ab. Das Spiel hat also eine subjektive Komponente, dieprinzipiell nur der „Spieler“ kennt und so für sich entscheidet, ob das „Tun“ ein Spiel ist (vgl.Scheuerl 1997, S. 215 ff.).15 Runkel verweist auf Schiller, der in seiner Schrift „Über die ästhetische Erziehung des Men-schen“ binäre Codierungen konstruiert, die im Spiel verbunden werden. So ist das Spiel daraufausgerichtet, eine Kombination binärer Codes herzustellen, wie Werden und Sein oder Verände-rung und Identität (Runkel 2003). Scheuerl spricht vom „Moment der Ambivalenz“ (vgl. Keller1998).16 Vgl. den Nutzen des Spiels aus psychoanalytischer und handlungstheoretischer Perspektive(Oerter 1999) sowie das Spiel als grundlegendes Prinzip, „das das Leben über die spielerischeBewältigung zur Selbstvollendung führt“ (Röhrs 1983).

3 Innovationsarbeit – künstlerisch, erfahrungsgeleitet, spielerisch 39

und sich mit Haut und Haar darauf einzulassen. In diesem Zustand werden Raumund Zeit vergessen.17

Von außen betrachtet ist das Spiel aber keineswegs a priori zwecklos, sondernkann vielfältige, über es hinausweisende Wirkungen erzielen. Ein bekanntes Bei-spiel ist die Einübung sozialen Verhaltens beim kindlichen Spiel im Rahmen der So-zialisation. Dabei kann dieser über das Spiel hinausreichende Zweck dem (Spiel-)Handelnden durchaus bewusst sein oder sogar von ihm angestrebt werden. Ent-scheidend ist, dass dieser Zweck im Spiel selbst ,vergessen‘ wird.

Geregelte Unberechenbarkeit: Die Spielwelt ist keine von Regeln losgelösteWelt. Regeln sind vor allen Dingen bei Regelspielen18 die notwendige Rahmung,der das Spiel in Spielphasen folgt und ohne die das Spiel nicht funktionieren kann.Doch auch übermittelte Regeln oder spontane, selbstdefinierte Regeln zählen hierzu(Piaget 1969). Ludwig Wittgenstein spricht davon, dass „die Grenzen des Spielsdurch Übereinkünfte“ gezogen werden. In diesem Zusammenhang ist auch dieLimitierung des Spiels durch Raum und Zeit zu nennen, die besonders Huizingaherausgearbeitet hat (Runkel 2003; Hubig 2003). Der Spielablauf und der Ausgangdes Spiels sind dennoch weitestgehend offen (Fritz 2004, S. 58 ff.). So lenken dieRegeln ein Spiel, sie diktieren es jedoch nicht (Runkel 2003).

Fiktive Realität: Das kindliche Spiel scheint am besten geeignet, um zu ver-deutlichen, dass die konstruierte Spielsituation als eine ,andere Welt‘ verstandenwird, die sich von unserer realen Welt unterscheidet. Fiktive Realitäten werdenaufgebaut, Objekte werden transformiert und Handlungen eine andere Bedeutungzugeschrieben (Fritz 2004). Der Handelnde ist „an allen Belangen der Wirklichkeit,uninteressiert‘“ (Scheuerl 1979, S. 79). Dennoch erfolgt das Handeln in der Spiel-welt unter Rückgriff auf reale Gegebenheiten und Prozesse in der realen Welt. Sofinden reale Objekte Einzug in die Spielwelt19 und auch die Handelnden sind inihrer Körperlichkeit gebunden.

Geschütztes Involvement: Eine weitere Dimension ist das Sich-Hineinversetzenin die fiktive Realität. Ein Verständnis, dass das Handeln nicht der realen, sondernder Spielwelt zuzurechnen ist, ermöglicht es, angebotene Rollen in der Spielweltzu übernehmen und somit Handlungsweisen auszuprobieren, die auf diese Art undWeise in der realen Welt nicht realisiert würden (Fritz 2004, S. 83). Gleichzeitig

17 Nach Jürgen Fritz lassen sich das Aufgehen im Spielprozess, die Verschmelzung der Spie-lenden mit der Umwelt und das Gefühl der Selbsterweiterung recht gut unter Rückgriff auf dievon Csikszentmihalyi entwickelte „Flow-Theorie“ erklären (Fritz 2004, S. 99). Siehe hierzu auchCsikszentmihalyi (1985) sowie Oerter (1999). Fritz (2004) spricht in diesem Zusammenhang vomBezug auf das „Hier-und-Jetzt“, der dafür ausschlaggebend ist, sich auf Spielprozesse einzulassen.Scheuerl (1979) spricht vom „Moment der inneren Unendlichkeit“.18 „Das Regelspiel ist die spielerische Aktivität des sozialisierten Wesens“ (Piaget 1969, S. 183).Das Regelspiel entwickelt sich beim Kind vor allem zwischen dem siebten und elften Lebens-jahr. Zuvor spielen Kinder entweder symbolisch oder führen andere einfache motorische Übungenaus (Piaget 1969, S. 184 ff.). „Im Regelspiel tritt die Regel vollständig in den Vordergrund, allesonstigen Formen der Interaktion werden vernachlässigt“ (Oerter 1999, S. 65).19 Vgl. hierzu auch Oerter (1999) und seine Ausführungen zu subjektiver, objektiver und abstrakterValenz sowie zu Formen des gemeinsamen Gegenstandsbezugs.

40 F. Böhle et al.

wissen die Handelnden, dass ihr Handeln zwar möglicherweise im Spiel selbstsanktioniert wird, jedoch außerhalb des Spiels folgenlos bleibt (Scheuerl 1979,S. 71). Das Handeln im Spiel hat nicht den Ernstcharakter, den Folgenreichtumund die Verbindlichkeit der Realität, denn es war ja ,nur ein Spiel‘.

Entspannte Spannung: Eine Spielsituation verbleibt nicht linear auf einem ho-hen Aktivierungsniveau. Für die Spieler wechselt ein Spiel zwischen Phasen vonSpannung und Entspannung. Die Phasen der Spannung setzen durch das hohe Ak-tivierungsniveau Kräfte bei den Handelnden frei. Goffman spricht in diesem Zu-sammenhang von „Interaktionsspannung“, die durch Spaß an einem Spiel entsteht(Runkel 2003, S. 29).20 Die Phasen der Entspannung bringen Reflexionsmöglich-keiten mit sich und verweisen auf kognitive Elemente.

Für Innovationsarbeit sind insbesondere die Dimensionen „zweckhafte Zwecklo-sigkeit“, „geregelte Unberechenbarkeit“ und „geschütztes Involvement“ der Spielsi-tuation bedeutsam. Indem die Zweckorientierung von Arbeit durch die Spielsituati-on zwar nicht aufgehoben, jedoch in der Handlungssituation selbst nicht handlungs-leitend ist, entsteht Raum und Akzeptanz für Aktivitäten, deren Ziel und Ergebnisnicht ex ante bekannt sind und begründet werden können. Denkblockaden wer-den somit außer Kraft gesetzt, Assoziationen können sich entwickeln und neueIdeen entstehen sozusagen „en passant“ als ungeplante Effekte. Durch den zweck-freien Charakter wird es außerdem möglich, Neues auszuprobieren,21 alle Mög-lichkeiten durchzuspielen, Vorschläge und Handlungen zuzulassen, ohne sich vonder Ungewissheit bzw. dem (Noch-)Nicht-Wissen blockieren und beschränken zulassen.

Des Weiteren ermöglicht es die geregelte Unberechenbarkeit der Spielsituation,dass auf der Grundlage erprobter Verfahren und gesicherten Wissens im Prozess desHandelns situativ neues Wissen und neue Verfahren entdeckt und generiert werden,die ex ante so nicht voraussehbar und planbar sind. Erprobte Verfahren und ge-sichertes Wissen sind somit nicht Beschränkungen für Neues, sondern liefern dasMaterial und den Anstoß, aus dem durch die Dynamik des Prozesses Neues entste-hen kann.

Und schließlich ermöglicht es der geschützte Raum des Spiels, in neue Überle-gungen einzutauchen und sich von Ideen ,völlig fangen zu lassen’. Es wird möglich,Vorläufiges entstehen zu lassen, vorzustellen, auszuprobieren, sich vorläufig fürbestimmte Aspekte experimentell zu entscheiden, ohne an diese Entscheidung ge-bunden zu sein. Dadurch werden auch die Bedrohungen und Blockaden, die durchdie Sorge vor einem möglichen Scheitern entstehen, verringert.

20 Für Heckhausen sind die Spannungsmomente des Spiels in Aktivierungszirkeln gebunden (Fritz2004, S. 97).21 Huizinga arbeitet als eines der wesentlichen Merkmale des Spiels die „freie Handlung“ heraus(Huizinga 1956, S. 20).

3 Innovationsarbeit – künstlerisch, erfahrungsgeleitet, spielerisch 41

3.6 Überblick

Zusammenfassend lassen sich die oben ausgeführten Merkmale des Arbeitshan-delns bei Innovationsarbeit wie in Abb. 3.1 darstellen:

Innovationsarbeit Merkmale des Arbeitshandelns

Subjektive Haltung Handlungsweise Situationsdefinition Künstlerisch Erfahrungsgeleitet Spielerisch

Offenheit für Unbekanntes, Möglichkeitssinn

Explorativ-entdeckendesVorgehen, prozesshaftes Entwickeln

Zweckhafte Zwecklosigkeit

Produktiver Umgang mit Krisen und Störungen

Gespür für immanente Ent-wicklungslogik

Geregelte Unberechenbarkeit

Inneres Anliegen,persönlicher Ausdruck

Sinnliche Wahrnehmung und Imaginationen des Verwen-dungskontexts

Geschütztes Involvement

Abb. 3.1 Innovationsarbeit – Merkmale des Arbeitshandelns (in Anlehnung an Böhle u. Bürger-meister 2011, S. 11)

Das hier dargestellte Konzept von Innovationsarbeit ist ein allgemeines Modell.Es ist ein analytisches Konzept, um zu untersuchen, in welcher Weise in konkre-ten Arbeitsprozessen Innovationsarbeit stattfindet. Des Weiteren lassen sich dar-aus Anforderungen an die Gestaltung von Innovationsarbeit in Unternehmen ab-leiten.

Eine empirische Analyse konkreter Erscheinungsformen von Innovationsarbeitin unterschiedlichen Arbeitsbereichen sowie eine Darstellung neuer Ansätze für dieFörderung von Innovationsarbeit durch ein Management des Informellen erfolgt inKap. 5, 6 und 7.

Literatur

Asdonk J, Bredeweg U, Kowol U (1993) Innovation, Organisation und Facharbeit. Kleine, Biele-feld

Böhle F (2008) Erfolgreiche Bewältigung des Unplanbaren durch „anderes“ Handeln. In: Pawlow-sky P, Mistele P (Hrsg) Hochleistungsmanagement. Leistungspotenziale in Organisationen gezieltfördern. Gabler, Wiesbaden, S 79–96

Böhle F (2009) Weder rationale Reflexion noch präreflexive Praktik. Erfahrungsgeleitet-subjektivierendes Handeln. In: Böhle F, Weihrich M (Hrsg) Handeln unter Unsicherheit. VS –Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, S 203–230

Böhle F (2010) Arbeit als Handeln. In: Böhle F, Voß G, Wachtler G (Hrsg) Handbuch Arbeitsso-ziologie. VS – Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, S 151–176

42 F. Böhle et al.

Böhle F, Bürgermeister M (2011) Innovationsarbeit und Innovationsprozess. Künstlerisch, erfah-rungsgeleitet, spielerisch. In: Praeview. Zeitschrift für innovative Arbeitsgestaltung und Präventi-on, Jg 2, H 1, S 10–11

Böhle F, Porschen S (2011) Körperwissen und leibliche Erkenntnis. In: Keller R, Meuser M (Hrsg)Körperwissen. VS – Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, S 53–67

Böhle F, Pfeiffer S, Sevsay-Tegethoff N (Hrsg) (2004) Die Bewältigung des Unplanbaren. VS –Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden

Bolte A (2000) Zum Umgang mit Unwägbarkeiten in der Innovationsarbeit. In: ISF München,INIFES Stadtbergen, IfS Frankfurt/Main, SOFI Göttingen, IAB Nürnberg (Hrsg) Jahrbuch sozi-alwissenschaftliche Technikberichterstattung 2000. Schwerpunkt: Innovation und Arbeit. Editionsigma, Berlin, S 107–147

Bonß, W (2010) (Un-)Sicherheit als Problem der Moderne. In: Münkler H, Bolender M, MeurerS (Hrsg) Handeln unter Risiko. Gestaltungsansätze zwischen Wagnis und Vorsorge. Transcript,Bielefeld, S 33–64

Brater M, Büchele U, Fucke E, Herz G (1989) Künstlerisch handeln: Die Förderung beruflicherHandlungsfähigkeit durch künstlerische Prozesse. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart

Brater M, Hemmer-Schanze C, Maurus A, Munz C (1996) Wird Arbeit Kunst, kann die Natur le-ben: Umweltschutz durch ein neues Verständnis von Arbeit und Beruf. Edition Tertium, Ostfildern

Brater M, Freygarten S, Rahmann E, Rainer M (2011) Kunst als Handeln – Handeln als Kunst.Was die Arbeitswelt und Berufsbildung von Künstlern lernen können. W. Bertelsmann, Bielefeld

Brockhoff K (1999) Forschung und Entwicklung. Oldenbourg, München u. a.

Callois R (1960) Die Spiele und die Menschen. Schwab, Stuttgart

Csikszentmihalyi M (1985) Das Flow-Erlebnis. Jenseits von Angst und Langeweile: im Tun auf-gehen. Klett-Cotta, Stuttgart

Ehrlenspiel K (2009) Integrierte Produktentwicklung. Denkansätze, Methodeneinsatz, Zusammen-arbeit. Hanser, München u. a.

Elger D, Obrist HU (Hrsg) (2008) Gerhard Richter. Text 1961 bis 2007. Schriften, Interviews,Briefe. Verlag der Buchhandlung König, Köln

Ferguson ES (1992) Engineering and the Mind’s Eye. M.I.T. Press, Cambridge u. a.

Fricke W (2009) Innovatorische Qualifikationen. Ihre Entfaltung und Anwendung im Prozess desLernens und Handelns in Arbeitssituationen. In: Bolder A, Dobischat R (Hrsg) Eigen-Sinn undWiderstand. Kritische Beiträge zum Kompetenzentwicklungsdiskurs. VS – Verlag für Sozialwis-senschaften, Wiesbaden, S 179–206

Fritz J (2004) Das Spiel verstehen. Eine Einführung in Theorie und Bedeutung. Juventa, Weinheimu. a.

Goffman E (1974) Frame Analysis. An Essay on the Organization of Experience. Harvard Univer-sity Press, Cambridge

Gohr S (2006) Ich suche nicht, ich finde. Pablo Picasso. Leben und Werk. DuMont, Köln

Hacker W (2003) Psychische Regulation von Arbeitstätigkeiten. Projektberichte, Technische Uni-versität Dresden, Ausg 22

Hacker W (2010) Psychische Regulation von Arbeitstätigkeiten. In: Kleinbeck U, Schmidt KH(Hrsg) Arbeitspsychologie. Hogrefe, Göttingen, S 3–37

Heymann M, Wengenroth U (2011) Die Bedeutung von „tacit knowledge“ bei der Gestaltungvon Technik. In: Beck U, Bonß W (Hrsg) Die Modernisierung der Moderne. Suhrkamp, Frank-furt/Main, S 106–121

3 Innovationsarbeit – künstlerisch, erfahrungsgeleitet, spielerisch 43

Hoß D (1989) Maschinenträume und Traummaschinen. Aktuelle Bezüge einer kritischen Theoriedes Technikumgangs. In: Erd R (Hrsg) Kritische Theorie und Kultur. Suhrkamp, Frankfurt/Main,S 320–335

Howaldt J, Jacobsen H (Hrsg) (2010) Soziale Innovation. VS – Verlag für Sozialwissenschaften,Wiesbaden

Hubig C (2003) Homo faber und homo ludens. In: Poser S, Zachmann K (Hrsg) Homo faberludens. Geschichten zu Wechselbeziehungen von Technik und Spiel, Bd 4. Peter Lang, Frank-furt/Main u. a., S 37–56

Hüther G (2011) Was wir sind und was wir sein könnten: Ein neurobiologischer Mutmacher. SFischer, Frankfurt/Main

Huizinga J (1956) Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Rowohlt, Reinbek

Joas H (1992) Die Kreativität des Handelns. Suhrkamp, Frankfurt/Main

Keller PE (1998) Arbeiten und Spielen am Arbeitsplatz. Eine Untersuchung am Beispiel vonSoftware-Entwicklung. Campus, Frankfurt/Main u. a.

König W (1999) Künstler und Strichezeichner: Konstruktions- und Technikkulturen im deutschen,britischen, amerikanischen und französischen Maschinenbau zwischen 1850 und 1930. Suhrkamp,Frankfurt/Main

Kowol U (1993) Technikentwicklung und Innovationsarbeit. In: Arbeit, Jg 2, H 2, S 114–139

Krohn W (1977) Die „Neue Wissenschaft“ der Renaissance. In: Böhme G, van den Daele W,Krohn W (Hrsg) Experimentelle Philosophie. Suhrkamp, Frankfurt/Main, S 13–127

Merleau-Ponty M (1966) Phänomenologie der Wahrnehmung. de Gruyter, Berlin

Mittelstraß J (2008) Zur Einführung in den Kreativitätsbegriff. In: von Gravenitz G, MittelstraßJ (Hrsg) Kreativität ohne Fesseln. Über das Neue in Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur. UVKUniversitätsverlag, Konstanz, S 13–18

Moldaschl M (2007) Innovationsarbeit. In: Ludwig J, Moldaschl M, Schmauder M, Schmierl K(Hrsg) Arbeitsforschung und Innovationsfähigkeit in Deutschland. Hampp, München u. a., S 135–146

Musil R (1970) Der Mann ohne Eigenschaften. Rowohlt, Reinbek

Nardi BA (1996) Context and consciousness. Activity theory and human computer interaction.M.I.T. Press, Cambridge

Oerter R (1999) Psychologie des Spiels. Beltz, Weinheim u. a.

Pahl G (1998) Denk- und Handlungsweisen beim Konstruieren. Erkenntnisse aus einer interdiszi-plinären Forschung. Otto-Friedrich-Universität, Bamberg

Parsons T (1980) Health, Uncertainty and the Action Structure. In: Fiddel S (Hrsg) Uncertainty.Behavioral and Social Dimensions. Praeger, New York, S 145–163

Petroski H (1985) To Engineer is Human. The role of failure in successful design. St. Martin’sPress, New York

Piaget J (1969) Nachahmung, Spiel und Traum. Die Entwicklung der Symbolfunktion beim Kinde.Ernst Klett Verlag, Stuttgart

Rogalla I (2011) Moderne Berufe zwischen Struktur und Wandel – Ein interdisziplinäres Modell.Dissertation an der Universität Augsburg

Röhrs H (1983) Die Reformpädagogik. Ursprung und Verlauf in Europa, 2. Aufl. Schroedel, Han-nover

Runkel G (2003) Das Spiel in der Gesellschaft, Bd 3. LIT, Münster

44 F. Böhle et al.

Scheuerl H (1979) Das Spiel. Untersuchungen über sein Wesen, seine pädagogischen Möglichkei-ten und Grenzen. Beltz, Weinheim

Scheuerl H (1997) Das Spiel: Theorien des Spiels, Bd 2. Beltz, Weinheim

Schmitz H (1978) System der Philosophie, Bd III, 5. Teil: Die Wahrnehmung. Bouvier, Bonn

Schmitz H (1994) Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie. Bouvier, Bonn

Schön DA (2002) The Reflective Practitioner. How professionals think in action. Ashgate, Alders-hot

Schumpeter JA (1912) Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Duncker & Humblot, Leipzig

Suchman LA (2007) Human-Machine Reconfigurations. Plans and situated actions. CambridgeUniversity Press, Cambridge u. a.

Vincenti WG (1990) What Engineers Know and How They Know it. Analytical studies from ae-ronautical history. Johns Hopkins University Press, Baltimore u. a.

Volpert W (2003) Wie wir handeln, was wir können. Ein Disput als Einführung in die Handlungs-psychologie. artefact Verlag, Sottrum

Weber M (1956) Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Mohr, Tü-bingen

Wolf H, Mickler O, Manske F (1992) Eingriffe in Kopfarbeit – Die Computerisierung technischerBüros im Maschinenbau. Edition sigma, Berlin

Kapitel 4Innovationsprozess – flexibel, offen, non-linear

Markus Bürgermeister

Basierend auf Ungewissheit als konstitutivem Merkmal von Innovation wurde imProjekt KES-MI der KES-MI-Innovationsprozess entwickelt. Er steht für einen fle-xiblen Innovationsprozess unter besonderer Berücksichtigung künstlerischer, erfah-rungsgeleiteter und spielerischer Innovationsarbeit. Die Flexibilität des Innovati-onsprozesses zeigt sich dabei in zweierlei Hinsicht: in der Flexibilität zwischenden Elementen und in der Flexibilität innerhalb der einzelnen Elemente. Planungund Berechnung werden hierbei nicht aufgegeben, weil sie für Innovation zweifel-los wichtig sind. Standardisierte Abläufe werden so bewusst genutzt und nicht perse negiert, dürfen aber insgesamt die Entfaltung künstlerischer, erfahrungsgeleite-ter und spielerischer Innovationsarbeit nicht behindern. In diesem Kapitel wird derKES-MI-Innovationsprozess näher beschrieben. Dies umfasst seinen Aufbau, sei-ne Elemente und seine Erfolgspotenziale. Als Einstieg erfolgt ein Überblick zumInnovationsprozess.

4.1 Innovationsprozess im Überblick

Innovationen sind für den Unternehmenserfolg mitentscheidend. Es gilt zunehmendfür Unternehmen1, hochinnovativ zu sein und zugleich die Zeit und Kosten der In-novation zu begrenzen, wodurch besondere Anforderungen an die Organisation vonInnovationsarbeit entstehen. Innovationsarbeit lässt sich indessen als der Innovation

1 Unternehmen sind bei der Betrachtung von Innovation wegen ihrer Markt- und Technologieori-entierung häufig von zentraler Bedeutung. Sie werden hier exemplarisch dargestellt. Damit kanneine sinngemäße Übertragung auf andere Organisationstypen erfolgen.

Markus Bürgermeister (B)Sozioökonomie der Arbeits- und Berufswelt, Philosophisch-Sozialwissenschaftliche Fakultät,Universität Augsburg, Eichleitnerstraße 30, 86159 Augsburg, [email protected]

45F. Böhle et al. (Hrsg.), Innovation durch Management des Informellen,DOI 10.1007/978-3-642-24341-7_4,© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012

46 M. Bürgermeister

zuträgliche Arbeit verstehen. Für die Organisation von Innovationsarbeit kann aufden Begriff des Innovationsprozesses (Tao et al. 2010; Moritz 2008; Pavitt 2006;Vahs u. Burmester 2005; Hauschildt 2004; Douthwaite et al. 2001; Brockhoff 1999;King 1992; Kline u. Rosenberg 1986; Tushman 1977) zurückgegriffen werden. DerInnovationsprozess ergänzt weitere, systematisch abgrenzbare Prozesse in Unter-nehmen, die im Zuge verstärkter Prozessorientierung in den Blickpunkt geraten,wie beispielsweise den Auftragsabwicklungsprozess oder den Serviceprozess (vgl.Schmelzer u. Sesselmann 2008, S. 73). Mit dem Schlagwort der „Open Innovati-on“ erstreckt sich der Innovationsprozess immer mehr auch über die Grenzen einesUnternehmens hinaus (vgl. Gaitanides 2004, Sp. 1217; Chesbrough 2003).

Für den Innovationsprozess grundlegend ist die Frage, was eigentlich unter Inno-vation verstanden wird. Vier Dimensionen können hierfür Aufschluss bieten (vgl.Hauschildt 2004, S. 11 ff.; Brockhoff 1999, S. 35 ff.):

� der Innovationsgegenstand,� das Innovationsausmaß,� der Innovationsauslöser und� der Innovationsbegriff.

Innovationsgegenstand: Beim Gegenstand der Innovation kann zwischen Produkt-innovation und Prozessinnovation unterschieden werden, wobei zur Produktinno-vation nicht nur die Innovation von Sachgütern zählt, sondern auch die Innovationvon Dienstleistungen (vgl. Hauschildt 2004, S. 11; Homburg u. Krohmer 2006,S. 567). Die Prozessinnovation zielt auf eine Verbesserung von Zeit, Kosten undQualität bei der Herstellung von Produkten, während sich die Produktinnovationauf eine verbesserte Befriedigung von Bedürfnissen des Kunden durch Produkterichtet (vgl. Hauschildt 2004, S. 11). Nicht selten geht mit einer Produktinnovationeine Prozessinnovation einher, weil Produkte eine spezifische Herstellungsweiseverlangen können (vgl. Hauschildt 2004, S. 11 f.). Neben Produktinnovationen undProzessinnovationen gibt es die Begriffe der organisatorischen Innovation und derSozialinnovation (vgl. Vahs u. Burmester 2005, S. 78 ff.). Eine organisatorischeInnovation ist eine Neuerung in der Aufbauorganisation und/oder Ablauforgani-sation, eine Sozialinnovation ist Neues in der Beziehung zwischen Mensch undUnternehmen (vgl. Vahs u. Burmester 2005, S. 78 ff.). Häufig sind die organisatori-sche Innovation und die Sozialinnovation eng mit der Produktinnovation und/oderProzessinnovation verbunden (vgl. Vahs u. Burmester 2005, S. 78 ff.). Geht es umeine isolierte organisatorische Innovation oder Sozialinnovation, gibt es beim In-novationsprozess zudem oftmals weitreichende Analogien zur Prozessinnovation.Hiervon ausgehend können die organisatorische Innovation und die Sozialinnovati-on im Zuge von Produktinnovation und Prozessinnovation betrachtet werden oderkönnen Prozessinnovationen exemplarisch gelten.

Innovationsausmaß und Innovationsauslöser: Beim Ausmaß der Innovation er-folgt häufig die Gegenüberstellung von radikaler Innovation oder inkrementellerInnovation, abhängig davon, wie stark sich die Innovation von Bestehendem absetzt(vgl. Hauschildt 2004, S. 14 f.). Und beim Auslöser der Innovation ist es üblich,

4 Innovationsprozess – flexibel, offen, non-linear 47

zwischen einem Technology Push, Demand Pull und Regulatory Pull zu unterschei-den (vgl. von Ahsen et al. 2010, S. 8 f.). Der Anstoß zur Innovation erfolgt beieinem Technology Push durch einen technologischen Impuls, bei einem DemandPull durch neue Kundenbedürfnisse und bei einem Regulatory Pull durch neueRechtsvorschriften (vgl. von Ahsen et al. 2010, S. 8 f.). Darüber hinaus erscheint essinnvoll, eine Kategorie wahrgenommener Verantwortung, die über Rechtspflichtenhinausgeht, als Auslöser der Innovation aufzunehmen: die erweiterte Verantwortungdes Unternehmens nach innen und nach außen. Intern umfasst dies die erweiterteVerantwortung gegenüber der Belegschaft und den Eigentümern, extern die erwei-terte Verantwortung gegenüber der technologischen, ökonomischen, ökologischen,sozialen, kulturellen oder politischen Umwelt (zum Umweltbegriff vgl. Staehle1999, S. 625 ff.). Diese Kategorie sei als Responsibility Push bezeichnet. Insgesamtmuss sich der Anstoß zur Innovation nicht auf einen einzigen Auslöser beschrän-ken. Innovation kann auch gleichzeitig durch mehrere Faktoren ausgelöst werden,innerhalb einer Auslöserkategorie oder über mehrere Kategorien hinweg.

Innovationsbegriff: Eng gefasst meint Innovation die ökonomische Nutzungeiner Erfindung, am Markt oder im Unternehmen selbst (vgl. Brockhoff 1999,S. 35 ff.). Damit grenzt sich die Innovation von der Invention ab. Versteht manInnovation in einem weiteren Sinne, erstreckt sich die Innovation über die öko-nomische Nutzung der Erfindung hinaus auf die Erfindung selbst, d. h. auf dieInvention (vgl. Brockhoff 1999, S. 38 ff.). Zu Innovationsarbeit zählt dann die reineErfindungsarbeit genauso wie die Arbeit zur Verwertung der Erfindung.

Abbildung 4.1 zeigt Innovationsdimensionen im Überblick:

Abb. 4.1 Innovationsdimensionen im Überblick

48 M. Bürgermeister

Auf dem Verständnis von Innovation in einem weiteren Sinne aufbauend, lassensich mit Brockhoff (1999) grundlegend die folgenden Elemente des Innovations-prozesses identifizieren:

� Ursprungsidee,� Forschung,� Entwicklung,� Produktion,� Einbringung in den Markt/das Unternehmen,� Durchsetzung im Markt/Unternehmen.

Zurückgehend auf Taylor (1919) und Weber (1922) richten sich klassische Or-ganisationsprinzipien an der Annahme umfassender Planbarkeit und umfassendervorgängiger Berechenbarkeit von Arbeitsprozessen aus. Dies gilt nicht nur für dieSerienfertigung und routinisierte Arbeitsabläufe, sondern im Kern auch für Inno-vation. Wenngleich die klassischen Organisationsprinzipien in einzelnen Aspektenwichtige Erkenntnisse für den Innovationsprozess liefern können, stoßen sie in ei-nem zunehmend verschärften Wettbewerb mehr und mehr an ihre Grenzen (vgl.Heesen 2009, S. 70 f.). Es gelingt dann immer weniger, Innovationsarbeit so zuorganisieren, dass ein sinnvolles Verhältnis von Zeit, Kosten und Qualität erreichtwird. Seit längerem gibt es daher das Bestreben, den Innovationsprozess zu fle-xibilisieren (Cooper u. Edgett 2008; Moritz 2008; Vahs u. Burmester 2005; Dou-thwaite et al. 2001; Brockhoff 1999; Pleschak u. Sabisch 1996; Kline u. Rosenberg1986).

Innovation lässt sich häufig nicht umfassend planen und ohne weiteres berech-nen. Vielmehr ist Ungewissheit ein konstitutives Merkmal von Innovation (vgl.Kap. 1). Dabei muss Ungewissheit kein Störfaktor sein, sondern kann dezidiertgenutzt werden, um Wettbewerbsvorteile zu generieren. Zwei Punkte sind hierfürwichtig:

� die besonderen Merkmale von Innovationsarbeit und� die Flexibilität in der Organisation von Innovationsarbeit.

Innovationsarbeit verortet sich dabei auf der Ebene praktischen Arbeitens, alsoauf der personalen Ebene, während es bei der Organisation von Innovationsarbeit indiesem Zusammenhang darum geht, geeignete Voraussetzungen für Innovationsar-beit zu schaffen. Der Innovationsprozess ist eine Verkettung von Innovationsarbeit(vgl. Böhle et al. 2011, S. 300). So verstanden, wird Innovationsarbeit in den ein-zelnen Elementen des Innovationsprozesses zusammengefasst. Die Entfaltung derPotenziale von Innovationsarbeit stellt damit organisatorische Anforderungen inzweierlei Hinsicht:

� Flexibilität zwischen den Elementen und� Flexibilität innerhalb der einzelnen Elemente.

4 Innovationsprozess – flexibel, offen, non-linear 49

Im Übrigen lassen sich so auch Entwicklungen einer zunehmenden Parallelisie-rung von Innovationstätigkeiten, personal, betrieblich und unternehmensübergrei-fend, erfassen (vgl. Bürgermeister u. Schambach 2005; Brockhoff 1999, S. 43 ff.).Damit geht einher, dass Innovationsarbeit häufig in Projekten organisiert wird undes einzelne (Teil-)Projekte zu einem oder mehreren Elementen des Innovationspro-zesses gibt (vgl. Bürgermeister u. Schambach 2005; Brockhoff 1999, S. 43 ff.). DerInnovationsprozess kann so auch als Innovationsprojekt verstanden werden (vgl.Brockhoff 1999, S. 43 ff.).

Zumeist wird Innovation nicht allein durch Kreativität u. Ä. hervorgebracht. Umeine Innovation zu schaffen, braucht es häufig auch planmäßige Arbeit. Grundle-gend ist zudem, Innovationsarbeit abzugrenzen von Alltagsarbeit, die keinen Bezugzu Innovation hat. Für den Innovationsprozess ergibt sich daraus, dass standardisier-te Abläufe nicht per se zu negieren sind, sich diese aber auf die planmäßige Arbeitbeziehen müssen und insgesamt die Entfaltung der Potenziale von Innovationsarbeitnicht behindern dürfen. Damit bedarf es einer

� Flexibilisierung des Innovationsprozesses,� ohne Planung und Berechnung aufzugeben.

Geeignete Voraussetzungen für die Entfaltung der Potenziale von Innovationsar-beit zu schaffen, erscheint in bestimmten Unternehmensbereichen seit langem plau-sibel. Arbeitsabläufe und Kooperationszusammenhänge strikt vorzugeben ist fürviele Tätigkeitsaspekte einer Forschungs- und Entwicklungsabteilung unpassend.Gleiches gilt für einzelne, hauptsächlich mit Innovation befasste Beschäftigte sowiefür Managementpositionen. Daher gibt es in diesen Bereichen verstärkt Freiräume,die von den Beschäftigten sach- und situationsgerecht auszufüllen sind. Nicht alleUnternehmen verfügen allerdings über eigens für Innovation eingerichtete Einhei-ten, insbesondere kleine und mittlere Unternehmen nicht, weil die erforderlichenpersonellen und finanziellen Ressourcen häufig fehlen. Innovationsarbeit ist daherdort seit langem eine Anforderung an Managementpositionen, mitunter auch an alleBeschäftigten. Ein drastisch verschärfter Wettbewerb rückt diese Anforderung mitBezug auf alle Beschäftigten immer mehr in den Blickpunkt. Und dies auch bei denUnternehmen mit „hauptamtlichen“ Innovationseinheiten, weil der quantitative undqualitative Innovationsbedarf die Kapazitäten dieser Einheiten häufig übersteigt.Damit geht einher, dass Innovationsbedarfe häufig nur dann sachgerecht und schnellzu decken sind, wenn der Mitarbeiter vor Ort eine tragende Rolle übernimmt. Nebender innerbetrieblichen Öffnung des Innovationsprozesses gibt es zudem die Einbe-ziehung externer Partner, wobei dies auch der Kunde sein kann (vgl. Möslein u.Bansemir 2009; Chesbrough 2003). Hinsichtlich der Flexibilisierung des Innova-tionsprozesses bedeutet dies, dass Freiräume für die Entfaltung der Potenziale vonInnovationsarbeit auf sämtliche Beteiligte zu beziehen sind. Der Innovationsprozessbeinhaltet dann

50 M. Bürgermeister

� Freiräume für die Potenziale der Innovationsarbeit eigens für Innovation einge-richteter Einheiten (falls vorhanden),

� Freiräume für die Potenziale der Innovationsarbeit anderer (aller) Abteilungenund Berufsgruppen und

� Freiräume für die Potenziale der Innovationsarbeit externer Partner.

4.2 Konzept des KES-MI-Innovationsprozesses

Das Projekt KES-MI konkretisiert Innovationsarbeit in drei Dimensionen: inkünstlerischer, erfahrungsgeleiteter und spielerischer Innovationsarbeit, kurz KES-Innovationsarbeit (vgl. Kap. 3). In Anknüpfung an die Diskussion zum Innovati-onsprozess (Abschn. 4.1) richtet sich das im Projekt KES-MI entwickelte Konzeptdes KES-MI-Innovationsprozesses auf eine dezidierte Nutzung der Ungewissheitzur Förderung von Innovation. Der KES-MI-Innovationsprozess steht für einenflexiblen Innovationsprozess unter besonderer Berücksichtigung künstlerischer,erfahrungsgeleiteter und spielerischer Innovationsarbeit (vgl. Böhle et al. 2011,S. 300). Methodisch setzen sich die Erkenntnisse zum KES-MI-Innovationsprozesszusammen aus Ergebnissen empirischer Forschungs- und Entwicklungsarbeit, derAuswertung vorliegender theoretischer Beschreibungen sowie konzeptuellen Über-legungen.2

Weil Planung und Berechnung für Innovation zweifellos wichtig sind, werdensie im Konzept des KES-MI-Innovationsprozesses mit verankert. StandardisierteAbläufe werden so bewusst genutzt und nicht per se negiert, dürfen aber insgesamtdie Entfaltung künstlerischer, erfahrungsgeleiteter und spielerischer Innovationsar-beit nicht behindern. Damit verbunden ist, Freiräume für die Entfaltung künstleri-scher, erfahrungsgeleiteter und spielerischer Innovationsarbeit zu schaffen und die-se auf sämtliche Beteiligte zu beziehen, also auf „hauptamtliche“ Innovationsstellen(falls vorhanden) wie auf Mitarbeiter vor Ort und externe Partner. Die Flexibilitätdes Innovationsprozesses zeigt sich dabei in zweierlei Hinsicht: in der Flexibilitätzwischen den Elementen und in der Flexibilität innerhalb der einzelnen Elemente(vgl. Böhle et al. 2011, S. 300). Im Abschn. 4.2.1 wird der Aufbau des KES-MI-Innovationsprozesses beschrieben. Dabei geht es zunächst um die Definition derElemente und ein grundlegendes Ablaufschema und dann um die Flexibilität zwi-schen den Elementen. Die Flexibilität innerhalb der einzelnen Elemente wird imAbschn. 4.2.2 betrachtet.

2 Die Erkenntnisse zum KES-MI-Innovationsprozess gehen zu einem wesentlichen Teil auf Dis-kussionen der am Projekt KES-MI beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zurück.Hervorzuheben sind an dieser Stelle die Beiträge von Prof. Dr. Eckehard Moritz und Martin Streh-ler, SportKreativWerkstatt GmbH, ausgehend vom Konzept holistischer Innovation (Moritz 2008).Der KES-MI-Innovationsprozess wurde zudem mit Vertretern der Unternehmenspraxis diskutiert.

4 Innovationsprozess – flexibel, offen, non-linear 51

4.2.1 Aufbau des KES-MI-Innovationsprozesses

Für den Aufbau des KES-MI-Innovationsprozesses ist grundlegend, dass er ausbestimmten Elementen besteht und die Elemente nicht fest miteinander verbun-den sind, es also kein festes Ablaufschema gibt. Die Elemente sind so prinzipiellfrei miteinander kombinierbar, wenngleich sie grundlegend in einer Reihe vom Be-ginn bis zum Ende des Innovationsprozesses geordnet sind. Zudem können einzelneElemente ganz oder teilweise entfallen. Damit erfolgt eine Kombination von Flexi-bilität und Planung, weil es durch die Existenz und Reihung von Elementen eineStandardisierung des Innovationsprozesses gibt, diese aber fundamental mit einerOffenheit für Ungeplantes verbunden ist.

Im Einzelnen besteht der KES-MI-Innovationsprozess aus folgenden Elemen-ten:

� Impuls,� Ideenpool,� Auswahl und Initiierung,� Forschung,� Entwicklung,� Produktion,� Einbringung in den Markt/das Unternehmen,� Durchsetzung im Markt/Unternehmen.

Am Beginn des KES-MI-Innovationsprozesses steht das Element Impuls, es fol-gen die Elemente Ideenpool sowie Auswahl und Initiierung. Diese Elemente gehenwesentlich auf Erkenntnisse zum Konzept holistischer Innovation (Moritz 2008)zurück. Für den weiteren Teil des KES-MI-Innovationsprozesses finden die im Ab-schn. 4.1 angeführten, grundlegenden Elemente des Innovationsprozesses im Sinnevon Brockhoff (1999) nähere Verwendung, mit Ausnahme des Elements der Ur-sprungsidee, das durch die gerade angeführten Elemente näher beschrieben bzw.ersetzt wird (vgl. Böhle u. Bürgermeister 2011, S. 11; Böhle et al. 2012). Auf dieElemente Impuls, Ideenpool sowie Auswahl und Initiierung folgen so die ElementeForschung, Entwicklung, Produktion, Einbringung in den Markt/das Unternehmenund Durchsetzung im Markt/Unternehmen (vgl. Böhle et al. 2011, S. 300).

Abbildung 4.2 zeigt Elemente des KES-MI-Innovationsprozesses:

Abb. 4.2 Elemente des KES-MI-Innovationsprozesses

Innerhalb einzelner Elemente des KES-MI-Innovationsprozesses lassen sich fol-gende weitere Differenzierungen treffen (vgl. Brockhoff 1999, S. 50 ff.; Hofbauer

52 M. Bürgermeister

et al. 2009, S. 52 ff.; Heesen 2009, S. 86 ff.; Hauschildt 2004, S. 11 f.; Kline u.Rosenberg 1986):

� Auswahl und Initiierung– Vorauswahl– Konzeption

– Produktkonzeption– Prozesskonzeption

– fortgeschrittene Auswahl– Initiierung

� Forschung– Grundlagenforschung– angewandte Forschung

� Entwicklung– Produktentwicklung

– Produktentwicklung im engeren Sinne– Produkttest

– Prozessentwicklung– Prozessentwicklung im engeren Sinne– Prozesstest

� Produktion– Umsetzung der Entwicklung in die Serienfertigung– Serienfertigung im engeren Sinne

� Einbringung in den Markt/das Unternehmen– Markterprobung/Erprobung im Unternehmen– Markteinführung/Einführung im Unternehmen

Die Definition und Reihung der Elemente mit ihren Teilelementen bietet eingrundlegendes Ablaufschema. Zunächst gibt es die Möglichkeit, dass dieses Ab-laufschema vollständig eingehalten wird. Zwei Voraussetzungen sind hierfür not-wendig: erstens eine Innovation, für deren Schaffung sämtliche Elemente und Teil-elemente beansprucht werden. Eine Sachgutinnovation kann hierfür stehen. Undzweitens ein linearer Verlauf des Innovationsprozesses, der allerdings mit dem ver-stärkten Auftreten von Ungeplantem im verschärften Wettbewerb und den Ent-wicklungen einer zunehmenden Parallelisierung von Innovationstätigkeiten immerseltener vorliegt. Im folgenden Beispiel bleibt die Flexibilität zwischen den Ele-menten bewusst unberücksichtigt. Ausgelöst durch den Impuls eines verändertenUmweltbewusstseins von Kunden, womöglich in Verbindung mit neuen Emissions-grenzwerten, werden bei einem Automobilhersteller verschiedene Innovationsideenfür ein hoch energieeffizientes Fahrzeug gesammelt. Hieran anschließend erfolgtdie Auswahl von Innovationsideen in Verbindung mit der Konzeption von Produktund Prozess sowie die Initiierung des Innovationsteilprojekts für die nachfolgendenProzessschritte. Es folgen Tätigkeiten im Bereich der Grundlagenforschung undangewandten Forschung. Hierauf aufbauend gibt es die Entwicklung und den Test

4 Innovationsprozess – flexibel, offen, non-linear 53

von Herstellungsprozess und Fahrzeug. Die Vervielfältigung des entwickelten Fahr-zeugs erfolgt dann im Element Produktion. Der nächste Schritt ist die Erprobungdes Fahrzeugs im Markt, worauf die Markteinführung des Fahrzeugs vorgenom-men wird. Schließlich erfolgen Maßnahmen zur Durchsetzung des Fahrzeugs imMarkt.

Betrachtet man das verstärkte Auftreten von Ungeplantem im verschärftenWettbewerb und die Entwicklungen einer zunehmenden Parallelisierung vonInnovationstätigkeiten, so zeigt sich, dass es häufig notwendig ist, das grundle-gende Ablaufschema dezidiert mit Flexibilität zu kombinieren. Ein Ansatzpunkthierbei sind Änderungen und Verbesserungen an der Produkt- und/oder Prozess-innovation, die im Innovationsprozess auftreten (vgl. Böhle et al. 2011, S. 300;Böhle u. Bürgermeister 2011, S. 11). Dazu folgende Beispiele (vgl. Böhle et al.2012):

� Beim Bau eines Prototyps in der Entwicklung kann sich zeigen, dass sich dieverfolgte Idee technisch nicht weiter umsetzen lässt oder einen wirtschaftlichunverhältnismäßigen Ressourceneinsatz erfordert, weshalb auf bereits bestehen-de andere Ideen zurückgegriffen werden muss oder ganz neue Ideen generiertwerden müssen;

� Materialfehler zeigen sich erst beim Start der Serienfertigung, womit neue For-schungsfragen aufgeworfen werden;

� das Produkt setzt sich nicht im Markt durch, weil bestimmte Funktionsschwä-chen des Produkts bestehen und der Markt dies nicht wie geplant toleriert, wo-durch neue Entwicklungsaufgaben entstehen oder sogar grundlegend neue Ideengeneriert werden müssen.

Ein zweiter Ansatzpunkt zur Flexibilität zwischen den Elementen des Innovati-onsprozesses ist die Parallelisierung von Innovationstätigkeiten, personal, betrieb-lich und unternehmensübergreifend. Entwicklungstätigkeiten beginnen nicht erst,wenn Forschungstätigkeiten beendet sind, sondern greifen zeitlich und inhaltlichineinander. Analog gilt dies innerhalb der Entwicklungstätigkeiten für die Entwick-lung und den Test von Produkt und Herstellungsprozess. Oder Arbeiten zur Grund-lagenforschung und zur Markterprobung werden durch wissenschaftliche Instituteals Partner erbracht, während Original Equipment Manufacturer (OEM) und Ent-wicklungsdienstleister bereits Produktentwicklungstätigkeiten vollziehen und Maß-nahmen zur Durchsetzung des Produkts im Markt vorbereiten.

Ein dritter Ansatzpunkt ist die Unterscheidung von Produktinnovation und Pro-zessinnovation sowie von Sachgutinnovation und Dienstleistungsinnovation. ImUnterschied zur Produktinnovation entfällt bei einer Prozessinnovation das Teilele-ment der Produktentwicklung. Und im Unterschied zur Sachgutinnovation entfälltbei der Dienstleistungsinnovation das Element der Produktion vor der Einbringungin den Markt/das Unternehmen.

Ein vierter Ansatzpunkt zur Flexibilität liegt in der Möglichkeit, dass einzel-ne Elemente oder Teilelemente ganz oder teilweise entfallen können, weil sie bei

54 M. Bürgermeister

der betreffenden Innovation nicht erforderlich sind. So sind die Elemente Ideenpoolsowie Auswahl und Initiierung stark verkürzt, wenn es nur eine einzige Innovations-idee gibt. Oder es ist das Teilelement der Grundlagenforschung nicht erforderlich,wenn es im Einzelfall ausreicht, auf bestehende Erkenntnisse der Grundlagenfor-schung zurückzugreifen.

Ein fünfter Ansatzpunkt liegt in der Möglichkeit, dass der Innovationsprozessnicht mit den „frühen“ Elementen beginnt. Ein Beispiel hierfür ist, bereits beim Ele-ment der Forschung oder Entwicklung in den Innovationsprozess einzusteigen und„frühe“ Elemente nachzuziehen oder simultan abzuwickeln, wie es häufig bei einemTechnology Push vorkommt. Impuls, Ideenpool sowie Auswahl und Initiierung desInnovationsprojekts ergeben sich so aus den Forschungs- und Entwicklungstätig-keiten heraus bzw. im Zuge der Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten.

Ein weiterer Ansatzpunkt für die Flexibilität zwischen den Elementen undTeilelementen ist das Controlling der Tätigkeiten und Ergebnisse. Hierzu gilt eszunächst, Planung und Ungewissheit im Innovationsprozess bzw. Innovationspro-jekt/Innovationsteilprojekt näher zu bestimmen. Drei Fallkategorien lassen sichdabei grundlegend unterscheiden:

1. Ergebnis und Weg stehen vorab weitgehend fest;2. Ergebnis steht vorab weitgehend fest, Weg ist weitgehend unklar;3. Ergebnis und Weg sind weitgehend unklar.

Abhängig von der jeweiligen Fallkategorie gibt es fundamentale Unterschiede inder Planbarkeit des Innovationsprozesses bzw. Innovationsprojekts/Innovationsteil-projekts. Die Planung und Steuerung von Tätigkeiten und Ergebnissen hat sich imSinne des Innovationserfolgs hieran zu orientieren, in den Dimensionen Zeit, Kos-ten/Erlöse und Qualität. Damit verbunden ist ein differenzierter Umgang mit Stage-Gates (Cooper u. Edgett 2008; Cooper et al. 2002, 2002a), Meilensteinen (Hamilton2004, S. 322–323), Elementen/Teilelementen des Innovationsprozesses und Re-views (Cooper et al. 2002, 2002a). Stage-Gates stehen zwischen den Elementendes Innovationsprozesses (vgl. Heesen 2009, S. 72). Sie stehen für einen Zeit-punkt der Bewertung der Innovationstätigkeiten und -ergebnisse, um nach jedemElement des Innovationsprozesses zu entscheiden, ob die Innovationstätigkeitenfortgeführt werden (vgl. Heesen 2009, S. 72). Am Ende des Innovationsprozes-ses steht ein Review zur abschließenden Bewertung des Innovationserfolgs (vgl.Cooper et al. 2002, 2002a). Im Kontext des Projektmanagements sind Stage-Gatesals Meilensteine zu verstehen. Neben den Stage-Gates lassen sich im Projektplannoch weitere Meilensteine platzieren, um das Controlling von Innovationsprojek-ten/Innovationsteilprojekten zu unterstützen. Projekt-Reviews können hieran ge-knüpft sein oder davon entkoppelt stattfinden, um den Erfolg im Projektverlauf zuplanen, zu steuern und zu bewerten, intern und auch nach außen (vgl. Schatten et al.2010, S. 117 ff.; Hab u. Wagner 2004). Häufig steht zudem ein Review am Ende desInnovationsprojekts/Innovationsteilprojekts, um den Projekterfolg abschließend zu

4 Innovationsprozess – flexibel, offen, non-linear 55

bewerten (vgl. Schatten et al. 2010, S. 117 ff.; Hab u. Wagner 2004). Nun zu denAbleitungen der Fallkategorien:

Zu 1: Stehen Ergebnis und Weg vorab weitgehend fest, kann eine relativ verbind-liche Planung des Innovationsprozesses bzw. Innovationsprojekts/Innovationsteil-projekts erfolgen. Die Tätigkeiten lassen sich häufig relativ nah am Projektplansteuern und bewerten, Ergebnisse liegen oftmals relativ nah am Projektplan. Stage-Gates und Meilensteine sind tendenziell zuverlässig, um den jeweiligen Innovati-onserfolg zu erfassen, Reviews können sich oftmals zielführend auf einen detaillier-ten Projektplan beziehen. Gleichwohl ist darauf zu achten, Ungeplantes nicht aus-zugrenzen. Analog zu den Erkenntnissen über das Auftreten von Unwägbarkeiten inhochtechnisierten Arbeitsbereichen (Bauer et al. 2006) können auch bei weitgehendplanbaren Innovationsprojekten Unwägbarkeiten auftreten, die sich maßgeblich aufden Innovationserfolg auswirken.

Zu 2: Steht das Ergebnis vorab weitgehend fest, ist der Weg aber weitge-hend unklar, ist die Planbarkeit des Innovationsprozesses bzw. Innovationspro-jekts/Innovationsteilprojekts im Vergleich zur ersten Fallkategorie deutlich einge-schränkt. Zwei Möglichkeiten erscheinen hier sinnvoll: a) Es gibt einen Projektplanmit einem geringeren Detaillierungsgrad als bei Projekten der ersten Fallkategorieoder b) es wird auf einen Projektplan verzichtet.

Zu a): Das Controlling versteht Stage-Gates und Meilensteine mehr als gro-be Orientierungspunkte denn als fixe Bestandsaufnahmen und richtet die Bewer-tungszeitpunkte stark an den faktischen Ergebnissen und situativen Erfordernis-sen aus. Im empirischen Beispiel aus dem Projekt KES-MI bestimmen so vor al-lem die gewonnenen Daten aus einem Laborexperiment oder der gebaute Prototypdie Zeitpunkte, zu bewerten, inwieweit es erfolgversprechend ist, das Projekt fort-zusetzen und zusätzliche Ressourcen zu investieren. Reviews bringen tendenzielleinen hohen Erkenntnisgewinn für die Planung von Folgeaktivitäten und Folgepro-jekten.

Zu b): Die Bewertungszeitpunkte bestimmen sich allein aus den faktischen Er-gebnissen und situativen Erfordernissen. Abhängig davon, ob und wann weiterfüh-rende Daten aus einem Laborexperiment vorliegen oder der Prototyp gebaut ist, istzu bewerten, inwieweit es erfolgversprechend ist, das Projekt fortzusetzen und zu-sätzliche Ressourcen zu investieren. Reviews bringen auch hier tendenziell einenhohen Erkenntnisgewinn für die Planung von Folgeaktivitäten und Folgeprojekten.

Zu 3: Sind das Ergebnis und der Weg weitgehend unklar, ist die Planbarkeit desInnovationsprozesses bzw. Innovationsprojekts/Innovationsteilprojekts vergleichs-weise am deutlichsten eingeschränkt. Die Handlungsoptionen, die in den Ablei-tungen zur zweiten Fallkategorie dargestellt sind, erscheinen auch hier sinnvoll.Gleiches gilt für die mit den Handlungsoptionen verbundenen Implikationen.

Die Kombination von Standardisierung und Flexibilität, wie sie im Aufbau desKES-MI-Innovationsprozesses verankert ist, stellt eine wichtige Grundlage für eineverlässliche Evaluierung und Planung im Innovationsprozess dar. Hierzu wurde imProjekt KES-MI das Konzept eines Balanced Innovation Management Accountingentwickelt (vgl. Kap. 9).

56 M. Bürgermeister

Abbildung 4.3 zeigt die Flexibilität des KES-MI-Innovationsprozesses am Bei-spiel von Forschung und Entwicklung. Dargestellt sind dabei exemplarische Zu-sammenhänge zwischen den Elementen und zwischen Teilelementen:

Abb. 4.3 Flexibilität des KES-MI-Innovationsprozesses am Beispiel von Forschung und Ent-wicklung

Es ergibt sich eine dezidierte Flexibilität zwischen den Elementen über dengesamten KES-MI-Innovationsprozess. Abbildung 4.4 zeigt diese Flexibilität imÜberblick.

4.2.2 Elemente des KES-MI-Innovationsprozesses

Nach dem Aufbau des KES-MI-Innovationsprozesses mit der Flexibilität zwischenden Elementen kommen wir nun zur Flexibilität innerhalb der einzelnen Elemente.Analog dazu, dass die Existenz und Reihung von Elementen eine Standardisie-rung des Innovationsprozesses darstellt, wie im Abschn. 4.2.1 diskutiert, bietenPlanung und Berechnung auch innerhalb der einzelnen Elemente eine Standardisie-rung. Auch innerhalb der einzelnen Elemente gilt es, Planung dezidiert mit Flexibi-lität zu kombinieren, um eine fundamentale Offenheit für Ungeplantes zu erreichen.

4 Innovationsprozess – flexibel, offen, non-linear 57

Abb. 4.4 Flexibilität des KES-MI-Innovationsprozesses im Überblick (in Anlehnung an Böhleet al. 2011, S. 301)

Um die Errungenschaften von Planung zu nutzen und Flexibilität für Ungeplanteszu ermöglichen, gilt es, Innovationsarbeit in den Elementen in zweifacher Weise zuverankern: in planmäßiger Arbeit und in KES-Innovationsarbeit. Gleiches gilt fürdie einzelnen Teilelemente (vgl. Kap. 9).

4.2.2.1 Impuls

Entlang der Kategorisierung von Innovationsauslösern (vgl. Abschn. 4.1) lassensich beim Impuls zum KES-MI-Innovationsprozess vier Möglichkeiten unterschei-den: Impuls durch neue Technologien, neue Kundenbedürfnisse, neue Rechtsvor-schriften (vgl. von Ahsen et al. 2010, S. 8 f.) und/oder erweiterte Verantwortung.Dabei kann der Impuls

� relativ kurzfristig und unmittelbar auftreten oder� über einen längeren Zeitraum erkundet werden.

Methoden zur strategischen Innovationsanalyse (Hesse 1990, S. 124 ff.) richtensich auf eine möglichst frühzeitige Identifikation von Innovationspotenzialen in derAnalyse von Unternehmen und Unternehmensumwelt. Neben Planungs- und Be-rechnungsverfahren spielt hierbei ein besonderes Gespür eine wichtige Rolle, wassich vor allem beim Aufspüren schwacher Signale (Ansoff 1979) zeigt (vgl. Hesse1990, S. 124 ff.). Und auch bei einem relativ kurzfristig und unmittelbar auftreten-den Impuls kann ein besonderes Gespür wichtig sein. Erfolgt der Impuls etwa durcheine explizite Kundenanfrage, gilt es zeit- und realitätsnah einzuschätzen, inwieweithierfür Innovationspotenziale notwendig und vorhanden sind und inwieweit die

58 M. Bürgermeister

Ausschöpfung von Innovationspotenzialen wirtschaftlich oder anderweitig sinnvollist. Planungs- und Berechnungsverfahren bieten auch hierfür häufig ein Fundament.Analog dazu kann ein besonderes Gespür auch helfen, das Innovationspotenzialzeit- und realitätsnah einzuschätzen, wenn sich eine technische Problemstellung imoperativen Fertigungsablauf ergibt.

Ein empirisches Beispiel aus dem Projekt KES-MI zum Impuls in Form ex-pliziter Kundenanforderung gibt es im Innovationsprojekt „Metalldetektor“, das inKap. 5 näher dargestellt ist. Es ist die Anforderung eines Kunden aus der Zement-industrie an ein Unternehmen, das sich auf die Entwicklung smarter Mess- undRegelsysteme spezialisiert hat: Finde auf einem Fördersystem größere Metallteile,die im Schüttgut verborgen liegen, wobei zu beachten ist, dass das Fördersystemselbst aus massivem Eisen besteht. Antwort des Unternehmens: Die Wahrschein-lichkeit, dass es schief geht, ist größer als 50 Prozent. Wollt ihr trotzdem Geld dafürausgeben? Antwort des Kunden: Ja, probiert es doch wenigstens einmal (vgl. Böh-le u. Kalkert 2009, S. 112 f.). Parallel dazu liefern weitere Unternehmen aus demProjekt KES-MI ebenfalls Beispiele für einen Innovationsimpuls durch expliziteKundenanforderungen, so die Anforderungen, a) eine neue Geometrie für einenIndustrieroboter zu entwickeln und b) Jalousien sowie weitere Produkte der Son-nenschutztechnik nach individuellen Kundenbedürfnissen zu entwickeln. Durch dieAufnahme einer Serienproduktion für bestimmte Jalousien, mit der neue Abläufeund Zuordnungen im Fertigungsbereich zu vollziehen sind, liefert ein Unternehmenaus dem Projekt KES-MI daneben auch ein Beispiel für einen Impuls zur Prozessin-novation. Im Rahmen strategischer Innovationsanalyse kann der Innovationsimpulsdurch die Entwicklung einer Vision erfolgen (vgl. Böhle u. Bürgermeister 2011,S. 11; Böhle et al. 2012). Weiterführend erscheint dabei vor allem, wenn die Visi-onsentwicklung nicht völlig freischwebend erfolgt, sondern von vornherein einenBezug zu praktischen Fragestellungen aufweist. Hierfür hilfreich kann beispiels-weise eine Zukunftswerkstatt sein, die praktische Fragestellungen als Ausgangs-punkt für Innovationsideen hat.

4.2.2.2 Ideenpool

Aus der Visionsentwicklung ergibt sich häufig ein Ideenpool. Die Zukunftswerkstatt„Bike“ bei der Münchner Sonderveranstaltung „Future of Bike Mobility“ im Jahr2009 brachte so Ideen zum Konzept eines Verleihsystems für E-Bikes hervor, umdie Mobilität in Städten systematisch zu stärken (vgl. npk 2009). Auch beim Innova-tionsimpuls durch eine explizite Kundenanforderung oder eine konkrete Problem-stellung im Unternehmen gilt es häufig, zunächst mehrere Ideen zu sammeln undso einen Ideenpool zu bilden, um Erfolgspotenziale von Innovation vergleichendauszuloten. Im Innovationsprojekt „Metalldetektor“ wurden so zunächst mehrereIdeen zur Auffindung der Metallteile auf dem Fördersystem gesammelt. Analoggilt dies für die Ideen a) zur Geometrie des Industrieroboters, b) zu den Produk-ten der Sonnenschutztechnik und c) zu den neuen Abläufen und Zuordnungen im

4 Innovationsprozess – flexibel, offen, non-linear 59

Fertigungsbereich bei der Aufnahme einer Serienproduktion für bestimmte Jalou-sien. Einen Ideenpool zu bilden ist unabhängig vom Auslöser der Innovation, alsounabhängig davon, ob der Anstoß zur Innovation durch neue Technologien, neueKundenbedürfnisse, neue Rechtsvorschriften und/oder erweiterte Verantwortung er-folgt. Bei einem Technology Push ergeben sich die Ideen indessen häufig aus denForschungs- und Entwicklungstätigkeiten heraus bzw. im Zuge der Forschungs- undEntwicklungstätigkeiten (vgl. Abschn. 4.2.1).

4.2.2.3 Auswahl und Initiierung

Aus dem Ideenpool kann eine Auswahl derjenigen Ideen getroffen werden, dieein hohes Erfolgspotenzial bieten, und eine Initiierung weitergehender Schrit-te erfolgen. Dabei gilt es zunächst, eine Vorauswahl zu treffen. Ideen, die dannweiterverfolgt werden sollen, können in ein Produkt- und/oder Prozesskonzeptausgebaut werden, abgeglichen mit technologischen Voraussetzungen und Anfor-derungen, Angebot und Nachfrage, den Rechtsvorschriften sowie der erweitertenVerantwortung (vgl. Heesen 2009, S. 86 ff.; Hofbauer et al. 2009, S. 52 ff.). MitBlick auf Zeit und Kosten der Konzepterstellung erscheint es häufig sinnvoll, sichbei der Vorauswahl auf wenige weiterzuverfolgende Ideen zu beschränken (vgl.Heesen 2009, S. 87). Auf Grundlage der Konzepte kann dann eine fortgeschrit-tene Auswahl erfolgen, um sich auf sehr wenige Innovationsideen oder nur eineeinzige Innovationsidee zu beschränken, die dann im weiteren Innovationsprozessumgesetzt werden sollen bzw. soll (vgl. Heesen 2009, S. 87). Damit geht es auchum die Initiierung von Innovationsprojekten/Innovationsteilprojekten. Zur Ent-scheidungsunterstützung können verschiedene Bewertungsinstrumente eingesetztwerden. Vorgeschlagen werden hier beispielsweise eine Nutzwertanalyse und Ver-fahren zur Budget- und Zeitkontrolle, für die fortgeschrittene Auswahl zusätzlichTarget Costing und Berechnungen nach der Kapitalwertmethode in Verbindung mitEntscheidungsbaumverfahren (vgl. von Ahsen et al. 2010, S. 46 ff.; Heesen 2009,S. 104 ff.). Die Definition streng rationaler Entscheidungskriterien spielt hierbeieine wichtige Rolle. Werden Entscheidungen allein an diesen Kriterien festge-macht, besteht allerdings ein erhöhtes Risiko, Fehlentscheidungen zu treffen, weilwichtige Kompetenzen menschlichen Entscheidungsvermögens ungenutzt bleiben.Über streng rationale Kriterien hinaus lassen sich Entscheidungen deutlich opti-mieren, indem ein nicht näher zu bestimmendes „gutes Gefühl“ oder nicht näher zubegründende Zweifel gewichtig einbezogen werden.

4.2.2.4 Forschung

Zum Element Forschung seien zunächst die Elemente des Forschungsprozessesbeim oben eingebrachten empirischen Fallbeispiel zum Mess- und Regelsystem fürdie Identifikation von Metallteilen dargestellt:

60 M. Bürgermeister

� Theoretische Überlegungen,� Recherchieren,� Bewertung von theoretischen Überlegungen und Recherchen,� Test/Experiment im Labor,� Laborergebnis bewerten (Fehlschlag oder erfolgreich?),� Test/Experiment im Feld, Feldergebnis bewerten (Fehlschlag oder erfolgreich?).

Ohne Zweifel spielt hierbei ein planvolles Vorgehen eine wichtige Rolle. An-dererseits erscheint es unzureichend, Forschung allein mit einer Abarbeitung vonGeplantem in Verbindung zu bringen. Verstärkt gilt dies für die Grundlagenfor-schung, aber auch für die angewandte Forschung (vgl. Langmann 2009, S. 68 f.).Für Forschungsarbeit charakteristisch ist ein Herantasten an weithin Unbekanntes,dessen Durchdringung sich häufig einem komplexen Ursache-Wirkungs-Gefügegegenüber sieht. Planung und Berechnung stoßen hierbei an deutliche Grenzen,sachlich und wirtschaftlich. Für „KES-MI“ ist Forschungsarbeit damit wesentlichgekennzeichnet durch „Elemente des künstlerischen Handelns, wie die Bereitschaftfür Offenheit, [Elemente, Erg. d. Verf.] des erfahrungsgeleiteten Arbeitens, bei dem(erst) im und durch praktisches Handeln Ziele und Verfahrensweisen eruiert wer-den, sowie [. . . ] Elemente des spielerischen Handelns, bei dem Ergebnisse geradedadurch erreicht werden, indem man sie nicht bewusst anstrebt“ (Böhle u. Kalkert2009, S. 114). Dazu passt die Schilderung des angeführten Falls aus der betriebli-chen Forschungspraxis (Böhle u. Kalkert 2009, S. 113):

„Das Projekt wurde gestartet, indem verschieden Techniken ausprobiert wurden. Die ein-zige Zielvorgabe war: Finde Metall auf einem Metallförderband. Wie das gemacht werdensollte, war anfangs relativ unklar. Es wurden mehrere Technologien ausprobiert, die allenicht funktioniert haben. Schließlich landete man ein paar Schleifen weiter bei einer Tech-nik, die viel versprechend aussah und die aufgegriffen und weiter entwickelt wurde. DieBotschaft, die hierin enthalten ist, lautet: Man muss das Scheitern einkalkulieren, man darfes auch nicht als ein Fehler oder als etwas Schreckliches ansehen, sondern Scheitern, ge-rade in solchen Projekten, ist eben auch ein Erkenntnisgewinn. Man weiß dann nämlich,dass ein bestimmter Weg der falsche ist. Ein solcher Prozess ist nicht geradlinig; er ist vonFehlern geprägt und er ist offen. Es kann daher auch passieren, dass unerwartete Zwischen-ergebnisse auftreten, die eventuell dazu zwingen – wie es passiert ist – den Weg zu ändern.Im schlimmsten Fall kann dies auch dazu führen, dass man feststellt: Das geht überhauptnicht.“

4.2.2.5 Entwicklung

Das Element Entwicklung ist im KES-MI-Innovationsprozess nicht nur eine Um-setzung von Forschungsergebnissen, sondern beinhaltet ganz wesentlich auch ei-genes Innovationspotenzial (vgl. Böhle u. Bürgermeister 2011, S. 11; Böhle et al.2012). Grundlegend hierfür ist die Beobachtung, dass (erst) „im konkreten Umgangmit dem Entwicklungsmaterial, physisch oder auch virtuell, Eigenheiten erkennbarwerden, die nicht vorhergesehen wurden“ (Böhle et al. 2011, S. 300) oder vorher-

4 Innovationsprozess – flexibel, offen, non-linear 61

sehbar waren. Hieraus leiten sich dann Beschränkungen, aber auch neue Möglich-keiten ab. Um Beschränkungen rechtzeitig anzuerkennen und neue Möglichkeitenwahrzunehmen, braucht es einen scharfen Möglichkeitssinn und ein ausgepräg-tes Gespür für die immanente Entwicklungslogik. Beim Bau von Modellen undPrototypen erstreckt sich die sinnliche Wahrnehmung dann über ein objektives,exaktes Registrieren hinaus auch auf Empfindungen von Wärme, Vibration, Ge-rüchen und Geräuschen, bei virtuellen Simulationen auf die Vorstellung von Gü-tern und Objekten, die der Simulation zugrunde liegen (vgl. Bürgermeister 2008,S. 203 ff.). Insgesamt gilt es dabei auch, Erfahrungen einer Bewältigung von Un-wägbarkeiten durch Improvisation abzurufen und in das aktuelle Handeln einzu-beziehen. Um Planung mit einer Bewältigung von Unwägbarkeiten bei Entwick-lungstätigkeiten zu verbinden, wurde im empirischen Fallbeispiel der Entwicklungeiner Geometrie für einen Industrieroboter ein Konzept zu kooperativem Erfah-rungstransfer (Porschen 2008) und agilen Entwicklungsmethoden entwickelt (vgl.Kap. 6).

Eigenheiten, die erst bei der Entwicklung erkennbar werden, traten auch beimempirischen Fallbeispiel zum Mess- und Regelsystem für die Identifikation vonMetallteilen auf (Böhle u. Kalkert 2009, S. 113):

„Nach gut vier Jahren, die der Konzern sehr kooperativ mitgetragen hat, ist es schließlichgelungen, einen funktionsfähigen Prototyp zu entwickeln, der über dem Förderband instal-liert wurde. Die Testphase verlief zunächst erfolgreich. Nach einiger Zeit trat allerdings einneues Problem auf. Durch die Veränderung der Jahreszeit (Wintereinbruch) hatten sich dieAußentemperaturen drastisch verändert. Dies hatte zur Folge, dass die zunächst gut funk-tionierende Apparatur nicht mehr zuverlässig arbeitete. Doch auch dieses Problem mussgelöst werden. Beim gegenwärtigen Stand [d. h. beim Stand im Jahr 2009, Anm. d. Verf.]ist diese Lösung noch nicht in Sicht. Trotzdem ist nach vorliegenden Einschätzungen dieWahrscheinlichkeit, das Projekt zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen, auf 85 %gestiegen.“

4.2.2.6 Produktion

Im Element Produktion erfolgt eine Vervielfältigung des entwickelten Produkts. BeiProzessinnovationen geht es im Element Produktion um die Herstellung der entwi-ckelten Komponenten für den verbesserten oder neuen Produktherstellungsprozessoder auch um die Umsetzung des gesamten entwickelten Produktherstellungspro-zesses. Dabei spielt die Planung und rechtzeitige Bereitstellung der erforderlichenFertigungskapazitäten häufig eine wichtige Rolle (vgl. Vahs u. Burmester 2005,S. 248). Vahs u. Burmester (2005, S. 249) weisen in diesem Zusammenhang aufdie heutige hohe Relevanz von Konzepten des Computer Integrated Manufacturing(CIM) hin: „In vielen Unternehmen wird die Produktionseinführung heute durchden Einsatz von CIM-Konzepten erleichtert. Der Vorteil einer computerintegrier-ten Fertigung ist dabei insbesondere darin zu sehen, dass die einzelnen Moduledatentechnisch miteinander vernetzt werden und eine integrierte Planung und Um-setzung der Produktinnovation ermöglichen.“ Die empirischen Fallbeispiele im Pro-

62 M. Bürgermeister

jekt KES-MI machen darauf aufmerksam, dass es beim Element Produktion nichtnur um eine großangelegte Serienfertigung geht, sondern auch um mittlere und klei-ne Losgrößen, bis hin zur Einzelfertigung des entwickelten Produkts. Hierfür stehendie angesprochenen Innovationsprojekte zum Metalldetektor, zum Industrieroboterund zur Sonnenschutztechnik.

Insgesamt ist darauf zu achten, Ungeplantes auch bei der Produktion nicht aus-zugrenzen. Dies stützen die Erkenntnisse über das Auftreten von Unwägbarkeitenin hochtechnisierten Arbeitsbereichen (Bauer et al. 2006) und Untersuchungen zurInformatisierung von Arbeitsprozessen (Bürgermeister 2008; Pfeiffer 2004). Ge-fordert ist daher auch im Element Produktion, planmäßiges Handeln durch KES-Innovationsarbeit dezidiert zu ergänzen. So können ein besonderer Möglichkeits-sinn und ein Erahnen von Zusammenhängen helfen, Störungen zu bewältigen, diebei der Umsetzung der Entwicklungen in die Serienfertigung oder in der Seri-enfertigung selbst auftreten. Förderlich hierfür ist unter anderem, in die jeweili-ge Problemsituation „einzutauchen“ und im Problemlösungsprozess Informationenaufzunehmen, die nicht exakt und eindeutig sind. Über die Umsetzung der Entwick-lung hinaus birgt die Serienfertigung auch ein eigenes Innovationspotenzial, analogden Beschreibungen zum Element Entwicklung. So können sich aus der Serienferti-gung heraus auch Erkenntnisse ergeben, die neue Möglichkeiten und Varianten desProdukts oder Prozesses eröffnen. In diesem Zusammenhang wurde im empirischenFallbeispiel der Sonnenschutztechnik ein Konzept zu Entscheidungen im laufendenProzess entwickelt (vgl. Kap. 7).

4.2.2.7 Einbringung in den Markt/das Unternehmen

Zudem zeigt die Innovationspraxis, dass die Einbringung eines Produkts in denMarkt oder die Einführung eines neuen Prozesses im Unternehmen ganz und garnicht immer planmäßig verlaufen. So konstatieren Teichert et al. (2006, S. 566)eine „markante Zunahme der Flop-Rate bei Produkteinführungen, welche heutzu-tage je nach Branche bei 90 % oder mehr liegt“, erweisen sich nach Hofbauer et al.(2009, S. 28) „Produkte, die es bis zur Markteinführung schaffen, auch noch zu70 Prozent als Flop“ und verfehlte nach dem Mannheimer Innovationspanel (Ram-mer et al. 2010, S. 9) im Jahr 2008 ein nicht unerheblicher Teil von Unternehmen,die Prozessinnovationen einführten, das hieran geknüpfte Ziel von Kostensenkungund/oder Qualitätsverbesserung.

Kritische Erfolgsfaktoren sind bei Produktinnovationen unter anderem der Pro-duktpreis, der Einführungszeitpunkt und die Marktwahl (vgl. Homburg u. Krohmer2006, S. 604 ff.) sowie bei Prozessinnovationen die Mitarbeiterakzeptanz und derÜbergang in Arbeitsroutinen. Über Planung und Berechnung hinaus kann hierbeiein besonderes Gespür helfen (vgl. Böhle et al. 2011, S. 300). Nicht von ungefährspricht man bei der Produkteinführung in der Praxis mitunter vom „richtigen Rie-cher“ für den Preis, das Wann und das Wo. Und nicht selten ist damit verbunden, einRisiko einzugehen, das im Kern auf subjektive Erfahrungen und situative Stimmun-

4 Innovationsprozess – flexibel, offen, non-linear 63

gen zurückgeht. Dies gilt individuell oder als Gruppe, bis hin zu einer risikofreu-digen Unternehmenskultur, im Rahmen von Grenzen, die durch ein verlässlichesRisikomanagement (Wolff u. Holtrup 2005) gesetzt werden. In diesem Sinne istdie Produkteinführung dann auch offen und ungewiss innerhalb von Regeln, wasletztendlich ein Merkmal einer spielerischen Situationsdefinition ist, genauso wieStimmungen und Risikobereitschaft für eine künstlerische Haltung charakteristischsind und ein erfahrungsbezogenes Gespür Element erfahrungsgeleiteten Handelnsist.

Auch bei der Einführung von Prozessinnovationen, beim Kunden oder im eige-nen Unternehmen, sind nicht nur verlässliche Pläne für den Erfolg entscheidend,sondern auch, inwieweit Veränderungsprozesse mit einem besonderen Gespür fürdie praktische Arbeit erfolgen. Es ist nicht selbstverständlich, dass Neues auf daserforderliche Maß an Mitarbeiterakzeptanz stößt und in Arbeitsroutinen übergeht.Hierfür ist es häufig erforderlich, eine Nähe zur praktischen Arbeit und zum Men-schen herzustellen, Schulung zu ermöglichen und im praktischen Arbeitsprozess zugestalten, zu optimieren und zu lernen. Das Konzept eines Balanced Change Mana-gement (Bürgermeister 2008, S. 199 ff.) kann hierfür weiterführende Erkenntnisseliefern, in seinen folgenden Merkmalen und Gestaltungsmodellen:

� Merkmale– Handlungsfähigkeit für Planbares und Ungeplantes,– Wandel als integraler Bestandteil von Organisation,– umfassende Mitarbeiterbeteiligung auf operativer Ebene,– mitarbeiterorientierte Führung;

� Gestaltungsmodelle– Veränderungskreis für ein Balanced-Change-Management,– Promotor eines Balanced-Change-Managements.

4.2.2.8 Durchsetzung im Markt/Unternehmen

Auch die Durchsetzung im Markt bzw. im Unternehmen läuft nicht immer wiegeplant. Bei Produktinnovationen denke man hierbei zunächst an unerwartete Re-aktionen von Wettbewerbern. Dies können deutliche Preissenkungen oder rascheVerbesserungen am Konkurrenzprodukt sein, genauso wie intensive Werbekam-pagnen (vgl. Homburg u. Krohmer 2006, S. 607 f.). Oder es können, unabhängigvon Wettbewerbern, Qualitätsmängel am eigenen Produkt, die sich erst in der brei-ten Produktverwendung zeigen, die Durchsetzung im Markt be- oder verhindern.Auch die Nachfrage kann hinter den prognostizierten Werten zurückbleiben unddie Erklärung hierfür mehr oder weniger fehlen. Und, unabhängig vom betreffen-den Produkt, kann auch ein Schaden des Unternehmensimages negative Folgen fürdie Durchsetzung des Produkts im Markt haben.

Auch an dieser Stelle kann ein besonderes Gespür helfen (vgl. Böhle et al. 2011,S. 300). Um den Reaktionen von Wettbewerbern wirksam zu begegnen, kann ein

64 M. Bürgermeister

besonderes Gespür helfen, schwache Signale (Ansoff 1979) angemessen zu erfas-sen und Szenariotechniken zu optimieren. Wichtig hierbei sind die Imaginationvon Zusammenhängen und das Erahnen von Reaktionslogiken, beides Merkma-le erfahrungsgeleiteter Innovationsarbeit; ebenso, damit verbunden, die Fähigkeit,in Szenarien spielerisch „einzutauchen“. Als Folge kann dann eine Senkung desProduktpreises vorgenommen werden oder eine Verlagerung in andere Märkte, wo-bei auch hier ein besonders Gespür sehr bedeutsam sein kann. Für eine Anpas-sung des Produkts an die Konsumentenwünsche (Lang 1997, S. 127 ff.) gilt diesebenfalls.

Um Qualitätsmängel am Produkt, die sich erst in der breiten Produktverwendungzeigen, oder einen Schaden des Unternehmensimage für das Produkt „abzufedern“,stellt das Gespür ein wichtiges Element der Kommunikationspolitik (Homburg u.Krohmer 2006, S. 607) dar. Dabei gilt es, rationale Argumente und Emotion ge-schickt zu verbinden. Ein besonderes Gespür kann auch helfen, den Markt „wach-zurütteln“, wenn die Nachfrage hinter den prognostizierten Werten zurückbleibt unddie Erklärung hierfür mehr oder weniger fehlt. Mitunter gelingt es, allein durch einkommunikativ geschickt verändertes Verkaufsargument, rational oder emotional,den Durchbruch am Markt zu schaffen.

Die Durchsetzung von Prozessinnovationen im Unternehmen kann durch ver-deckte Widerstände und Arbeitsroutinen, die an der Neuerung vorbeilaufen, be- undverhindert werden (vgl. Bürgermeister 2008, S. 99 f., 135 ff.). Um Nachhaltigkeiteingeführter Prozessinnovationen zu erreichen, geht es im Anschluss an die Emp-fehlungen zur Einführung von Prozessinnovationen häufig darum, eine Nähe zurpraktischen Arbeit und zum Menschen dauerhaft herzustellen, Schulung fortlaufendzu ermöglichen und im praktischen Arbeitsprozess kontinuierlich zu gestalten, zuoptimieren und zu lernen. Angesichts eines stetigen Wandels von Unternehmen undUnternehmensumwelt bedeutet dies auch, eingeführte Prozessinnovationen anzu-passen, im Idealfall fortlaufend, um sich verändernde Anforderungen von Arbeits-abläufen und Menschen abzudecken. Auch hierzu kann das Konzept eines BalancedChange Management (Bürgermeister 2008, S. 199 ff.) samt seinen Gestaltungsmo-dellen weitere Erkenntnisse liefern. Weiterführende Hinweise bietet darüber hinausdas Konzept einer Work Based Usability (Pfeiffer 2008) in seiner Auseinanderset-zung mit ERP-Systemen (Enterprise Resource Planning Systems) und dem Wandelvon Unternehmen.

4.3 Fazit

Zunehmend besteht für Unternehmen die Anforderung, hochinnovativ zu sein undzugleich die Zeit und Kosten der Innovation zu begrenzen. Zu den Ergebnissendieser Entwicklung zählen eine drastisch zunehmende Parallelisierung von Innova-tionstätigkeiten und eine erheblich gestiegene Bedeutung der Zusammenarbeit vonPersonen, Abteilungen und Unternehmen. Damit einher geht eine steigende Anzahl

4 Innovationsprozess – flexibel, offen, non-linear 65

von Innovationsprojekten und Innovationsteilprojekten. Immer bedeutsamer wirdes deshalb, Innovationsarbeit geeignet zu organisieren. Ein umfassend standardi-sierter Innovationsprozess, zurückgehend auf die klassische Annahme umfassenderPlanbarkeit und umfassender vorgängiger Berechenbarkeit von Arbeitsprozessen,stößt hier mehr und mehr an seine Grenzen. Folglich besteht das Erfordernis, denInnovationsprozess zu flexibilisieren.

Ein Schritt hierzu ist, Flexibilität zwischen den Elementen zu schaffen. WeilPlanung und Berechnung für Innovation zweifellos wichtig sind, können aber deut-liche Unterschiede in der Frage bestehen, wie weit die Flexibilisierung zwischenden Elementen vorangeschritten ist. Und zwar vorangeschritten in der Loslösungvon der Annahme umfassender Planbarkeit und umfassender vorgängiger Bere-chenbarkeit. Um zu zeigen, dass eine deutliche Distanzierung von dieser Annahmeauch unter den Bedingungen fortschreitender Dynamisierung und Vernetzung nichtselbstverständlich ist, lässt sich folgendes Beispiel zum Controlling der Tätigkeitenund Ergebnisse heranziehen, entlang der Fallkategorien, wie sie im Abschn. 4.2.1beschrieben sind: Obgleich bewusst ist, dass der Weg zur Innovation weitgehendunklar ist, wird ein detailgenauer Projektplan erstellt, an dem sich die Innovati-onstätigkeiten und -ergebnisse stark auszurichten haben. Darin einzubeziehen sindSprünge, Rückkopplungen und Überlappungen von Aktivitäten zwischen den Ele-menten und Teilelementen. Das Controlling versteht hier Stage-Gates und Meilen-steine mehr als fixe Bestandsaufnahmen denn als grobe Orientierungspunkte undrichtet die Bewertungszeitpunkte stark an den geplanten Ergebnissen und wenigeran den situativen Erfordernissen aus.

Der KES-MI-Innovationsprozess setzt sich hiervon deutlich ab. Er steht füreinen flexiblen Innovationsprozess unter besonderer Berücksichtigung künstle-rischer, erfahrungsgeleiteter und spielerischer Innovationsarbeit. StandardisierteAbläufe werden im KES-MI-Innovationsprozess bewusst genutzt und nicht perse negiert, dürfen aber insgesamt die Entfaltung künstlerischer, erfahrungsgelei-teter und spielerischer Innovationsarbeit (vgl. Kap. 3) nicht behindern. Hierbeiist es Ziel, über die Errungenschaften von Planung hinaus auch Ungewissheitdezidiert zu nutzen, um Innovationen zu fördern. Die Flexibilität des KES-MI-Innovationsprozesses zeigt sich in zweierlei Hinsicht: in der Flexibilität zwischenden Elementen (vgl. Abschn. 4.2.1) und in der Flexibilität innerhalb der Elemente(vgl. Abschn. 4.2.2).

Berücksichtigt wird somit nachdrücklich, dass Innovation im Kern stark vonQualitäten abhängig ist, die sich oftmals nicht umfassend planen und ohne weite-res berechnen lassen. Um Neues zu schaffen, müssen nämlich vielfach eingetretenePfade verlassen und die Potenziale von Innovationsarbeit gezielt genutzt und freige-setzt werden. Der KES-MI-Innovationsprozess bietet in diesem Zuge einen syste-matischen Zugang zur Innovationsqualität. Zudem lassen sich durch die Entfaltungder Potenziale von Innovationsarbeit, wie sie im KES-MI-Innovationsprozess an-gelegt ist, durchaus auch Innovationszeiten und -kosten minimieren. Grundlegendhierfür ist, dass häufig ein detailgenauer Soll-Ist-Abgleich entfällt und damit ver-

66 M. Bürgermeister

bundene Verzögerungen und Kosten eingespart werden können. „Windows of op-portunities“ (Malik 1996, S. 162) können so effizient genutzt werden. Das Konzepteines Balanced Innovation Management Accounting (vgl. Kap. 9) bietet indessenweitreichende Möglichkeiten, den Nutzen des KES-MI-Innovationsprozesses ver-gleichend zu bewerten.

Literatur

Ahsen A von, Heesen M, Kuchenbuch A (2010) Grundlagen der Bewertung von Innovationen imMittelstand. In: Ahsen A von (Hrsg) Bewertung von Innovationen im Mittelstand. Springer, Berlinu. a., S 1–38

Ansoff, HI (1979) Strategic Management. MacMillan, London

Bauer HG, Böhle F, Munz C, Pfeiffer S, Woicke P (2006) Hightech-Gespür. ErfahrungsgeleitetesArbeiten und Lernen in hoch technisierten Arbeitsbereichen, 2. Aufl. W. Bertelsmann, Bielefeld

Böhle F, Bürgermeister M (2011) Innovationsarbeit und Innovationsprozess. Künstlerisch, erfah-rungsgeleitet, spielerisch. In: Praeview. Zeitschrift für innovative Arbeitsgestaltung und Präventi-on, Jg 2, H 1, S 10–11

Böhle F, Kalkert P (2009) Unbestimmtheit und Offenheit als Potenzial für Innovationen. In: Ga-termann I, Fleck M (Hrsg) Innovationsfähigkeit sichert Zukunft. Beiträge zum 2. ZukunftsforumInnovationsfähigkeit des BMBF. Duncker & Humblot, Berlin, S 111–114

Böhle F, Bürgermeister M, Heidling E, Munz C, Neumer J, Porschen S, Wagner J (2011) KES-MIals neuer Weg zur Innovation. Innovationserfolg durch künstlerische, erfahrungsgeleitete, spieleri-sche Innovationsarbeit und ein Management des Informellen. In: Schallock B, Jacobsen H (Hrsg)Innovationsstrategien jenseits traditionellen Managements. Wissenschaftliche und praktische Er-gebnisse des Förderschwerpunktes. Fraunhofer, Stuttgart, S 298–306

Böhle F, Bürgermeister M, Heidling E, Neumer J, Porschen S (2012) Künstlerisch, erfahrungsge-leitet, spielerisch. Management zur Förderung innovativer Arbeit (KES-MI). In: Böhle F, BuschS (Hrsg) Management von Ungewissheit. Neue Ansätze jenseits von Kontrolle und Ohnmacht.Transcript, Bielefeld (im Erscheinen)

Brockhoff K (1999) Forschung und Entwicklung. Planung und Kontrolle, 5. Aufl. Oldenbourg,München u. a.

Bürgermeister M (2008) Change und Planung. Zu einem Balanced-Change-Management. Hampp,München u. a.

Bürgermeister M, Schambach C (2005) Beim Entwickeln kooperieren. Optimierung unterneh-mensübergreifender Fahrzeugentwicklung. Hampp, München u. a.

Chesbrough HW (2003) Open Innovation. The New Imperative for Creating and Profiting fromTechnology. Harvard Business Press, Boston

Cooper RG, Edgett SJ (2008) Maximizing Productivity in Product Innovation. In: Research Tech-nology Management, Jg 51, H 2, S 47–58

Cooper RG, Edgett SJ, Kleinschmidt EJ (2002) Optimizing the Stage-Gate-Process. What Best-Practice Companies Do (I). In: Research Technology Management, Jg 45, H 5, S 21–27

Cooper RG, Edgett SJ, Kleinschmidt EJ (2002a) Optimizing the Stage-Gate-Process. What Best-Practice Companies Do (II). In: Research Technology Management, Jg 45, H 6, S 43–49

4 Innovationsprozess – flexibel, offen, non-linear 67

Douthwaite B, Keatinge JDH, Park JR (2001) Why Promising Technologies Fail. The NeglectedRole of User Innovation during Adoption. In: Research Policy, Jg 30, H 5, S 819–836

Gaitanides M (2004) Prozessorganisation. In: Schreyögg G, Werder A von (Hrsg) HandwörterbuchUnternehmensführung und Organisation, 4. Aufl. Schäffer-Poeschel, Stuttgart, Sp 1208–1218

Hab G, Wagner R (2004) Projektmanagement in der Automobilindustrie. Effizientes Managementvon Fahrzeugprojekten entlang der Wertschöpfungskette. Gabler, Wiesbaden

Hamilton A (2004) Handbook of Project Management Procedures. Telford, London

Hauschildt J (2004) Innovationsmanagement, 3. Aufl. Vahlen, München

Heesen M (2009) Innovationsportfoliomanagement. Bewertung von Innovationsprojekten in klei-nen und mittelgroßen Unternehmen der Automobilzulieferindustrie. Gabler, Wiesbaden

Hesse U (1990) Technologie-Controlling. Eine Konzeption zur Steuerung technologischer Inno-vationen. Lang, Frankfurt a.M. u. a.

Hofbauer G, Körner RA, Nikolaus U, Poost A (2009) Marketing von Innovationen. Strategien undMechanismen zur Durchsetzung von Innovationen. Kohlhammer, Stuttgart

Homburg C, Krohmer H (2006) Marketingmanagement. Strategie, Instrumente, Umsetzung, Un-ternehmensführung, 2. Aufl. Gabler, Wiesbaden

King N (1992) Modelling the Innovation Process. An Empirical Comparison of Approaches. In:Journal of Occupational and Organizational Psychology, Jg 65, H 2, S 89–100

Kline SJ, Rosenberg N (1986) An Overview of Innovation. In: Landau R, Rosenberg N (Hrsg) ThePositive Sum Strategy. Harnessing Technology for Economic Growth. National Academy Press,Washington, S 275–305

Lang F (1997) Von der Innovation zum Markterfolg. Der Crashkurs für Praktiker. Campus, Frank-furt/Main u. a.

Langmann C (2009) F&E-Projektcontrolling. Eine empirische Untersuchung über Einflussfakto-ren und Erfolgswirkung der Nutzung von Controllinginformationen in F&E-Projekten. Gabler,Wiesbaden

Malik F (1996) Systemisches Management und systemisches Projektmanagement. In: Balck H(Hrsg) Networking und Projektorientierung. Gestaltung des Wandels in Unternehmen und Märk-ten. Springer, Berlin u. a., S 145–164

Möslein K, Bansemir B (2009) Open Innovation im Unternehmen. In: Gatermann I, Fleck M(Hrsg) Innovationsfähigkeit sichert Zukunft. Beiträge zum 2. Zukunftsforum Innovationsfähigkeitdes BMBF. Duncker & Humblot, Berlin, S 29–38

Moritz EF (2008) Holistische Innovation. Konzept, Methodik und Beispiele. Springer, Berlin u. a.

npk (2009) Future of Bike Mobility. E-Bikes als Schlüssel? In: Sportartikelzeitung Bike,Jg 16, H 13, S 9. http://www.sportkreativwerkstatt.de/fileadmin/PDF/Presse/SAZ_Future_of_Bike_Mobility.pdf. Zugriff 02 August 2011

Pavitt K (2006) Innovation Processes. In: Fagerberg J, Mowery DC, Nelson RR (Hrsg) The OxfordHandbook of Innovation. Oxford University Press, Oxford, S 86–114

Pfeiffer S (2008) Work Based Usability. Wenn Produktionsmitarbeiter ERP-Systeme gestalten undoptimieren. In: Böhle F, Bolte A, Bürgermeister M (Hrsg) Die Integration von unten. Der Schlüsselzum Erfolg organisatorischen Wandels. Carl Auer, Heidelberg, S 49–66

Pfeiffer S (2004) Arbeitsvermögen. Ein Schlüssel zur Analyse (reflexiver) Informatisierung. VS– Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden

Pleschak F, Sabisch H (1996) Innovationsmanagement. Schäffer-Poeschel, Stuttgart

Porschen S (2008) Austausch impliziten Erfahrungswissens. Neue Perspektiven für das Wissens-management. VS – Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden

68 M. Bürgermeister

Rammer C, Aschhoff B, Doherr T, Köhler C, Peters B, Schubert T, Schwiebacher F (2010) In-novationsverhalten der deutschen Wirtschaft. Indikatorenbericht zur Innovationserhebung 2009.Bundesministerium für Bildung und Forschung, Mannheim

Schatten A, Demolsky M, Winkler D, Biffl S, Gostischa-Franta E, Östreicher T (2010) Best Prac-tice Software-Engineering. Eine praxiserprobte Zusammenstellung von komponentenorientiertenKonzepten, Methoden und Werkzeugen. Spektrum, Heidelberg

Schmelzer HJ, Sesselmann W (2008) Geschäftsprozessmanagement in der Praxis. Kunden zufrie-den stellen, Produktivität steigern, Wert erhöhen, 6. Aufl. Hanser, München

Staehle WH (1999) Management. Eine verhaltenswissenschaftliche Perspektive, 8. Aufl. Vahlen,München

Tao L, Probert D, Phaal R (2010) Towards an Integrated Framework for Managing the Process ofInnovation. In: R&D Management, Jg 40, H 1, S 19–30

Taylor FW (1919) Die Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung. Oldenbourg, München u. a.

Teichert T, Wartburg von I, Valta K (2006) Online-Kundenforen zur kooperativen Neuproduktent-wicklung. In: Wirtz BW, Burmann C (Hrsg) Ganzheitliches Direktmarketing. Gabler, Wiesbaden,S 563–589

Tushman ML (1977) Special Boundary Roles in the Innovation Process. In: AdministrativeScience Quarterly, Jg 22, H 4, S 587–605

Vahs D, Burmester R (2005) Innovationsmanagement. Von der Produktidee zur erfolgreichen Ver-marktung, 3. Aufl. Schäffer-Poeschel, Stuttgart

Weber M (1922) Wirtschaft und Gesellschaft. Mohr, Tübingen

Wolff C, Holtrup M (2005) Risikomanagement bei Innovationsprojekten. In: Littkemann J (Hrsg)Innovationscontrolling. Vahlen, München, S 285–330

Kapitel 5Management des Informellendurch Situatives Projektmanagement

Eckhard Heidling

Der für das Management des Informellen entwickelte Gestaltungsansatz „SituativesProjektmanagement“ richtet sich auf eine dynamische und flexible Projektsteue-rung, bei der besonders die Merkmale der Innovationsarbeit berücksichtigt werden.Gegenstand sind Forschungs- und Entwicklungsprozesse in einem innovativen Un-ternehmen der Mess- und Regeltechnik. Die vernetzten Innovationsprozesse sinddurch die Kooperation mit Partnerunternehmen und Forschungsinstitutionen desregionalen Umfelds gekennzeichnet. In diesem Kapitel wird gezeigt, wie die In-novationsprozesse des Unternehmens mit einem situativen Projektmanagement inden Dimensionen der Zielbestimmung, der zeitlichen Planung, der Art des Vorge-hens und der Art der Steuerung dauerhaft gefördert und weiterentwickelt werden.1

5.1 Projekte in vernetzten Unternehmensstrukturen

Seit etwa zwei Jahrzehnten ist eine verstärkte Suche der Unternehmen nach neuenOrganisationskonzepten zu beobachten, um die Grenzen fordistisch-tayloristischerProduktionsstrukturen zu überwinden (Thuderoz 2006; Di Maggio 2001; Boy-er 2004). Ergebnis dieser Suche sind neue Organisationsformen mit verändertenProduktions- und Rationalisierungsstrategien, die darauf abzielen, die widersprüch-lichen Anforderungen von Flexibilität und Effizienz miteinander in Einklangzu bringen. Dies führt zu grundlegend gewandelten Unternehmensstrukturen.Neben der Schließung und Verlagerung von Standorten kommt es immer wie-

1 Für die Unterstützung bei den empirischen Untersuchungen und bei der Aufbereitung der empi-rischen Ergebnisse bedanke ich mich bei Franziska Markert.

Eckhard Heidling (B)Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e.V. (ISF) München, Jakob-Klar-Straße 9,80796 München, [email protected]

69F. Böhle et al. (Hrsg.), Innovation durch Management des Informellen,DOI 10.1007/978-3-642-24341-7_5,© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012

70 E. Heidling

der zu neuen Formen von Kooperationen mit anderen Unternehmen. Dies stelltganz neue Anforderungen an das Arbeitshandeln der Beschäftigten und dasManagement dieser Prozesse. Durch die bewusste Öffnung der Unternehmens-grenzen tritt neben die Organisation der innerbetrieblichen Strukturen verstärktdie Aufgabe, externe Austauschprozesse mit den vor- und nachgelagerten Liefer-,Distributions- und Konsumtionsstufen zu koordinieren. Die Kooperationsbeziehun-gen mit den verschiedenen Akteuren sind durch jeweils spezifische Steuerungsmodigekennzeichnet und deshalb mit komplexen Anforderungen an das Managementverbunden.

Weitreichende Prognosen einiger Autoren sehen die westlichen kapitalistischenUnternehmen des 21. Jahrhunderts dadurch geprägt, dass „jobs are increasinglyconstituted as projects, firms as networks, and industries as capabilities“ (Powell2001, S. 54; vgl. auch Castells 2000). Die bisher dominierende Unternehmensformmit festen Standorten, eindeutigen Grenzen nach außen und fixierten internen Hier-archien werde von sehr viel durchlässigeren und damit für Vernetzungen offenerenOrganisationsstrukturen abgelöst, so dass Netzwerkverbindungen zu „Eintrittskar-ten für Hochgeschwindigkeitsrennen“ werden. „Connectivity to an interorganisatio-nal network and competence at managing collaborations have become the driversof the new logic of organizing“ (Powell 2001, S. 60). Ganz ähnlich bezeichnenLuc Boltanski und Eve Chiapello jenen Bereich der vernetzten Welt als „cité parprojets“, der für sie den neuen Geist des Kapitalismus charakterisiert und der ge-genwärtig die bisherige industrielle Welt („cité industrielle“) ablöst (1999, S. 189–208).2

Um die widersprüchlichen Momente von Flexibilität und Effizienz zu integrie-ren, richten sich die unternehmerischen Strategien verstärkt auf die Bildung inter-organisationaler Netzwerke (Heidling 2011, S. 138–142; Sydow 2006). Gegenüberden früher dominierenden Organisationsformen der vertikalen Integration könnenProdukte und Dienstleistungen in Unternehmensnetzwerken funktioneller und ro-buster gestaltet werden „by canvassing more alternatives in less time than a hier-archy with a like purpose“ (Sabel 2006, S. 108). Grundlegend für Netzwerkbe-ziehungen sind stärkere gegenseitige Abhängigkeitsbeziehungen, da „one party isdependent on resources controlled by another, and there are gains to be had by thepooling of resources“ (Powell 1990, S. 303). Im Gegenzug versprechen NetzwerkeVorteile für die Akteure durch drei zentrale Verbindungsmechanismen:

„Ties can facilitate access to parties that provide information and/or resources. Linkagesthat generate access in an expeditious manner afford advantage over those who lack compa-

2 Als empirische Grundlage der zitierten Untersuchung dient die Auswertung eines Vergleichs vonManagementtexten aus den 1960er und den 1990er Jahren. Bezogen auf die Zahl der Nennungender untersuchten Texte liegt die „logique industrielle“ (industrielle Logik) in beiden Zeiträumen– wenn auch mit abnehmender Tendenz – auf dem ersten Platz, während die Nennungen einer „lo-gique de réseau“ (Netzwerklogik) deutlich ansteigen und vom fünften Platz in den 1960er Jahrenauf den zweiten Platz in den 1990er Jahren klettern (Boltanski u. Chiapello 1999, S. 204, 643–662).

5 Management des Informellen durch Situatives Projektmanagement 71

rable connections. Referrals offer the opportunity to bypass formal, impersonal channels.“(Smith-Doerr u. Powell 2005, S. 379)

In vernetzten Strukturen stehen die beteiligten Unternehmen vor der Herausfor-derung, die Vermittlung von Wissen und Know-how nicht nur innerbetrieblich überdie Schnittstellen von Abteilungen und fachliche Grenzen hinweg sicherzustellen,sondern einen solchen Transfer gleichzeitig über die Unternehmensgrenzen hinausin jeweils unterschiedlich strukturierte Kontexte zu organisieren.

Damit verbunden ist die wachsende Bedeutung räumlich verteilter Arbeitspro-zesse. Verteilte Arbeit bezeichnet die Implementation einer Arbeitsorganisation, dieverschiedene Aufgabenbereiche, Prozessketten oder Produktions- und Dienstleis-tungsstufen an unterschiedlichen Orten umfasst. An die Stelle innerbetrieblicherEinzelarbeitsplätze als bisher dominierender Arbeitsform tritt in wachsendem Um-fang die abteilungs-, betriebs- und unternehmensübergreifende Projektarbeit (Meilet al. 2004, S. 183–185). Projekte nehmen in Unternehmensnetzwerken deshalb ei-ne Schlüsselstellung ein, weil sie die Schnittstellen zwischen Innen (betrieblichenAbteilungen eines Unternehmens) und Außen (anderen Unternehmen) darstellen.

„Das Projekt ist der Anlass und der Vorwand für die Verbindung. Es bringt zeitlich befristetganz unterschiedliche Personen zusammen und präsentiert sich als sehr aktiver Teil einesNetzwerks für einen relativ kurzen Zeitraum, was jedoch den Aufbau langfristiger Verbin-dungen durchaus ermöglicht. Auch wenn diese Verbindungen zwischenzeitlich deaktiviertwerden, bleiben sie für neue Aktivitäten immer verfügbar.“ (Boltanski u. Chiapello 1999,S. 157; eigene Übersetzung)

Mit der Organisationsform des Projekts nutzen die Unternehmen die im Ver-gleich zu den festgefügten traditionellen Organisationsstrukturen sehr viel flexible-ren und offeneren Strukturen zur Gestaltung ihrer Prozesse. Kennzeichnend fürprojektförmige Organisationen ist die Herstellung bestimmter Güter und Dienstleis-tungen in einem begrenzten Zeitrahmen bei Einhaltung vorgegebener Qualitätsstan-dards sowie eines vorgegebenen finanziellen Budgets. Projekte sind in der Regel indrei große Abschnitte gegliedert. Der Projektstart umfasst eine Abstimmung mitallen Projektbeteiligten und eine genaue Zielbestimmung. Darauf folgt die Reali-sierung des Projekts mit der Umsetzung der Projektschritte. Abschließend werdendie Ergebnisse überprüft und das Projekt beendet. Innerhalb dieser drei großenAbschnitte können beliebig viele längere und kürzere Phasen im Projektablauf de-finiert werden, wobei der Grad der Detaillierung von Planung und Steuerung häufigmit der Komplexität der Projekte zunimmt (Bea et al. 2008). Flexibel sind Projekte,weil zeitlich befristet bestimmte Aufgaben zu unterschiedlichen Themenstellungendefiniert werden können. Offen sind Projekte, weil neben den innerbetrieblichenauch außerbetriebliche Akteure (Lieferanten, Kunden, Konsumenten) eingebundenwerden können (Manning 2008; Smith-Doerr u. Powell 2005; Grabher 2002).

Flexibilität und Offenheit sind besondere Kennzeichen unternehmensübergrei-fender Projekte, die eine wichtige Form verteilter Arbeitsprozesse darstellen. Einprägendes Moment verteilter Arbeitsprozesse besteht in der Differenz zwischen Un-ternehmen und unternehmensübergreifenden Projekten. Bei verteilter Arbeit findet

72 E. Heidling

die Generierung und der Transfer von Wissen und Know-how an verschiedenen Or-ten statt, und zwar jeweils in innerbetrieblichen und überbetrieblichen Kontexten(vgl. auch Kap. 6). Daraus entwickelt sich ein komplexes Wechselspiel zwischenden an bestimmte Unternehmensstandorte gebundenen Produktions- und Dienst-leistungsprozessen und dem über räumliche Distanzen organisierten Austausch derErgebnisse sowie ihrer Weiterverarbeitung. Unternehmensübergreifende Projektenehmen dabei eine Schlüsselstellung ein, weil sie sich zu Drehscheiben neu zusam-mengesetzter, verschränkter Wissensbestände entwickeln. Die technologische Basisdieser Integration von räumlich und zeitlich auseinander liegenden Arbeitsprozes-sen in Projekten sind die sich in großem Tempo entwickelnden digitalen Systemeder Informationsverarbeitung, -bündelung und -weitergabe. Informationstechnolo-gien stellen ein wichtiges Hilfsmittel dar, um die weit verteilten Aktivitäten zuverknüpfen und zu integrieren. Allerdings wird damit nur ein Teil der Integrations-leistungen der vernetzten Prozesse gewährleistet. Einen mindestens ebenso wich-tigen Anteil haben die beteiligten Akteure, die die Austauschprozesse von Waren,Dienstleistungen und Informationen zwischen den nach wie vor bestehenden Un-ternehmensstandorten ausführen und sicherstellen. In den Projektgruppen wird dereigenständige organisatorische Status der vernetzten Unternehmen nicht verändert,sondern bildet vielmehr die Grundlage, auf der die kooperierenden Akteure die un-ternehmensübergreifende Zusammenarbeit organisieren müssen. Die Projektbetei-ligten bleiben Mitglieder ihrer jeweiligen Unternehmen und Abteilungen und sindgleichzeitig Mitglieder der unternehmensübergreifenden Projektgruppen. Damit er-halten die in diesen Projekten handelnden Akteure eine Scharnierfunktion in derRegulierung der Wissens- und Informationsströme zwischen den unterschiedlichenStandorten der an den Projekten beteiligten, oft räumlich weit verteilten Unterneh-men. Die Akteure in diesen Projekten sind es, die das entstehende Spannungsfeldzwischen lokaler Verantwortung und weit verteilten Organisationsstrukturen aus-tarieren müssen (Heidling 2011, S. 153–156; Meil u. Heidling 2006, S. 148–149;Sydow et al. 2004, S. 1476–1477; Sapsed u. Salter 2004, S. 1526–1529; Galbraith2006, S. 188–189; Boltanski u. Chiapello 1999, S. 212–213).

Die Funktionsweise unternehmensübergreifender Projekte lässt sich mit demBrückenkonzept verdeutlichen, das für die Theorie sozialer Vernetzungen einenzentralen Stellenwert hat (Jansen u. Diaz-Bone 2011). In diesem Konzept stellenBrücken in Netzwerken die jeweiligen Verbindungswege her, über die relevante In-formationen, Einflüsse und Kontakte zwischen zwei und mehr Punkten verlaufen(Granovetter 1973, S. 1364–1366). Besonders wichtig sind die „bridging weak ties,since they do link different groups, [. . . ] to connect individuals who are significantlydifferent from one another“ (Granovetter 1983, S. 204). Gegenüber einer begrenz-ten Zahl stabiler Bindungen erschließen solche „schwachen Bindungen“ in weitgrößerem Umfang den Zugang zu unterschiedlichen Akteuren und Netzwerken.Neue Informationen und innovative Ideen fließen aufgrund schwacher Bindungensehr viel intensiver als auf Basis starker Bindungen (Granovetter 2005, S. 34; 1973,S. 1367; Smith-Doerr u. Powell 2005, S. 392–393; Powell u. Grodal 2005, S. 60–70).

5 Management des Informellen durch Situatives Projektmanagement 73

Unternehmensübergreifende Projekte bilden damit die Mikro-Ebene der strategi-schen Interaktionen in vernetzten Unternehmensstrukturen. Ihr besonderer Stellen-wert liegt in ihrer Brückenfunktion, durch die die temporär-kontinuierlichen Verbin-dungen der in den Netzen kooperierenden Unternehmen garantiert werden (Heid-ling 2011, S. 157–158). Aufgrund ihres temporären und offenen Charakters stellenunternehmensübergreifende Projekte ein wichtiges Instrument dar, mit dem Unter-nehmen auf schnell wechselnde oder sich ändernde Ziele reagieren können, indemProjektteams vergrößert und verkleinert werden oder die inhaltlich-fachliche Ex-pertise durch den Wechsel von Akteuren variiert wird. Insbesondere diejenigenOrganisationen und Personen, die sehr weit voneinander entfernte und damit nurschwach verbundene Teile von Netzwerken in unternehmensübergreifenden Pro-jektstrukturen zusammenführen, erschließen sich strategisch wichtige Zugänge zuInformationen und Ressourcen.

„Producers with direct access to structural holes among suppliers and customers are moreexposed to variation in business practice and have more opportunities to play competingorganisations against one another.“ (Burt 2008, S. 340)

Während sich die großen Unternehmen, die häufig die Initiatoren von unter-nehmensübergreifenden Projekten sind, dadurch einen vergleichsweise günstigenund kontinuierlichen Zufluss von Know-how sichern, liegt das Interesse der mit ge-ringeren Machtpotenzialen ausgestatteten Akteure kleinerer Unternehmen an einererfolgreichen Zusammenarbeit besonders darin, die notwendige Reputation aufzu-bauen, um an zukünftigen Projekten wieder beteiligt zu sein (Granovetter 1985,S. 490–491; 2005, S. 35; Grabher u. Ibert 2006, S. 261).

Durch die Zusammenarbeit in unternehmensübergreifenden Projekten entstehteine „verteilte Wirklichkeit“ im Arbeitshandeln: Einerseits geht es darum, dass dieim Projekt versammelten unterschiedlichen Akteure die vereinbarten Arbeitsergeb-nisse erbringen, und andererseits um die Vermittlung dieser Arbeitsergebnisseund weiterer Projektanforderungen in die Stamm- bzw. Heimatunternehmen(Meil u. Heidling 2006, S. 151–152). Deshalb besteht eine wichtige Anfor-derung an die Qualität der Kooperationsbeziehungen darin, „to create alliancepipelines that are both sufficiently tight and reliable enough to successfullytransfer information in the absence of dense social connection“ (Whittingtonet al. 2009, S. 97). Dies ist deshalb voraussetzungsvoll, weil die Zusammenar-beit in unternehmensübergreifenden Projekten zu wechselnden Allianzen zwi-schen den beteiligten Akteuren und damit zu unterschiedlichen Mischungen ausKooperation und Konkurrenz führen kann. Dies hängt damit zusammen, dassPartner in einem Projekt zusammenarbeiten, in einer anderen Situation dage-gen – nämlich z. B. dann, wenn sie in anderen Projekten zwei rivalisierendenUnternehmensnetzwerken angehören – Konkurrenten sind. In dieser Perspek-tive führen projektbasierte Organisationsformen zu „new interpretations of thenature of competition“ (Smith-Doerr u. Powell 2005, S. 386), in denen das Ver-hältnis von Kooperation und Konkurrenz immer wieder neu austariert werdenmuss.

74 E. Heidling

Ein möglicher Ausgangspunkt für eine Verschiebung der Machtkonstellationzwischen den stärkeren und den eher schwächeren Netzwerkakteuren sind diestrategischen Interaktionen in den Projektgruppen. Dies liegt daran, dass sich dieAkteure unternehmensübergreifender Projekte außerhalb der Machtstrukturen derbetrieblichen Organisation ihrer Heimatunternehmen bewegen (Meil u. Heidling2006, S. 151–154). Dadurch können unternehmensübergreifende Projekte „ei-ne eigene soziale Identität ausbilden“ (Sydow u. Windeler 2004, S. 40), in diedie Interessen der jeweiligen Stammunternehmen zwar eingehen, ohne die Re-sultate der Projektarbeiten aber zu determinieren. Entscheidend ist vielmehr dererfolgreiche Abschluss der Projektarbeiten, und um diesen zu sichern, treten dieunterschiedlichen Machtpotenziale der Projektbeteiligten mindestens zeitweisein den Hintergrund. Angesichts der für Projekte konstitutiven Restriktionen (be-grenzte zeitliche und materielle Ressourcen) rückt in den Vordergrund, dass dieAkteure ihre Aufgaben innerhalb der zeitlichen Vorgaben in möglichst hoher Qua-lität erfüllen. Anders gesagt: Die ungleiche Stärke der Akteure tritt zurück hinterden zielorientierten und temporären Charakter der Projektarbeiten (Heidling 2011,S. 156–157). Dies bedeutet keine Aufhebung, aber doch eine Relativierung vorgän-giger asymmetrischer Machtstrukturen. Insofern ist die projektbasierte Form derZusammenarbeit sehr voraussetzungsvoll und erfordert „besondere Fähigkeiten“nicht nur von den großen Unternehmen mit einer häufig dominanten Stellung imNetzwerk (Sydow 2006, S. 397), sondern vielmehr von allen Akteuren, die an denProjekten beteiligt sind.

Eine zentrale Anforderung an die Projektakteure besteht in einem angemessenenUmgang mit einander widersprechenden oder sogar ausschließenden Anforderun-gen, die verteilte Projektarbeit in Netzwerken durchgängig beeinflussen. Bei derOrganisation der Arbeitsabläufe treten die überbetriebliche Systemintegration unddie Steuerung der Partnerbeiträge in den Vordergrund. Jenseits individuellen Spe-zialwissens wird von den Projektbeteiligten in wachsendem Umfang gefordert, ihrWissen und ihre Kenntnisse über die jeweiligen Betriebsgrenzen hinaus entlang derProzessketten zu orientieren. Projektmitarbeiter aus den vernetzten Unternehmensind für jeweils einzelne Komponenten, die zu einem Gesamtprodukt zusammen-geführt werden, verantwortlich. Deshalb müssen sie in der Lage sein, sowohl dieSchritte ihrer eigenen Aufträge vorausschauend abzustimmen als auch die Integrati-on ihrer Teilleistung in das Gesamtprodukt zu gewährleisten. Diese Anforderungenunternehmensübergreifender Projektarbeit erfordern antizipatives und offenes Den-ken und Handeln, im Unterschied zu vornehmlich an vorgegebenen Kategorienund formalen Vorgaben ausgerichtetem Arbeitshandeln. Dem Moment der Offen-heit kommt deshalb eine große Bedeutung zu, weil die Projektarbeit ganz über-wiegend nicht linear, sondern prozessual verläuft. Ein wichtiger Grund sind dieregelmäßig wiederkehrenden Änderungen gegenüber den Projektplanungen. Zwarist ein Projektrahmen versehen mit klaren Planvorgaben (Zeit, Budget, Qualität),bei der Projektumsetzung ergibt sich jedoch immer wieder ein mehr oder weni-ger großer Anpassungsbedarf. Auslöser sind häufig kritische Situationen, die alsunplanbare, aber systematisch auftretende Ereignisse den Projektablauf beeinflus-

5 Management des Informellen durch Situatives Projektmanagement 75

sen. Bei diesen unvorhergesehenen Ereignissen müssen die Projektbeteiligten unterrestriktiven zeitlichen Bedingungen in der Lage sein, neue Lösungswege einzu-schlagen. Gerade in solchen kritischen Situationen werden Konflikte zwischen denProjektpartnern sichtbar. Dabei sind aufgrund der unterschiedlichen technischenAnforderungen, sachlichen Grundlagen und der Vielzahl interessenpolitischer Posi-tionen, die in den unternehmensübergreifenden Projektgruppen aufeinandertreffen,die Konfliktursachen häufig nur schwer zu identifizieren. Ihre Quellen liegen nichtinnerhalb eines betrieblich begrenzten Rahmens, sondern in den verschiedenarti-gen Strukturen der miteinander vernetzten Unternehmen (Meil u. Heidling 2006,S. 152–160).

Für das Projektmanagement ergibt sich damit eine Fülle von Aufgaben, ange-sichts dieser unterschiedlichen Anforderungen jeweils angemessene Lösungen zufinden.3 Im Vordergrund steht dabei, konfliktlösend zu wirken und zugleich dar-auf zu achten, dass die Projektziele nicht gefährdet werden. Da die Projektleiter –anders als in internen betrieblichen Prozessen – häufig nur begrenzt auf hierarchi-sche Anweisungsstrukturen zurückgreifen können, ist die Projektarbeit von konti-nuierlichen Aushandlungsprozessen geprägt. Daraus resultieren widersprüchlicheAnforderungen, mit denen die Projektmanager konfrontiert sind. Auf der einenSeite müssen sie verhindern, dass ihren Heimatunternehmen größere Aufgaben-pakete übertragen und zusätzliche Kosten aufgebürdet werden. Auf der anderenSeite dürfen sie das Projektziel, die Planung und zeitgerechte Erstellung von Pro-dukten und Dienstleistungen, nicht gefährden. Entscheidend für den Umgang mitdiesen Widersprüchen ist die Herstellung von Einverständnishandeln, weil nur da-durch ein erfolgreicher Projektverlauf gewährleistet werden kann. Deshalb sind dieProjektsteuerung und die Interaktion zwischen den Akteuren ganz wesentlich vonVerhandlungen und Kompromissen geprägt (Meil et al. 2004, S. 195–196; Grabher2004, S. 105; Sydow u. Windeler 2004, S. 46; Sydow 2006, S. 412).

5.2 Projektmanagement in Innovationsprozessen

Innovationsprozesse werden von Unternehmen in wachsendem Umfang in Koope-ration mit unternehmensexternen Partnern umgesetzt (Chesbrough 2006; Powellu. Grodal 2005). Wie international vergleichende Untersuchungen zeigen, konzen-triert sich die Zusammenarbeit der Unternehmen auf Kunden, Zulieferer und, miteiner etwas geringeren Intensität, auf öffentliche Institutionen wie Universitäten undForschungseinrichtungen (OECD 2008, S. 54–59). Solche kooperativen Innovati-onsprozesse werden heute überwiegend projektförmig gestaltet, organisiert und um-gesetzt (Cicmil et al. 2009). Als Teil projektförmiger Organisationsstrukturen be-

3 So zeigt etwa die Befragung von 44 Netzwerken zur Bedeutung eingesetzter Managementin-strumente, dass dem Projektmanagement die höchste Priorität zugemessen wird (Stadlbauer et al.2007, S. 264–267).

76 E. Heidling

stehen für innovative Projekte in Unternehmen die Anforderungen darin, qualitativhochwertige Ergebnisse zu möglichst niedrigen Kosten und festgesetzten Terminenzu liefern. Die Instrumente und Methoden des Projektmanagements zielen deshalbauch bei Innovationsprojekten häufig auf eine optimierte Planung und die Verdrän-gung des Unplanbaren (vgl. Abschn. 1.3). Die Entwicklung von Tools, Verfahrenund anderen Ansätzen ist vielfach auf Standardisierung ausgerichtet, um Schnitt-stellen, Unsicherheiten und Unklarheiten zu reduzieren. Damit sollen die projekt-förmigen Organisationsabläufe der Unternehmen effektiv etabliert, gesteuert undkontrolliert werden. Obwohl mittlerweile ein umfangreicher Bestand an Planungs-und Steuerungsmodellen, Tools sowie Ausbildungs- und Schulungskonzepten ver-fügbar ist (Wasserfall-Modell, Festlegung von Meilensteinen, informations- undkommunikationstechnisch gestützte Planungs- und Steuerungstools, vgl. als Über-blick Schelle 2010 und Bea et al. 2008), sind die Erfolge dennoch nicht zufrieden-stellend. Trotz Optimierung der Projektplanung und -steuerung treten bei der Rea-lisierung von Projekten immer wieder nicht vollständig kontrollierbare Ereignisseund Einflussgrößen auf. Dies führt jedoch vielfach nicht dazu, die eingeschlagenenWege der Projektplanung und -steuerung zu überdenken, sondern verstärkt eherdas Bestreben zu weiterer Optimierung formaler Steuerungselemente (Meskendahlet al. 2011; Ahn et al. 2010).

Herkömmliche Planungsmethoden und -instrumente sowie Messverfahren zurBewertung der Projektergebnisse sind offensichtlich immer dann erfolgreich, wennZiele, Ablauf und ein Endprodukt bereits vor Projektbeginn genau definiert wer-den können. Der reale Verlauf ist allerdings häufig davon geprägt, dass Projektekomplexer, unvorhersehbarer und multidimensionaler sind, als in den Planungenvorgesehen (Winter et al. 2006, S. 644; Kalkowski u. Mickler 2009, S. 130–145).Untersuchungen verweisen darauf, dass eine abnehmende Wirksamkeit dieser for-mal und standardisiert ausgerichteten Instrumente für das Management von Projek-ten dann zu erwarten ist, wenn die Ziele nur ungefähr festgelegt werden können, dieErgebnisse keine physischen Artefakte, sondern eher konzeptuell angelegt sind undunterschiedliche Varianten umfassen können, die Erfolgsmessung qualitativ erfol-gen muss, Partner aus unterschiedlichen Kontexten beteiligt sind und ihre Zusam-menarbeit schwerpunktmäßig über diskursive Verfahren hergestellt werden muss. Indieser Art von Projekten, zu denen insbesondere Innovationsprojekte zählen, wächstdie Anforderung an das Management, angemessene Steuerungsformen für den Um-gang mit Informationslücken sowie unterschiedlichen und teilweise konfliktuellenSichtweisen und Interpretationen der an den Projekten beteiligten Akteure zu ent-wickeln (Atkinson et al. 2006, S. 692–693). Verstärkt ins Blickfeld rücken offenereOrganisations- und Steuerungsformen. Dabei geht es um die besonders für Innova-tionen wichtige Integration unterschiedlicher Perspektiven der Projektpartner, dieOrganisation kooperativer Lernprozesse und die Herstellung einvernehmlicher Ent-scheidungen. Dies ist mit einer Ausweitung von Interaktion und Aushandlung inden Managementprozessen verbunden (Porschen 2008, S. 141–150; Bolte u. Por-schen 2006, S. 71–88; Hab u. Wagner 2006, S. 251–310; Crawford u. Pollack 2004,S. 648–649).

5 Management des Informellen durch Situatives Projektmanagement 77

Projekte werden damit neben ihrer Funktion zur effizienten Abwicklung be-stimmter Aufgaben zugleich als soziale Prozesse gesehen. Berücksichtigt werdendabei die historischen Voraussetzungen sowie die Kontextbedingungen und dieMachtstrukturen von Projekten. Verbunden mit diesen Momenten wird das Mana-gementhandeln zeitlich verortet und als Reservoir vergangener und gegenwärtigerPraktiken und Prozeduren betrachtet (Engwall 2003, S. 803–805; Cicmil et al.2006, S. 684; Sydow u. Müller-Seitz 2009, S. 67–69). In diesen sozialen Pro-zessen haben die herkömmlichen Methoden der Projektplanung weiterhin ihrenPlatz, allerdings wird der Beobachtung größere Aufmerksamkeit geschenkt, dasserfolgreiche Projektergebnisse insbesondere von der Fähigkeit der handelnden Ak-teure im Umgang mit komplexen und unvorhersehbaren Situationen abhängen.Neben formalen Kenntnissen sind für das Projektmanagement innovativer Prozessepraktische und kontextgebundene Kompetenzen und entsprechende problemori-entierte Handlungsweisen von entscheidender Bedeutung (Perminova et al. 2008,S. 77–78; Söderholm 2008, S. 84–85; Jaafari 2003, S. 55–56). Ausgestattet mitsolchen Kompetenzen können Projektmanager bei der Konzeption ihrer Projekteunterschiedliche Perspektiven einbeziehen, immer wieder gemeinsame Sichtweisenaller Projektbeteiligten in den verschiedenen Projektphasen herstellen, Situationenim Projektverlauf „lesen“, mit den jeweiligen politischen Umfeldbedingungen um-gehen und zusätzlich zu den quantitativen auch qualitative Bewertungsmaßstäbeentwickeln (Winter et al. 2006, S. 644–646; Atkinson et al. 2006, S. 693; Pollack2007, S. 271–272).

In dieser Perspektive geht es in innovativen Projekten insbesondere darum, dieGrenzen der Planbarkeit anzuerkennen und von der Abweichung als Normalfallauszugehen. Genauer zu bestimmen sind damit die Prinzipien offener Planung unddie Potenziale situativer Projektsteuerung. Im Unterschied zum Leitbild der Pla-nung und Planbarkeit werden Planungsdefizite hier nicht als Sonderfall, sondernvielmehr als der Normalfall begriffen. Für die Projektplanung bedeutet dies, dassmit nicht antizipierbaren Ereignissen und nicht vollständig berechenbaren Einfluss-größen gerechnet wird. Offene Planung bedeutet keineswegs den generellen Ver-zicht auf planende Aktivitäten zur Strukturierung des Projektverlaufs. Eine Pro-jektstrukturierung erfolgt allerdings zunächst durch die Erstellung eines Rahmens,der dann im konkreten Handeln der am Projekt beteiligten Akteure ausgefüllt wird.Dies umfasst die Festlegung der einzelnen Arbeitsschritte und die Verteilung derRessourcen im Projekt ebenso wie auf die Definition von Zielen und Ergebnissen.Diese Vorgehensweise entspricht in besonderer Weise innovativen Projekten, weilsich meist erst im Verlauf die Ziele konkretisieren, häufig Änderungen geplanterArbeitsschritte vorgenommen und kritische Situationen bewältigt werden müssen.Eine situative Projektsteuerung ist nicht die alleinige Aufgabe des Projektleiters.Vielmehr ist die Bewältigung der sachlich-technischen und der administrativen Pro-jektaufgaben zu einem großen Teil abhängig von der Interaktion und Kooperationaller Projektbeteiligten. Erst dadurch wird es möglich, unterschiedliche Sicht- undDenkweisen für innovative Prozesse produktiv zu nutzen (Böhle u. Meil 2003; Meilu. Heidling 2006; Habler u. Bürgermeister 2010).

78 E. Heidling

Vor diesem Hintergrund ist das situative Management innovativer Projekte mitbesonderen Herausforderungen in vier Dimensionen verbunden: Die Zielbestim-mung gibt statt eines vorab klar umrissenen Ergebnisses einen Rahmen vor, dessenPräzisierung im Projektverlauf erfolgt; die zeitliche Planung muss sehr flexibel sein;die Art des Vorgehens ist häufig unscharf und entsprechend wenig planbar; die Artder Steuerung muss ein hohes Maß an flexiblen Umorientierungen erlauben, umunterschiedliche und bei Projektbeginn kaum vorhersehbare Wege zum Innovati-onsziel offen zu halten.

5.3 Entwicklung messtechnischer Systemein vernetzten Strukturen und Innovation

In den folgenden Abschnitten werden das Unternehmen MessTech4 und einigewichtige Innovationsprojekte dargestellt, die von diesem Unternehmen durchge-führt werden. Es wird gezeigt, wie diese Projekte strukturiert sind, welche betriebli-chen und überbetrieblichen Akteure daran beteiligt sind und wie sie mit Prinzipiensituativen Projektmanagements erfolgreich gesteuert werden können.

MessTech wurde 1996 gegründet und entwickelt maßgeschneiderte Applikatio-nen der Mess- und Regeltechnik für ein breites Spektrum fertigungs- und verfah-renstechnischer Prozesse. Die Produktpalette basiert auf den beiden Segmenten derMess- und Regeltechniken für Maschinen und Anlagen unterschiedlicher Industrie-zweige (u. a. der Erdöl-, Zement- und chemischen Industrie) sowie der Erstellungvon Softwarelösungen zur Automatisierungsüberwachung und Qualitätskontrollefür das verarbeitende und produzierende Gewerbe. Daraus ergibt sich eine breitePalette von Produkten und Dienstleistungen. Ergänzt werden diese Produktseg-mente durch Forschungs- und Entwicklungsprojekte. Bei seiner Gründung siedeltesich das Unternehmen zunächst in einem lokalen Technologiezentrum an. Mitte der2000er Jahre bezog MessTech andere Geschäftsräume außerhalb des Technologie-zentrums. Gegenwärtig beschäftigt das Unternehmen 15 Personen, zu denen auchdie beiden mitarbeitenden Eigentümer zählen. Die Hälfte sind Ingenieure und Na-turwissenschaftler, dazu kommen technische Fachkräfte, darunter auch ein bis zweiAuszubildende im Fertigungsbereich, und Verwaltungspersonal.

Die Geschäftsaktivitäten sind in großem Umfang durch die Zusammenarbeit mitgroßen und sehr großen Industrieunternehmen, etwa aus der Zementbranche undder Eisen- und Stahlindustrie geprägt. Aufgrund der Größe und weltweiten Präsenzdieser Kunden sind die Aktivitäten von MessTech global orientiert. Die weltweitverteilten Geschäftstätigkeiten stellen für ein kleines Unternehmen wie MessTech

4 MessTech ist eine anonymisierte Bezeichnung. Die Namen der im Folgenden genannten Projekteund der mit MessTech kooperierenden Unternehmen sind ebenfalls anonymisiert.

5 Management des Informellen durch Situatives Projektmanagement 79

eine große Herausforderung dar. Deshalb organisiert das Unternehmen die weltwei-te Präsenz durch eine Zusammenarbeit mit internationalen Vertriebspartnern. Seitder ersten Hälfte der 2000er Jahre bestehen neben den europäischen Kooperationenauch Verbindungen nach Nord- und Südamerika, Indien und in andere asiatischeLänder.

MessTech zeichnet sich durch eine hohe technologische Kompetenz aus undist eng mit dem regionalen naturwissenschaftlich-technischen Umfeld vernetzt.Dadurch erhält das Unternehmen Zugang zu der wissenschaftlichen Infrastruk-tur (Bibliotheken, Institute u. a.) und den dort arbeitenden Wissenschaftlern. Inden letzten Jahren hat MessTech enge Kooperationsbeziehungen zu einigen die-ser wissenschaftlichen Institute entwickelt. Neben dem regelmäßigen Austauschmit den Wissenschaftlern arbeiten im Rahmen dieser Kooperation kontinuierlichzwei bis drei studentische Hilfskräfte im Unternehmen mit. Sie sind meist engin die Forschungs- und Entwicklungsprojekte eingebunden und haben dadurchdie Möglichkeit, grundlegende Fragestellungen, die mit praktischen Problemenindustrieller Prozesse zusammenhängen, in ihren Studien- und Abschlussar-beiten zu bearbeiten. Diese Vernetzung mit dem wissenschaftlichen Umfeldfördert die hohe Innovationskraft des Unternehmens und wirkt unterstützend fürneue Entwicklungen in der Mess- und Regeltechnik sowie der Produktion neuerGeräte.

Ablesbar ist die innovative Kraft des Unternehmens insbesondere daran, dass inden letzten Jahren etwa 60 Prozent des Umsatzes mit Produkten erzielt werden,die jünger als vier Jahre sind. Die fortlaufende Erneuerung dieser Wissensbasiswird auch durch die Zusammenarbeit mit den weltweit verteilten Kunden aus derGroßindustrie beeinflusst. Eine besondere Rolle spielen dabei die Forschungs- undEntwicklungsaufträge. Neben der Mitarbeit in Forschungsverbünden öffentlicherAuftraggeber wird das Unternehmen auch von großen Industriekonzernen mit derBearbeitung innovativer Fragestellungen beauftragt, die in Form von Innovations-projekten und Machbarkeitsstudien bearbeitet werden.

In den folgenden Ausführungen steht die nähere Betrachtung solcher Forschungs-und Entwicklungsprojekte im Mittelpunkt. Zunächst wird am Beispiel eineseinzelnen F&E-Projekts (Projekt MetDek) ein für MessTech typischer Ablaufeines innovativen Prozesses dargestellt. Im Verlauf unserer Untersuchungen wur-den wichtige Stadien des Projekts MetDek analysiert. Die beispielhafte Darstellungdieses Projekts vermittelt genauere Einsichten in den Ablauf und die Akteurs-struktur vernetzter Innovationsprozesse (Abschn. 5.3.1). In die Untersuchungeneinbezogen wurden darüber hinaus weitere Innovationsprojekte, deren Ausgangs-fragestellungen und bisher im Innovationsprozess erzielten Ergebnisse ebenfallsskizziert werden (Abschn. 5.3.2). Diese Innovationsprojekte bilden die Grundlagefür die Darstellung des Arbeitshandelns und des Managements von Innovations-prozessen bei MessTech im anschließenden Abschn. 5.4.

80 E. Heidling

5.3.1 Das Innovationsprojekt MetDek

Durch die mittlerweile über mehr als zehn Jahre gewachsene Zusammenarbeit mitgroßen Unternehmen der Grundstoffindustrie und den weltweit verteilten Stand-orten dieser Konzerne verfügt MessTech über umfassende Kenntnisse der jewei-ligen Standortbedingungen und Produktionsprozesse. Vor dem Hintergrund diesesKnow-hows präsentierte ein großer Konzern mit Hauptsitz in Deutschland (KonzernFöSys), der u. a. Fördersysteme herstellt, MessTech die Problemstellung, wie ausFörderströmen von Mineralien, Felsen und Steinen darin verborgene Metallgegen-stände separiert werden können. Diese Metallteile beschädigen immer wieder dieFördersysteme und Maschinen, wie etwa die Brecher (schnell rotierende Scheibenmit Metallhämmern), die die massiven Fels- und Gesteinsbrocken zerkleinern. Star-ke Beschädigungen werden durch Metallteile unterschiedlicher Größe (Stücke alterEisenbahnschienen und Drahtgeflechte, Metallrohre, Metallzähne der zum Abbaudes Gesteins eingesetzten Bagger, Reste von Munition aus dem Zweiten Weltkriegu. a.) verursacht, die mit dem Fördergut an die Erdoberfläche gelangen. Auf För-derbändern mittlerer Größe werden etwa 5.000 bis 6.000 Tonnen Schüttgut proStunde transportiert. Angesichts der Menge und Transportgeschwindigkeit sind dieim Schüttgut verborgenen Metallteile mit dem bloßen Auge häufig nicht erkennbar.In vielen Fällen gelingt es deshalb nicht, die Förderanlagen rechtzeitig zu stoppen,um massive Schäden zu verhindern. Die Förderbänder werden dadurch teilweiseüber mehrere hundert Meter aufgeschlitzt. Nicht selten belaufen sich die Schädenauf fünf- bis siebenstellige Summen. Sie umfassen den Ersatz oder die Reparaturder Fördersysteme und Brecher sowie die Ausfallzeiten der Produktion.

Die bisher eingesetzten Systeme verhindern diese Schadensfälle nur in sehr ein-geschränktem Maß, weil die Ortung der Metallteile im Schüttgut zu unzuverlässigfunktioniert. Deshalb sollte MessTech ein neues, zuverlässiges Messsystem entwi-ckeln, das durch eine möglichst lückenlose Identifikation des Metalls die Beschä-digungen der Fördersysteme verhindert. Die grundlegende Problematik hängt mitgleichartigen Materialien von Transportsystem und Transportgut zusammen: So-wohl die Förderbänder als auch die im Schüttgut verborgenen Teile bestehen ausMetall. Die entscheidende innovative Herausforderung bestand deshalb darin, dasneue messtechnische System so auszulegen, dass die Metallteile im Schüttgut imUnterschied zu den selbst ganz oder teilweise aus Metall bestehenden Förderbän-dern eindeutig zu identifizieren sind. Für diese Problemstellung existierte bisherkeine Lösung, so dass ganz neue Analysen und Verfahren entwickelt werden muss-ten. Zur Durchführung entsprechender Forschungs- und Entwicklungsarbeiten in-itiierten MessTech und FöSys ein Forschungsprojekt (MetDek) und gründeten einegemeinsame Projektgruppe mit Beschäftigten beider Unternehmen. In dieses un-ternehmensübergreifende Innovationsprojekt bringt MessTech schwerpunktmäßigseine elektronische und informationstechnische Expertise und FöSys seine Exper-tise im Maschinenbau ein.

Wie in anderen institutionellen Zusammenhängen wird auch bei Forschungspro-jekten in einem industriellen Umfeld der grobe Rahmen des Projektziels zwischen

5 Management des Informellen durch Situatives Projektmanagement 81

den Projektpartnern festgelegt. Im Unterschied zu Entwicklungsprojekten sind da-gegen die Wege und die Verfahren, um dieses Ziel zu erreichen, weitgehend offenund Teil der Projektarbeiten. Forschungsprojekte sind darüber hinaus dadurch ge-kennzeichnet, dass die Wahrscheinlichkeit eines Misserfolgs vergleichweise hochist. MessTech und FöSys begannen das Projekt deshalb in der gemeinsam geteiltenEinschätzung, dass die Chance für einen erfolgreichen Projektabschluss, nämlichdie Entwicklung eines neuen Metalldetektors, bei höchstens 50 Prozent liege. Nacheiner inzwischen mehr als fünfjährigen Projektlaufzeit ist die Wahrscheinlichkeit ei-nes erfolgreichen Projektergebnisses deutlich gestiegen. Zwischenzeitlich wurdenerste funktionsfähige Prototypen entwickelt und installiert sowie eine Null-Serieproduziert. Dabei lassen sich im bisherigen Verlauf des Innovationsprozesses imProjekt MetDek mehrere wichtige Abschnitte identifizieren.

(1) MessTech untersuchte in der ersten Projektphase zunächst eine Reihe phy-sikalischer Effekte mit teilweise elaborierten wissenschaftlich-technischen Metho-den. Ein wichtiges Ergebnis dieser Untersuchungen bestand in der Erkenntnis, dassdiese Ansätze zwar unter Laborbedingungen funktionierten, für die industrielle Pra-xis und die konkreten verfahrenstechnischen Umfeldbedingungen der Förderunggroßer Gesteinsmassen jedoch ungeeignet sind. Deshalb richteten sich die weiterenForschungsaktivitäten verstärkt auf die Erarbeitung eigener methodischer Ansät-ze und experimenteller Verfahren. Diese theoretisch-analytischen Arbeitsschritte,die Durchführung entsprechender Experimente und die Konstruktion bestimmterGeräteelemente, die in enger Abstimmung zwischen MessTech und FöSys durch-geführt wurden, beanspruchten etwa zwei Jahre. Am Ende dieses Zeitraums standein Verfahren, das in den Bau praktischer Vorrichtungen und erster Prototypen einesneuen Metalldetektors mündete. Diese Prototypen wurden an einem Unternehmens-standort von FöSys installiert und an den entsprechenden Förderanlagen getestet.Bei diesen Praxistests trat eine ganze Reihe unterschiedlicher Schwierigkeiten auf.Diese reichten von schwankenden Signalstärken, ausgelöst vom Betrieb andererAggregate im Umfeld, die die Messergebnisse negativ beeinflussten, über Proble-me beim Aufbau und der Anordnung der Vorrichtungen, die angesichts der großenFelsbrocken zu klein dimensioniert waren und teilweise zerstört wurden, bis zur Be-einflussung der Qualität der Messsignale durch unterschiedliche Klimabedingungenim Verlauf der Jahreszeiten. Gegenüber den theoretischen Annahmen zu Beginndes Forschungsprozesses, umgesetzt in entsprechende Entwicklungsschritte, führ-te der praktische Einsatz des Systems immer wieder zu neuen Erkenntnissen. Aufdieser Grundlage wurden von der Projektgruppe in einem iterativen Prozess konti-nuierlich neue Forschungs- und Entwicklungsarbeiten durchgeführt. Dieser Prozessführte zu verbesserten und praxistauglicheren Versionen des bei FöSys installiertenSystems.

Von Beginn an war die Zusammenarbeit in der Projektgruppe durch einekooperative und konstruktive Atmosphäre geprägt. Die erheblichen Größenunter-schiede zwischen den Unternehmen FöSys und MessTech sowie das Auftraggeber-Auftragnehmer-Verhältnis spielten für die Projektaktivitäten keine große Rolle.Ein wichtiger Grund für dieses weitgehend partnerschaftliche Verhältnis besteht

82 E. Heidling

darin, dass MessTech über das entscheidende messtechnische Know-how verfügt,für die Technologieentwicklung zuständig ist und deshalb die Lead-Position imProjekt einnimmt. Zur Entwicklung der kooperativen Zusammenarbeit sowie zumAufbau und zur Stabilisierung eines tragfähigen Vertrauensverhältnisses zwischenden Projektbeteiligten beider Unternehmen hat aus Sicht von MessTech zudemwesentlich beigetragen, dass FöSys auch bei den regelmäßig auftretenden Schwie-rigkeiten und Rückschlägen im Prozess der Systementwicklung immer bereit war,die notwendigen Ressourcen zur Weiterarbeit bereitzustellen. Damit löste undlöst FöSys seinen Teil der gemeinsam getragenen Verantwortung für die mit demForschungscharakter verbundenen Risiken der Projektarbeit ein.

(2) Nach der Behebung der grundlegenden Probleme und entsprechenden Mo-difikationen des Systems wurde nach etwa 3,5 Jahren Projektlaufzeit erstmals einNullseriengerät des Metalldetektors (was einem weiter entwickelten Prototyp ent-spricht) bei einem Kundenunternehmen von FöSys installiert. Dieses Kundenun-ternehmen (AbRaum) ist im Bereich des Braunkohleabbaus tätig. Gegenüber derersten Phase änderte sich damit die Akteursstruktur im Projekt grundlegend. Ab-Raum wurde aktiv in die Weiterentwicklung und praktische Installation des Systemseingebunden und die Projektgruppe um einen Vertreter von AbRaum erweitert. Al-lerdings lieferte das installierte System unterdurchschnittliche Messergebnisse undlöste regelmäßig Fehlalarme aus. Dadurch wurden teilweise entweder Metallteileim Schüttgut übersehen oder die Förderbänder angehalten, ohne solche Fundstückezu identifizieren. In dieser Situation zeigten sich sehr schnell die unterschiedli-chen Erwartungen, da AbRaum bei der Installation des Nullseriengeräts ein mehroder weniger ausgereiftes und entsprechend funktionsfähiges System erwartet hatte.Deshalb mussten die Vertreter von MessTech und FöSys klarstellen, dass die Sys-tementwicklung zwar weit fortgeschritten, aber keineswegs abgeschlossen sei unddeshalb zunächst weiterhin mit schwankenden Messergebnissen zu rechnen sei. Wiesich im Verlauf der Prototypenentwicklung herausgestellt hatte, mussten darüberhinaus entsprechend den an jedem Standort unterschiedlichen Umfeldbedingungenumfangreiche Änderungen bei der Installation des Systems vorgenommen werden.Trotz dieser Erklärungen führten die unterschiedlichen Erwartungshaltungen zu ei-ner Konfrontationsstellung der Vertreter von MessTech und FöSys auf der einenund AbRaum auf der anderen Seite. Zwar konnten die Anpassungsarbeiten und diedamit verbundenen technischen und zeitlichen Anforderungen zunächst vermitteltwerden, allerdings verschärfte sich die Skepsis von AbRaum gegenüber dem neu-en Metalldetektor, als auch nach einigen Wochen die Qualität der Messergebnissedeutlich hinter den zuletzt bei FöSys ermittelten Werten der dort eingesetzten Pro-totypen zurückblieb.

Durch diesen Misserfolg geriet das gesamte Projekt in eine entscheidende Krise.Zwar war von MessTech im Projektverlauf immer wieder auf die Möglichkeit hin-gewiesen worden, dass das Projekt zu jedem Zeitpunkt scheitern könne. Allerdingswar die Enttäuschung aller Projektbeteiligten über den neuerlichen Rückschlag indieser fortgeschrittenen Projektphase deutlich ausgeprägt. Das Projekt stand kurzvor dem Abbruch, da MessTech keine weiteren Ansätze zu substanziellen Modifika-

5 Management des Informellen durch Situatives Projektmanagement 83

tionen des Systems sah, die in einem überschaubaren Zeitraum zu deutlich besserenMessergebnissen hätten führen können. Nach internen Beratungen beschloss Mess-Tech, in einer gemeinsamen Projektsitzung FöSys den Projektabbruch zu empfeh-len. Parallel suchten alle Projektpartner gleichwohl weiter nach den Fehlerursachen.Aufgrund dieser intensiven Bemühungen gelang es dem Projektteam kurz vor derentscheidenden Sitzung, einen neuen Lösungsansatz für die Optimierung des Null-seriengeräts am Standort AbRaum zu finden. Dies wurde als Durchbruch für eineentscheidende Verbesserung des Messsystems gewertet, so dass MessTech und Fö-Sys die Projektarbeiten nun doch fortführten. Nach ersten, sehr positiv ausgefalle-nen Versuchen verbesserten sich die Messwerte des modifizierten Metalldetektorsganz deutlich und blieben seitdem stabil. Dies zeigen die seitdem von MessTechregelmäßig durchgeführten Auswertungen der Messungen zur Signalqualität. Diegute Qualität der Signale führt gegenüber dem alten Messsystem zu einem deutlichhöheren Anteil gefundener Metallteile in den Gesteinsmassen, was die Gefahr vonBeschädigungen und Zerstörungen der Förderanlagen stark verringert. An diesersubstanziellen Verbesserung des Systems waren die Vertreter von AbRaum genausowie die von MessTech und FöSys aktiv beteiligt. Durch die gemeinsamen Entwick-lungsschritte verbesserte sich in kurzer Zeit auch die Zusammenarbeit innerhalbdes Projektteams, die jetzt eine ähnlich kooperative Qualität erreicht hat, wie sievor dem Einstieg von AbRaum bestand.

(3) Nachdem der neue Metalldetektor unter Praxisbedingungen über einen län-geren Zeitraum qualitativ gute Messergebnisse liefert, bestimmen in der gegenwär-tigen Phase die Installationen weiterer Prototypen sowie der Übergang zur Seri-enproduktion die Projektarbeiten. FöSys plant, seine Förderanlagen, die weltweitverkauft werden, serienmäßig mit dem neuen Metalldetektor auszurüsten. Dazuliegen erste Kaufaufträge aus verschiedenen Ländern vor. MessTech ist für die In-stallation der Systeme vor Ort sowie die Wartung und Reparatur zuständig.

Zur Anpassung der Systeme an die jeweiligen Standortbedingungen sind weitereForschungs- und Entwicklungsarbeiten notwendig, für die MessTech neben sei-nen eigenen Kapazitäten zusätzlich die in seinem regionalen Umfeld angesiedeltetechnisch-wissenschaftliche Infrastruktur nutzt. So soll ein weiteres Nullseriengerätin einem Zementwerk installiert werden. In diesem Zusammenhang waren grund-legend neue Überlegungen und Untersuchungen notwendig, in welcher Weise dasSystem im Vergleich zu den gegenüber dem Einsatz bei AbRaum ganz anderenUmfeldbedingungen (anderes Fördergut, andere geologische Bedingungen im Ab-baugebiet, Einsatz anderer Anlagen u. a.) angepasst werden musste. Insbesonderewar zu klären, ob und wie ein teilweiser Austausch von Metall- durch Keramikbe-standteile an den Förderanlagen die Qualität der gemessenen Signale beeinflussenkönnte. Um diese Fragen zu beantworten, waren komplexe Berechnungen und Si-mulationen erforderlich, die MessTech als kleines Unternehmen mit einer für solcheAufgaben begrenzten Ressourcenausstattung nicht realisieren konnte. Deshalb akti-vierte MessTech die bestehenden Kooperationsbeziehungen mit dem benachbartenForschungszentrum. Auf Basis der dort durchgeführten Berechnungen und Simula-tionen lagen innerhalb kurzer Zeit Ergebnisse vor, die zeigten, dass der Einsatz von

84 E. Heidling

Keramik an den Förderanlagen möglich ist. Daraufhin wurden die Arbeiten an derInstallation des Metalldetektors fortgesetzt.

Weiterführende Forschungs- und Entwicklungsarbeiten realisiert MessTech au-ßerdem bei der Steuerungseinheit der Detektoren. Dabei geht es um die Verbes-serung der Funktionssicherheit und der Funktionsüberwachung. So soll etwa dieFunktionsanzeige so gestaltet sein, dass Kunden durch eine übersichtliche Anord-nung und entsprechende Leuchtsignale leicht und eindeutig bestimmte Fehler er-kennen können. Im Fall von Störungen will MessTech damit sicherstellen, dass dieKunden mit telefonischer Beratung einfach zu behebende Fehlfunktionen selbst be-seitigen sowie bei technisch schwerer wiegenden Problemen entscheiden können,welche Teile repariert oder ausgewechselt werden müssen. MessTech kann danneinen Mitarbeiter mit dem entsprechenden Ersatzteil an die weltweit angesiedel-ten Standorte, an denen die Systeme installiert sind, schicken und spart durch diegenaue Fehlerdiagnose in erheblichem Umfang Kosten und Zeit.

Angesichts der ersten Erfahrungen beim Einsatz der neuen Metalldetektoren inunterschiedlichen industriellen Kontexten zeichnet sich ab, dass der Forschungs-und Entwicklungsprozess der neuen Systeme keineswegs beendet ist. Zwar tretenim gegenwärtigen Projektabschnitt die mit der Produktion, dem Betrieb und derInstallation der Metalldetektoren verbundenen Aktivitäten stärker in den Vorder-grund. Allerdings zeigt sich immer deutlicher, dass auch in diesen Umsetzungs-und Anwendungsphasen regelmäßig Fragestellungen auftreten, die einen neuenForschungs- und Entwicklungsbedarf auslösen sowie Potenziale zu grundlegendenNeuentwicklungen der eingesetzten Systeme beinhalten können. Dies verweistauf den offenen Charakter und den schleifenförmigen Verlauf von Innovations-prozessen, da neue Innovationsimpulse von unterschiedlichen Momenten wieProduktverbesserungen, Veränderungen der Umfeldbedingungen oder veränder-ten Anforderungen der unterschiedlichen Anlagen, an denen die Metalldetektoreninstalliert werden, ausgehen können (vgl. Kap. 4).

5.3.2 Weitere Innovationsprojekte

Um die große Bandbreite innovativer Aktivitäten bei MessTech zu erfassen, wurdenneben dem Projekt MetDek weitere Innovationsprojekte in unsere Untersuchungeneinbezogen. Dies umfasst einmal Innovationsprojekte, die vor Beginn der Untersu-chungen abgeschlossen waren und deren retrospektive Analyse wertvolle Einsich-ten für die bei MetDek generell bestehende Innovationspraxis liefert. Einbezogenwurden außerdem bei MessTech aktuell laufende Innovationsprojekte, die zeitweiseaufgrund inhaltlicher, organisatorischer oder finanzieller Probleme der großbetrieb-lichen Partner unterbrochen waren oder sind.5 Für die Analysen wichtig waren

5 Für Projektunterbrechungen sorgten insbesondere die krisenhaften ökonomischen Tendenzen imZusammenhang mit der in der zweiten Jahreshälfte 2008 beginnenden Finanzkrise. Dies führte

5 Management des Informellen durch Situatives Projektmanagement 85

schließlich solche Innovationsprojekte, deren Initiierung in die Laufzeit unserer Un-tersuchungen fiel. Dadurch ergaben sich weitreichende Einblicke in die Phasen derIdeenfindung und -generierung von Innovationsprojekten. Im Folgenden werden dieInnovationsprojekte kurz skizziert, deren Analysen neben dem Projekt MetDek indie anschließende Darstellung des Arbeitshandelns und des Managements von In-novationsprozessen eingehen.

In einem frühen Entwicklungsstadium befindet sich das Innovationsprojekt Gas-Temp. Dabei geht es um die Frage, wie die Temperatur von Abgasen in Kraftwerkenund privaten Heizanlagen gemessen werden kann. Diese Frage ist deshalb von ho-hem Interesse, weil die Temperatur von Abgasen Rückschlüsse auf den Wirkungs-grad von Heizanlagen geben kann. Das Projekt wird in Kooperation mit Verbändender Zementindustrie durchgeführt. Deren Interesse besteht darin, Methoden undInstrumente zu finden, die besser als bisher in der Lage sind, die gesetzlichen Emis-sionsvorschriften einzuhalten. Auf der Basis aussagekräftiger Messergebnisse zumWirkungsgrad kann die Effizienz der Prozesse durch entsprechende Veränderun-gen der Anlagen gesteigert werden, was neben der Reduzierung der Emissionenzu Energieeinsparungen führt. Die Messung der Temperatur von Gasen ist schwie-rig, da Gase mehrere Temperaturen gleichzeitig haben können. Klassische Verfah-ren wie etwa die Messung der Temperatur der Strömungsluft mit „berührenden“Thermometern sind nicht ausreichend zuverlässig. Andere Ansätze wie die direkteMessung der Schalllaufzeit in einem Industrieofen sind wenig praktikabel und nuraufwändig umzusetzen. MessTech verfolgt verschiedene Lösungsansätze und hat indiesem Zusammenhang erste Experimente realisiert.

Bereits seit längerer Zeit läuft ein anderes Innovationsprojekt, bei dem es umdie verbesserte Effizienz von Drehrohröfen für die Verfahrensindustrie geht. Die-ses Projekt führt MessTech gemeinsam mit einem ausländischen Konzern durch.Die Herausforderung besteht darin, ein Messsystem zu entwickeln, das auf den imInneren bis zu 1.500 Grad und auf der Außenhaut noch 400 Grad heißen rotieren-den Öfen platziert werden kann, kontinuierlich qualitativ gute Signale erzeugt unddiese mit einem Sender überträgt. Aufgrund der großen Hitze wären direkte Mes-sungen an den Öfen nicht möglich. Bei ersten Experimenten brachen oder rissenwegen dieser schwierigen Bedingungen die Installationen ab und die elektroni-schen Bauteile gingen schnell kaputt. Nach der Überwindung dieser grundlegendenProbleme sind inzwischen funktionierende Prototypen in einigen Werken des Pro-jektpartners installiert. Dadurch liegt eine ausreichend große Datenmenge vor, aufderen Grundlage die Funktionsfähigkeit der Öfen an unterschiedlichen Standortendes Projektpartners verbessert wurde. Gleichwohl sind die Prototypen noch nichtso ausgereift, dass eine Serienproduktion geplant werden kann. Schwierigkeiten imProjektablauf ergaben sich darüber hinaus durch die zeitweilige Unterbrechung derProjektarbeiten, die mit dem konjunkturellen Einbruch in der Folge der Finanzkrise2008 zusammenhängt.

in den mit MessTech kooperierenden Unternehmen teilweise zum Abbruch oder zur zeitweiligenEinstellung innovativer Projektaktivitäten. Einige der unterbrochenen Innovationsprojekte wurdenab Ende 2010/Anfang 2011 wieder reaktiviert.

86 E. Heidling

In einem weiteren Innovationsprojekt geht es um grundlegende Neuentwicklun-gen eines Messsystems für die Erzindustrie. Durchgeführt wird das Projekt miteinem ausländischen Konzern. Durch die Installation des neuen Messsystems sollder Materialdurchsatz der weltweit verteilten Erzmühlen deutlich gesteigert wer-den. Die Herausforderungen bestehen insbesondere darin, die Vielzahl der in denErzen enthaltenen unterschiedlichen Mineralien zu identifizieren. Erschwert wirddies durch die hohen Durchsatzmengen der Erzmühlen. Darüber hinaus stellte derProjektpartner im Projektverlauf immer wieder neue Anforderungen an die Funk-tionen des Systems, so dass jeweils neue Forschungsschritte notwendig waren. Dietechnische Seite des Projekts ist zum jetzigen Zeitpunkt weit fortgeschritten. Unge-klärt ist dagegen eine Reihe von Fragen zur konkreten Ausgestaltung der weiterenKooperationsbeziehungen. Diese Fragen müssen zunächst geklärt werden, bevordie Projektarbeiten weitergeführt werden können.

5.3.3 Von der Struktur zur Handlung in denInnovationsprojekten bei MessTech

In den folgenden Ausführungen wird die Handlungsebene in den Innovationspro-jekten von MessTech analysiert. In den Mittelpunkt rücken die künstlerischen, er-fahrungsgeleiteten und spielerischen Merkmale, die in den Innovationsprojekten beiMessTech das Arbeits- und Managementhandeln mitbestimmen. Untersucht wer-den die subjektive Haltung (künstlerisch), die Handlungsweise (erfahrungsgeleitet)und die Definition der Handlungssituation (spielerisch) der Akteure (vgl. Kap. 3).

Die inhaltlichen Bezugspunkte für die Handlungsebene bilden die beschriebe-nen Innovationsprojekte. Die obige Darstellung der Projekte orientierte sich ander chronologischen Abfolge wichtiger Projektphasen. Im Unterschied dazu erfolgtjetzt ein Perspektivenwechsel, da die Handlungsmerkmale alle Etappen der Innova-tionsprojekte bei MessTech durchziehen. Gleichwohl wird an einzelnen Stellen aufbestimmte Innovationsprojekte verwiesen, um den Kontext des Akteurshandelns ineiner konkreten Projektsituation zu verdeutlichen.

Wie die Beschreibung der Innovationsprojekte gezeigt hat, ist die Struktur derInnovationsaktivitäten bei MessTech neben der innerbetrieblichen Sphäre durchdie unternehmensübergreifende Ebene geprägt. Im Mittelpunkt der überbetriebli-chen Zusammenarbeit stehen die Akteure der kooperierenden Unternehmen undder wissenschaftlichen Institutionen des regionalen Umfelds. Die Zusammenarbeitmit den großbetrieblichen Kooperationspartnern findet hauptsächlich im Rahmender gemeinsamen Projektgruppen statt. Die Akteure des wissenschaftlichen Um-felds sind zwar nicht direkt in die Projektgruppen integriert, werden jedoch inbestimmten Situationen und für spezifische Fragestellungen als quasi assoziiertePartner an den Projektarbeiten beteiligt. Diese unternehmensübergreifenden Koope-rationsbeziehungen beeinflussen in erheblichem Maße die Innovationsaktivitätenbei MessTech und werden deshalb ebenfalls in die Untersuchungen einbezogen.

5 Management des Informellen durch Situatives Projektmanagement 87

Entlang den künstlerischen, erfahrungsgeleiteten und spielerischen Merkmalenwird zunächst das Arbeitshandeln und anschließend das darauf bezogene situativeProjektmanagement dargestellt. Im praktischen Handeln der Akteure fallen dieseHandlungsorientierungen in eins, insofern ist die getrennte Darstellung rein analy-tisch zu verstehen.

5.4 Innovationsarbeit

In den Untersuchungen zur Innovationsarbeit bei MessTech geht es um die künst-lerische Haltung, die erfahrungsgeleiteten Handlungsweisen und die spielerischeSituationsdefinition. Dabei wird deutlich, dass insbesondere von den erfahrungsge-leiteten Vorgehensweisen vielfältige Impulse für den Innovationsprozess ausgehen.Dies gilt sowohl für das innerbetriebliche Arbeitshandeln als auch für die Zusam-menarbeit mit den Akteuren der kooperierenden Unternehmen und wissenschaftli-chen Institutionen.

5.4.1 Künstlerische Haltung

Die künstlerische Haltung ist in den MessTech-Innovationsprojekten besonders mitdrei Momenten verknüpft. Wichtig ist einmal, eine große Offenheit im Umgang mitsehr unterschiedlichen theoretischen und praktischen Lösungsansätzen sowie ge-genüber verschiedenen konkreten Anwendungsbereichen zu entwickeln und überden gesamten Projektverlauf beizubehalten. Diese grundlegende Offenheit ermög-licht Innovationserfolge, weil sie erlaubt, wechselnde Lösungsansätze zu verfolgenund unterschiedliche Richtungsentscheidungen vorzunehmen. Offene Arbeitspro-zesse eröffnen den Beschäftigten außerdem Möglichkeiten, eigene ästhetische Vor-stellungen einzubringen, die sich positiv auf die Funktionalität technischer Geräteund Funktionen auswirken. Ein weiteres wichtiges Moment ist der produktive Um-gang mit Fehlern und Irrtümern. Kreatives Scheitern und kreative Zerstörung sindkonstitutiv für die Forschungs- und Entwicklungsprozesse, weil daraus häufig ent-scheidende Informationen und Schlussfolgerungen für die erfolgreiche Weiterent-wicklung der Innovationsprojekte gewonnen werden.

Ein offenes Herangehen an die jeweiligen Anforderungen durchzieht das Ar-beitshandeln in allen Phasen des Innovationsprozesses. So wurden im Projekt Met-Dek auf Basis theoretischer Überlegungen zunächst verschiedene Verfahren ge-prüft.

„Also wir haben erst mal eine Menge verschiedener Verfahren durchprobiert. [. . . ] Wir ha-ben die erst mal theoretisch untersucht, dann haben wir aus den theoretischen Erwägungen[. . . ] direkt einen ganzen Haufen verworfen und haben dann die restlichen weiter unter-sucht. [. . . ] Da ist schon ein gewisser Formalismus mit drin [. . . ], sonst würde es auch

88 E. Heidling

nichts. Aber er ist nicht sehr strikt. [. . . ] der Punkt ist, dass man schon auch Freiräumelassen muss [. . . ], dass man irgendwo landet, wo man es nicht erwartet.“6

Deutlich wird, dass der Arbeitsprozess strukturiert verläuft, allerdings bezogenauf die Auswahl der möglichen Lösungswege und die Gestaltung der damit ver-bundenen Arbeitsschritte große Freiheiten zulässt. Dieses offene Umgehen mit denjeweiligen Fragestellungen umfasst selbst die Möglichkeit, den Forschungsprozessmit einem ganz neuen Ansatz wieder neu zu beginnen. Dies gilt auch in fortgeschrit-tenen Projektphasen wie dem Übergang vom Prototyp in die Nullserienfertigung.

„Wir haben auch ein paar ziemlich abgedrehte Methoden ausprobiert [. . . ]. Und dann ebenfestgestellt, gut, dies und das funktionierte nicht [. . . ], wir haben das an so ein paar physika-lischen Merkmalen festgemacht und gesagt, bestimmte Ergebnisse müssen wir erreichen,damit es überhaupt was Brauchbares ist [. . . ]. Da haben wir anfangs und auch im Prozesssogar, bis ganz kurz vorm Bau von den Nullseriengeräten, immer noch die Möglichkeitoffen gehalten zu sagen: Okay, das ganze Verfahren ist vielleicht nicht das richtige.“

Daneben stellen die grundsätzlich offenen Arbeitsprozesse für die Beschäftig-ten eine wichtige Voraussetzung dar, eigenständige Gestaltungsleistungen in dieEntwicklung und Konstruktion der Produkte einzubringen und darin ihre künstle-rischen und ästhetischen Vorstellungen auszudrücken. Dies gilt für verschiedenePhasen der Herstellungsprozesse und reicht vom Prototypenbau bis zur Phase derErstellung der Dokumentation für die auszuliefernden Produkte.

„Und, gut, hab mich dann eben [. . . ] mit dem Layout-Programm beschäftigt, weil ich ja sel-ber mein Ding da schön machen wollte. [. . . ] und hab’s dann halt hier fräsen lassen [. . . ].Wo ich dann gesehen hab, na ja, oh, klasse. Man ist jetzt nicht mehr an dieses Lochraster-schema gebunden, sondern man kann die Bauteile schräg setzen, nach da hinsetzen oder sohinschieben, wie man es haben will.“

Diese Aussage verweist darauf, dass der zweckfreie, zunächst rein ästhetischbegründete Anspruch, der das Arbeitshandeln bestimmt, im Ergebnis den Blick aufvielfältigere und variablere Funktionalitäten von Bauteilen eröffnet.

„Also, wenn eine Elektronik schön aussieht, dann sieht sie nicht selbstgebastelt aus. Undalles, was nicht selbstgebastelt aussieht, wirkt einfach professioneller. [. . . ] Also [. . . ] esmuss jetzt nicht innen drin nach einem Kunstwerk aussehen, oder so. Aber es macht schoneinen Unterschied, ob die Leitungen schön verlegt sind, im rechten Winkel [. . . ], es ist halteine geordnete Struktur, die man da drin erkennen kann. Oder ob die Leitungen da jetzt alleso reingeworfen sind. Und funktioniert zwar auch, man guckt rein, aber denkt sich: Was fürein Chaos.“

Dabei sehen die Beschäftigten die Aktivierung der eigenen kreativen Potenzia-le in einem engen Zusammenhang mit dem industriellen Umfeld und den damitverbundenen bestimmten Zwecken.

„[. . . ] das ist so Platinenlayouts erstellen. [. . . ] Wo man da halt erst vor einem leeren StückPlatine sitzt und das dann irgendwie mit Leben füllen muss. [. . . ] ich sag mal, bei Platinen

6 Die Zitate sind hier und im Folgenden Aussagen aus den im Projekt KES-MI durchgeführtenErhebungen.

5 Management des Informellen durch Situatives Projektmanagement 89

kommt es natürlich hauptsächlich auf die Funktionalität an, allerdings ist es auch hilfreich,wenn die optisch relativ einfach zu erfassen sind. [. . . ] von der Bestückung her wird’s einfa-cher, gerade bei dieser hochkomplexen Platine [. . . ]. Das heißt, eine gewisse Struktur, eineArt leicht zu erfassendes Muster, wo man jetzt mit wenigen Blicken dahintersteigt. [. . . ]man könnte eine Dokumentation schreiben und sagen: Hier, guck, oben rechts, da sitzt die-ses Bauteil, unten links, da sitzt jenes Bauteil; wenn das kaputt ist, dann nimmst du dieSchraube, schraubst du da los. Klar, das wäre natürlich einfacher zu dokumentieren, wennes halt schön übersichtlich angeordnet ist.“

Eine übersichtliche Anordnung des inneren technischen Aufbaus der Geräte ent-faltet einen ästhetischen Reiz und ermöglicht im Störungsfall eine eindeutige Feh-lerbestimmung und eine zielgerichtete Reparatur.

Ein offener Umgang und die aktive Suche nach unterschiedlichen Lösungsan-sätzen ist immer wieder mit Fehlern und Irrtümern verbunden. Dieses Moment deskreativen Scheiterns hat einen hohen und positiv besetzten Stellenwert im Arbeits-handeln bei MessTech.

„Keiner sucht ja den Irrtum oder sucht das Scheitern, sondern es ist eher andersherum.Man wird ereilt. Und wenn man das dann eben nicht als Chance begreift, nämlich: ich habewas probiert, definitiv funktioniert es nicht, und es nicht als Erkenntnisgewinn verbuchtund nutzt, dann vergibt man riesige Möglichkeiten. [. . . ] Fehler sind eine wichtige Quelle,wo man wirklich was lernen kann. Und das muss man [. . . ] nicht nur zulassen, sonderndurchaus als eine positive Möglichkeit nehmen, sonst würde man nichts dazulernen [. . . ].Bei Fehlern ist dann eben der Unterschied zwischen dem, was man wollte, und dem, washerausgekommen ist, am größten und damit erzielt man lerntechnisch auch den größtenHebel. Das, was man sehr gut gemacht hat, behält man bei, da muss man nichts dran ändern[. . . ]. Das heißt, schau genau hin und versuche herauszubekommen, was ist alles schiefgegangen und warum [. . . ]. Und dann geht es da drum, eben eine Analyse der Antwortdurchzuführen. Und da kann man unglaublich viel lernen.“

Angesprochen wird damit, dass Fehler in einer fehlerfreundlichen Arbeitskul-tur als Quelle für Lernprozesse darüber informieren, was rückblickend betrachtetfalsch gelaufen ist, und gleichzeitig Ansatzpunkte für neue und damit potenziellinnovative Handlungsstrategien liefern. Diese für das Arbeitshandeln in Innovati-onsprozessen bestimmenden und prägenden Zusammenhänge sind den Akteurendurchaus bewusst, werden allerdings kaum dokumentiert.

„Also, es gibt dann einfach die Information, dass man zur Erreichung des gewünschtenZiels bestimmte Wege nicht gehen kann. Vielleicht sogar ganze Bündel von Wegen nichtgehen kann [. . . ] oder die zu einem völlig anderen Ziel führen. [. . . ] Das ist sicherlichhochgradig ein informeller Prozess. In aller Regel wird man nicht einen Bericht schreiben,der triumphal am Ende verkündet, es hat nicht funktioniert.“

Neben dem kreativen Scheitern spielt für innovatives Arbeitshandeln das Mo-ment der kreativen Zerstörung eine wichtige Rolle. Deutlich wird dies am Beispielder ersten experimentellen Versuche im Projekt GasTemp.

„Und letzte Woche haben mit unserem allerersten Prototypen Messungen stattgefunden, in[. . . ] mehreren heißen Gasströmen. Und die Überlebensdauern der Prototypen bewegtensich zwischen einigen Sekunden und einigen Minuten. [. . . ] Sämtliche Probeteile sind ka-putt. [. . . ] aber die Fragestellung ist völlig klar jetzt. [. . . ] Wir werten im Moment die Daten

90 E. Heidling

aus. [. . . ] Und als Nächstes – wie immer – geht’s jetzt dran: Okay, warum ist es kaputtge-gangen? Was können wir machen, damit es länger hält? [. . . ] wir erhalten mit ziemlicherSicherheit ein noch sehr viel besseres und sehr viel tieferes theoretisches Verständnis desGesamtprozesses. [. . . ] wenn da jetzt noch eine Frage auftaucht, haben wir eine gute Chan-ce, dass die bereits beantwortet ist.“

Experimentelle Zerstörungen werden in dieser Perspektive für den Fortschrittdes Innovationsprozesses nutzbar, indem Erkenntnisse zu den gegenwärtig nochbestehenden technischen Unzulänglichkeiten gewonnen werden. Außerdem bildendiese Ergebnisse den Ausgangspunkt für die Bearbeitung weiterer grundlegendertheoretischer Fragestellungen. Diese weitergehenden Ergebnisse können dann fürspätere Phasen des Innovationsprozesses genutzt werden.

Voraussetzung für den positiven Umgang mit solchen negativ konnotierten Pro-zessen ist eine hohe Frustrationstoleranz und ein entwickeltes Durchhaltevermögender daran beteiligten Arbeitskräfte. Die Fähigkeit, negative Ereignisse positiv zuverarbeiten, ist quasi die Kehrseite des kreativen Scheiterns und der kreativen Zer-störung.

„In unserem Metier gehört es gerade zum Berufsbild, Fehlschläge auszuhalten. Und es danneben noch mal und noch mal und noch mal zu versuchen. Und jedes Mal etwas anders.“

Wichtig für die produktive Verarbeitung von Fehlschlägen ist ein gewisser räum-licher und zeitlicher Abstand zwischen den einzelnen Ereignissen, wofür wiederumdie offene Gestaltung der Arbeitsprozesse eine wichtige Voraussetzung bildet.

„Nun gibt es, wenn so ein typischer Rückschlag kommt und das irgendwie nicht weitergeht[. . . ], halt diesen Punkt: Nase voll [. . . ], man ist dann irgendwo frustriert [. . . ], weil maneinfach [. . . ] den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht, [. . . ] hilft es mir, dass ich dannwiederum hier die Freiheit habe, dass ich einfach mal sage: Jetzt lasse ich den Mist einfachmal eine Woche liegen. Und man einfach mal mit den Gedanken oder mit dem Kopf wo-anders hinkommt, dass man die ganze Geschichte noch mal neu angeht. [. . . ] wenn mandann wieder sich das Ganze hervorholt, geht dann halt frisch ans Werk, hat wieder ge-nug Energie gesammelt [. . . ]. Und jetzt nicht die alte Perspektive, den alten Blickwinkelhat, sondern einfach noch mal versucht, das Ganze aus einer neuen Perspektive zu be-leuchten. Also, wenn es rechtsrum nicht geht, probiere es das nächste Mal linksrum – soungefähr.“

5.4.2 Erfahrungsgeleitete Handlungsweise

Das erfahrungsgeleitete Arbeitshandeln spielt bei MessTech eine zentrale Rolle.Diese Handlungsweisen umfassen besonders ein explorativ-entdeckendes Vorge-hen und die sinnliche Wahrnehmung. Damit ist in den untersuchten Innovations-projekten ein dialogisch-interaktives Vorgehen eng verknüpft. Kennzeichnend sindintensive Kommunikationsprozesse, in denen Erfahrungen weitergegeben, Lösun-gen für anstehende Probleme gefunden sowie Entwicklungen neuer Projekte unddie gemeinsame Ideenfindung für zukünftige Innovationen angestoßen werden.

5 Management des Informellen durch Situatives Projektmanagement 91

Gespeist werden die Kommunikations- und Kooperationsprozesse zu einemTeil aus sachlich-technischen und zu einem anderen Teil aus Problemstellungen,die sich aus den konkreten Handlungsweisen in den Arbeitsprozessen entwickeln.Damit entfalten diese Prozesse eine doppelte Wirkung auf die Innovationsakti-vitäten bei MessTech. Einmal bilden die ausgeprägten Kommunikationsprozessedie mediale Vermittlungsebene aller für die Innovationsprojekte relevanten Ideen,Fragestellungen, Erfahrungen und Ergebnisse zwischen den Akteuren. Darüberhinaus entsteht durch diese auf Dauer gestellten Kommunikationsprozesse ein qua-si immaterieller, nicht-sichtbarer Speicher mit Elementen aus Erfahrungen undIdeen vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Innovationsprojekte. Dieserimmaterielle Erfahrungs- und Ideenspeicher bildet einen zentralen Grundstockfür die Innovationsprozesse bei MessTech. Der Zusammenhang zwischen einemexplorativ-entdeckenden Vorgehen und der entsprechenden kommunikativen Ver-mittlung kennzeichnet sowohl die innerbetrieblichen Arbeitsprozesse als auch dieZusammenarbeit in den unternehmensübergreifenden Innovationsprojekten.

Im innerbetrieblichen Arbeitshandeln sind bereits bei der Generierung neuerIdeen für innovative Projekte ein explorativ-entdeckendes Vorgehen und eine Mi-schung kognitiver und nicht-kognitiver Elemente erkennbar.

„Na gut, es zeichnet sich schon dadurch aus, dass es selten wirklich durch eine völlig syste-matische Vorgehensweise geprägt ist, aber man soll jetzt nicht so tun, als wäre das komplettchaotisch, sondern man sammelt eigentlich in der Regel erstmal Probleme und dann über-legt man sich eine Lösung und stellt dann nach relativ kurzer Zeit fest, dass die Unfug ist[. . . ], und variiert die dann. Ich hab mir allerdings angewöhnt, tatsächlich immer wiedermal zwischendrin zu stoppen und zu sagen: So, jetzt versuch mal bewusst in eine ganzandere Richtung zu denken – manchmal haben wir es auch so gemacht, dass wir gesagthaben: Versuch das Problem mal von hinten anzugehen, also tu mal so, als hättest du eineLösung, und was musst du dann machen auf dem Weg dahin? Also es ist keineswegs einvöllig unorganisierter Prozess. Es ist auch kein ganz unsystematischer Prozess, aber was esdefinitiv eben nicht ist, ist, dass es ein völlig systematisierbarer Prozess ist.“

Dieses Arbeitshandeln, das auf den Einsatz vorhandener Methoden und Instru-mente aufsetzt, ist stark geprägt von praktisch orientierten Handlungsweisen. Dieim Arbeitsprozess wichtigen Zwischenergebnisse resultieren in erster Linie aus ei-nem experimentell angelegten Vorgehen.

„Ja, ich mein, es fängt dann meistens am Rechner an, dass man sich hinsetzt und guckt, wasman ungefähr haben möchte, dann wird das Ganze etwas konkreter, man macht Schaltplä-ne, Layouts, und die baut man dann zusammen und guckt mal, ob es dann funktioniert,so wie man sich das vorgestellt hat. Das hab ich dann so weit aufbereitet [. . . ] und dannangefangen, ja, zu bauen, zu experimentieren und zu verbessern, [. . . ] das wächst halt dannmit der Zeit.“

Die Anlage der experimentellen Verfahren und der Suchprozess nach den dafürbenötigten einzelnen Bauteilen folgt einem schrittweisen Vorgehen.

„Also, Stichwort Temperaturmessung [. . . ]: Welchen Temperaturfühler nimmt man dennüberhaupt? [. . . ] Wo mir dann einfiel, na ja, gut, man könnte halt ein bestimmtes Bauteilnehmen [. . . ], dann einfach gestern so im Internet noch mal so geguckt [. . . ], so eine An-

92 E. Heidling

regung gefunden [. . . ], es schlummerte eigentlich mehr so dumpf drin, wo ich weiß, dasist eine einfache Sache, das kann man einfach lösen, halt nur noch keine Konkretisierung[. . . ], und dann klappert es dann wieder so [. . . ]: Stimmt ja, das ist ja das Bauteil, was duin der Ecke liegen hast [. . . ] – prima, kannst du mal einen Versuchsaufbau mit machen.“

Neue Lösungsansätze und daraus folgende Änderungen der Konstruktion unddes Aufbaus der Geräte können auch durch sinnliche Wahrnehmungen ausgelöstwerden. Dies zeigt der Umgang mit Funktionsstörungen elektronischer Bauteile.

„Aber da ist meine Überzeugung, das ist den Wärmetod gestorben, weil [. . . ] ich sage malso, die Verfärbungen um die Halbleiter drum herum, die sind [. . . ] typisch, wenn es zu heißgeworden ist. [. . . ] Und dass die Halbleiter eben, ja, gestorben sind, irgendwie mussten siekaputtgegangen sein. Und aus meiner Sicht war es dann eben, ja, zu große Hitze. Daraufhinhaben wir dann auf dem Netzteil noch einen Lüfter integriert, der den Kühlkörper [. . . ] danndirekt anbläst.“

Die einzelnen Stufen des Innovationsprozesses sind nicht an engen zeitlichenVorgaben orientiert, sondern bewegen sich in einem Wechselspiel zwischen be-stimmten Überlegungen und deren experimenteller Umsetzung.

„Wenn ich jetzt merke, dass ich [. . . ] in anderen Bereichen weniger zu tun habe [. . . ], dannsetze ich mich schon dran, konkretisiere die Gedanken ein bisschen mehr oder schnappemir das Gerät, schraube es auf und gucke da mal rein; lasse die Gedanken einfach kreisen,ob das denn so passen könnte, was ich mir da so ausgedacht habe.“

Grundlegend für das dialogisch-interaktive Vorgehen in den Arbeitsprozessen istein intensiver Austausch zwischen allen betrieblichen Akteuren zum Stand und denEntwicklungen in den Innovationsprojekten. Ihre umfassende Beteiligung an diesenKommunikationsprozessen stellt den Zusammenhang zwischen den Projekten her.Dadurch entsteht ein kontinuierlicher Fluss geteilter Erfahrungen und gegenseitigerAnregungen, der den Erfahrungs- und Ideenspeicher immer wieder neu füllt.

„Meistens sind die Gespräche nicht unter vier Augen, sondern [. . . ] grade da, wo wir indem Moment sind, finden die Gespräche statt. Und ein bisschen durcheinander, wild ist dasdann meistens. Einer redet, ganz oft wird auch gegeneinander reingeredet, wenn jemandeine gute Idee hat, und es ist eigentlich sehr viel Diskussion. [. . . ] das seh ich sehr oftin den Gesprächen, dass man Anregungen aus Richtungen bekommt, von Kollegen, diejemand kennen, die über was gelesen haben, die sich in der Richtung auskennen, die manvorher einfach nicht bedacht hat [. . . ]. Also, man kriegt unheimlich viele Impulse durchdie Erfahrungswerte der anderen, [. . . ] die man ohne so ein Netzwerk von Kollegen nichthätte. Viele haben schon Erfahrungen gemacht, die man nicht mehr extra noch machenmuss.“

Die Initiierung, Gestaltung und Institutionalisierung dieser intensiven Kommunika-tions- und Kooperationsprozesse stellt sich nicht automatisch ein, sondern ist aneine Reihe wichtiger Voraussetzungen gebunden. Dazu zählen eine durchgängi-ge Offenheit und die ständige Bereitschaft aller Beschäftigten, aktiv an diesenAustauschprozessen teilzunehmen.

„[. . . ] so zwischen Tür und Angel findet [. . . ] viel statt und [. . . ] unheimlich viel einfachüber das Gespräch, wir haben wenig E-Mail-Verkehr eigentlich [. . . ], man trifft da eben aufein offenes Ohr [. . . ] und es ist dann auch wirklich sehr sehr oft so, man steht zu zweit da,

5 Management des Informellen durch Situatives Projektmanagement 93

redet grade über ein konkretes Problem, jemand drittes kommt dazu, hat mitgehört, [. . . ]hat eine Idee dazu.“

In diese kontinuierlichen Austauschprozesse sind die Vorgesetzten in gleicherWeise wie die Angestellten eingebunden. Auf der Grundlage sehr flacher inner-betrieblicher Hierarchien werden Absprachen und Entscheidungen überwiegendinformell getroffen, was die Prozesse wesentlich beschleunigt.

„Also, der Herr A. [Chef von MessTech] ist immer so die erste Anlaufstation, wo man zumeinen halt immer ein offenes Ohr findet und der zum anderen [. . . ] die Kompetenzen inallen Bereichen quasi hat. [. . . ] das ist sehr fruchtbar, da zu diskutieren. [. . . ] Hab dann dieAuswertung mit Herrn A. besprochen, ihm gezeigt, hab dann Ideen bzw. was einem so auf-gefallen ist [. . . ] quasi vorgetragen, [. . . ] dann eine mögliche Lösung, [. . . ] und er hat dannseine Anregungen, Bemerkungen [. . . ] dazugegeben und dementsprechend nachgebessert,[. . . ] je nachdem, ob es nötig war oder nicht.“

Verbunden mit diesen wenig formalisierten Verfahren sind vergleichsweisegroße Gestaltungsräume. Dadurch können die Beschäftigten viele eigene Ansätzein ihre Arbeitsprozesse einbringen und entsprechend ihren Vorstellungen umsetzen.

„Also die Vorschläge, die ich erarbeite, sind auf jeden Fall selbstbestimmt. Wie ich dasim Detail umsetze, ist selbstbestimmt. Auch der Vorschlag, mit wem ich denke, dass dasumzusetzen ist, ist selbstbestimmt und eigentlich ist es auch so, dass der so abgesegnetwird, wie ich den mach.“

Diese selbstständige Gestaltung der Arbeitsprozesse ist offenbar mit einer kla-ren Zielorientierung verbunden, die den Anforderungen erfolgreicher Projektarbeitin einem industriellen Umfeld entspricht. Die damit zusammenhängenden Verhal-tensweisen der Beschäftigten folgen nicht offiziellen Regeln und Vorgaben, sondernwerden durch das konkrete Arbeitshandeln in den jeweiligen Projektzusammenhän-gen immer wieder neu hergestellt.

„[. . . ] alle sind hier immer sehr auf das Ziel orientiert, einen Termin einzuhalten odermöglichst hohe Kundenzufriedenheit zu schaffen, Qualität zu liefern und uns von der Kon-kurrenz abzuheben. Das sind so die Merkmale [. . . ], die auch immer wieder [. . . ] aus denGesprächen herauskommen. Und die man sich dann selber plötzlich auch aneignet. Vonganz alleine.“

Wie angedeutet, sind die intensiven Abstimmungs- und Austauschprozessehochgradig informell gestaltet und dadurch sehr flexibel. Weniger wichtig sind offi-zielle Sitzungen, vielmehr sind informelle Gelegenheitsstrukturen und -orte zentralfür diesen Austausch. Dabei entstehen Knotenpunkte für die kontinuierlichen Kom-munikationsprozesse, in die alle betrieblichen Akteure eingebunden sind.

„[. . . ], da ist bei uns die Küche ein ziemlich zentraler Ort, wo wir auch morgens oft zu-sammenstehen und uns sehr viel so unsere Probleme schildern und gemeinsam auch Ideenüberlegen [. . . ], das berühmte Kaffeepausengespräch, wo man sich an der Kaffeemaschinetrifft, [. . . ] die dann natürlich Anlaufpunkt und Magnet für jeden ist, in irgendeiner Form,da läuft man sich halt schon mal über den Weg und während man auf seinen Kaffee war-tet, erzählt man sich dann schon mal und bleibt dann auch gerne mal ein paar Minuten dahängen [. . . ], das ist ja eigentlich so der Haupterfahrungsaustausch.“

94 E. Heidling

Diese wenig geregelten, gleichwohl sehr voraussetzungsvollen Kooperations-und Kommunikationsformen beeinflussen das innovative Arbeitshandeln. Derdurch die unterschiedlichen Anregungen ausgelöste Perspektivenwechsel kanndabei entscheidende Anstöße für Problemlösungen geben.

„Das mit der anderen Perspektive ist ja eigentlich so mit das Wichtigste, [. . . ] wenn manjetzt lange vor einem Problem sitzt, dann ist man irgendwann zugenagelt, [. . . ]. Jemandanderes, der dann [. . . ] mal auch ein bisschen Ahnung davon hat, kommt, guckt aus eineranderen Perspektive drauf und sieht direkt, ja.“

Solche Lösungen werden teilweise bereits durch den Kommunikationsprozessselbst initiiert. Für die Beschäftigten ist dies besonders wichtig, weil sie dadurchUmgangsweisen mit zwischenzeitlichen Blockaden im Arbeitsprozess entwickelnkönnen.

„Ich meine, wenn irgendwie so was erst nicht klappt [. . . ], dann hält man Rücksprache[. . . ], also kurz Problem schildern [. . . ], und dann wird meistens nachgefragt [. . . ]: Hastdu schon mal das und das probiert? Hast du schon mal darüber nachgedacht? [. . . ] DasErzählen ist ja teilweise schon ausreichend [. . . ]. Und dann klären sich auch die eigenenGedanken häufig. So machen wir es dann, das hat sich so bewährt, wir haben viele Fällegehabt, wo wir vor die Wand gelaufen waren und nur durch das Erzählen die Sache erledigthaben.“

Neben dem Erfahrungsaustausch besteht ein weiteres Moment dieser umfas-senden kommunikativen Durchdringung der Arbeitsprozesse darin, dass die Ab-stimmungen und Absprachen immer auch Auslöser für grundlegend neue Ideensein können. Im Zusammenspiel mit der eigenständigen Arbeitsgestaltung förderndie kontinuierlichen Austauschprozesse offensichtlich eine spezifische, auf weiter-gehende innovative Potenziale der Arbeitsgegenstände gerichtete Perspektive derBeschäftigten. Diese prospektive Sichtweise scheint eine wichtige Grundlage fürdie hohe innovative Entwicklungsdynamik von MessTech zu sein und durchziehtalle Arbeitsbereiche.

So sehen die Beschäftigten im Projekt MetDek über den gegenwärtigen Standhinausgehende Entwicklungspotenziale der Prototypen.

„Das ist zum einen die Unterscheidung der Metallsorten beziehungsweise Detektieren vonverschiedenen Metallen [. . . ]. Das sind [. . . ] Forschungen, Entwicklungen, Weiterentwick-lungen – dieser eine Zweig. Zum anderen gibt’s dann auch das Thema der Positionsbe-stimmung im Material beziehungsweise der Größenbestimmung des Teils, was da geradedetektiert worden ist.“

Ebenfalls sichtbar ist diese Verbindung des eigenen Arbeitshandelns mit zukünf-tigen innovativen Entwicklungsschritten im Bereich der elektronischen Steuerun-gen der Geräte.

„Ich hab so [. . . ] technische Spielwiesen, [. . . ] diese ganze Regelungstechnik, wo ich haltso ein paar Visionen hab’, wie’s weitergehen soll, [. . . ] wie will man das umsetzen, mitwelcher Sprache oder mit welchem Softwaremodul, da muss man ein bisschen grundlegenddenken.“

5 Management des Informellen durch Situatives Projektmanagement 95

Dasselbe gilt für den Produktionsbereich, in dem es um die Verbesserung be-stimmter Bauteile geht.

„Weiterentwicklung dahingehend, [. . . ] wie wir jetzt die nächsten Seriengeräte da ferti-gen können, ohne irgendwelche Fehler oder Ungereimtheiten [. . . ], ein bisschen müssenwir und können wir auf jeden Fall noch weiter dran entwickeln. [. . . ] Also zum Beispieldas Netzteil, da hätte ich jetzt schon noch ein paar Ideen, wie man das innendrin andersaufbauen könnte, damit auch das Wärmemanagement ein bisschen besser wird.“

Ein explorativ-entdeckendes und dialogisch-interaktives Vorgehen, gestützt aufeinen intensiven Kommunikationsprozess, prägt neben dem innerbetrieblichenebenso das Arbeitshandeln in der Projektzusammenarbeit mit den Akteuren ande-rer Unternehmen. Darauf verweisen die Rückmeldungen der Kooperationspartnerin der gemeinsamen unternehmensübergreifenden Projektarbeit.

„Dadurch, dass wir so ein kleines Unternehmen sind, reagieren wir – grade wenn wir mitden großen Kunden zusammenarbeiten, hat uns ein Kunde konkret auch schon gesagt, daswär unser großer Vorteil im Vergleich zum Konkurrenten, wir hören zu, wir versuchendie Sachen schnell [. . . ] und zu seiner Zufriedenheit umzusetzen. Und nicht unser Dingdurchdrücken wollen. [. . . ] Und ich glaub, das ist schon eine Errungenschaft hier, was dieFirma hier aufsetzt.“

Neben diesen positiven Momenten der Kooperationsprozesse ist die unterneh-mensübergreifende Projektarbeit vielfach durch kritische Situationen gekennzeich-net (vgl. 5.1). Kritische Situationen treten in unterschiedlichen Ausprägungen aufund können in letzter Konsequenz zum Abbruch von Projekten führen. Aufgrundder hohen Risiken ist dieses Szenario bei Innovationsprojekten wahrscheinlicher alsbei anderen Projekten. Nach mehrjähriger Laufzeit trat eine solche kritische Situa-tion im Projekt MetDek ein, die den Abbruch hätte bedeuten können (vgl. 5.3.1).Verhindert wurde dies durch die Zusammenarbeit der Projektakteure von MessTech,FöSys und AbRaum auf der Grundlage eines gemeinsamen, explorativ-entdeckendausgerichteten Arbeitshandelns und begleitet von intensiven Kommunikationspro-zessen zwischen allen Beteiligten. Nachdem der bei AbRaum installierte Prototypnicht die erwarteten Messwerte lieferte, suchten die Projektakteure weiter intensivnach Lösungen. Kurz vor dem Abbruch des Projekts präsentierte das Projektteameinen neuen Ansatz, der im Kern eine andere Anordnung von Detektor und För-derbändern beinhaltete. Die ersten Versuche mit dieser neuen Anordnung sahenzunächst wenig erfolgversprechend aus.

„Ich meine, dass das bei dem Band erst mal eine ganz andere Dimension erreicht, wo manso erst mal sagt [. . . ], wissen wir nicht ganz genau. Auf jeden Fall haben wir dann wiederauf dem Bagger gestanden, das hat wieder alles nicht funktioniert.“

Aufgrund der Initiative eines Mitglieds des Projektteams bestand der nächsteSchritt in einer konkreten experimentellen Umsetzung der neuen Ideen, deren Rea-lisierung dann entscheidende Verbesserungen der Messergebnisse zur Folge hatte.

„[. . . ] dann war das auch ein Anstoß vom Herrn X [Projektvertreter des UnternehmensFöSys], wo er gesagt hat: Nun lasst uns das doch mal ausprobieren! Dann machen wir daseinfach mal. [. . . ] und sind dann in den Baumarkt gefahren und haben uns da Dachlatten

96 E. Heidling

geholt und haben das ganze Ding einfach mal so schnell, ich sage mal, zusammengeproscht.Also schon ordentlich, so ist es nicht, [. . . ] natürlich so ein Holzrahmen erst mal [. . . ],passt nicht so ganz ins Bild [. . . ], hat allerdings in den daran anknüpfenden Versuchen sehrüberzeugende Ergebnisse gebracht, [. . . ] die ersten Messergebnisse haben dann [. . . ] eingroßes Potenzial enthüllt.“

Vor dem Hintergrund des bis dahin nur unzureichend funktionierenden Proto-typs reagierten die Vertreter von AbRaum zunächst weiter ablehnend. Die vomProjektteam realisierte Holzkonstruktion wirkte improvisiert und schien gänzlichungeeignet für eine Verbesserung der Messergebnisse.

„Das hat dann auch von Seiten AbRaum erst mal zu [. . . ] ja, nicht Gelächter, aber vonwegen: Was wollt ihr denn jetzt hier?! Was soll das denn?! Und es wurde auf jeden Fallsehr stark belächelt.“

Die neue Konstruktion erwies sich entgegen der provisorischen Anmutung alsfunktionsfähig, so dass stabil gute Messergebnisse erreicht wurden. Damit über-zeugte der neue Ansatz auch die Unternehmensvertreter von AbRaum. Dies be-deutete den entscheidenden Durchbruch und ermöglichte die Weiterführung desProjekts. Zugleich wurde die Kooperation auf eine neue Basis gestellt. Dabei istzwischen der Zusammenarbeit der beteiligten Unternehmen und der Kooperati-on in der Projektgruppe zu unterscheiden. Während auf Ebene der Unternehmendie Zusammenarbeit zwischen MessTech und FöSys auf der einen Seite und Ab-Raum auf der anderen Seite zunächst eher von Misstrauen geprägt war, bestimmtein der Projektgruppe sehr schnell eine konstruktive Atmosphäre die Kooperationder Akteure. Auf dieser Basis erarbeitete die Projektgruppe gemeinsam die neueLösung.

„[. . . ] der Herr Y [Projektvertreter des Unternehmens AbRaum], der übrigens sehr wertvollfür das ganze Projekt ist, [. . . ] und man hat sich dann so langsam [. . . ] angenähert, [. . . ]haben da auch Versuche gefahren. [. . . ] Dann kam ja dann dieser Punkt, [. . . ] wir probierenes mal so.“

Erst nach den positiven Ergebnissen dieser praktischen Versuche im Projekt ver-besserte sich die Kooperation auch auf Unternehmensebene zwischen MessTech,FöSys und AbRaum entscheidend, so dass die weiteren Projektarbeiten seitdemsehr viel kooperativer als zuvor von allen drei Unternehmen gestaltet werden.

„[. . . ] haben also unsere Konstruktion in Holz auch erst mal so weit verbessert, dass dasGanze dann immer und immer besser funktioniert hat. Und ist dann letztendlich so gutgewesen, dass AbRaum gesagt hat und wir auch [. . . ], also damit kann man da jetzt indem Einsatz frei arbeiten. Und [. . . ] das Ganze wird jetzt nicht mehr aus Holz, sondern auseinem anständigen Verbundwerkstoff hergestellt.“

5.4.3 Spielerische Situationsdefinition

Eine als spielerisch empfundene Arbeitssituation ermöglicht es den Beschäftigten,sich so weit in die jeweiligen Arbeitsaufgaben hineinzubegeben, dass der zweck-

5 Management des Informellen durch Situatives Projektmanagement 97

hafte Charakter der Arbeit zeitweise dahinter zurücktritt. Durch ein spielerischesMoment im Arbeitshandeln werden innovative Lösungen in unterschiedlichen Ab-schnitten der Projektarbeiten wesentlich befördert.

Nach vorbereitenden theoretischen Modellierungen wurden im Projekt GasTemperste Versuche gestartet, die zeigen sollten, wie der Zusammenhang zwischen akus-tischen Signalen und deren Erfassung und Messung praktisch umzusetzen ist. Ge-prägt waren der Aufbau und die Durchführung dieser Experimente insbesonderedurch spielerische Elemente im Arbeitshandeln.

„Ich hab das erste Modell [. . . ] aus Papier [. . . ] und Pappe gebaut. Erst mal schlau gemacht,wie sieht denn eine Flöte aus, die kein Mundstück hat [. . . ] und [. . . ] trotzdem flötet [. . . ],dann haben wir so lange rumgefummelt, bis das dann einigermaßen sauber funktioniert hat.Und dann hatten wir eben hier Flöten aus Pappe.“

Diese Modelle wurden in den nächsten Arbeitsschritten mit bestimmten Ver-suchsanordnungen kombiniert, um notwendige Eigenschaften für die grundlegendeFunktionsfähigkeit zu testen.

„[. . . ] wenn man den Aufbau gesehen hätte [. . . ]. Das sieht dann schon sehr gebastelt aus,im ersten Ansatz [. . . ]. Ein Kollege kam: Ah, Jugend forscht.“

Obwohl die Verfahren einen provisorischen und eher spielerischen Charakterhatten, führte dieses Vorgehen zu Ergebnissen, die darüber entschieden, ob der ein-geschlagene Weg weiter verfolgt werden konnte oder nicht.

„Und dann sagt man, aha, geht schon mal prinzipiell. Und da wird man natürlich dannpräziser. Dann kommen noch zusätzliche Messinstrumente [. . . ] mit dabei und dann siehtdas schon abenteuerlich aus. Aber, okay, für so einen Erstversuch ist das genau das Richtige.Man kriegt [. . . ] zumindest qualitativ oder halbquantitative Aussagen, die schon zeigen, binich auf dem richtigen Weg oder ist es ein Holzweg. Und gut, somit reicht das schon.“

Auf Grundlage der ersten positiven Ergebnisse wurden in den weiteren Arbeits-schritten gegenüber dem ersten Versuch andere Materialien verwendet.

„Und da ist der jetzige Weg eben mit vergleichsweise schlichten Keramikteilen [. . . ] na-türlich dann ein völlig anderer Fertigungsschritt [. . . ] Mit Pappe kann man mit der Schereund mit dem Messer [. . . ] und knicken. Das geht dann alles nicht [. . . ], dann haben wir erstmit den Keramikteilen hier rumgespielt. Die Keramik ist, wie sie ist, [. . . ] dann haben wirhalt die Strukturen, die wir vorher in Papier und Pappe hatten [. . . ]. in die Keramik her-eingebohrt und gefräst. So lange gemacht, bis auch die befriedigende Ergebnisse gezeitigthaben.“

Im Zusammenhang mit dem intensiven innerbetrieblichen Austausch verbin-den die Beschäftigten ihre Arbeitsprozesse offensichtlich generell mit spielerischenKomponenten.

„Also ich geh dann auf andere zu, wenn ich mir Gedanken gemacht hab [. . . ], und hol mirMeinungen ein, geh dann wieder in meine Arbeit zurück, [. . . ] oft kommt dann auch derandere und gibt den Anstoß wieder von seiner Seite aus. Das ist oft so ein Pingpongball.“

Die Herstellung spielerischer Situationen beeinflusst auch den Umgang mit Fra-gestellungen zu den Eigenschaften und dem Verhalten bestimmter Materialien. Da-

98 E. Heidling

bei geht es in den Innovationsprojekten bei MessTech um unterschiedliche Metalle.Ausgelöst durch kontroverse innerbetriebliche Diskussionen zum Magnetismus die-ser verschiedenen Metalle wurde versucht, die Frage experimentell zu klären.

„Und am Ende des Gesprächs habe ich dann einfach einen Magneten genommen, bei mirin der Werkstatt [. . . ]. Hab ich gesagt: Hier, guck’ mal! Ist magnetisch! Und außerdem,unten in der Werkstatt, der VA-Klotz, [. . . ] der ist noch stärker magnetisch. [. . . ] Außer-dem sieht es sehr lustig aus, Wirbelstromeffekte, wenn ich den kleinen Magneten an dieserKupferplatte entlangrollen lasse. Ich sage: Dann sieht man einen super Wirbelstromeffekt![. . . ] Der Herr B [Herr B und Herr C sind Mitarbeiter von MessTech] hat’s erst mal nur soaufgenommen, nach dem Motto, hm, ja, gut. Als ich das dem Herrn C erzählt habe, meinter: Oh, was? Ja! Gucken kommen! Und er ist dann sofort mitgekommen und hat geguckt.Und hat dann auch paarmal so den Magneten dann am Kupfer runterrollen lassen, war auchhoch begeistert [. . . ] und [. . . ] meinte: Mensch, guck mal, guck mal! [. . . ] Der Herr B kamdann dazu: Na, ihr Spielkinder, ich hab schon gehört – stand dann aber hinterher auch dadran und ließ die Magneten da so runterrollen. Und das finde ich so immer ganz nett, dass[. . . ] auch die Begeisterung da ist.“

Darüber hinaus kann ein spielerisch orientiertes Arbeitshandeln ganz konkreteEffizienzvorteile für den Arbeitsprozess nach sich ziehen.

„[. . . ] bestell ich schon ab und zu mal so eine Kleinigkeit mit, das ist jetzt aber toll, und seies auch nur eine superhelle weiße Leuchtdiode, so für drei Euro, die brauchen wir überhauptnicht, [. . . ] wo ich sag, die möchtest du mal live sehen, wie hell das Ding ist, [. . . ] und dannwird die hier ausprobiert und leuchtet schön hell, dann zeig ich das allen anderen. [. . . ] unddann kommt das Ding erstmal wieder in die Versenkung. Da war es aber schon oft genugso [. . . ], eine Problemstellung [. . . ], wo mir dann einfällt, da haste doch letztens mal mitrumgespielt und [. . . ] wo ich sage, guckt, haben sich die drei Euro doch im Vorfeld gelohnt.Erst rausgeschmissenes Geld und jetzt haste dafür die Idee.“

5.5 Situatives Projektmanagement –Management des Informellen

Die dargestellten Elemente der Innovationsarbeit sind eng mit einer spezifischenOrganisation verbunden. Kennzeichnend für diese Organisationsprozesse ist beiMessTech ein situatives Projektmanagement, das die Förderung einer künstleri-schen Haltung, einer erfahrungsgeleiteten Handlungsweise und einer spielerischenSituationsdefinition umfasst. Dieses situative Projektmanagement ist doppelt be-stimmt, weil die erfolgreiche Organisation der Innovationsarbeit maßgeblich von ei-nem Managementhandeln abhängt, das selbst wiederum künstlerische, erfahrungs-geleitete und spielerische Momente beinhaltet. Die erfahrungsgeleiteten Manage-mentelemente beeinflussen den Innovationsprozess durch ihre innerbetriebliche undunternehmensübergreifende Ausrichtung in besonderer Weise.

5 Management des Informellen durch Situatives Projektmanagement 99

5.5.1 Förderung einer künstlerischen Haltung

Die Offenheit für Unbekanntes, die im konkreten Arbeitsprozess eine zentrale Vor-aussetzung für Innovationen ist, hängt von einem entsprechenden Management ab.Ein solches Managementhandeln zeichnet sich dadurch aus, dass keine Denkver-bote aufgestellt und keine Schuldzuweisungen bei Misserfolgen gemacht werden.Diese beiden Momente hängen eng zusammen und sind konstitutive Bestandteileeines offenen Betriebsklimas bei MessTech. Dies bedeutet allerdings keineswegs,beliebig viele Ideen zuzulassen und zeitlich unbegrenzt zu verfolgen. Vielmehr be-steht eine spezifische Anforderung an das Management darin, ein Gleichgewichtzwischen den für innovative Prozesse notwendigen Freiräumen und den in einemindustriellen Umfeld begrenzten Ressourcen zu finden.

„Denn es steckt ja in unserem Falle, wiewohl wir es versuchen, die Grenzen sehr, sehr weitzu fassen, schon eine gewisse Zielrichtung dahinter, die sagt, wenn wir einen Detektor bau-en wollen, können wir eigentlich nicht zulassen, dass es in eine Richtung läuft, die hinterhereinen Haarfön liefert. Das bedeutet, [. . . ] dass man auch sagt, es gibt Himmelsrichtungen,die sind nun mal definitiv nicht die richtigen.“

Um die Inhalte und die Vorgehensweise in den Projekten zu bestimmen, werdendeshalb konkrete Schritte festgelegt, die die Richtung der Arbeiten vorgeben.

„Am Ende hatten wir [. . . ] Handlungsanweisungen [. . . ], wie machen wir denn jetzt weiter,und Ideen, wie kommen wir dem Problem bei. [. . . ] wir haben es [. . . ] in drei oder vierSätzen formuliert, die waren gar nicht so aufwändig, aber es waren technische Ideen. Wirmachen jetzt a, b, c und d. Und das Schöne ist, [. . . ] jetzt wurde die letzte umgesetzt undnach allem, was wir bisher sehen, hat das wohl wirklich gegriffen.“

Ebenso wichtig ist es, dass das Management dieses fragile Gleichgewicht zwi-schen ziel- und ergebnisorientiertem und offenem Arbeitshandeln dauerhaft austa-riert und positiv stimuliert. Die dafür notwendigen Grundlagen müssen im betrieb-lichen Alltag immer wieder neu hergestellt werden, so dass es möglich ist, zu jedemZeitpunkt der Projektarbeiten ganz neue Wege einzuschlagen.

„[. . . ] wir haben [. . . ] gesehen, dass ein Problem da ist, lasst uns mal drüber reden, kannman es lösen oder kommt vielleicht noch raus, dass man es nicht lösen kann. Oder manmuss eben auch offen sagen, gut, so wie es ursprünglich mal gedacht war, geht es nicht,vielleicht kann man sozusagen rechtwinkelig zur bisherigen Richtung weiter marschieren.[. . . ] wenn man auf Teufel komm raus, Biegen oder Brechen versucht, Ziele da vorzugebenohne Rücksicht auf die Randbedingungen, dann hat man hohe Scheiternswahrscheinlich-keit.“

Durch diese offene Atmosphäre werden Innovationsprozesse in Gang gesetzt, inderen Verlauf einmal gefundene Ideen kontinuierlich weiterentwickelt und verbes-sert werden.

100 E. Heidling

5.5.2 Förderung einer erfahrungsgeleiteten Handlungsweise

Wie das Arbeitshandeln ist das Management von Innovationen bei MessTech inhohem Maße durch erfahrungsgeleitete Handlungsweisen gekennzeichnet. Für eineerfolgreiche Bewältigung der Steuerungsaufgaben wichtig sind daneben die Ima-gination des Verwendungszusammenhangs und ein Gespür für die immanente Ent-wicklungslogik der Projekte. Geprägt ist das Managementhandeln darüber hinausdurch ein dialogisch-interaktives Vorgehen. Das Managementhandeln umfasst beiMessTech die innerbetriebliche und die unternehmensübergreifende Seite der In-novationsprozesse sowie deren Vermittlung. Die innerbetrieblichen Aufgaben desManagements umfassen die Initiierung des Innovationsprozesses, die praktischeUmsetzung der Ideen und die Steuerung der Arbeitsprozesse. Im Mittelpunkt derunternehmensübergreifenden Aufgaben steht die Initiierung und Umsetzung derverschiedenen Stadien der Zusammenarbeit mit den Kunden sowie die Koopera-tion mit den wissenschaftlichen Institutionen im regionalen Umfeld.

Grundlegend für die Förderung innovativer Prozesse ist die Verknüpfung unter-schiedlicher Erfahrungs- und Wissensbestände.

„Man bringt definitiv eben die Dinge ein, die man schon in der Vergangenheit gemachthat. Und je mehr man gemacht hat, desto mehr Verknüpfungsmöglichkeiten hat man. [. . . ]es handelt sich da eben nicht um ein lineares Aneinanderreihen, sondern [. . . ] Erfahrungwächst exponentiell, weil man eben mehrere Dinge mal getan hat. Das läuft fast unbewusstab. Dann verknüpft man die und bildet eben aus mehreren unterschiedlichen Erfahrungenneue Möglichkeiten.“

Für die Entwicklung innovativer Projekte sind insbesondere solche Verknüp-fungsleistungen produktiv, die Phänomene und Erkenntnisse aus auf den erstenBlick sehr weit voneinander entfernten Gegenstandsbereichen zusammenführen.Dies zeigt sich etwa an der messtechnischen Erfassung bestimmter Klangstrukturenzur Verbesserung technischer Systeme.

„Da habe ich irgendein Problem. Das kann man dann noch nicht unbedingt quantifizieren,das ist dann relativ schwierig, daraus eben jetzt sofort definitiv Aussagen abzuleiten [. . . ],weil der Klang so und so ist [. . . ]. Nichtsdestotrotz funktioniert es. [. . . ] Da steckt danneben auch die Erfahrung drin. [. . . ] wir bringen einerseits dieses Wissen um diese ganzenKlangstrukturen mit ein. Andererseits können wir aber auch Wissen und Erfahrung ein-bringen, wie man von einem ziemlich wissenschaftlichen Standpunkt aus mit Klängen undAkustik umgeht. Und dann gelingt es uns auch, [. . . ] hinterher sogar eine ziemlich genaubegründete Aussage machen zu können.“

Innerbetrieblich sind die ersten Schritte innovativer Ansätze von der Generie-rung neuer Ideen geprägt, was bei MessTech eine wichtige Managementaufgabeist. Dabei ist keineswegs sicher, ob der damit verbundene Aufwand in einem späte-ren Stadium der Projektentwicklung und in der Durchführung eines kommerziellenInnovationsprojekts wieder amortisiert werden kann.

„Das ist immer ein Wagnis. [. . . ] vorne diese ersten Überlegungen, wo ich mich hinsetze,das kann man natürlich rein betriebswirtschaftlich rechnen, wie viel Zeit sitze ich hier, aberdas sind Milchmädchenrechnungen. [. . . ] In dem Moment, wo andere involviert sind, muss

5 Management des Informellen durch Situatives Projektmanagement 101

man es rechnen und da greift [. . . ] diese iterative Vorgehensweise. Man guckt sich eben vonWoche zu Woche oder von Monat zu Monat an, wie weit kommt das. [. . . ] Und dann mussman einfach anhand der reingesteckten Zeit und der eingeschätzten Erfolgsaussichten auchim hohen Grade aus dem Bauch heraus entscheiden: Lohnt sich das weiterzumachen odernicht?“

Der gesamte Planungsprozess ist nicht in erster Linie von detaillierten Vorgaben,wie sie das klassische Projektmanagement kennzeichnen, bestimmt. Dies bedeutetkeineswegs den Verzicht auf Planungselemente. Diese werden jedoch kontextge-bunden und angepasst an das schrittweise Vorgehen entwickelt und eingesetzt.

„Und da haben wir ein paar Meilensteine, und wenn die dann erreicht werden, sind wirfertig. Man kann bestenfalls Meilensteine setzen [. . . ]. Wie in unserem Fall, es müssenbestimmte physikalische Randbedingungen erreicht werden, sonst geht es überhaupt nicht.Da kann man einen Stopp machen. Aber es gibt immens viele kleine Nebenbedingungen,die sieht man einfach nicht voraus – keine Chance.“

Diese kontextgebundenen Planungen unterstützen den Wechselprozess zwischenden theoretisch-analytischen Arbeitsschritten und deren praktischer experimentellerUmsetzung. Die Planungen sind darauf ausgerichtet, weit gefasste Handlungsspiel-räume zu schaffen, damit die Beschäftigten zeitnah und situativ angemessen mitden regelmäßig wiederkehrenden kritischen und unvorgesehenen Ereignissen imProjektverlauf umgehen können. Deutlich wird dies durch die Beschreibung derersten Erfahrungen beim Einsatz der Prototypen im Projekt MetDek.

„Und man fragt sich dann, gibt es noch andere Randbedingungen, an die wir jetzt währendder Entwicklung überhaupt nicht gedacht haben, die aber in der harten Praxis dann zumTragen kommen. [. . . ] Und dann war dummerweise der nächste Felsen da, und da flogenuns die Fetzen um die Ohren [. . . ], alles war hinüber. Das sind zum Beispiel eben dannErlebnisse, mit denen befasst man sich gar nicht, wenn man noch eher um die physikalisch-technischen Ergebnisse ringt. [. . . ] Das heißt, ein solches Projekt, gerade so was, das kannman gar nicht vernünftig planen im klassischen Sinne, sagen wir mal, das, das, das unddas.“

Eine wichtige Anforderung bei der Steuerung der Arbeitsprozesse in Innovati-onsprojekten besteht darin, den Beschäftigten genügend Freiräume in ihren Tätig-keiten einzuräumen und gleichzeitig für die Einhaltung der mit der Projektarbeitverbundenen Grenzen zu sorgen. Die Moderation solcher Prozesse scheint bessergeeignet zu sein, dieses fragile Gleichgewicht dauerhaft herzustellen, als der Ein-satz klassischer Führungsinstrumente.

„[. . . ] man kann im kommerziellen Umfeld nicht beliebig Zeit einsetzen, das geht einfachnicht. Aber [. . . ] es ist ein bisschen Fingerspitzengefühl, man darf es einerseits nicht ganzstrikte formalisieren, [. . . ] andererseits, wenn man gar nichts macht, dann wird es so be-liebig, kommt auch nichts bei rum. Also ich versuche es dann eben eher im Rahmen vonweiteren Gesprächen unten an der Kaffeemaschine, sagen wir so: Hier, das haben wir schonoder das hat der schon, was ist denn da auf der anderen Seite rausgekommen? [. . . ] Es hatviel von einem Moderationsprozess, also wenn es hilfreich sein soll, dann darf man es nichtwie eine straffe Führung betreiben [. . . ], man muss eben Moderator spielen. [. . . ] Steuern[. . . ] heißt, dass derjenige, der es eigentlich moderiert, im Prinzip schon weiß, wo es hin-geht. [. . . ] Und das tötet die Innovation. Eventuell muss man also Steuern nur insoweit

102 E. Heidling

verstehen, [. . . ] dass man das Abgleiten in die Beliebigkeit [. . . ], in allzu viele Details [. . . ]verhindert.“

Um die Ideen aller Beschäftigten für Innovationsprojekte nutzen zu können, be-steht eine Aufgabe dieser Moderation darin, die dafür notwendigen diskursivenProzesse zu organisieren. Produktiv werden diese Prozesse dann, wenn sie gleich-berechtigt geführt und nicht durch hierarchische Positionen oder Altersunterschiededominiert werden.

„Man kann formelle Hierarchien haben, [. . . ] auch [. . . ] Hierarchien haben, die sich ausAlter oder Betriebszugehörigkeit ergeben. Dann ist da jemand, der [. . . ] qua längerer Er-fahrung, längerer Zugehörigkeit was sagt, und das gilt dann als sakrosankt. Das muss manwirklich dringend vermeiden [. . . ]. Und Diskurs heißt eben, ich stelle mal Argumente ge-geneinander, nebeneinander, zueinander, und wir überlegen uns gemeinsam, welches istdas beste. [. . . ] und wenn ich dann merke, da gibt es ein besseres als meines, breche ichmir auch keinen Zacken aus der Krone, wenn ich sage: Okay, mein Argument ist nicht gutgenug. Lassen wir fallen.“

Ein weiteres wichtiges Moment ist in diesem Zusammenhang die sachliche Ori-entierung der Kommunikationsprozesse, in denen persönliche Schuldzuweisungenvermieden werden.

„Man muss einfach vermeiden, [. . . ] auch strikt unterbinden, dass das in so eine Zuwei-sungsdebatte geht, [. . . ] das passiert ja auch ganz schnell: Jetzt habt ihr da was vor dieWand gefahren. Oder ihr habt euch in eine Sackgasse verrannt. [. . . ] ob diejenigen, diedann solche Vorwürfe formulieren, insgesamt anders gefahren wären, ist ja gar nicht ge-sagt. Es gab ja gute Gründe, so zu gehen, wie man gegangen ist. [. . . ] Und das sind jatechnische Fragestellungen [. . . ], dann heißt es, der ist schuld. Ist er nicht, sondern der hatdie Natur befragt, und hat eine Antwort bekommen [. . . ]. Was man hinbekommen muss, ist,dass man sagt, ok, wir stehen da, wir haben folgendes Problem, was können wir tun, umdas zu lösen. Also wirklich versuchen, strikt diese Sachen auf die sachliche Ebene herunter-zuziehen, also die Emotionen rausnehmen. Leidenschaft darf drin sein, die Leidenschaft,das lösen zu wollen. [. . . ] dass wirklich die Debatte zwischen allen Beteiligten trotz desunterschiedlichen Hintergrunds auf Augenhöhe stattfindet.“

Ein Moderationsprozess, der von der Akzeptanz der besseren Argumente undder Orientierung an der Sache dominiert wird, ist die notwendige Voraussetzungdafür, dass neue Wege gegangen und bisher unbekannte Verfahrensweisen praktischumgesetzt werden. In Innovationsprozessen können sich daraus entscheidende Kon-sequenzen für den weiteren Projektverlauf ergeben. Besonders deutlich zeigt diesder Umgang des Managements von MessTech mit der sehr kritischen Situation, inder der Abbruch des Projekts MetDek durch eine neue Lösung der Projektakteureverhindert wurde.

„Wir haben [. . . ] unseren experimentellen Aufbau geändert in einer Weise, wie ich vorherimmer gesagt habe, na ja, kann man sicher mal probieren, aber ich erwarte nicht sehr viel.[. . . ] Das muss man [. . . ] sagen, das waren auch mehr die Leute, die zu dem Zeitpunkt ander Sache unmittelbar gearbeitet haben. Also weniger [. . . ] so vom grünen Tisch, sonderndie haben gemacht und haben gesagt: Jetzt wollen wir das aber auch mal probieren. Und ichhabe gesagt: Na ja, ich erwarte nix, aber wenn ihr unbedingt wollt, dann tut es mal. Ja, aberdas war der Punkt. Hinterher kann man sich das jetzt auch gut erklären, aber vorher hat man

5 Management des Informellen durch Situatives Projektmanagement 103

es einfach nicht so erwartet, weil so die groben theoretischen Überlegungen sagten: Nein,das wird nicht sehr viel bringen. Wir hatten eher sogar mit verschlechterten Ergebnissengerechnet, und stattdessen geht es also ganz drastisch hoch. So kann man [. . . ] eben [. . . ]auch mal richtig danebenhauen mit all der vielen Erfahrung, die sagt: Nein, das geht nicht.Aber wichtig ist in so einem Fall, dass man die Leute auch mal machen lässt. [. . . ] Und daswar genau das, was einem in Innovationsprozessen schlichtweg widerfahren kann. Manmacht eine vergleichsweise kleine Modifikation oder Änderung und auf einmal steht dieWelt auf dem Kopf.“

Exemplarisch zeigt dieses Beispiel, dass auch scheinbar wissenschaftlich ab-gesicherte Tatbestände und bisherige Erfahrungen durch neue Ideen und derenpraktische Umsetzung widerlegt werden können. Für den konkreten Verlauf derInnovationsprojekte kann dies die Entscheidung über Abbruch oder Fortsetzungbedeuten.

Neben der gleichberechtigten Geltung der Argumente ist für erfolgreiche Inno-vationsprozesse ein durchgängiger Informations- und Ideenfluss wichtig. Die Mo-deration innovativer Arbeitsprozesse ist deshalb besonders von informellen Wegendes Informationsaustauschs gekennzeichnet. Wie für die Beschäftigten ist auch fürdas Management die bevorzugte und typische Situation eine direkte und meist un-geplante Begegnung außerhalb offizieller Sitzungen.

„Also solche Sachen, solche Ideen verbreiten sich sicherlich besser bei ganz informellenAngelegenheiten [. . . ] das haben wir relativ oft, vor allem morgens früh, erster Kaffee, unddann entwickeln sich manchmal Diskussionen. [. . . ] diese scheinbar verlorene Zeit, dieist äußerst wertvoll. [. . . ] Erklärung ist [. . . ], man [. . . ] fühlt sich nicht unter Druck unddann fließen die Gedanken irgendwie ungezwungener. [. . . ] Das ist nicht hundertprozentiggeplant, das kann es ja gar nicht sein. [. . . ] diese Firma lebt davon, dass sie innovative Pro-dukte hat, neue. Und das Dümmste wäre sicherlich, solche Gelegenheiten zu unterbinden.“

Für das Management ist es wichtig, einen Überblick über die Entwicklungender einzelnen Projekte zu behalten. Die mitarbeitenden Eigentümer bei MessTechsind nicht an allen Projekten gleichermaßen intensiv beteiligt, sie müssen gleich-wohl Fehlentwicklungen möglichst frühzeitig erkennen, um eingreifen zu können.Deshalb ist es wichtig, ein Gefühl für den Stand der jeweiligen Projektarbeiten zuentwickeln.

„Man muss eben [. . . ] am laufenden Projekt dranbleiben und ein Gespür dafür entwickeln,wohin bewegt es sich? Also das ist so eine Gratwanderung [. . . ], dass man halt versucht,permanent herauszubekommen, bewegt es sich jetzt vielleicht doch auf diese unerwünsch-ten Bereiche zu? Und dann muss man versuchen, da so eine leichte Kurvenbewegunghineinzubekommen. Um da nicht einfach auch viel, viel Zeit zu verlieren.“

Um mögliche Fehlentwicklungen von Projektverläufen frühzeitig beurteilen undkorrigierend eingreifen zu können, ist eine Mischung aus Gespür und Erfahrung of-fenbar sehr hilfreich. Dies ermöglicht zeitnahe und begründete Entscheidungen, dieinsbesondere für die große Zahl unwägbarer Situationen in Innovationsprojektenimmer wieder notwendig sind.

„Also Erfahrung ist eben nichts, was man schnell gewinnt und [. . . ], wenn man in so einembestimmten Fachbereich über Jahrzehnte drinsteckt, dass man dann tatsächlich so ein sehrschnelles Gespür [. . . ] entwickelt. Manchmal schon mit einem einzigen kurzen Blick.“

104 E. Heidling

Neben den innerbetrieblichen Organisationsprozessen steht im Zentrum der un-ternehmensübergreifenden Managementaufgaben die Kooperation mit den Kunden.Bereits bei der Anbahnung innovativer Projekte und der Einschätzung zu deren Rea-lisierungschancen ist der Rückgriff auf Erfahrungen und der Einbezug bestimmterWahrnehmungen wichtig.

In einem frühen Stadium der Ideengenerierung geht es zunächst um allgemeineEinschätzungen der Marktentwicklungen.

„Wir treiben dann schon eine gewisse Markterhebung, wobei das [. . . ] meistens daraufhinausläuft, dass man einfach verschiedene Leute anruft, [. . . ] die man für halbwegs reprä-sentativ hält, und es mit denen mal bespricht. [. . . ] also Marktchance ist das eine. Undtechnische Chance ist das andere. Lässt sich das überhaupt realisieren, und dann mussman sich auch direkt [. . . ] fragen, lässt es sich zu einem Preis realisieren, den die Leuteakzeptieren würden? [. . . ] Und dann ist das durchaus ein nicht unerheblicher Anteil vonBauchgefühl, wo man sagt: Hat das eine Chance oder nicht? Und zwar muss das Bauch-gefühl zwei Dinge abdecken: [. . . ] wenn du es denn hättest, würden die Kunden es wollenund nehmen?“

Der Rückgriff auf Gespräche mit ausgewählten potenziellen Kunden und ande-ren Experten sowie auf intuitiv gewonnene Bewertungen als Grundlage von Ent-scheidungen schließt den Einsatz von Planungsinstrumenten nicht aus.

„Wir betrachten dann die Realisierungschance. Das bedeutet Abschätzen der physikali-schen und technischen Möglichkeiten. Wir betrachten aber auch den Ressourcenaufwand[. . . ] und dann setzt man sich eben auch mit dem Kunden hin und fragt dann mal ganzkonkret, was haltet ihr denn rein technisch davon, was haltet ihr kommerziell davon, unddann macht man mal ein paar Projektionen, wenn das so und so gut wäre, was käme dannda heraus.“

Gleichwohl spielen die subjektiven Einschätzungen auch für den Übergang vonder Ideenfindung zur gemeinsamen Projektdefinition mit Partnern anderer Unter-nehmen eine wichtige Rolle. Festlegungen auf den Einstieg in gemeinsame inno-vative Projekte ziehen sich bei großen Konzernen häufig über längere Zeiträumehin. Kleine Unternehmen können ihr Handeln aufgrund fehlender Ressourcen nichtausschließlich von solchen langwierigen Verfahren und bürokratisch unterlegtenEntscheidungsstrukturen abhängig machen.

„Das haben wir auch schon oft erlebt, dass bestimmte Kaufentscheidungen nach allen mög-lichen, aber auf keinen Fall nach rationalen Kriterien gefällt wurden [. . . ]. Zum Beispiel,wo ich in einem Werk so eine Demonstration gemacht habe. Und [. . . ] ich kam zurückund sagte den Kollegen hier, der Test wird gut funktionieren, aber es wird trotzdem nichtswerden. Weil der Mann, mit dem ich das dann gemacht habe, [. . . ] der wird, wenn da nochZweifel sind, nicht zu seinem Chef gehen und sagen: Chef, ich brauche x-tausend Euro,um hier ein neues Dings einzusetzen. Weil ihm Zweifel verblieben waren, ob das wirklichdann 100 Prozent und so weiter [. . . ]. So ist es dann auch gekommen. [. . . ] Ob da jemanddann eben hochgradig auf die eigene Sicherheit bedacht ist. Selbst wenn er was gewinnenkönnte. Und das [. . . ] gilt eben auch für so ganze Branchen [. . . ]. Und ich war kurz danachin einem anderen Werk, der Mann war von völlig anderer Statur. Der sagte: Okay, probiereich mal, und wenn es schief geht, geht es schief. Da wusste ich: Okay, das wird was.“

5 Management des Informellen durch Situatives Projektmanagement 105

Bei der Gestaltung ihrer Kooperationsstrukturen sind Unternehmen wie Mes-sTech deshalb stärker auf ihre positiven oder negativen Einschätzungen angewiesen,um flexibel zu entscheiden, ob sie weitere Ressourcen in die Projektentwicklung in-vestieren oder nicht.

„Das ist dann auch eine Erfahrungssache, nämlich das Bauchgefühl entwickelt sich ja nurdann, wenn man auch viel Kundenkontakt gehabt habt. Und irgendwie in der Lage ist, sichin deren Gedankenwelten hineinzuversetzen. Oder auch in deren Verwicklungen [. . . ], dagibt es bestimmte Grundeinstellungen, die wabern da herum und die muss man irgendwieversuchen zu fassen. Und dann kann man einfach schon mal aus dem Bauch heraus sagen,dann werden die darauf anspringen oder eher nicht.“

Solche Einschätzungen zum Verhalten der Akteure in den kooperierenden Un-ternehmen sind auch für den weiteren Projektverlauf wichtig.

„Bei großen Unternehmen hat man einfach einen Haufen Menschen, es bilden sich Struk-turen heraus und vor allem eben auch Herrschaftsstrukturen. Das lässt sich überhaupt nichtvermeiden [. . . ]. Und dann muss man einfach versuchen einzuschätzen, wie sieht denn die-se Struktur aus? Wie strikt und rigide ist sie? Oder wie offen ist sie? [. . . ] Also ich binimmer wieder auf so Leute gestoßen, die hatten dann eben ein Rückgrat. Die das einfachmal getan haben. Auch gegen politische Strömungen.“

Für den Erfolg innovativer Projekte von großer Bedeutung ist die Bereitschaftder kooperierenden Partner, die Risiken über die gesamte Projektlaufzeit mitzutra-gen und bei kritischen Situationen immer wieder offen für neue Wege zu sein.

„Das wirklich Angenehme [. . . ] ist, die haben [. . . ] so eine Konzernkultur, die es einfachnoch zulässt, dass man was probiert, und auch die Möglichkeit offen lässt, dass es schiefgeht. [. . . ] die haben dann wirklich so diese Einstellung, probieren wir mal, und wenn’sgeht, ist es wunderbar, und wenn nicht, wissen wir jedenfalls, dass es nicht geht. [. . . ] dasist ja auch nicht üblich, dass ein Unternehmen, das mehrere zehn Milliarden Umsatz hat,das macht, da findet man das nicht immer.“

Ein weiterer wichtiger Pfeiler für erfolgreiche Innovationen ist die Kooperati-on mit dem wissenschaftlichen Umfeld. Bereits im Vorfeld der Projekte bringt derAustausch mit den wissenschaftlichen Akteuren wichtige Anstöße für MessTech,um Ideen zu entwickeln und zu konkretisieren. Produktiv ist ein solcher Austauschoffenbar besonders dann, wenn die Gesprächssituationen ausgehend von bestimm-ten Themenstellungen weitgehend offen gehalten werden. Dies wird anhand derBeschreibung deutlich, die ein mit MessTech kooperierender Wissenschaftler gibt.

„Also, man kann natürlich so einen gewissen Plan haben [. . . ], wie so eine Arbeit abzulau-fen hat. Das kann man durchgehen, und dann kommt man zu einem Schluss, und dann istdie Sache fertig. Aber es gibt auch Situationen, wo [. . . ] der eine was sagt und man kriegteine Assoziation, die unbedingt gar nicht jetzt so strikt darauf ist [. . . ]. Dann fiel dem HerrnA. [Chef von MessTech] ein, er hatte früher mal noch was anderes gemacht. Dann habenwir da mal wieder weiter diskutiert; das ging also ein bisschen weg erst mal von der Arbeit.Aber da konnte man sehen, dass so ein gewisser Raum auch da war [. . . ]. Und [. . . ] dannkann man eventuell durchaus mal abschweifen und das aufgreifen. Und dann vielleicht spä-ter darüber noch mal näher diskutieren. [. . . ] dass man durchaus auch ein bisschen guckt,was so am Rande ist, wo man ungeplant hineindiskutiert. Wo sich aber dann doch eineMenge daraus ergeben kann.“

106 E. Heidling

Über den Austausch von Ideen hinaus sind die kooperierenden Wissenschaftlerin einem gewissen Umfang auch aktiv an den Projekten beteiligt, wie die Aussageeines Wissenschaftlers zeigt.

„Und wir haben da erst mal [. . . ] so in aller Breite das Problem diskutiert. Welche Randbe-dingungen haben wir denn da? [. . . ] Ich bin dann mit der Aufgabe nach Hause gefahren, damal drüber nachzudenken, auch mal so ein paar Eckdaten, mal physikalische Konstanten,und so weiter, rauszusuchen, die man da vielleicht braucht.“

Durch den kontinuierlichen Austausch mit den wissenschaftlichen Akteurenkann MessTech die im Verlauf der Projekte experimentell gewonnenen Ergebnisseimmer wieder kritisch reflektieren und seine Aktivitäten neu ausrichten.

„Wir hatten so einen Fall, da haben wir uns [. . . ] gefragt, meine Güte, wir erreichen beiweitem nicht die Messempfindlichkeit, die wir wollten, und dann hatten wir [. . . ] geradeso einen der Professoren hier, der meinte, so, jetzt gucken wir doch mal, was ihr habt. Unddann hat er uns erst mal klar gemacht, ihr seid eigentlich viel empfindlicher, als ihr denkt,aber ihr guckt falsch drauf.“

Für den gesamten Forschungs- und Entwicklungsprozess kennzeichnend sinddie rekursiven Schleifen (vgl. Kap. 4). Forschungsarbeiten als Kern von Innovati-onsprozessen sind keineswegs auf einen bestimmten, frühen Abschnitt der Projekt-entwicklung begrenzt. Vielmehr zeichnen sich Innovationsprojekte gerade dadurchaus, dass auch in späteren Projektphasen immer wieder Fragestellungen zu bear-beiten sind, die neue Forschungsaktivitäten auslösen. Dies zeigt sich im ProjektMetDek, wo in der Phase der Installation der Prototypen aufgrund unterschiedlicherUmfeldbedingungen und des Einsatzes unterschiedlicher Materialien an den ver-schiedenen Kundenstandorten neue Untersuchungen zu den Materialeigenschaftennotwendig wurden (vgl. Abschn. 5.3.1). Die Projektpartner MessTech und FöSyswaren sich einig, dass die Installation von Prototypen bei weiteren Kunden nursinnvoll sei, wenn zuvor geklärt würde, ob unter diesen veränderten Bedingungenpositive Messergebnisse zu erwarten seien. Die Untersuchungen zu den Materialei-genschaften wurden von einem Forschungszentrum übernommen, das im regiona-len Umfeld von MessTech angesiedelt ist.

„Wir haben auch das Risiko für Überraschungen dadurch gesenkt, dass wir noch einen wei-teren Technologiepartner mit ins Boot genommen haben. Wir haben [. . . ] das Technologie-zentrum angesprochen. Und haben die gebeten, den quantitativen Verlauf der Magnetfelderfür unsere Aufbauten mithilfe von sehr großen, aufwändigen Computerprogrammen zu be-rechnen, wozu wir nicht in der Lage sind [. . . ]. Die waren wirklich bereit, mal von ihrerGrundlagenforschung wegzugehen, und haben für uns dann unser kleines [. . . ] einfachesProblem berechnet. Die haben also für uns dann eine dreidimensionale Simulation [. . . ]parametrisch untersucht [. . . ]. Und vor drei Tagen bekam ich dann auch die Rückmeldung:Ah, es geht!“

Für den weiteren Projektverlauf lieferten diese Ergebnisse eine wichtige Ent-scheidungsgrundlage, allerdings waren sie keineswegs allein ausschlaggebend.

„Modellrechnungen sind immer schwierig. Also, die Frage ist immer, wie zutreffend istdas Modell und welche impliziten und expliziten Annahmen hat man hineingesteckt. [. . . ]Und wir sind [. . . ] so vorgegangen, dass wir die Fälle erst simuliert haben, wo wir wissen,

5 Management des Informellen durch Situatives Projektmanagement 107

es geht, wie bei AbRaum. [. . . ] Und haben dann im Vergleich dazu eben die neuen [. . . ]Fälle simuliert. [. . . ] So dass man über einen einigermaßen – nicht allzu dicken Daumenein Gefühl dafür haben wird, wo lande ich denn. Und erst aufgrund dessen haben wir dannüberhaupt gesagt, jetzt gehen wir auch die Schritte weiter [. . . ]. Weil, das ist [. . . ] nurfür einen Versuch [. . . ] maschinenbautechnisch ein Riesenaufstand. [. . . ] Das hat uns ebenein gewisses Gefühl dafür gebracht, wie vermutlich die Felder aussehen werden, wennwir diese Umbauten machen. Und das ließ eigentlich die Wahrscheinlichkeit doch deutlichansteigen, dass wir noch was werden messen können. [. . . ] gut, die letzte Sicherheit gibt esnicht, es ist und bleibt ein Modell [. . . ], aber es ist besser als ins Blaue geschossen. Unddann hat FöSys auch gesagt: Gut, machen wir.“

Deutlich wird, dass auf der Grundlage der aus den Modellrechnungen ermitteltenErgebnisse ein nächster Schritt im Entscheidungsprozess folgte, der sich stark aufEinschätzungen bzw. auf das Gefühl des Zusammenspiels spezifischer, die gesam-ten Innovationsaktivitäten beeinflussender Elemente stützte: auf das Erfahrungs-wissen von MessTech zu den messtechnischen Funktionen seiner Systeme, dasMaschinenbau-Know-how von FöSys, die Erfahrungen mit dem bisher bei AbRaumeingesetzten Prototyp und die Einschätzungen zur Wirkung veränderter Einsatz-und Umfeldbedingungen auf den neu zu installierenden Prototyp. Insofern könnteman sagen, dass die kognitive, auf den Ergebnissen der Modellrechnungen fußendeSeite dieser technisch basierten Prozesse die notwendige und die Seite des subjekti-vierenden Handelns und Entscheidens die hinreichende Bedingung für die Fortfüh-rung der Projektarbeiten war.

Ein weiterer wichtiger Effekt der intensiven Kooperation mit dem wissenschaft-lichen Umfeld besteht schließlich im Zugang zu gut ausgebildeten Fachkräften. BeiMessTech werden die Studierenden, die häufig über eine fachlich einschlägige Vor-bildung in technischen Bereichen verfügen, meist direkt in die Innovationsprojekteeingebunden.

„Ich hab mich irgendwann mit dem Professor X verabredet, [. . . ] und wir haben vereinbart,da machen wir was Gemeinsames. [. . . ] Und nach einiger Zeit schrieb er mir dann eben eineE-Mail, er hätte da eine Kandidatin, die würde er gerne mal herschicken. Ja, und die hatsich auch als ziemlich guter Griff erwiesen.“

Ein Teil dieser Studenten wechselt nach Abschluss des Studiums in ein normalesArbeitsverhältnis bei MessTech. Für kleine Unternehmen wie MessTech ist die-ser Rekrutierungsweg von großer Bedeutung. Im direkten Wettbewerb mit großenUnternehmern haben sie Konkurrenznachteile, weil sie den technisch gut ausge-bildeten Arbeitskräften in vielen Fällen nur ein vergleichsweise geringeres Entgeltanbieten können und die Beschäftigung in kleinen und mittleren Unternehmen häu-fig mit weniger Reputation verbunden ist. Diese Nachteile kompensiert MessTechdurch das Angebot von verantwortungs- und anspruchsvollen Arbeitsaufgaben so-wie eigenen Freiräumen bei der Gestaltung der Arbeitsprozesse. Durch die Mitar-beit in den MessTech-Projekten während der Studienzeit können die Beschäftigtenfrüh entscheiden, ob solche Arbeitsbedingungen für sie attraktiv sind. Darüber hin-aus lernen sie schon in den Anfangsphasen ihrer beruflichen Entwicklung, neben

108 E. Heidling

den technischen auch die sozialen und überfachlichen Elemente in die praktischeProjektarbeit zu integrieren.

„Ich gebe es hier jemandem, [. . . ] der beschäftigt auch einen Studenten damit, der wächstdabei dann hinein. Das ist eigentlich ideal. Die lernen wirklich sozusagen am Objekt, wiefunktioniert denn die Arbeit hinterher. Umgekehrt, wir haben jemand, der alle theoretischenKenntnisse ganz frisch im Kopf hat – und gut, man kann eben auch sehen, wie funktioniertdenn das [. . . ]. Weil das ist eben das, was viele Ingenieursstudenten dann z. T. auch er-schreckt feststellen: Da kommt man jetzt hier mit einem Kopf voll Wissen [. . . ] in so einenBetrieb und kriegt dann erst mal gesagt, so, jetzt müsst ihr erst mal viel lernen. Und eineSache, die sie eben auch lernen müssen, ist, wie gehe ich mit den beteiligten Leuten um.“

Durch diese umfassenden Herausforderungen, deren Kern der enge Zusammen-hang von eigenen Gestaltungsmöglichkeiten im Arbeitsprozess und der Übernahmeder mit dieser Selbstständigkeit verbundenen Verantwortung ist, entwickeln sich beiden jungen Beschäftigten offensichtlich schnelle und umfassende Lernprozesse, diedie Integration in die Arbeitsprozesse bei MessTech wesentlich erleichtert.

„Also, man merkt [. . . ], dass die Leute eben auch menschlich innerhalb relativ kurzer Zeitstark wachsen können. Weil viele, wenn sie hier ankommen, sind ziemlich verschüchtert.Und sehen sich hier einer Mannschaft von zum Teil langjährig erfahrenen Leuten gegen-über, denen sie unter Umständen was erzählen sollen, weil sie in bestimmten Fachgebieten[. . . ] ganz frisch von der Hochschule gekommen sind und auf dem allerneuesten Stand –was wir nicht sind. [. . . ] Wenn man das dann merkt, wie die anfangs eben sehr zurückhal-tend sind und sich kaum trauen, jemandem irgendwie zu sagen, na, das ist aber so und so,und ich hätte das jetzt gerne so, [. . . ] und nach einer gewissen Zeit dann doch plötzlichsich freischwimmen und auf einmal ziemlich selbstbewusst sind. Und dann merken, okay,das geht auch. [. . . ] Also, das sind manchmal Sprünge, die man da sieht. [. . . ] Und dasgeht unter Umständen sogar innerhalb von nur ein paar Wochen. [. . . ] Wir lassen sie auch[. . . ], ich sage denen das auch. [. . . ] es ist Lust, aber es ist eben auch Last. Ihr müsst dieVerantwortung dann auch tragen. Und die Allermeisten kommen damit auch zurecht.“

Mit dieser Rekrutierungsstrategie koppelt sich MessTech in zweierlei Hinsichtteilweise vom externen Arbeitsmarkt ab. Zum einen hat das Unternehmen durchdie Kooperation mit dem wissenschaftlichen Umfeld kontinuierlich einen direk-ten Zugang zu wissenschaftlich ausgebildeten Nachwuchskräften technischer undnaturwissenschaftlicher Disziplinen und umgeht damit die direkte Konkurrenzmit großen Unternehmen in diesem durch einen Arbeitskräftemangel gekenn-zeichneten Arbeitsmarktsegment. Zum anderen können die Nachwuchskräfte ihretechnisch-wissenschaftlichen Kenntnisse durch die unmittelbare Einbindung indie Arbeitsprozesse direkt umsetzen und erwerben zusätzlich die für erfolgreicheProjektarbeiten sehr wichtigen sozialen und überfachlichen Kompetenzen. Damittreten bei MessTech die häufig beklagten Praxisdefizite von Universitätsabsolven-ten zu Beginn ihrer Tätigkeit in den Unternehmen kaum auf, was den Übergang innormale Beschäftigungsverhältnisse wesentlich erleichtert. Wie die niedrige Fluk-tuation zeigt, fördert diese Strategie zudem offensichtlich die betriebliche Bindung.Diese Faktoren sind für die Fähigkeit von MessTech, dauerhaft innovative Projektezu initiieren und durchzuführen, von entscheidender Bedeutung.

5 Management des Informellen durch Situatives Projektmanagement 109

5.5.3 Förderung einer spielerischen Situationsdefinition

Um spielerisches Arbeitshandeln zu ermöglichen, geht es für das Management ins-besondere darum, innerhalb des Unternehmens einen Rahmen zu schaffen, in demeine zweckfreie, spielerische Situation entsteht. Ein solcher Rahmen fördert offen-sichtlich ebenso die Kooperation mit den Akteuren des wissenschaftlichen Umfelds.Von unmittelbaren Zwecksetzungen losgelöste, intensive und von der Begeisterungan der Sache getragene Diskussionen bilden hier die Grundlage für die Generierungund Weiterentwicklung neuer Ideen.

Innerbetriebliche Räume für spielerisches Arbeitshandeln fördern die Begeis-terung und die Leidenschaft für die Sache und unterstützen die Ideenfindung derBeschäftigten.

„Man merkt das ja einfach [. . . ] nicht nur mit den ganz Jungen, auch mit den etwas älterenMitarbeitern, wenn so was anfängt und die merken, ok, der blockt jetzt nicht sofort ab,[. . . ] wie da Emotionen hineinkommen und man sich stark verbeißt oder [. . . ] mal richtighineinbegibt und sich drauf einlässt und mal die Ideen sprießen lässt, und so etwas mussman fördern. [. . . ] wenn man merkt, jetzt rührt sich was, da passiert was, ist es sinnvoll,wenn man die Sache mal laufen lässt.“

Die Begeisterung, die etwa im Projekt GasTemp im Zusammenhang mit derDurchführung der experimentellen Verfahren entstand, beeinflusste auch die theo-retische Aufbereitung der Ergebnisse positiv.

„Da konnte man das so richtig merken, wie da alle [. . . ] Beteiligten mit einem Riesen-spaß dran gearbeitet haben [. . . ]. Und wir hatten eben auch harte Sachen gemacht. Undmit großer Begeisterung wurden Formeln aufgestellt, um die Sache immer präziser be-schreiben zu können [. . . ]. Ich war ehrlich gesagt überrascht, wie schnell dann da nachherwirklich komplizierte Korrekturterme hervorgezaubert wurden. [. . . ] Also, inzwischen istunsere theoretische Beschreibung des Prozesses wirklich sehr sportlich. Das ging innerhalbvon ein paar Tagen.“

Seitens des Managements ist es allerdings durchaus voraussetzungsvoll, solcheGelegenheiten für spielerisches Handeln zu schaffen. Dafür muss ein entsprechen-des Vertrauen entwickelt werden, dass diese Freiräume von den Beschäftigten tat-sächlich genutzt werden.

„Aber dann [. . . ] muss man eben auch mal ertragen, dass da Dinge passieren, die manals manchmal ein bisschen weitschweifig [. . . ], vom Wege abkommend empfindet. [. . . ]Und das ist auch irgendwann mal fürs Management ein Lernprozess, dass man das ebenerträgt, dass die anderen das anders machen. [. . . ] da hat sich meine Rolle verschoben[. . . ]. Mittlerweile [. . . ] ist meine Aufgabe [. . . ], dafür zu sorgen, dass ein gewisses Klimahier vorhanden ist [. . . ], letztlich [. . . ] rechtfertigt dann hinterher der Erfolg dann doch dasVorgehen [. . . ], da kommen eben ganz neue Sachen.“

Die Begeisterung für die Sache prägt auch den Austausch von MessTech mit denwissenschaftlichen Institutionen im regionalen Umfeld.

110 E. Heidling

„Die meisten Leute, die so was betreiben, also Naturwissenschaften oder eben ganz beson-ders Physik, sind verspielt. Man glaubt gar nicht, wie anregende und intensive Diskussionenda zustande kommen, wenn man einfach mal zweckfrei [. . . ] diskutiert.“

Diese Treffen ergeben sich häufig ungeplant und sind thematisch nicht eng be-grenzt. Für MessTech sind diese Austauschbeziehungen sehr produktiv, weil geradein diesen zweckfreien Situationen neue Anregungen und Ideen entstehen.

„Das sind immer dann diese sich entwickelnden informellen Gelegenheiten und man glaubtgar nicht, was da manchmal innerhalb von zehn Minuten alles herauskommen kann [. . . ].Und das ist schon sehr effektiv, weil die Professoren stecken [. . . ] sehr tief in der Wissen-schaft und dann kommen vielleicht etwas theoretischere Gesichtspunkte, aber vor allemandere. [. . . ] Leute, die eben mal [. . . ] nicht auf ausgetretenen Pfaden wandeln.“

Der Austausch über neue Ideen wird auch von Seiten der kooperierenden For-schungspartner als sehr anregend empfunden.

„Das geht mehr auf der Ebene physikalische Phänomene und physikalisches Grundver-ständnis. [. . . ] Dann tauschen wir unsere Meinungen dazu aus, oder ich hinterfrage seineIdeen [. . . ]. Von der Basis ausgehend haben wir angefangen rumzuspinnen, [. . . ] dass manvielleicht zunächst mal losgelöst von Realisierbarkeit einfach mal mögliche Effekte daraufabklopft, ob sie einsetzbar wären. [. . . ] das ist ein gegenseitig sich ständig beeinflussenderProzess. Das ist [. . . ] ein Wechselspiel, eine Diskussion. [. . . ] Mir macht es einfach auchSpaß [. . . ]. Das ist einfach Interesse an solchen Dingen.“

Dieses gegenseitige inhaltliche Interesse an bestimmten Fragestellungen bildetdamit die Basis für gemeinsame Aktivitäten und die Fortsetzung der Zusammenar-beit bei neuen Projekten.

5.6 Grundlegende Dimensionendes Situativen Projektmanagements

Der Erfolg industrieller Innovationsprojekte hängt entscheidend davon ab, dass esgelingt, die Potenziale offener und unbestimmter Situationen und Prozesse zu nut-zen und damit künstlerische, erfahrungsgeleitete und spielerische Innovationsarbeitzu fördern. Ein situatives Projektmanagement ist eine Antwort auf die spezifischenGestaltungsanforderungen innovativer Projekte.

Die Darstellung in Abb. 5.1 zeigt Lösungsansätze, die das situative Projekt-management in vier Dimensionen für die Herausforderungen innovativer Prozes-se bereitstellt: Um die Zielbestimmung im Projektverlauf zu präzisieren, werdendie nicht-linearen Prozesse und die vernetzten Strukturen der Projekte genutzt; diezeitliche Planung ist abhängig von der Entwicklung der einzelnen Projektphasenund wird zwischen den unternehmensinternen und -externen Projektpartnern fort-laufend ausgehandelt; das Vorgehen ist geprägt durch explorativ-entdeckende unddialogisch-interaktive Momente, so dass die Innovationsprozesse nicht durch vor-schnelle Pfadvorgaben eingegrenzt, Räume für unbekannte Wege eröffnet, Misser-

5 Management des Informellen durch Situatives Projektmanagement 111

Situatives Projektmanagement Dimensionen Herausforderungen Lösungsansätze

Zielbestimmung Vorgabe eines Rahmens statt vorab feststehender Ziele

Präzisierung der Ziele im Projekt-verlauf durch Nutzung nicht-linearer Prozesse und vernetzter Strukturen

Zeitliche Planung

Flexibler zeitlicher Rahmen Genaue Terminierung wird zwischen Projektpartnern abhängig vom Verlauf der Projektphasen ausgehandelt

Art des Vorgehens

Häufig unscharf und wenig planbar Explorativ-entdeckend, dialogisch-interaktiv: keine Pfadvorgaben, unbekannte Wege erkunden, Miss-erfolg als Erkenntnisgewinn, inter-aktive Vermittlung der Ideen und Ergebnisse

Art derSteuerung

Hohes Maß an flexiblen Um-orientierungen erforderlich, um nicht vorhersehbare Wege zum Innovationsziel offenzuhalten

Leitung als Moderation: offene Strukturen schaffen, durch die Vertrauen entsteht

Abb. 5.1 Situatives Projektmanagement

folge für neue Erkenntnisse genutzt und die Ergebnisse und Ideen durch intensiveInteraktionen an alle beteiligten Akteure vermittelt werden; die Steuerung wird vor-rangig als Moderation organisiert und richtet sich auf die Schaffung offener undvertrauensvoller Strukturen.

Die Bearbeitung der Innovationsprojekte im Unternehmen MessTech zeigt, dassdas Management die Organisation der innerbetrieblichen Prozesse, die Kooperationmit den Kunden, in der die unternehmensübergreifenden Projekte eine eigenstän-dige Stellung einnehmen, und die Kooperation mit den wissenschaftlichen Insti-tutionen des regionalen Umfelds umfasst. Um die vielfältigen Ressourcen dieserkomplexen Struktur für die Innovationsprojekte zu nutzen, wird mit dem situati-ven Projektmanagement ein Rahmen geschaffen, der durch das konkrete Handelnder an den Innovationsprojekten beteiligten Akteure ausgefüllt wird. Ein Gleich-gewicht zwischen angemessenen Freiräumen und den zeitlichen und materiellenGrenzen der Projekte kann durch die Moderation dieser Prozesse erreicht werden.

Ein durch Moderation gekennzeichnetes situatives Projektmanagement umfasstverschiedene Elemente. Ein Grundsatz besteht darin, keine Denkverbote aufzustel-len. Dadurch werden Räume für methodisch neue Ansätze eröffnet und es wirdverhindert, dass der Innovationsprozess durch enge Pfadvorgaben vorschnell ein-geengt wird. Ein weiteres Moment richtet sich auf den spezifischen Umgang mitFehlern und Irrtümern. Misserfolge werden von Seiten des Managements nichtmit Schuldzuweisungen gegenüber den Beschäftigten verbunden, sondern explizitals Erkenntnisgewinn gesehen, weil sonst für den Innovationsprozess entscheiden-

112 E. Heidling

de Lernmöglichkeiten ungenutzt bleiben. Wichtig ist außerdem die Förderung ei-nes explorativ-entdeckenden Vorgehens, das ein produktives Wechselspiel zwischentheoretisch-analytischen Arbeitsschritten und einem experimentellen Arbeitshan-deln im Innovationsprozess gewährleistet. Der weitgehende Verzicht auf expliziteVorgaben (wie Zielhierarchien, eine kleinteilige Detaillierung der Projektplanung,die quantitative Messbarkeit aller Projektschritte u. a.) führt zu einer intensiven Aus-einandersetzung mit den Arbeitsgegenständen und zur Entwicklung weiterreichen-der Innovationen durch die Beschäftigten. Um den Transfer dieser Arbeitsergebnis-se und Ideen sicherzustellen, besteht eine wichtige Aufgabe für das situative Pro-jektmanagement darin, diskursive Prozesse zwischen den beteiligten Akteuren zuorganisieren. Dies umfasst die innerbetrieblichen und die überbetrieblichen Akteurein den gemeinsamen Projekten sowie die wissenschaftlichen Kooperationspartner.Für den Innovationsprozess scheint es besonders produktiv zu sein, Räume undGelegenheiten für einen informellen Austausch zur Verfügung zu stellen, statt of-fizielle Sitzungen zu organisieren. Auf Basis dieser informellen Kooperations- undInteraktionsstrukturen kann ein situatives Projektmanagement den Aufbau einesimmateriellen Erfahrungs- und Ideenspeichers fördern, der einen zentralen Grund-stock für die kontinuierlichen Innovationsprozesse bildet.

Literatur

Ahn MJ, Zwikael O, Bednarek R (2010) Technological invention to product innovation: A projectmanagement approach. In: International Journal of Project Management, Jg 28, H 6, S 559–568

Atkinson R, Crawford L, Ward S (2006) Fundamental uncertainties in projects and the scope ofproject management. In: International Journal of Project Management, Jg 24, H 8, S 687–698

Bea FX, Scheurer S, Hesselmann S (2008) Projektmanagement. Lucius & Lucius, Stuttgart

Böhle F, Meil P (2003) Das Unplanbare bewältigen. In: Butz C, Papesch G, Wilhelms G (Hrsg)Tagungsband der Fachtagung Projektmanagement in Zeiten des Wandels. Universität Augsburg, S36–47

Boltanski L, Chiapello È (1999) Le nouvel esprit du capitalisme. Gallimard, Paris

Bolte A, Porschen S (2006) Die Organisation des Informellen. VS – Verlag für Sozialwissenschaf-ten, Wiesbaden

Boyer R (2004) Une théorie du capitalisme est-elle possible? Odile Jacob, Paris

Burt RS (2008) Industry Performance and Indirect Access to Structural Holes. In: Baum JAC,Rowley TJ (Hrsg) Advances in Strategic Management. Emerald Group Pub Ltd, Bingley, S 315–360

Castells M (2000) Materials for an exploratory theory of the network society. In: British Journalof Sociology, Jg 51, H 1, S 5–25

Chesbrough H (2006) Open Innovation: A New Paradigm for Understanding Industrial Innovation.In: Chesbrough H, Vanhaverbeke W, West J (Hrsg) Open Innovation. Oxford University Press,New York, S 1–12

Cicmil S, Williams T, Thomas J, Hodgson D (2006) Rethinking Project Management: Researchingthe actuality of projects. In: International Journal of Project Management, Jg 24, H 8, S 675–686

5 Management des Informellen durch Situatives Projektmanagement 113

Cicmil S, Cooke-Davies T, Crawford L, Richardson K (2009) Exploring the Complexity of Pro-jects: Implications of Complexity Theory for Project Management Practice. Project ManagementInstitute, Newtown Square

Crawford L, Pollack J (2004) Hard and soft projects: a framework for analysis. In: InternationalJournal of Project Management, Jg 22, H 8, S 645–653

DiMaggio P (2001) Introduction: Making Sense of the Contemporary Firm and Prefiguring ItsFuture. In: DiMaggio P (Hrsg) The Twenty-First-Century Firm. University Press, Princeton, S 3–30

Engwall M (2003) No project is an island: linking projects to history and context. In: ResearchPolicy, Jg 32, H 5, S 789–808

Galbraith JR (2006) Mastering the Law of Requisite Variety with Differentiated Networks. In:Heckscher C, Adler PS (Hrsg) The Firm as a Collaborative Community. Oxford University Press,Oxford, S 179–197

Grabher G (2002) Cool Projects, Boring Institutions: Temporary Collaboration in Social Context.In: Regional Studies, Jg 36, H 3, S 205–214

Grabher G (2004) Learning in Projects, Remembering in Networks? In: European Urban and Re-gional Studies, Jg 11, H 2, S 103–123

Grabher G, Ibert O (2006) Bad company? The ambiguity of personal knowledge networks. In:Journal of Economic Geography, Jg 6, H 3, S 251–271

Granovetter M (1973) The Strength of Weak Ties. In: American Journal of Sociology, Jg 78, H 6,S 1360–1380

Granovetter M (1983) The Strength of Weak Ties: A Network Theory Revisited. In: Randall C(Hrsg) Sociological Theory. Jossey-Bass, San Francisco, S 201–233

Granovetter M (1985) Economic Action and Social Structure: The Problem of Embeddedness. In:American Journal of Sociology, Jg 91, H 3, S 481–510

Granovetter M (2005) The Impact of Social Structure on Economic Outcomes. In: Journal ofEconomic Perspectives, Jg 19, H 1, S 33–50

Hab G, Wagner R (2006) Projektmanagement in der Automobilindustrie. Gabler, Wiesbaden

Habler T, Bürgermeister M (2010) Erfahrungsgeleitetes Projektmanagement im Kontext pro-duktionsnaher Dienstleistungen. In: Heidling E, Böhle F, Habler T (Hrsg) Produktion mitDienstleistung. Rainer Hampp Verlag, München u. a., S 203–255

Heidling E (2011) Strategische Netzwerke. In: Weyer J (Hrsg) Soziale Netzwerke. Oldenbourg,München, S 135–165

Jaafari A (2003) Project Management in the Age of Complexity and Change. In: Project Manage-ment Journal, Jg 34, H 4, S 47–57

Jansen D, Diaz-Bone, R (2011) Netzwerkstrukturen als soziales Kapital. In: Weyer J (Hrsg) So-ziale Netzwerke. Oldenbourg, München, S 71–108

Kalkowski P, Mickler O (2009) Antinomien des Projektmanagements. Edition sigma, Berlin

Manning S (2008) Embedding projects in multiple contexts – a structuration perspective. In: In-ternational Journal of Project Management, Jg 26, H 1, S 30–37

Meil P, Heidling E (2006) Entfernung überbrücken – Verteilte Arbeit entlang internationaler Wert-schöpfungsketten. In: Dunkel W, Sauer D (Hrsg) Von der Allgegenwart der verschwindendenArbeit. Edition sigma, Berlin, S 145–169

Meil P, Heidling E, Rose H (2004) Erfahrungsgeleitetes Arbeiten bei verteilter Arbeit. In: Böhle F,Pfeiffer S, Sevsay-Tegethoff N (Hrsg) Die Bewältigung des Unplanbaren. Edition sigma, Berlin,S 180–198

114 E. Heidling

Meskendahl S, Jonas D, Kock A, Gemünden HG (2011) Wie Unternehmen erfolgreich ihr Pro-jektportfolio managen. In: Projektmanagement aktuell, H 1, S 20–25

OECD (2008) Open Innovation in Global Networks. OECD Publications, Paris

Perminova O, Gustafsson M, Wikström K (2008) Defining uncertainty in projects – a new per-spective. In: International Journal of Project Management, Jg 26, H 1, S 73–79

Pollack J (2007) The changing paradigms of project management. In: International Journal ofProject Management, Jg 25, H 3, S 266–274

Porschen S (2008) Austausch impliziten Erfahrungswissens. VS – Verlag für Sozialwissenschaf-ten, Wiesbaden

Powell WW (1990) Neither Market nor Hierarchy: Network Forms of Organization. In: Researchin Organizational Behavior, Jg 12, S 295–336

Powell WW (2001) The Capitalist Firm in the Twenty-First-Century. In: DiMaggio P (Hrsg) TheTwenty-First-Century Firm. University Press, Princeton, S 33–68

Powell WW, Grodal S (2005) Networks of innovators. In: Fagerberg J, Mowery DC, Nelson RR(Hrsg) The Oxford Handbook of Innovation. Oxford University Press, New York, S 56–85

Sabel C (2006) A Real-Time Revolution in Routines. In: Heckscher C, Adler PS (Hrsg) The Firmas a Collaborative Community. Oxford University Press, Oxford, S 106–156

Sapsed J, Salter A (2004) Postcards from the Edge: Local Communities, Global Programs andBoundary Objects. In: Organization Studies, Jg 25, H 9, S 1515–1534

Schelle H (2010) Projekte zum Erfolg führen – Projektmanagement systematisch und kompakt.Deutscher Taschenbuchverlag, München

Smith-Doerr L, Powell WW (2005) Networks and Economic Life. In: Smelser N, Swedberg R(Hrsg) The Handbook of Economic Sociology. Russell Sage Foundation and Princeton UniversityPress, Princeton, S 379–402

Söderholm A (2008) Project management of unexpected events. In: International Journal of ProjectManagement, Jg 26, H 1, S 80–86

Stadlbauer F, Hess T, Wittenberg S (2007) Managementpraxis in Unternehmensnetzwerken. EineAnalyse des Instrumenteneinsatzes in deutschen Netzwerken am Anfang des 21. Jahrhunderts. In:Berghoff H, Sydow J (Hrsg) Unternehmerische Netzwerke. W. Kohlhammer, Stuttgart, S 257–270

Sydow J (2006) Management von Netzwerkorganisationen – Zum Stand der Forschung. In: SydowJ (Hrsg) Management von Netzwerkorganisationen. Gabler, Wiesbaden, S 387–472

Sydow J, Müller-Seitz G (2009) Strategien, Projekte und Praktiken – Eine Praxisperspektive aufstrategisches Projektmanagement. In: Wagner R (Hrsg) Projekt als Strategie – Strategie als Projekt.Verlag GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e.V., Nürnberg, S 62–71

Sydow J, Windeler A (2004) Projektnetzwerke: Management von (mehr als) temporären Sys-temen. In: Sydow J, Windeler A (Hrsg) Organisation der Content-Produktion. VS – Verlag fürSozialwissenschaften, Wiesbaden, S 37–54

Sydow J, Lindkvist L, DeFillippi R (2004) Project-Based Organizations, Embeddedness and Re-positories of Knowledge: Editorial. In: Organization Studies, Jg 25, H 9, S 1475–1489

Thuderoz C (2006) Un siècle d’histoire du management: Une introduction. In: Thuderoz C (Hrsg)Histoire et sociologie du management. Presses polytechniques et universitaires romandes, Lausan-ne, S 3–33

Whittington KB, Owen-Smith J, Powell WW (2009) Networks, Propinquity and Innovation inKnowledge-Intensive Industries. In: Administrative Science Quarterly, Jg 54, H 1, S 90–122

Winter M, Smith C, Morris P, Cicmil S (2006) Directions for future research in project manage-ment: The main findings of a UK government-funded research network. In: International Journalof Project Management, Jg 24, H 8, S 638–649

Kapitel 6Management des Informellendurch Kooperativen Erfahrungstransfer

Stephanie Porschen

Der Gestaltungsansatz „Kooperativer Erfahrungstransfer“ steht für einen beson-deren Zugang im Wissens- und Innovationsmanagement: Im Mittelpunkt stehenStrukturen, in denen eine neue Zieldefinition, eine neue Kombination von formel-len und informellen Austauschmöglichkeiten und eine spezielle Unterstützung desinformellen und erfahrungsgeleiteten Austausches impliziten Wissens möglich wer-den. Dabei werden Erkenntnisse der neueren Forschung zu Innovationsaktivitätenim Anlagen- und Maschinenbau berücksichtigt: Innovationen beruhen auf einerheterogenen Wissensbasis, die über Unternehmensgrenzen hinaus in kooperativerArbeit vertieft und erweitert werden muss. Dieser überbetrieblich „verteilten Wis-sensbasis“ als zentraler Ressource trägt der Ansatz Rechnung, indem er über unter-nehmensinterne und in FuE-Abteilungen stattfindende Wissensprozesse hinausgeht.Der Kooperative Erfahrungstransfer wird in diesem Kapitel im Zusammenhang mitagilen Entwicklungsprozessen in der Softwareentwicklung und deren Eignung fürdie oben formulierten Ansprüche betrachtet. Abschließend wird erörtert, ob es fürdie Begleitung dieses Management des Informellen einer neuen Dienstleistungs-ethik bedarf.1

6.1 Softwareentwicklung und Innovation

Der Ansatz wurde mit einem Unternehmen aus der IT-Branche erarbeitet. Es han-delt sich um ein kleines Entwicklungs- und Beratungsunternehmen mit festen undfreien Mitarbeitern, das über langjährige Expertise in Entwicklung, Architektur

1 Für die Unterstützung bei empirischen und konzeptuellen Arbeiten bedanke ich mich bei MarieSchwarz und bei Christian Zeller.

Stephanie Porschen (B)ISF München, Jakob-Klar-Straße 9, 80796 München, [email protected]

115F. Böhle et al. (Hrsg.), Innovation durch Management des Informellen,DOI 10.1007/978-3-642-24341-7_6,© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012

116 S. Porschen

und Projektleitung insbesondere für mechatronische Systeme verfügt, aber auchCoaching, Verfahrensoptimierung und die Einführung von Methoden in Entwick-lungsprojekten für Embedded Systems leistet. Bei der interdisziplinär ausgerich-teten Beratungstätigkeit geht es zum einen um die Entwicklung von Steuerungs-,Produktions-, Kommunikations- und Informationssystemen mit hohen Leistungs-und Echtzeitanforderungen und maßgeschneiderten Systemarchitekturen und zumanderen um Prozessverbesserungen und effiziente Teamarbeit, da ein ausreichenderfahrungsgesättigtes Know-how zur Organisation solcher Entwicklungsprozessein vielen Unternehmen nicht zwangsläufig vorhanden ist. Die Entwicklungen fin-den bei Kunden der Großindustrie und des Dienstleistungssektors vor Ort statt.Hier stößt das Unternehmen nach der Beauftragung einen Technikentwicklungspro-zess mit einem zusammengestellten Entwicklerteam an, begleitet dieses, koordiniertdie technische Entwicklung bis hin zu Schulungsnotwendigkeiten und moderiertden dazugehörigen Kommunikationsprozess. Es verfolgt das Anliegen, Entwicklernbzw. Programmierern über eine schlanke und produktbezogene Projektorganisationund einen hohen Grad an Selbstverantwortung („Hoheit über den Prozess“) wiederMöglichkeiten für kreatives Schaffen, für Motivation durch sinnvolle Entwicklungs-arbeit und Produzentenstolz einzuräumen.

Genauer besehen sind in den Projekten in den Kundenunternehmen in der Re-gel Akteure mit ingenieurwissenschaftlichem und technischem Hintergrund undaus dem IT-Dienstleistungsunternehmen Akteure mit physikalisch-naturwissen-schaftlichem und Informatik-Hintergrund sowie Know-how zur Prozessgestaltungbeteiligt. Applikatives Wissen in den Kundenunternehmen wird also mit modernenMethoden des Software- und Systemengineerings, wie agile Systementwicklungoder Extreme Programming, durch das IT-Dienstleistungsunternehmen verbunden.Somit gehen in den Projekten klassisches ingenieurwissenschaftliches Wissen undKnow-how aus der Softwareentwicklung eine Verbindung ein, womit die Fallstudieauch exemplarisch für die oben genannten unternehmens- und disziplinübergrei-fenden Wissensprozesse steht (vgl. auch Fagerberg 2005; Hirsch-Kreinsen 2008,S. 15).

Mit Software- und Technikentwicklung in Koppelung mit ihrer organisatori-schen Umsetzung kann ein Spektrum von inkrementellen bis hin zu radikalen In-novationen im jeweiligen Kundenunternehmen abgedeckt werden. InkrementelleInnovationen sind beispielsweise bei Programmcodes zur Steuerung prinzipiell be-kannter Anlagetypen gegeben. Unter radikale Innovationen kann beispielsweise dieEntwicklung neuer softwaregetriebener Steuertechniken gefasst werden, aber auchdie agilen Entwicklungsprozesse an sich – erst recht, wenn diese in den Hardware-bereich übertragen werden. Der letzte Punkt geht auf die Erfahrung zurück, dass dieRealisierung der technischen Entwicklungen mit gemischten Teams unter den Rah-menbedingungen des Kundenunternehmens – die rigider oder offener sein können– eine ebenso große Herausforderung wie die technische Lösung an sich darstellenkann.

Hier sind somit Produkt-, Organisations- und Sozialinnovationen angesprochen.Das soll kurz erläutert werden: Bei der Produktinnovation steht die gemein-

6 Management des Informellen durch Kooperativen Erfahrungstransfer 117

sam mit Industriepartnern realisierte Entwicklung der Steuerungs-, Produktions-,Kommunikations- und Informationssysteme mit hohen Leistungs- und Echtzeitan-forderungen – also eine klassische technische Innovation – im Vordergrund.2 Wiebeispielsweise Lutz und Winge (2007) anmerken, definieren sich Innovationszieleaber nicht allein durch technische Parameter. Die Verbesserung von Arbeitsbe-dingungen oder Abläufen innerhalb des Betriebs und über die Betriebsgrenzenhinaus stellt eine Organisationsinnovation dar (ebd., S. 10). Von solchen kannauch in diesem Fall gesprochen werden, wenn in den Partnerunternehmen mithilfeagiler Systementwicklung innovationsförderliche Strukturen für interdisziplinäreTeams einführt werden. Die Einführung agiler Prozesse, die mit Leitbildern wieeiner „angemessenen“ Kommunikationskultur oder der „Prozesshoheit des Teams“verbunden sind, kann des Weiteren als Sozialinnovation begriffen werden.3 Diekommunikationsintensive Organisation des an das Team übergebenen Prozessesrüttelt oftmals an den gegebenen Strukturen in den Organisationen und kann hierzu Veränderungen führen. Vorherrschende bürokratisch-hierarchische Strukturen,aber auch planungsbezogenes Projektmanagement und bestehende soziale Ord-nungen werden damit partiell durchbrochen, wie in dem folgenden Interviewzitatgeschildert wird:4

„Bei einer normalen Teamstruktur, die sich aus Persönlichkeiten und aufgrund von Ein-zelwissen herausbildet, bekomme ich eine Hierarchie. Die ist nicht immer sinnvoll undgewollt, es lässt auch am unteren Ende stehende Leute hängen. In einer normalen ,Sozio-kultur‘ äußern sich vor allem diejenigen, die oben sind, auch nicht mehr. Weil sie wissen, esist keiner da, zu dem sie mit dem Problem kommen können. Sie sind normalerweise dieje-nigen, die Probleme lösen müssen. Wenn die Leute aus unterschiedlichen Hierarchiestufennun sehen, dass man einfach etwas einbringen kann, verändert sich die ,Soziokultur‘ imTeam. Das ist etwas, was Zeit braucht. Es ist nicht leicht, sie zu etablieren, wenn die Kulturunhinterfragt bleibt oder so etwas in ein Team eingebracht, aber dann wieder aufgegebenwurde.“

Deshalb lassen sich solche Prozesse in der Regel nur dann erfolgversprechendumsetzen, wenn ein Mentor mit entsprechenden Kompetenzen im Partnerunterneh-men hinter der Veränderung steht. Auch die Unterstützung durch den Betriebsrat istförderlich, zum Teil sind die Maßnahmen auch zustimmungspflichtig.5

2 Zu Technik und Innovation in Geschichte und Gesellschaft vgl. Rammert 2008, S. 296 ff.3 Soziale Innovationen können als Fähigkeit der Organisation beschrieben werden, sich selbst undihr Verhalten zu erneuern (Oeij et al. 2010, S. 1). Vgl. zu sozialen Innovationen auch Howaldt u.Schwarz 2010, S. 11 ff.4 Dieses und die im weiteren Text aufgeführten Zitate entstammen den empirischen Erhebungenbeim Projektpartner. Die Interviews wurden transkribiert und mit qualitativen Methoden ausge-wertet. Zur besseren Lesbarkeit sind die Zitate sinngemäß und nicht in jedem Fall wortgemäßübernommen.5 Eine ausführliche Darstellung des agilen Projektmanagements mit Scrum findet sich in Schwaber2007 und 2008. Schwaber beschreibt zudem die Anbindung des Scrum-Entwicklerteams, das indiesem Artikel thematisiert wird, an ein übergreifendes „Enterprise Transition Team“ und ein fürdie Implementierung und die Veränderung zuständiges Scrum-Team (Schwaber 2008, S. 14 f.).

118 S. Porschen

6.2 Innovationsarbeit in der Softwareentwicklung

Wenn auch ein großer Teil der Arbeit in Innovationsprozessen in der Softwareent-wicklung durch planerisches und analytisches Vorgehen geprägt ist, beruht Innova-tionsarbeit als schöpferische Tätigkeit und als Umgang mit Unplanbarem, Unvor-hersehbarem, neu zu Entdeckendem und zu Entwickelndem doch in weiten Teilenauf künstlerischem, erfahrungsgeleitetem und spielerischem Handeln (vgl. Kap. 3).

Wie die Untersuchungen in dem Unternehmen der IT-Branche zeigen, ist dieserHandlungszugang den verschiedenen Möglichkeiten, die der Weg zu funktionieren-der Software bereit hält, geschuldet. Es gibt Hilfestellungen und Werkzeuge zumsystematischen Vorgehen (Regeln), doch damit kann immer nur ein kleiner Teil derArbeit erfasst und gelöst werden. Es bleibt ein großer offener „Rest“, für den eskeine besten Umgangsweisen gibt, so ein Entwickler:

„Der Softwareentstehungsprozess ist ein kreativer. Das heißt, man hat einen Endwunsch.Und man hat eine Sprache. Aber wie man etwas in dieser Sprache ausdrückt, ist eine andereFrage. Es gibt Mechanismen, es gibt Optimierungen und es gibt Sachen, die man bitteschönnicht tun soll, weil sie kein anderer mehr lesen kann. Aber es ist ein kreativer Prozess. Esgibt immer mehrere Möglichkeiten.“

Der Geschäftsführer und Leiter zahlreicher agiler Projekte erläutert zudem, dassdie Offenheit innerhalb gewisser Regeln ohnehin eine Eigenschaft des agilen Ent-wicklungsprozesses ist: „Nach Schema F funktioniert nie etwas, das wäre dann auchnicht agil.“ Im Folgenden wird näher dargestellt, wie sich die in Kap. 3 erläutertenKategorien der künstlerischen, erfahrungsgeleiteten und spielerischen Innovations-arbeit in der Softwareentwicklung genauer darstellen.

6.2.1 Künstlerische Haltung

Programmierern schreibt man zu, einen eigenen Begriff von Schönheit in ihremBereich anzustreben. Wenn die Software läuft, führt das offenbar bei manchennicht nur zu großer Motivation, es ist sogar von einem wunderbaren Gefühl dieRede (Keller 1998). Der Geschäftsführer eines Softwareentwicklungsbetriebes er-klärt, dass das ästhetische Empfinden des Menschen verlässliche Informationendarüber gebe, ob ein Lösungsansatz gut und richtig sei. Wenn wir diese Fähigkeitkultivierten, so dieser Geschäftsführer, könnten wir auf höchstem Qualitätsniveaugrößere und komplexere Systeme bauen (Kreikebaum 2009, S. 87). Wie lässt sichdas Künstlerische der Innovationsarbeit darüber hinaus beschreiben? Wie sieht ei-ne in der System- und Softwareentwicklung vorfindbare künstlerische Haltung imArbeitsalltag von Projektmanagern, Coaches oder Programmierern aus? Dazu derGeschäftsführer, der Erneuerungen als Kern der Tätigkeit beschreibt:

„Man muss immer daran denken, das ist Entwicklung, was wir machen. Entwicklungist nicht Produktion. Eine inhärente Eigenschaft von Softwareentwicklung ist ein extrem

6 Management des Informellen durch Kooperativen Erfahrungstransfer 119

großer Anteil an Innovation. Man macht nur zu einem geringen Teil exakt die gleichenSachen, die man schon in einem anderen Projekt gemacht hat. Sprich also, in Sackgassenzu laufen ist, so ähnlich wie bei Forschungsarbeit, Teil der Übung.“

Demzufolge gehört der Umgang mit Unplanbarem zum Arbeitsalltag der Pro-grammierer:

„Und als Programmierer ist im Alltag die Summe der Zeit, die man mit dem Verstehenvon unerwarteten Effekten und dem Lösen von Problemen verbringt, viel höher, als dass eseinfach funktioniert, es also ein pures Umsetzen ist.“

Die Offenheit für Unbekanntes lässt sich auch an der Ausdauer ersehen, die Ent-wickler und Programmierer beim Tüfteln entwickeln, so der Coach und Trainer:„Ja, man muss Spaß am Bosseln, am Wühlen haben.“ Ein Programmierer erläutertden Spaß am Aufdecken von Schwierigkeiten und dem Entdecken von Lösungengenauer:

„Wenn Sie einem Softwareentwickler ein seltsames Verhalten vor die Nase halten, ist derschon mal begeistert. Das geht mir auch so. Auch so ein Fehler, bei dem ich einen halbenTag suchen muss, löst bei mir das Gefühl aus: ,Moment mal, was ist das denn jetzt?‘ Unddann buddele ich, bis ich an der Ecke bin, bis ich irgendwann weiß – da ist es, ich habeden Schlawiner. Oder im schlimmsten Fall eben nicht feststellen kann, was es ist. Das istäußerst selten.“

Identifikation mit der Tätigkeit und Möglichkeiten zu eigenem persönlichemAusdruck werden als Schlüssel zur Zufriedenheit in der Tätigkeit genannt. In vie-len Fällen gilt: „Die Motivation ist höher, wenn man die Ideen selber findet.“ ZurIdentifikation meint ein Entwickler:

„Für mich ist es ausschlaggebend, dass ich mich mit dem, was ich tue, identifizieren kann.Wenn ich eine Aufgabenstellung habe, wo ich nicht dahinterstehen kann, fällt mir das schondeutlich schwerer. Ja, das ist ein ausschlagender Punkt: Sehe ich in dem, was gefordert wird,einen gewissen Sinn? Oder entdecke ich einen gewissen Nutzen? Das sollte erkennbar sein,dann kann man auch eine gewisse Begeisterung an den Tag legen.“

Die Sinnhaftigkeit des Auftrags und seiner Organisation ist für die Entwickler indem hier untersuchten Unternehmen und seiner Beratungspraxis ein wesentlicherAspekt. Ansonsten sinkt die Motivation erheblich und es entsteht das Gefühl, dieZeit bleibe stehen:

„Ich habe ein Projekt, bei dem ich sagen würde, der Arbeitsaufwand, den man reinsteckt,steht in keinem Verhältnis zu dem Nutzen, den man aus der verwendeten Technologie zieht.Da fällt es schon deutlich schwerer, die Zeit zu vergessen. Da sagt man sich dann schonhäufiger: ,O.k., heute muss es sein.‘ Dann zählt man schon mal die Stunden, bis die Sacheendlich wieder vorbei ist. Oder man sagt sich, ,jetzt bringen wir es vom Tisch, dann kannman wieder etwas Vernünftiges machen [. . . ]’.“

Für den Ansprechpartner ist das allerdings eher die Ausnahme als die Regel:

„Aber glücklicherweise muss ich sagen: Das Verhältnis von sinnvollen zu sinnfreien Pro-jekten ist deutlich in Richtung sinnvoll.“

120 S. Porschen

Kritisch gesehen wird die Aufteilung von Arbeitszeit in verschiedene Projekte.Hierdurch wird die Identifikation mit einem Projekt erschwert:

„Es gibt Leute, die kontinuierlich in einem Projekt sind. Aber es gibt auch Leute, die halbeAufgaben darin haben. Sie sind nur zur Hälfte in dem Projekt. Es gibt auch die Möglich-keit, dass sie morgen woanders sind. Das macht Motivation und Identifikation nicht geradeleicht.“

Künstlerische Prozesse bergen zudem nicht nur die prinzipiell positiv bewerte-ten Eigenschaften Identifikation und Involvement. Die Offenheit des künstlerischenProzesses birgt als Kehrseite auch die Gefahr des Scheiterns, so ein Entwickler:„Und das ist das Gemeine: Es gibt keine Programmiersprache und kein Program-miersystem, in dem ich weniger oder gar keine Fallstricke habe. Das gibt es einfachnicht [. . . ].“ Deshalb werden der souveräne Umgang mit Fehlern und dazu geeigne-te Verfahren zu wichtigen Ankerpunkten im künstlerischen Prozess, in dem es eineentsprechende Haltung zu entwickeln gilt:

„Das Falsifizieren ist wichtig und gehört in unserem Beruf zu den Standardwerkzeugen. Esist allerdings leider erst in den letzten fünf bis zehn Jahren zum Standardwerkzeug prokla-miert worden. Eine moderne Art der Softwareentwicklung, genannt ,test driven develop-ment‘, basiert auf einem Programm, welches das noch zu erstellende Programm überprüftund absichtlich versucht, Fehler zu provozieren [. . . ] Um die sogenannte Robustheit zu stei-gern, betreibt man dieses falsifizierende Vorgehen ähnlich wie in der Forschung: ,Wenn dukeine Lösung findest, dann versuche die ganze Zeit die Fälle abzuklappern, die nicht zumErfolg führen, in der Hoffnung, sich der Sache anzunähern.‘“

Im Umgang mit Fehlern und dem Einsatz möglicher Testverfahren spiegelt sichwiederum die persönliche Ausdrucksweise:

„Man kann ein paar Tipps geben. Man kann auch Szenarien und Fallstudien zeigen: ,Gehenwir von zehn Fehlern in diesem Programm aus. Jetzt gehe ich Schritt für Schritt durch,wie ich auf die Lösung gekommen bin.‘ Aber leider Gottes ist das kein mechanischesKochrezept. Wenn es das gäbe, könnte man auch gleich ein Programm schreiben, das einProgramm verbessert. Das gibt es aber nicht. Das heißt also, da findet jeder so ein wenigseinen individuellen Stil.“

6.2.2 Erfahrungsgeleitete Handlungsweise

Kooperative Entwicklungsprozesse basieren auf einem dialogisch-interaktivenVorgehen. Dieses ist in kollegialen Beziehungen in der gemeinsamen Entwick-lungsarbeit leichter zu realisieren. Denn weder asymmetrische Lehrer-Schüler-Beziehungen noch ebensolche Vorgesetzten-Mitarbeiter-Verhältnisse werden hier-für als vorteilhaft angesehen. Die Demonstration von Machbarkeit und Ansprech-barkeit bei Problemen fördert die Kooperation, so eine Programmiererin, die inverschiedenen Kundenprojekten tätig ist:

„Ich lege Wert darauf, den Leuten zu sagen, ich bin eine Kollegin – zwar eine externe, aberdennoch. Das, was ich mache, das, was ich den Kollegen beibringe, das kann man tun. Mit

6 Management des Informellen durch Kooperativen Erfahrungstransfer 121

viel Erfahrung kann man es besser tun und irgendwann kann man sich auch hinstellen unddas erklären. Es ist kein Hexenwerk und es gibt Mechanismen, damit umzugehen. Und beiFragen bin ich auch ansprechbar.“

Sie verdeutlicht des Weiteren, dass es in der Kooperation um Begleiten undnicht um Belehren geht. Um zu lernen, müssen die Programmierer ihre Erfahrungenselbst machen können. Um Lösungswege zu entdecken, müssen sie sich trauen (dür-fen), explorativ vorzugehen. Dafür gibt es lediglich „Handwerkszeug“ an die Hand:

„Man muss lernen: ,Der Fehler könnte mit diesem auffindbar sein, der andere Fehler könnteeher mit jenem auffindbar sein.‘ Es gibt Optimierungsroutinen, die aber jeder für sich selbstherausfindet. Dazu kann man Anleitungen geben, dann muss man die Leute aber wiederalleine lassen. Wenn man nachhakt, was die Leute herausfinden, kommt der oder diejenigemanchmal auf etwas Geniales, auf was man selbst nie gekommen wäre. Dann tauscht mansich aus, auf was man hinaus wollte und wie man es hätte auch machen können. Es ist auchsehr wichtig, den Menschen Zutrauen zu geben. Sie dürfen, wenn etwas schief gegangenist, nicht in Frage stellen, warum sie in dem Job sind.“

Wenn das „Handwerkszeug“ beim explorativ-entdeckenden Vorgehen nicht aus-reicht und die eigene Suche nicht weiterführt, ist weitere Hilfestellung geboten:„Wenn etwas nicht gefunden wird, gibt es die Möglichkeit, zu einem Senior-Entwickler zu gehen und zu sagen: ,Ich habe hier etwas Seltsames. Was kann dassein?‘“

Das explorative Herantasten ist im Übrigen auch notwendig, um zum richtigenMaß an Experimentiermöglichkeit zu gelangen, so der Coach:

„Ja also, ich würde wirklich sagen: Es geht um Umgang mit Offenheit, aber auch wiedermit Fingerspitzengefühl. Es gibt ja auch diesen schönen Spruch: ,Wer nach allen Seitenoffen ist, kann nicht ganz dicht sein.‘ Da ist was dran, das kann nicht das Ziel sein. Worumes geht, ist, der Individualität den richtigen Raum einzuräumen.“

Cockburn spricht hier unter Bezug auf Schön (1983) auch von einer reflektiertenKonversation mit der Situation (Cockburn 2007, S. 54). Sie tritt neben ein Gespürfür die immanente Entwicklungslogik, welches Programmierer bei der Auseinan-dersetzung mit dem Material in die richtige Richtung führt. Insgesamt erschließensich die Entwickler (auch latente) Zusammenhänge je nach Erfahrungswissen mitunterschiedlicher Intensität: „Mit Erfahrung wird man besser, weil man dann mehrMechanismen feststellt und mehr Gefühl dafür kriegt.“

6.2.3 Spielerische Situationsdefinition

In vorliegenden Untersuchungen zur Softwareentwicklung wird diese oft mit Spie-len in Verbindung gebracht, da sich Phantasie am Computer gut entfalten kann. AmComputer können neue Einfälle und Ideen ausprobiert und schlechte Ideen schnellverworfen werden, ohne materielle Folgen tragen zu müssen. Zudem vermindertdie schnelle Veränderbarkeit den Druck, sofort „richtig“ handeln zu müssen, spie-

122 S. Porschen

lerische Annäherung wird so leichter möglich. Mit der symbolhaften Darstellungpraktischer Anwendungen wird sozusagen ein „Als-ob-Charakter“ erzeugt, der im-mer etwas Spielerisches hat. Intuitives und spontanes Handeln, Versuch und Irrtum,all das ist typisch für die Arbeit der Programmierer am Computer (Schachtner 1993,S. 98; Keller 1998, S. 266).6

Dass dazu ein kreatives Scheitern gehören kann, ist dem Leiter des IT-Unter-nehmens bewusst. Er stellt diese Erkenntnis gegenüber den Mitarbeitern in Rech-nung:

„Deshalb ist es auch sehr wichtig, solche Sachen zu vermitteln und zu sagen: ,O.k., ihrmacht Fehler, das ist normal. Dafür gibt es Lösungswege, die sehen soundso aus. Undwenn es die nicht sind, dann muss man ausprobieren.‘ Das kostet dann Zeit. Die Zeit darfman dann aber auch haben. Das muss man den Leuten am Anfang auch sagen! Das ist nicht,wie wenn man einen Aufsatz herunterschreibt und dann die Fehler korrigiert. Sondern dasist etwas Laufendes.“

Aus seinen vielfältigen Begegnungen mit Softwareprogrammierern in Entwick-lungs- und Schulungskontexten schlussfolgernd, sagt der im Unternehmen tätigeCoach und Trainer den Programmierern generell eine „verspielte“ Natur nach:

„Wenn Sie sich mal anschauen, woher Softwareentwickler kommen, ist es meistens so, dassdie sehr früh angefangen haben, auf irgendeiner Kiste rumzudaddeln. Dieses Ausprobieren,Ausprobieren [. . . ] Dann rutschen sie in die Schiene rein, wo sie dann sagen, dann studiereich den Kram auch noch.“7

Der geschützte Raum, der das offene und ungewisse Vorgehen zulässt und Invol-vement ermöglicht, ist Voraussetzung für dieses spielerische Herantasten.8 Dies sollin agilen Entwicklungsprozessen ermöglicht werden, die Cockburn als kooperativesErfinder- und Kommunikationsspiel definiert. Daran sind Geldgeber, Manager, An-wendungsspezialisten, Domänenexperten, Designer, Tester und Autoren beteiligt.Die Regeln, die das Spiel begleiten, liegen in der gemeinsamen Zusammenarbeit,

6 Der Computer wird in diesen und weiteren Zusammenhängen auch als Grenzobjekt bezeichnet,und das in mehrfacher Hinsicht, wie Keller schreibt: „[. . . ] in psychologischer, physikalischer undsoziologischer Sicht ist er Ausdruck dafür, Widersprüchliches, das bisher getrennt gehalten wur-de, zusammenzubringen: ,innere’ und ,äußere’ Realität, Materielles und Immaterielles, Arbeitenund Spielen, Öffentliches und Privates, Als-Ob-Welten und Zweckwelten. Durch ihn [den Com-puter, Anm. der V.] erscheint es möglich, Grenzen abzubauen, Verkehr zwischen den Welten zubefördern.“ (Keller 1998, S. 306)7 Das kommt dem Ergebnis der Studie von Adler nahe, der die Frage, wie Software-Entwickleres schaffen, ihre Zusammenarbeit gut zu regeln, folgendermaßen beantwortet: „Sie spielen. Siespielen miteinander, sie spielen Spiele, sie spielen sich was vor, sie entwickeln Spiele, sie spielenbeim Software-Entwickeln, sie sind verspielt“ (Keller 1998, S. 257). Sieber (2006) hielt aus ihrenBefragungen ebenfalls das Zitat fest, „[. . . ] dass man mit den Computern eigentlich doch so ambesten rumspielen kann“ (S. 108). Sie erläutert: „Dieser Softwareentwickler hat also in der spiele-rischen Aneignung technischer Artefakte in der Kindheit bereits Arbeitspraktiken entwickelt, dieihm den Umgang mit dem Computer erleichtern“ (ebd.).8 Allerdings ist dies kein allgemein akzeptierter Status quo. Im Gegenteil, in vielen Unternehmensind eher eine Null-Fehler-Toleranz und eine ausschließliche Akzeptanz expliziten und rationalenEntscheidungs-Know-hows die Regel (vgl. beispielsweise Bolte et al. 2008, S. 89 f.).

6 Management des Informellen durch Kooperativen Erfahrungstransfer 123

um ein funktionierendes und nützliches System zu entwickeln und zu produzieren.Entscheidend ist hier wie in anderen Feldern die Qualität der Zusammenarbeit: „Itseems that quite a list of fields involve people inventing and cooperating, and theoutcomes in their fields are highly sensitive to the qualitiy of their invention, com-munication and collaboration“ (Cockburn 2007, S. 52).

6.3 Agile Entwicklungsprozesse

Dieser Abschnitt behandelt näher, was es mit agilen Entwicklungsprozessen ge-nerell auf sich hat. Agil steht zunächst für Beweglichkeit und Flexibilität, fürMitdenken statt „Dienst nach Vorschrift“ oder der Huldigung von Dogmen (Hrusch-ka 2005, S. 7). Diese Maximen stehen hinter den in der Softwareentwicklunginzwischen etablierten agilen Prozessen, die in unterschiedlichen Ausprägungensowohl in kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) als auch Großunterneh-men eingesetzt werden. Inzwischen wird auch die Übertragbarkeit der Agilität inHardware-Entwicklungsprojekte als Herausforderung beschrieben (Wühr u. Sauer2010). Das Schlagwort zieht immer weitere Kreise und gilt inzwischen als An-spruch an ein übergreifendes Projektmanagement (Oestereich 2006) bzw. wirdals notwendig erachtet, um den Wettbewerbsanforderungen gewachsen zu bleiben(Zobel 2005). Lange standen lediglich die Chancen der agilen Entwicklungspro-zesse im Zentrum, langsam geraten aber auch damit verbundene Risiken in denBlick.9

Entstanden sind die agilen Methoden in den 90er Jahren des letzten Jahrhun-derts teils als Reaktion auf schwergewichtige Methoden und teils als Antwort aufdie Herausforderungen durch das Internetzeitalter.10 Die Popularität geht auf KentBecks „Extreme Programming“ (XP) zurück (Northover et al. 2007, S. 201). Diebekannte Methode Scrum von Ken Schwaber und Jeff Sutherland wurde ungefährin der Mitte der 1990er Jahre entwickelt (Cockburn 2003, S. 14). Zu dieser Zeitengagierten sich verschiedenste Projektleiter in eine ähnliche Richtung. Im Jahr

9 Agile Entwicklungsprozesse stehen im Zusammenhang mit Lean Development als Fortführungder Prinzipien der Lean Production bzw. des Lean Managements (Graebsch et al. 2007; Sprengholz2011), weshalb die Methode auch mit einer neuen „Rationalisierung der Kopfarbeit“ in Verbin-dung gebracht wird (Boes 2010). Wenn die Entwickler in dem hier beschriebenen Modus in denProzess mit ihren künstlerischen, erfahrungsgeleiteten und spielerischen Potenzialen eintauchen,steht die Gefahr der Selbstintensivierung und unbemerkten oder erst spät registrierten Überlastungim Raum. Simonsmeier (1992) hat im Zusammenhang mit der Vertiefung in die Tätigkeit bereitsvor langem darauf hingewiesen, dass die Menschen in der Computerbranche im Vergleich zu an-deren Branchen sehr viel mehr Überstunden machen. Wer von seiner Tätigkeit am Bildschirmfasziniert ist, fühlt sich euphorisch und denkt nicht mehr an andere Dinge.10 Die Überlegenheit eines „organischen“ Managements in instabilen, unvorhersagbaren Umwel-ten, wozu agile Ansätze gezählt werden können, beschreiben Burns und Stalker anhand eines quasidiffusen Maximierens: „[. . . ] any individual job should be as little defined as possible, so that itwill ,shape itself’ to his special abilities and initiative“ (Burns u. Stalker 2003, S. 47).

124 S. Porschen

2001 trafen sich 17 Befürworter der agilen Entwicklungsprozesse (Agile Allianz)in Utah (USA) und verständigten sich auf folgende gemeinsamen Werte und Prin-zipien: „Individuen und Interaktionen sind wichtiger als Prozesse und Werkzeuge.Funktionierende Software ist wichtiger als umfassende Dokumentation. Kundenzu-sammenarbeit ist wichtiger als Vertragsverhandlungen. Auf Änderungen reagierenist wichtiger, als dem Plan zu folgen“ (Cockburn 2003, S. 281).11 Die Agile Allianzmerkt dazu an: „Wir schätzen die Punkte auf der rechten Seite, aber wir bewertendie Punkte auf der linken Seite höher“ (ebd.).

Letztlich sind agile Ansätze die Antwort auf zahlreiche gescheiterte bürokrati-sche IT-Projekte. Mit einer Verschlankung des Entwicklungsprozesses gegenüberden als bürokratisch definierten Wasserfallmodellen soll die Wahrscheinlichkeit ei-nes erfolgreichen Projektabschlusses erhöht werden.12 Dafür sind Wege zwischeneinem formalen Management und chaotischem Vorgehen wesentlich (vgl. Lundak2006). Dies erläutert ein erfahrener Mitarbeiter näher:

„Es geht darum, diese Brücke zu schlagen zwischen dem chaotischen Arbeiten, das oftin kleinen Projektgruppen passiert: Die Leute sind zu zweit oder zu dritt und waren es ge-wohnt, Software oder Technik ganz informell nach dem Motto zu machen: ,Ach komm, dasprobieren wir mal!‘ Oder: ,Was hast denn du da?‘ Die arrangieren sich irgendwie, sind abermeistens sehr ineffizient. Und was viel schlimmer ist: Die Qualität des Produkts ist misera-bel! Das gestehen sich die Leute aber oft nicht ein, aber das ist gerade in der Software so.Auf der anderen Seite gibt es das Management, das glaubt, je starrer meine Strukturen sindund je besser meine Prozesse formuliert sind, desto höher ist die Qualität und desto höherist die Produktivität. Meine Erfahrung ist, dass das eine völlig oberflächliche Betrachtungist, aber die herrscht vor.“

In dem hier beschriebenen Kontext wird Agilität als Ansatz zur Projektabwick-lung aufgefasst, für den eine Werkzeugkiste von Methoden und Instrumentenaus unterschiedlichen Schulen zur Verfügung steht (so auch Hruschka 2005,S. 7 f.).13

11 www.agilemanifesto.org, 03.08.2011.12 Eine Auseinandersetzung zum Verhältnis von Wasserfallmodellen zu agilen Ansätzen führtHimmelreich 2006, S. 123 ff. Wie schwierig es ist, das Wasserfallmodell zu überwinden, be-schreibt Schwaber: „Die Wasserfallmethode resultiert aus den Wünschen von Projektmanagern,welche das Thema Komplexität mit Vorhersagbarkeit bezwingen wollen. Jeder Projektmanagerhat sich die Wasserfallmethode tief einverleibt und empfindet sie als korrekt. Wenn Leute gebetenwerden, Scrum zu verwenden, ist dies ihnen zutiefst unbehaglich, da sie als risikoreich empfundenwird“ (Schwaber 2008, S. 26).13 In dem Fallbeispiel wurde die Auseinandersetzung ersichtlich, dass manchen beispielsweiseScrum als „sehr agil“ gilt, während andere Methoden wie Feature Driven Development (FDD) alsweniger agil etikettiert werden. Von einer solchen Bewertung wurde hier Abstand genommen.

6 Management des Informellen durch Kooperativen Erfahrungstransfer 125

6.3.1 Scrum – Organisationstechnikfür den sozialen Prozess agiler Softwareentwicklung

Der agile Entwicklungsprozess Scrum findet in dem hier beschriebenen Zusam-menhang häufige Anwendung. Scrum gehört zu den meistverbreiteten agilen Me-thoden.14 Deshalb sei dieser agile Ansatz etwas näher erläutert.

Der Begriff Scrum (engl. für Gedränge) ist dem Rugbyspiel entlehnt und be-schreibt dort die Standardsituation, um das Spiel nach einer Unterbrechung neuzu starten: „Beim Rugby geht es letztlich darum, den Ball ins Ziel zu bringen.Bei der Softwareentwicklung geht es im Prinzip um das Gleiche, nämlich dar-um, lauffähige Software abzuliefern“ (Feuerhelm u. Reussner 2010). Dafür stelltScrum eine Reihe von Arbeitstechniken, Strukturen, Rollen und Methoden für dasProjektmanagement zur Verfügung (Schwaber u. Beedle 2001). Mit so wenig Fest-legungen wie möglich sollen sich die Teams bzw. Entwickler selbst organisieren.Prinzipiell werden die Kundenanforderungen an das zu entwickelnde Produkt samtFunktionalitäten der technischen Abhängigkeiten als informelle Beschreibung in ei-nem ,Product Backlog‘ gesammelt. In einem ,Sprint‘ – der Umsetzungsphase einerIteration (in der Softwareentwicklung werden dafür etwa 30 Tage veranschlagt) –sind die Aufgaben eines ,Sprint Backlog‘ zu erfüllen. Je höher dazu vorliegendeKundenprioritäten bewertet werden, desto detailreicher ist deren Anforderungs-beschreibung für das Product Backlog. Die Teammitglieder geben zudem Schät-zungen zu den Aufgaben im ,Sprint Planning‘ (Planungstreffen für die nächsteUmsetzungsphase) ab. Die Aufgaben werden dann nach einer gemeinsamen Be-wertung verteilt. Innerhalb des Sprints gilt das Prinzip der Selbstorganisation desTeams. Zum kontinuierlichen Austausch haben sich jedoch tägliche ca. 15-minütigeStand-up Meetings, die sogenannten ,Daily Meetings‘ bewährt. Die Gruppe trifftdiese kurze Absprache im Stehen – eine Strategie, um Längen und Tücken von Mee-tings zu vermeiden (vgl. zu den Tücken von Meetings Bolte et al. 2008, S. 69 ff.).Jeder Entwickler gibt Auskunft zu seinem Arbeitsfortschritt seit dem letzten Mee-ting und erklärt, was er bis zum nächsten Meeting erledigt haben will. Bei demkurzen Treffen gibt es auch die Möglichkeit, Probleme zu benennen, die jedochaußerhalb der Meetingrunde gelöst werden.

Wesentlich bei Scrum sind auch regelmäßige Feedbackschleifen mit dem Kun-den. Dazu werden die Ergebnisse nach jedem Sprint dem Kunden zur Begutachtungvorgelegt. Dieser bekommt in den sogenannten ,Sprint Reviews‘ die Möglichkeit,den bisherigen Entwicklungsstand an releasefähigen (Teil-)Produkten (Inkrement)zu sichten und mit seinen Vorstellungen abzugleichen. Dadurch, dass die Entwurfs-phase auf ein Mindestmaß reduziert wird und so früh wie möglich ausführbare

14 Einer Studie von Forrester Research zufolge, die auf der Informationsplattform Heise ange-führt wird, gilt Scrum als am weitesten verbreitete agile Methode. Nahezu elf Prozent der 1.300befragten Teilnehmer hatten damit Berührungspunkte (http://www.heise.de/developer/meldung/Studie-Agile-Softwareentwicklung-ist-Mainstream-912207.html).

126 S. Porschen

Software entwickelt werden soll, die abgeglichen wird, steigt die Wahrscheinlich-keit, dass die Entwicklung in die richtige Richtung läuft.15

Notwendige Änderungen werden im Product Backlog dokumentiert. Dieses darfwährend eines Sprints nicht geändert werden, damit sich das Team ungestört auf dieUmsetzung konzentrieren kann. In dem sogenannten ,Impediment Backlog‘ werdenHindernisse und Schwierigkeiten gesammelt, die ausgeräumt werden müssen. AmEnde eines Sprints werden ,Retrospektive Meetings‘ zu Hindernissen, Problemenund Verbesserungsmöglichkeiten durchgeführt. Die Retrospektive erscheint vor al-lem auch zum Abschluss eines Projektes sinnvoll.

Scrum steht des Weiteren für eine klare Rollen- und Verantwortungsverteilung:Der Entwicklungsprozess wird durch einen ,Scrum Master‘ begleitet. Die Haupt-aufgaben des Scrum Masters – beispielsweise eines Programmierers, der in derTechnik des Scrum ausgebildet wurde – bestehen einerseits in der Initiierung der,Scrum Meetings‘, andererseits darin, dass die Scrum-Regeln eingehalten werden.Oft wird die Rolle des Scrum Masters auch von dem Team- oder Projektleiter ein-genommen.16 Eine weitere Aufgabe des Scrum Masters besteht darin, in Absprachemit dem Kunden und dem Management einen ,Product Owner‘ auszuwählen. Die-ser ist zuständig für die Maximierung des Produktwertes für den Kunden, die Nutzerund Stakeholder. Anschließend werden – wiederum in Absprache mit dem Mana-gement – Scrum Teams zusammengestellt. Der Scrum Master, das Scrum Team undder Product Owner erstellen das Product Backlog mit der priorisierten Liste aller andas Produkt gestellten Anforderungen. Der Scrum Master ist des Weiteren für dieInitiierung eines Sprints – die Umsetzung des Product Backlog – zuständig. Wäh-rend des Sprints führt der Scrum Master alle täglichen Scrum-Vorgänge aus und istdafür verantwortlich, dass eventuell auftauchende Probleme während des Prozes-ses gelöst und Entscheidungen schnell – auch bei unvollständigen Informationen– getroffen werden. Im Vordergrund steht die Weiterarbeit des Teams. Der ScrumMaster schätzt zudem in Zusammenarbeit mit dem Management den Fortschritt desArbeitsprozesses ab und passt die Anforderungsliste – das Product Backlog – anden gegenwärtigen Arbeitsstand an.

Daneben spielt der Product Owner eine wichtige Rolle: Der Product Owner istder offizielle Projektverantwortliche. Dieser hat oftmals eine leitende Position indem entwickelnden Unternehmen. Die Hauptverantwortlichkeit des Product Ow-ner besteht in der Kontrolle des Product Backlog. Er stellt sicher, dass das ProductBacklog für alle am Prozess Beteiligten jederzeit sichtbar ist. Jeder Entwickler weißdadurch, welche Punkte die höchste Priorität haben und woran jeder arbeitet. Je-der, der die Priorität einer auf dem Product Backlog festgehaltenen Arbeitsaufgabeverändern möchte, muss den Product Owner überzeugen, damit diese Verände-

15 In der Regel ist hier von Prototyping die Rede. In diesem Fallbeispiel wird dies jedoch als„wachsendes Produkt“ bezeichnet. In Abschn. 6.4.5 wird darauf näher eingegangen.16 Falls sich der Beginn der Projektphase schwierig gestaltet, kann diese durch einen Senior Ma-nager oder einen ,Scrum Consultant’ ausgefüllt werden.

6 Management des Informellen durch Kooperativen Erfahrungstransfer 127

rung vorgenommen wird (Darstellung der Projektpartner, vgl. auch Schwaber 2008,S. 78 f.; Gloger 2011, S. 63 ff.).

Der Scrum Master und Product Owner als Hauptverantwortliche in einem ScrumTeam wählen die Mitglieder für das Entwicklungsteam idealerweise nach folgen-den Parametern aus: Mitarbeiter, die erstens bereits in der Vergangenheit erfolgreichzusammengearbeitet haben, zweitens den Produkt- und Geschäftsbereich verstehenund drittens wissen, wie die ausgewählte Technologie eingesetzt wird (vgl. Schwa-ber 2008, S. 82). Es wird also Wert auf Vertrauensbeziehungen und die Expertiseder Mitglieder gelegt.

Scrum erscheint zunächst als geeigneter Ansatz, den Entwicklungsprozess ohnezu viele formale Rahmenbedingungen zu strukturieren. Die Maßnahmen werden je-doch weder von allen akzeptiert noch prinzipiell nach Lehrbuch durchgeführt (vgl.hierzu auch Wühr u. Sauer 2010). Wie wird dieses Konzept von Projektleitern undEntwicklern beurteilt? Ein Projektleiter berichtet, welche Erfahrungen er mit man-gelnder Abstimmung gesammelt hat und dass er deshalb die regelmäßigen, aberunkomplizierten Abstimmungen in den Daily Stand-up Meetings schätzen gelernthat:

„Als ich es das erste Mal gehört habe, fand ich es von Anfang an Klasse. Zu der Zeit hatteich gerade ein Projekt hinter mir, wo ich intensiv mit jemandem zusammengearbeitet hatte.Es war ein Team aus sechs Leuten, darin bildete sich noch ein Zweierteam. Von unsererSeite ein Seniorentwickler und von dem Auftraggeberunternehmen ein Juniorentwickler. Indem halben Jahr vorher hatte ich nach einem Anruf bei diesem immer wieder festgestellt,dass er sich irgendwo verlaufen hat. Deswegen war meine erste Einschätzung zu den DailyMeetings sehr positiv. Ich habe dann einen Grund, mit den Leuten zu reden. So dachteich mir nach drei Tagen, ich sollte anrufen, aber er fühlt sich wahrscheinlich überwacht.[. . . ] Es scheint viele Leute zu geben, die sagen: ,Was soll ich jeden Tag da hin?‘ Dieersten zwei Wochen sagt jeder: ,Nein, es gibt nichts zu bereden.‘ Aber wenn es die erstenSchwierigkeiten gibt, stellt man fest, dass es sinnvoll ist.“

Offensichtlich handelt es sich bei den Stand-up Meetings um ein funktionieren-des Koordinationsinstrument. Dennoch wird es nicht überall angenommen, wie derErfahrungsbericht eines Programmierers zeigt:

„Der Projektleiter geht manchmal herum und fragt die Leute im Vorfeld, ob dies und je-nes in der nächsten Iteration sinnvoll ist. Er macht das nicht im Meeting, so wie man daseigentlich vom Scrum her kennt. Der Project Owner soll vorstellen, was in der Iteration ge-wünscht ist, und dann wird diskutiert. ,Das sollten wir vielleicht verschieben, dieses solltenwir höher priorisieren [. . . ].‘“

Werden die Fragen nicht an alle adressiert, geht auch die Chance einer abwechs-lungsreichen Arbeitsgestaltung im Team verloren: „Was dann auch wenig statt-finden kann, ist die Anfrage: ,Ich mag mal was anderes machen, können wir dieAufgaben tauschen?‘ Das passiert dann nicht mehr, weil der Projektleiter die Dingemit den Leuten einzeln bespricht.“ Der Projektmanager verweist auf Ängste, diemit den Daily Stand-up Meetings einhergehen: „Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wieman dem Projektleiter beibringen kann, dass es nicht mehr Zeit kostet, wenn manes in diesem Meeting machen würde. Genau das ist seine Befürchtung.“

128 S. Porschen

Bei der Einführung von Scrum wird zudem in manchen Fällen der Grundgedankedes selbstbestimmten Teams ignoriert, wie die Erfahrung eines Projektmitarbeitersin einem Kundenprojekt zeigt:

„Es wird von oben gesagt, diese Punkte brauchen wir. Die Stunden werden so verteilt, bisdas Kontingent der einzelnen Mitarbeiter voll ist. Das hat er dann zu erledigen. [. . . ] Eswerden also nicht die benötigten Features für den Backlog vorgeschlagen und das Ent-wicklungsteam kann nicht von sich aus sagen: ,Die ersten fünf oder zehn Punkte kriegenwir in den nächsten vier Wochen hin.‘ Das findet nicht statt.“

Als Grund wird angegeben, dass dem konventionellen Projektmanagement häu-fig eine höhere Priorität zukommt: „Es gibt noch einen übergeordneten Prozess, derein schwergewichtiger ist. Der ist sehr rigide und sagt, wann welches Dokument zuerfüllen ist und in welcher Projektphase wir uns befinden.“

Der Gewinn, der durch die Selbstorganisation in Scrum erzielbar wäre, ist somitnicht für jeden greifbar und plausibel. Ein Interviewpartner bringt den Mehrwertnochmals auf den Punkt:

„Das ist ein Mehrwert, der mit der Zeit kommt. Am Anfang gibt es gerade bei Scrum vielAufwand. Viele geben deshalb frühzeitig auf. Der Mehrwert besteht darin, Leute früherdazu zu kriegen, sich mit dem Problem zu befassen [. . . ] Der andere Mehrwert liegt darin,zu sehen, dass auch andere Probleme haben. Jeder im Team merkt Möglichkeiten, demanderen zu helfen.“

Es gibt also positive und kritische Hinweise ob der Organisationstechnik Scrumzur Gestaltung des sozialen Prozesses der Innovationsarbeit. Die Elemente vonScrum werden nicht überall akzeptiert, einzelne Elemente auch negiert. Können al-lerdings Maßnahmen wie beispielsweise die täglichen kurzen Abstimmungsrundenproduktiv eingeführt werden, ist den Hinweisen zufolge ein positiver Einfluss aufden Wissensprozess zu verzeichnen. Es geht letztlich darum, ein ausgewogenes Ver-hältnis von formeller Kooperation im Meeting und informeller Kooperation durchein Management des Informellen zu finden. Dazu eignen sich bestimmte Elemen-te der agilen Prozesse und darüber hinausgehender Ansätze, worauf im Folgendennäher eingegangen wird.

6.4 Agile Entwicklungsprozesse und KooperativerErfahrungstransfer – Management des Informellen

Künstlerisches, erfahrungsgeleitetes und spielerisches Vorgehen wird mit ganzheit-lichen Aufgaben in Verbindung gebracht. Diese kreativen Leistungen lassen sichkritischen Stimmen zufolge in taylorisierten – also arbeitsteiligen – Arbeitsstruk-turen nicht entfalten (Keller 1998, S. 267). Nun lässt sich Arbeitsteilung in IT-Großprojekten aber häufig kaum umgehen. Dort kann man arbeitsteilig und kreativarbeiten – aber nicht in einem bürokratischen und überformalisierten Rahmen, wieer oftmals vorzufinden war (und ist). Aber auch chaotisches Vorgehen ist nicht wei-

6 Management des Informellen durch Kooperativen Erfahrungstransfer 129

terführend. Für die Organisation der arbeitsteiligen Entwicklungsarbeit bedarf esvielmehr strukturierter offener Verfahren, wie sie mit den oben beschriebenen agi-len Entwicklungsprozessen angeboten werden. Diese können auch die Genese undden Austausch von Erfahrungswissen in der Innovationsarbeit – den KooperativenErfahrungstransfer – fördern.17

Das in die Arbeitsprozesse eingebettete Erfahrungswissen steht für Fähigkeitenwie Gesamtzusammenhänge zu erkennen, passende Problemlösungsstrategien zuentwickeln oder Sensibilität für materielle und immaterielle Gegebenheiten zu ent-falten. Es handelt sich um ein praxisrelevantes und handlungsorientiertes Wissen,das im Zusammenhang mit einem in konkreten Kontexten eingebetteten Austes-ten und einem herantastenden, spürenden Umgang mit teilweise klaren, vielfachaber diffusen Informationen steht. Für dieses eng mit erfahrungsgeleitetem Arbeits-handeln in Verbindung stehende Wissen spielen Gespür und Gefühl und damitauch Leiblichkeit als wesentliches Erfahrungsmedium eine wichtige Rolle (Por-schen 2008, S. 78).

Für die Genese und den Austausch dieses in weiten Teilen impliziten Erfahrungs-wissens ist ein informeller Austausch hilfreich, der Unwägbarkeiten und Grenzender Planung ad hoc auffängt. Dieser ermöglicht auch eine besondere Nähe zurArbeitsaufgabe bzw. zum Arbeitsgegenstand, der in den Wissensaustausch einbe-zogen werden kann. Realisiert wird er in geeigneten Arbeits- bzw. Kooperations-modellen. Diese müssen neben schnelle Koordinationsmöglichkeiten und Face-to-face-Kontakte zum Austausch von Informationen und Planungswissen in formellenAustauschforen wie Meetings treten. Für die Kooperationsmodelle gilt die Maximeder gestalteten im Gegensatz zu einer ungeregelten Offenheit.18 Ein Projektbe-gleiter bringt dies treffend auf den Punkt: „Ein Gleichgewicht zwischen Freiheitund Zielgerichtetheit ermöglicht den Austausch von Erfahrungswissen.“ Wie imFolgenden gezeigt wird, können Elemente der agilen Entwicklungsprozesse künst-lerische, erfahrungsgeleitete und spielerische Innovationsarbeit unterstützen. DieZugänge besitzen teilweise selbst einen solchen Charakter. Das lässt sich bereitsbei der offenen Zieldefinition und den neuen Planungsverfahren mit spielerischenMethoden ersehen.

17 Agile Entwicklungsprozesse zielen in erster Linie auf die technik- und prozessorientierte Seiteder Entwicklungsarbeit ab („Technik“). Es müssen daher darüber hinaus Wege beschritten werden,mit den in Unternehmen vorzufindenden ,verkrusteten’ Strukturen umzugehen, die selbstorgani-siertes Arbeiten der Entwicklerteams häufig behindern und nicht fördern. Dem ist bei dem Ansatzdes kooperativen Erfahrungstransfers und den darin formulierten Brücken für den Wissensaus-tausch Rechnung zu tragen („Soziales“). Zu erfahrungsgeleiteter Arbeit (Böhle 2009), Kooperationund Kommunikation (Böhle u. Bolte 2002; Porschen 2002; Bolte u. Porschen 2006) liegen ebensowie für ein erfahrungsgeleitetes Projektmanagement (Böhle u. Meil 2003) bereits Untersuchungenvor. Die Erkenntnisse fließen in diese Perspektive ein.18 In dem Ansatz „Organisation des Informellen“ ist die gestaltete Offenheit näher beschrieben,ebenso, wie sie mit verschiedenen Modellen realisiert werden kann (Bolte u. Porschen 2006,S. 65 ff.).

130 S. Porschen

6.4.1 Das Informelle zulassen – offene Zieldefinitionund dynamische Planung

Mit agilen Prozessen geht der Anspruch einher, laufend veränderte Anforderungenan die Entwicklung zu berücksichtigen und unrealistische Planungen zu vermei-den. Dazu ist ein Verfahren notwendig, mit dem die Ziele den Möglichkeiten undErfordernissen angepasst werden. Wie wird das möglich?

Bezüglich der Zieldefinition erscheint das Prinzip des „travel light“ interessant.In einem anstehenden Vorhaben wird das endgültige Ziel ,im Groben‘ festgelegt.Hiermit wird Wesentliches von Unwesentlichem getrennt und die Richtung defi-niert, in die sich das Vorhaben bewegen soll. Detaillierte Zieldefinitionen bis zumEnde des Projekts werden jedoch nicht formuliert. Die ausführliche Planung findetimmer nur für den unmittelbar bevorstehenden Abschnitt statt, der tatsächlich gutbeleuchtet werden kann, wie es mit dem Bild des Autoscheinwerfers angedeutetwird: Eine Strecke wird bewältigt, dann gerät der nächste Abschnitt ins Schein-werferlicht und kann genauer ausgeleuchtet werden. Unvorhergesehenes, situativeErfordernisse, Anpassungen an die Kundenwünsche etc., all dies lässt sich in derZieldefinition zum neuen Streckenabschnitt berücksichtigen. Das heißt auch, dasssich die Ziele dynamisch weiterentwickeln können. Ein Ansprechpartner erklärt dieVorteile des Prinzips folgendermaßen:

„Du weißt, wo du hin willst. Du weißt aber noch nicht ganz genau, was da ist, ob der Wegso oder so ist, das weißt du ja alles noch nicht. Du fährst mit deinem Auto in der Nacht ent-lang und du berücksichtigst genau die Dinge, die dein Scheinwerferlicht ausleuchtet. Umdie kümmerst du dich. Und wenn du dann weiterfährst, interessieren dich die Dinge, dieniemals in dein Scheinwerferlicht eintreten, schlichtweg nicht. Das ist dieses Prinzip ,travellight‘! Das ist ganz wichtig, denn bei den herkömmlichen Softwareentwicklungsmethodenaus der Vergangenheit musste man erst einmal 500 Seiten Spezifikation irgendwelcher Artund Dokumentationen schreiben. Dann stellt sich natürlich die Frage: ,Was ist davon not-wendig und was ist davon nicht notwendig?‘ Folgende Extreme gab es in der Historie: dieeinen, die so einen Wust machen. Und die anderen, die mit dem Aufkommen der agilenEntwicklung in das andere Extrem geschwungen sind und gar nicht mehr spezifiziert ha-ben. Da hast du genau das gleiche Chaos, nur ist es anders entstanden. Travel light ist hierdie Lösung!“

In der Praxis wird dies beispielsweise mithilfe des im Scrum-Prozess beschrie-benen Product Backlog, in dem alle bekannten Anforderungen festgehalten werden,umsetzbar. Im Product Backlog werden die nächsten Arbeitsschritte, aber nicht dergesamte Arbeitsprozess bis zum fertigen Produkt festgelegt. So können auch detail-lierte Anforderungen an das Produkt im Laufe des Arbeitsprozesses verändert wer-den. Die offene Vorgehensweise im Product Backlog funktioniert folgendermaßen:Alle „Stakeholder“ können sich an der Sammlung von Anforderungen beteiligenund es können während des gesamten Entwicklungsprozesses neue Anforderungenformuliert oder alte umformuliert werden. Die Anforderungen werden im ProductBacklog niedergelegt und im nächsten Sprint berücksichtigt. Während eines Sprintswird das Entwicklerteam allerdings nicht durch neue Anforderungen gestört. Das

6 Management des Informellen durch Kooperativen Erfahrungstransfer 131

Product Backlog entwickelt sich so mit dem Produkt und mit der Umgebung, inder das Produkt eingesetzt werden soll. Es ermöglicht ein offenes Verfahren, dasdennoch Systematisierung und Orientierung bewerkstelligt (den Darstellungen derProjektpartner zufolge).

Im agilen Prozess sind die Entwickler für die Zeitplanung und die Organisa-tion ihrer Arbeit verantwortlich. Wenn die Entwickler selbst den Aufwand ihrerArbeit abschätzen können, sind sie weniger „fremdbestimmt“. Damit steigt aberauch die Verantwortung zur Erledigung der vorliegenden Aufgabe gegenüber demTeam. Dazu verweist der Projektleiter auf Entwickler, die sich in einem klassischenEntwicklungsprozess auf Kosten ihrer Kollegen bequem einrichten können. Übli-cherweise gibt es in Teams diejenigen, die Überstunden machen und Termine retten,und es gibt solche, die Dienst nach Vorschrift machen. In einem agilen Prozesskönnen sich die Mitarbeiter dagegen nicht mehr auf den Standpunkt zurückziehen:„Ich habe euch doch schon immer gesagt, dass die Termine, die ihr einteilt, nichtrealistisch sind.“ Die Mitarbeiter werden stärker involviert und oftmals wird dieAufgabe dann auch als persönliche definiert. Dadurch, dass sich alle Mitglieder desEntwicklungsteams in die Zielformulierung einbringen, fühlen sich die Entwicklerauch mehr dem Gesamtziel verbunden. Diese Verbundenheit ist eine Voraussetzungfür gestalterische Innovationsarbeit – es ist aber auch Vorsicht bezüglich neuer Be-lastungsmomente geboten.19

6.4.2 Mitarbeiter involvieren – realistische Ausgangswertemit spielerischen Planungsverfahren ermitteln

„Estimation Poker“ ist ein in der Praxis entwickelter Ansatz, mit dem die Pla-nung in der Innovationsarbeit gewissermaßen spielerisch umgesetzt wird. Dieserin agilen Entwicklungsprozessen entstandene Ansatz wurde praktisch unter ande-rem wie folgt angewandt und weiterentwickelt:20 Die an der Entwicklungsaufgabebeteiligten Mitarbeiter geben für die nächste Iteration (den nächsten Entwicklungs-

19 Mit der gewachsenen Verantwortung können kritische Folgen wie die Entgrenzung von Arbeitund Leben oder eine Selbstintensivierung bis hin zum Burn-out als neuer Volkskrankheit insbeson-dere im Sektor hochqualifizierter Arbeit auftreten. Die Forderung nach Verantwortungsübernahmeund Involvement der Mitarbeiter ist somit eine Seite der Medaille. Vorbeugung und Interventionenbezüglich der negativen Nebeneffekte wäre die andere (vgl. Abschn. 6.6).20 James Grenning spricht von Schätzverfahren für folgende Zielgrößen: zum einen die Iterations-planung als kurzfristige und detaillierte Planung, wie etwas zu implementieren ist. Zum anderendie Releaseplanung, die auf höherer Ebene angesiedelt ist und einen längeren Horizont erfassensoll. Hier ist die Planung sehr viel weniger präzise, es geht um die Aufteilung des Produktes inmachbare Teile. Thema ist also die Absteckung der Möglichkeiten (Grenning 2002, S. 1). Derweitere grundlegende Autor für das Verfahren, Cohn, unterscheidet zwischen folgenden Schätz-verfahren: Expertenmeinung, Schätzung durch Analogien und Auflösung einer Geschichte inkleinere, einfacher zu schätzende Einheiten. Er beschreibt auch verschiedene Gestaltungsmög-lichkeiten des Planning Poker (Cohn 2005, S. 54 ff.).

132 S. Porschen

schritt) ihre persönliche Einschätzung zum Arbeitsaufwand ab: Wie lange brauchtjeder für seine Teilaufgabe? Wie lange wird das gesamte Teilvorhaben im Teamdauern? Diese Einschätzung schreiben die in einer gemeinsamen Runde sitzen-den Mitarbeiter verdeckt auf eine Karte, die sie umgekehrt auf den Tisch legen. Istdies geschehen, werden die Karten umgedreht und die Mitarbeiter mit dem höchs-ten und dem niedrigsten angegebenen Wert werden gebeten zu erzählen, wie siezu dieser Einschätzung gekommen sind. Anschließend wird das Verfahren wieder-holt. Erfahrungsberichten zufolge gleichen sich die Werte in der zweiten Runde inder Regel stark an (in die eine oder andere Richtung, je nachdem, was dem Teamplausibler erscheint). Aus den dann vorliegenden Werten lässt sich ein Mittelwertableiten. Damit eröffnet sich zum einen ein effizientes Schätzverfahren, wie es einbekannter Vertreter der Methode herausstellt: „The team can focus its energy onthe difference and not waste valuable time on where they already agree. I haveseen this positively impacted the team’s story estimation velocity. Instead spen-ding 10, 20, or 30 minutes on each story, most stories estimates took a minuteor so“ (Grenning 2002, S. 2 ff.). Zum anderen dient „Estimation Poker“ darüberhinaus als Stimulus für den Austausch von Erfahrungswissen. Die Beteiligten mitden extremsten Werten müssen ihre Einschätzungen begründen, bevor es in dieneue Schätzrunde geht. Damit werden die am stärksten differierenden Vorstellun-gen transparent und Lernprozesse können angestoßen werden. Das Vorgehen hebtsich zudem von üblichen Managementmethoden ab, da erstens in der Regel allean der Umsetzung beteiligten Mitarbeiter in die Aufwandsschätzung einbezogenwerden und zweitens keine Feinplanung zu Beginn des Projektes stattfindet, wohlaber regelmäßige, dem Entwicklungsverlauf angepasste Einschätzungen. Der ent-sprechende Experte sieht darin auch einen maßgeblichen Grund für erfolgreicheProjekte:

„Estimation Poker ist jetzt nicht ein zentraler Bestandteil vom Scrum, kann man jedochdazu nehmen. Aber was man ganz allgemein sagen kann: Realistische Abschätzungen fürArbeitsaufwände zu geben und die Hoheit bei den Ausführenden zu lassen, das ist für micheiner der Kernpunkte von jedem agilen Prozess. Also überhaupt mal zu erkennen, dassAbschätzen was ganz Wichtiges ist. Das ist in klassischen Managementprozessen überhauptnicht der Fall. Eines der wesentlichen Dinge – wie teuer ist mein Projekt und wie langedauert es – ist völlig unterbelichtet in den klassischen Managementmethoden. Das machtman ganz zu Anfang und danach läuft es dann irgendwie so vor sich hin und ganz zumSchluss merkt man: ,Das Projekt ist ja gescheitert, wieso eigentlich?‘ Genau Gegenteiligesfindet bei agilen Prozessen statt!“

Es darf aber nicht unterschätzt werden, dass Mitarbeiter nicht immer bereit sind,in einen solchen Prozess einzusteigen:

„Da gab es zum Beispiel so einen Fall – ein Team, das gar keine Selbstorganisation wollte.Wir haben die zur Entwicklungszeit gefragt: ,Wir haben vor ein paar Monaten vier Stundenangesetzt. Nach eurer neuesten Erkenntnis dauert es immer noch vier Stunden. Müssen wirnicht mehr oder weniger schätzen?‘ Da schauen die Leute in die Luft!“

Für Fehlentwicklungen, die das IT-Dienstleistungsunternehmen von der Unter-nehmensleitung im Industrieunternehmen ausgehen sieht, wurde im Projekt KES-

6 Management des Informellen durch Kooperativen Erfahrungstransfer 133

MI das „Inverse Estimation Poker“ entwickelt. Es kann zum Überdenken von Ent-scheidungen anregen. Die Handhabung geht aus der folgenden Schilderung hervor:

„In relativ kritischen Projekten habe ich irgendwann angefangen, mit der Unternehmens-leitung das Eskalationsspiel durchzuführen: ,Was machen wir, damit der Prozess an dieWand fährt? Was tun wir, wenn wir das Projekt nicht retten wollen?‘ Das kann in Projektennotwendig werden, in denen äußerst kritische Entscheidungen gefällt werden. Mit diesemspielerischen Ansatz kann man sehr gut aufzeigen, was falsch läuft. Er hilft zu erkennen,dass die eine oder andere getroffene Entscheidung doch noch zu überdenken ist!“

6.4.3 Austauschkultur I – Koordination, Informationsflussund Austausch in Meetings

Wie oben angemerkt, sind für den Austausch von Erfahrungswissen – den Koopera-tiven Erfahrungstransfer – vielfältige Austauschmöglichkeiten wichtig. Deshalb istes zu Projektbeginn immer notwendig, die Austauschkultur in den Unternehmen,in denen die Entwicklung stattfinden soll, genauer zu betrachten. Ein erster Vorge-hensschritt bei Beginn eines Projektes besteht für das Partnerunternehmen deshalbin der Erhebung der jeweils vorherrschenden Meetingkultur in den Unternehmen.Je nach dabei vorgefundenen Austauschplattformen, Freiräumen und Reflexions-möglichkeiten gilt es, Maßnahmen zur Sicherung der verschiedenen Anforderungenan Kommunikation zu ergreifen. Häufig werden dann Planning Meetings, DailyStand-up Meetings in intensiven Entwicklungsphasen, Review Meetings nach ei-nem Sprint oder Retrospektive Meetings eingeführt.

Die ,Planning Meetings‘ als Planungstreffen zu Beginn jedes Entwicklungsab-schnitts (Sprint) sind nicht nur in diesem Kontext relativ übliche Veranstaltungen,die deshalb nicht weiter thematisiert werden müssen. Dagegen stellen die kurzenDaily Stand-up Meetings (wie oben bereits erläutert) eine spezielle Kommunika-tionsplattform dar. Aus der Untersuchung geht hervor, dass den Entwicklerteamseine darüber hinausgehende Möglichkeit zu einer umfassenden Reflexion der Ent-wicklungsschritte und der abgeschlossenen Entwicklung häufig fehlt. Genau diesist der Sinn und Zweck des Retrospektiven Meetings. Es ist als Raum für offeneRedekultur – vor allem auch über Fehlentwicklungen – konzipiert. Kritik, Refle-xionen zum Vorgehen, Hinweise auf soziale Spannungen können – ja sollen – hierthematisiert werden. Dementsprechend sind hier Verfahren wie Open Space wirk-sam. Hierzu werden beispielsweise drei Stühle aufgestellt, auf denen die Teilnehmersitzen, die etwas dazu sagen dürfen. Wenn jemand aufsteht, setzt sich jemand ande-rer, der etwas zu sagen hat, auf den frei gewordenen Platz. Das bringt Dynamik indie Reflexionssituation und erübrigt die Rednerliste. Da die gewünschte Offenheitim Retrospektiven Meeting „verletzbar“ machen kann, muss dieses als „geschütz-ter Raum“ konzipiert werden (vgl. hierzu Abschn. 6.6). Der Coach schätzt dieRetrospektiven insbesondere auch zur Beantwortung der Frage, wie viel Selbstor-ganisation ein Team „gut tragen kann“:

134 S. Porschen

„Wie viel Selbstorganisation das Team verträgt – dazu gibt es das Element der Retrospek-tiven, wo es nicht um Reviews am konkreten Objekt geht, an dem ich jetzt gerade arbeite.Es geht um die Metaebene darüber: Wie ist unsere Art des Zusammenarbeitens? Sollen wirdie anpassen? Ein guter Product Owner, oder wie wir diesen Menschen auch immer nennenwollen, sollte asynchron getaktet zu dem Projekt alle Vierteljahre mal sagen: ,Jetzt machenwir einen halben Tag nur Brainstorming: Was können wir besser machen an unserer Zusam-menarbeit an sich?‘ Wenn er dann das Gefühl hat, jetzt wollen die mehr Selbstorganisationhaben, kann das sofort gemacht werden. Sie kann aber nicht übergestülpt werden, das istganz wichtig!“

Das Retrospektive Meeting ist eine prinzipiell interessante Möglichkeit, der Ar-beitsatmosphäre nachzugehen und an ihr zu arbeiten. Bei entsprechend sensiblerBegleitung entsteht hier die Chance zur Arbeit an konstruktiven Bedingungen zurFörderung der künstlerischen Haltung, der erfahrungsgeleiteten Handlungsweiseund einer spielerischen Situationsdefinition.

Insgesamt sind Versuche zu verzeichnen, zum Beispiel durch eine Timebox fürMeetings, aber auch durch ausgewogene Verfahren für die Meetingteilnahme undRederechte (in der agilen Entwicklung fällt hier unter anderem das Stichwort „chi-ckens and pigs“)21 adäquate Anpassungen der bestehenden Meetingkultur für einenverbesserten Austausch von Erfahrungswissen herbeizuführen. Im Blick bleibt da-bei die Gefahr einer ineffizienten Meeting-Euphorie, die mit einer zu häufigen Ein-berufung von Meetings leicht einhergehen kann (vgl. Bolte et al. 2008). Wie dieErfahrungen des Entwicklerunternehmens zeigen, gilt es generell ein Auge daraufzu richten, was tatsächlich gelebt wird und lebbar ist. Es ist kaum möglich undauch nicht immer sinnvoll, alles nach Lehrbuch zu gestalten. So ein Projektbeglei-ter: „Manchmal ist es gut, wenn das Daily Meeting einmal wöchentlich stattfindet!“Wichtig ist es eben auch, genügend Freiraum für die Entwickler einzurichten, also„gestaltete Offenheit“ ernst zu nehmen.

6.4.4 Austauschkultur II – Genese und Transfer vonErfahrungswissen in informellen Kooperationsmodellen

Die Verständigung über die Planung eines Projektes oder den Stand der Entwick-lung sowie über auftretende Probleme stellt nur einen Bruchteil des Wissensprozes-ses dar. Zur Innovationsarbeit gehören vor allem auch die Genese und der Austauschvon in weiten Teilen implizitem Erfahrungswissen bei der laufenden Entwicklungs-

21 Im Rahmen von Scrum und anderen agilen Ansätzen wird die Fabel von „Chickens“, die dietägliche Arbeit erledigen, und „Pigs“, die für das Gelingen des Projektes verantwortlich sind,als Metapher für die Balance zwischen verschiedenen Mitgliedertypen eines Teams verwendet.Hier sollte ein ausgeglichenes Verhältnis bestehen. Jeder muss seinen Beitrag leisten und hat ent-sprechende Mitspracherechte. Die Scrum-Methode kennt neben „Chicken“ und „Pig“ auch den„Rooster“, den Gockel. Dieser ist, im Gegensatz zu „Chicken“ und „Pig“, für den Projekterfolgaufgrund seines aufgeplusterten Auftretens und seiner uninformierten, wenig hilfreichen Kom-mentare hinderlich.

6 Management des Informellen durch Kooperativen Erfahrungstransfer 135

und Innovationsarbeit. Der Coach und Trainer schildert die Art der Kommunikati-on, die dabei stattfinden kann:

„Warum funktioniert das mit dem impliziten Wissen? Da verbinde ich das Phänomen derSynchronizität mit. Man lässt sich auf den anderen ein und man schwingt sich auf den an-deren ein und lässt sich auf Dinge – auch Verhaltenskodices – ein, die einem selbst fremdsind. Man schwingt mit ihm, man ,pacet‘ mit ihm und dadurch entsteht ein Kommunikati-onskanal, der liegt vielleicht sogar jenseits des wissenschaftlich Erfassbaren. Also, ich fangan, mit Leuten, die gerne reden, viel zu reden, und mit Leuten, die schweigen, schweig ichgerne.“

Dieser Wissensprozess findet besonders im „Erlebnisraum“ der konkreten Tä-tigkeit und beim tatsächlichen Tun am Arbeitsgegenstand statt. Den Austausch vonErfahrungswissen am Arbeitsgegenstand zeichnen Unmittelbarkeit, direkte Nach-vollziehbarkeit und vor allem die Möglichkeit zur empraktischen Kommunikationmit dem Quasi-Akteur Arbeitsgegenstand aus (vgl. Porschen 2008, S. 196 ff.). Dieskann durch das in den agilen Entwicklungsprozessen vorfindbare Kooperationsmo-dell „Paarprogrammierung“ für die konkrete Programmierarbeit und das über agi-le Entwicklungsprozesse hinausgehende „Hospitationsmodell“ (Bolte u. Porschen2006, S. 107 ff.) zum Kennenlernen der Wissenswelten im Anwendungskontext un-terstützt werden.

6.4.4.1 Paarprogrammierung

Bei der Paarprogrammierung22 arbeiten entweder zwei Softwareprogrammiereroder in der erweiterten Version ein Software- und ein Hardwarespezialist (Domä-nenexperte) zusammen an einem Rechner. In dem ersten Fall wird beispielsweisegemeinsam ein neuer Quellcode erstellt oder ein Unit-Test durchgeführt. DiePartner schauen sich gegenseitig „auf die Finger“, sie kommentieren die Arbeitdes anderen und bringen gegebenenfalls Ergänzungen ein. So wird es möglich,rechtzeitig Fehler des anderen zu entdecken und diese gemeinsam zu korrigieren.Außerdem wird ein in den Arbeitsprozess eingebetteter und gegenstandsvermittelterWissensaustausch unter Einbezug des auf dem Monitor ersichtlichen „wachsendenProdukts“ möglich. Das Kooperationsmodell „Paarprogrammierung“ dient alsoals eine unmittelbare Verständigungsbrücke bei der Entstehung des gemeinsamenKnow-hows (vgl. Abschn. 6.4.5).

Mit dem Kooperationsmodell können in der erweiterten Version (zweiter Fall)auch Know-how-Unterschiede zwischen Experten verschiedener Disziplinen effek-tiv abgebaut werden, so der Geschäftsführer, der das Modell gerne einsetzt: „Wennsich jemand beispielsweise in einer bestimmten Domäne und jemand anderer ineiner bestimmten Technologie gut auskennt – und in der Domäne bestimmte Tech-nologien benutzt werden sollen, dann setzt man den Domänenexperten mit dem

22 Vgl. zu „Pair Programming“ auch Cockburn 2007, S. 105 ff., der dazu Arbeitsplatzsettings mitihren jeweiligen Chancen für Kommunikation detailliert darstellt.

136 S. Porschen

Technologieexperten einfach an einen Rechner.“ Dafür wird im agilen Entwick-lungskontext die Beschreibung „dynamic duo“ angeführt (Cockburn 2007, S. 83).

Die positiven Eigenschaften der Paarprogrammierung liegen vor allem darin,dass man „im (gemeinsamen) Tun“ sieht, wo das Problem liegt, und dieses Pro-blem dann auch gleich klären und abhaken kann. So ein Trainer: „Es gibt nichtdie Zeitverschiebung, die normalerweise entsteht, wenn einer eine Information vonjemand anderem braucht.“ Hierzu ist in der Literatur von einem „line-of-sight-and-hearing-learning“ die Rede (Cockburn 2007, S. 83). Der Gewinn dieser Art derZusammenarbeit liegt des Weiteren in der Möglichkeit zur Perspektivenübernah-me, wie eine Entwicklerin schildert:

„Zum einen fiel es mir nachher leichter, mich in Leute hineinzuversetzen, die noch nicht soweit sind. Man geht gerne davon aus, wenn man Leute nicht kennt, dass die genauso sindwie man selbst. Und dann stellt man fest, hm – der andere weiß zwar fachlich alles – beimProgrammieren macht er aber Fehler. Man denkt: ,Das habe ich dir doch gestern erklärt,warum machst du es schon wieder falsch?‘ Ich habe gelernt, dass es da keine Kausalzu-sammenhänge gibt.“

Schließlich schult die unmittelbare Zusammenarbeit auch dafür, wie man jemandanderem vernünftig Arbeit zuteilen kann. „Es ist auch nicht einfach zu sagen, wannüberfordere ich jemanden, wann unterfordere ich jemanden?“ Stellt sich schließlichdie Frage, was die Paarprogrammierung in Bezug auf das Arbeitsergebnis bringt:„Man lernt sehr viel dabei, wenn man etwas zu zweit tut, z. B. die verschiedenenMechanismen.“ Ein anderer Entwickler erläutert: „Ich bin jemand, der lernt, wennich was tue. Ich lerne auch was, wenn mir jemand was erzählt. Aber ich lerne nichtsNennenswertes, wenn ich was lese.“

Zugleich gibt es die Warnung, sich nicht aus ,Jux und Tollerei‘ zu zweit andieselbe Arbeit zu begeben. Zeitmanagement und Abwägung des Erfolges der ge-meinsamen Programmierarbeit sind die Paarprogrammierung begleitende Heraus-forderungen: „Man muss bei der Sache natürlich auf alle Fälle aufpassen, dass esnicht zu viel Zeit kostet.“ Das kann durchaus im Interesse der Entwickler liegen,wie diese Aussage zeigt: „Für mich selber ist es immer sehr wichtig, dass ich un-terschiedliche Dinge tue. Ich könnte mich jetzt nicht Vollzeit daneben setzen undnichts anderes mehr tun. Das ginge nicht. Was ich hier sehr schätze, ist, dass esunterschiedliche Aufgabengebiete gibt.“

Diese Art des Austausches muss nicht auf das gesondert eingeführte Koopera-tionsmodell „Paarprogrammierung“ beschränkt bleiben. Die gemeinsame Verstän-digung am Arbeitsgegenstand als zentrale Grundlage für den kooperativen Erfah-rungstransfer kann auch bei spontanem informellem Austausch stattfinden (vgl.Bolte u. Porschen 2006, S. 69 ff.):

„Was häufiger mal vorkommt, ist, dass man irgendwie einen halben Tag oder einen Tagmit jemandem zusammensitzt oder daneben sitzt und betrachtet, was der gerade treibt. Dakriegt man wieder eine neue Perspektive: Wie geht jemand vor, der noch nicht die Erfahrunghat, die man selbst hat? Wo bekommt er noch Probleme oder stolpert über welche, wo manselbst eigentlich sagt: Erledigt!?“

6 Management des Informellen durch Kooperativen Erfahrungstransfer 137

Ein anderer Entwickler berichtet:

„In den meisten Fällen ist es so, dass jemand auf Sie zukommt mit einer Fragestellung:,Wie kann ich das und das lösen?‘ Und wenn Sie es nicht in zwei Sätzen erklären können,gehen Sie am besten an den Arbeitsplatz und schauen sich das gemeinsam an. Idealerweiseist es nicht so, dass man sich die Tastatur schnappt und sagt: ,Schau mal, das geht dochganz einfach.‘ Man sollte versuchen, durch Nachfragen, durch Hinterfragen den anderendazu zu bekommen, dass er es vernünftig löst.“

Das „Management des Informellen“ funktioniert, wenn eine solche informelleKommunikation und Kooperation im Unternehmen akzeptiert wird. Mit der Etablie-rung eines Modells „Paarprogrammierung“ wird der unmittelbare und informelleWissensaustausch offiziell anerkannt. Für Unternehmensorganisationen stellt es zu-dem ein Mittel zur Vermeidung von „Kopfmonopolen“ und „information hiding“dar. Dennoch finden sich in der Praxis auch skeptische Haltungen:

„In einem Projekt hatten wir es wirklich einmal so aufgeteilt, dass ein Seniorentwickler miteinem Juniorentwickler in Zweierbezügen gearbeitet hat. Der Seniorentwickler hat in demFall das meiste gemacht und die Arbeit überprüft. Trotz Unerfahrenheit mit einer solchenZusammenarbeit hätte dies viel gebracht – wenn nicht ein neuer Projektleiter wieder allesauf den Kopf gestellt und plötzlich die Aufgaben neu verteilt hätte.“

Trotz der vielfach vorgefundenen Skepsis bestätigen die Beispiele nicht nur fol-gende Feststellung Cockburns: „Groups who practice pair programming report fas-ter learning of both programming techniques and problem domain, als well as fastercode production and lower defect rates“ (Cockburn 2007, S. 83). Sie verweisen dar-über hinaus auf ein wirkungsvolles Instrument für den Austausch expliziten undimpliziten Erfahrungswissens.

6.4.4.2 Hospitationsmodell

Ein weiteres Modell, das sich für den Wissensaustausch in Unternehmen bewährt,ist das Hospitationsmodell. Es wurde bisher weder in Scrum noch in anderen agilenAnsätzen systematisch berücksichtigt.

Hospitationen sind ein erprobtes Kooperationsmodell, in dem Beschäftigte an-dere Abteilungen und deren Arbeitsweisen, Problemstellungen und handelnde Per-sonen näher kennen lernen können. Wehner, Clases und Endres, die zwischenbe-triebliche Hospitationen empfehlen, erläutern deren sinnvollen Einsatz „in jenenBereichen, mit denen ein koordinierter Ablauf bei räumlich getrennter Organisa-tionsstruktur gewährleistet sein muss. Kennengelernt werden sollen dabei jedochnicht nur die verschiedenen Koordinationsstrukturen, sondern die potenziellen Ko-operationspartner“ (Wehner et al. 1996, S. 73). Diese Zielsetzung ist besondersmit Blick auf den damit möglichen Perspektivenwechsel auch innerhalb von Un-ternehmen wichtig, aber keineswegs selbstverständlich (Bolte u. Porschen 2006,S. 107 ff.). In diesem Beispiel bewährt sich das Hospitationsmodell im Zwischen-raum überbetrieblicher und betrieblicher Kooperation: Unternehmensübergreifend

138 S. Porschen

wird die Hospitation für die in Kundenprojekten tätigen Entwickler und abteilungs-übergreifend für die im Kundenunternehmen einbezogenen Entwickler eingesetzt.Wenn Entwickler in Fachabteilungen hospitieren, für die sie etwas entwickeln sol-len, können sie vor Ort den Entwicklungsgegenstand und die Eigenheiten des Kon-textes ,spürbar‘ kennenlernen. Der Besuch beispielsweise einer Anlage, die softwa-retechnisch gesteuert werden soll, kann zum Nachvollzug des Prozesses und zurEntwicklung eines Bildes von den spezifischen Anforderungen äußerst hilfreichsein. Jedoch sind die Hospitationen weder selbstverständlich noch immer ohne wei-teres zu realisieren, wie ein Programmierer schildert:

„Bei dem Kunden XY wäre es schon so, dass man theoretisch was vorführen könnte. Mankönnte die Entwickler ins Lager bringen, um dort zu zeigen, wie ein Wareneingang bear-beitet wird. Das findet aber leider nicht statt. Es ist bei den Retrospektivmeetings zu demProjekt angesprochen worden, dass es durchaus wünschenswert wäre, Leute, die neu insProjekt kommen, genau das mal machen zu lassen: durch das Lager zu gehen, um sagenzu können, so sieht eine Wanne wirklich aus. Oder um erklären zu können: ,Es geht dar-um, dass das Material hier in eine Wanne und dann auf ein Band kommt.‘ Das sind allesFachbegriffe, die sie mit der Zeit langsam mitkriegen, die sie aber theoretisch mit einemzweistündigen Besuch in diesem Lager erledigen könnten. Dann hätten sie ein Bild vorAugen.“

Er stellt weiter dar: „Also für mich war das fachlich vollkommen neu und vondaher wäre es schön gewesen, wenn es so eine Veranstaltung gegeben hätte.“

Das Kooperationsmodell bewährt sich auch für den Perspektivenwechsel – so derGeschäftsführer: „Das Hospitationsmodell ist einfach, aber effektiv: Wie sonst kanndie Brille des Anwenders, die Benutzersicht besser vermittelt und nachvollzogenwerden als beim Über-die-Schulter-Gucken vor Ort?“

6.4.5 Das „wachsende Produkt“als Wissen vermittelnder Gegenstand

In der agilen Entwicklung ist vorgesehen, dem Kunden relativ zügig vorzeigba-re Zwischenstände vorzulegen, um sich zu Anforderungen und Entwicklungsper-spektiven möglichst konkret austauschen zu können. Das sogenannte „Prototyping“macht für alle am Projekt Beteiligten (Kunde, Programmierer etc.) Kommunika-tion am Arbeitsgegenstand möglich. Der mit dem Prototyp jeweils vorliegendeArbeitsstand zeigt auf, ob die Entwicklung in die richtige Richtung geht oder ob dieeinzelnen Beteiligten insgeheim unterschiedliche Vorstellungen und Auffassungenzum Produkt haben.23 Mit der sinnlichen Wahrnehmung des Arbeitsgegenstandes

23 In der agilen Softwareentwicklung werden nicht wie in klassischen Vorgehensmodellen ver-schiedene Aspekte wie Modellierung (Analyse und Entwurf) und Entwicklung (Test und Program-mierung) zeitlich über Phasen verteilt. Die vier Aktivitäten der Softwareentwicklung (Coding,Testing, Listening, Designing) treten vielmehr in jeder Iteration eines Lebenszyklus auf, in diedieser unterteilt wird.

6 Management des Informellen durch Kooperativen Erfahrungstransfer 139

wird so eine weitergehende Imagination des Verwendungszusammenhangs mög-lich und die nächsten notwendigen Arbeitsschritte werden deutlicher. Im Sinneder Zieldefinitionen nach dem Prinzip des „travel light“ ist die Präsentation desZwischenstandes eine Reisestation, von der aus der Scheinwerfer auf die nächstenArbeitsschritte gerichtet werden kann.

Die gebräuchliche Bezeichnung Prototyping kann heißen, ein Demonstrations-objekt zusammenzubauen, um es dem Kunden zu zeigen und es dann wegzuwerfen.In der Softwareentwicklung wird in der Regel aber kein Modell zur Demonstrati-on der Funktionsfähigkeit erstellt, sondern ein konkretes Produkt Schritt für Schrittbis zu seiner endgültigen Reife entwickelt. Passender ist deshalb die Bezeichnung„wachsendes Produkt“: Im Idealfall gibt es daher keinen Prototyp im Sinne einesWegwerfprodukts, vielmehr ist der Prototyp von Anfang an die Keimzelle des ferti-gen Produkts! Die lauffähigen Zwischenstände des „wachsenden Produkts“ könntenim Prinzip auch ausgeliefert werden, wie der Praxisbericht plastisch aufzeigt:

„Die Prototypen hatten einzig und allein diesen Zweck, eine Evaluierung zu machen, einNäherkommen in den Vorstellungen, eine Produktidee zu finden. Das ist meines Wissensnicht der Kernpunkt von dem, worum es bei der Agilität geht. Sondern da geht es darum,Anforderungen, die notwendigerweise entstehen und umgesetzt werden, gleich im Tun zuerkennen und abzugleichen. Der Idealfall ist, dass es da gar keinen Prototyp im Sinne einesWegwerfzwischenprodukts gibt, sondern dass es von Anfang an die Keimzelle des fertigenProdukts ist. Weil aber viele Leute den Begriff Prototyp als dieses kurzlebige Wegschmeiß-produkt sehen, würde ich diesen Begriff gar nicht mehr verwenden.“

Gleichzeitig dient das „wachsende Produkt“ als Kommunikationsbrücke undVergegenständlichung der Ideen der Entwickler und ermöglicht einen gegenstands-vermittelten Wissensaustausch. Verständigung kann hier „empraktisch“ gelingen.Diese Form der Kommunikation ist in die außersprachlichen Handlungen verfloch-ten und bezieht hieraus ihren Sinn. Es bedarf hier nicht in erster Linie einer exaktenverbalen Beschreibung, die anspruchsvoll und oftmals eben auch missverständlichist (Habscheid 2001, S. 19; Porschen 2008, S. 206). Das wachsende Produkt wirdvielmehr zum Quasi-Akteur, der nicht nur besprochen wird, sondern gewisserma-ßen für sich spricht (vgl. Porschen 2008, S. 201). Darüber wird auch der Austauschdes nicht ohne weiteres zu explizierenden impliziten Erfahrungswissens möglich.

In der speziellen Ingenieurdisziplin Softwareentwicklung ist der (Bau-) Planschon fast das fertige Produkt. Die Phase des Marketings und der Produktentste-hung ist gegenüber klassischen Produkten und Anlagen (Hardware) stark verkürzt.Damit ist das Konzept des „wachsenden Produkts“ auch nicht ohne weiteres aufandere Bereiche übertragbar. Eine weitere Grenze der Orientierung im Projekt mit-hilfe „wachsender Produkte“ entsteht durch Formen gängiger Auftragsabwicklungund Vertragsgestaltung. Typischerweise werden für die Auftragsentwicklung Werk-verträge abgeschlossen, bei denen der Auftragnehmer die gewünschte Entwick-lungsleistung zu einem festen Preis anbietet. Dieses Vertragsmodell geht von einemwasserfallartigen Vorgehen aus: Der Kunde formuliert seine Anforderungen in ei-nem Lastenheft, der Auftragnehmer spezifiziert seinen Lösungsvorschlag in einemPflichtenheft. Beide Dokumente sind Bestandteil des Vertrages, spätere Änderun-

140 S. Porschen

gen am zu erstellenden Produkt wirken sich unmittelbar auf den Vertrag aus undsollten nach Möglichkeit vermieden werden. Ein wachsendes Produkt passt in die-se Vertragsverhältnisse nicht hinein. Die Praxis zeigt jedoch, wie ausgesprochenproblematisch eine Spezifikation für ein komplexes Produkt ist. Eine Spezifikationso eindeutig zu erstellen, dass beide Seiten dasselbe Verständnis von der zu ent-wickelnden Software haben, ist anspruchsvoll und nicht selbstverständlich. Häufigkommt es deshalb zu Streitigkeiten zwischen den beteiligten Parteien, welche kon-kreten Leistungen im ursprünglichen Preis enthalten sind und welche nicht. Einervon beiden, Auftragnehmer oder Auftraggeber, zahlt am Ende – abhängig vom je-weiligen Verhandlungsgeschick – häufig drauf.

Eine vertragliche Lösung zur Erstellung eines wachsenden Produkts liegt mitAbschluss eines Dienstleistungsvertrages vor, in dessen Rahmen die Entwicklungs-leistung in Form der dafür aufgebrachten Arbeitszeit bezahlt wird. Alternativ wirdeine vertragliche Mischform vorgeschlagen, bei dem ein Rahmenvertrag die allge-meine Zusammenarbeit regelt und jede Iteration quasi als Werk in Auftrag gegebenwird (vgl. Beck 1999).

6.4.6 Agilität und kooperativer Erfahrungstransferals Herausforderung an das Coaching

Neben Kooperationsmodellen und der Berücksichtigung des „wachsenden Pro-dukts“ als Möglichkeit zum gegenstandsvermittelten Austausch kann der koopera-tive Erfahrungstransfer zudem durch eine reflektierte Begleitung der Entwicklungs-prozesse gefördert werden. In direkten Schulungs- und Trainingsveranstaltungenstellen sich spezielle Herausforderungen, wobei neue Didaktik- wie Lernkonzepteein weites Feld darstellen, das hier nicht generell vertieft werden soll.24 In diesemAbschnitt werden bewährte Gestaltungsansätze für Schulungen im Rahmen agi-ler Entwicklungsprozesse vorgestellt. Es handelt sich hierbei um Schulungen, diespeziell auf die Kunden zugeschnitten und meistens an eine heterogene Gruppegerichtet sind. Inhalte beziehen sich auf die Realisierung von Embedded Systems,Softwarearchitekturen und die Vermittlung des agilen Prozesses. Die im Folgendenvorgestellten Zugänge lassen sich gewissermaßen auch als Agilität in klassischenLernarrangements bezeichnen. Welche Möglichkeiten hat der Coach zur Förderungder künstlerischen, erfahrungsgeleiteten und spielerischen Innovationsarbeit? Dies

24 In die Lernkonzepte in dem hier beschriebenen Kontext fließen vor allem auch Erkenntnisse ausder Suggestopädie (Lozanov 1978) und dem „Sensual Learning“ ein. Diese Konzepte setzen aufden Einbezug der verschiedenen Sinne und auf unterschiedliche Wahrnehmungsmöglichkeiten,womit auch Informationen wie Akustik, Kinästhetik etc. einbezogen werden. Im Förderprogrammdes BMBF gab es zum Thema Lernen in der Arbeitswelt eigens das Forschungs- und Entwick-lungsprogramm „Lernkultur Kompetenzentwicklung“, weitergeführt als „Kompetenzentwicklungund lebensbegleitendes Lernen“.

6 Management des Informellen durch Kooperativen Erfahrungstransfer 141

lässt sich auch auf Führung übertragen. Im Speziellen geht es um die Sensibilisie-rung der Mitarbeiter für die Besonderheiten der Tätigkeit und um ihre adäquateBegleitung in Lernprozessen.

Zur Sensibilisierung für die Eigenheiten expliziten und impliziten Wissens seihier ein Beispiel einer „spielerischen“ Vermittlung genannt: Dazu eignet sich ei-ne exemplarische Aktion wie das „virtuelle Krawattenbinden“. Im Rahmen einesWorkshops oder bei einer anderen Form des Zusammentreffens im Laufe des Ent-wicklungsprozesses sensibilisiert dieses für eine falsche Vorannahme: Bei der Be-schreibung der Bedarfe und der Entwicklungsaufgaben im Rahmen eines Require-ment Managements gehen Kooperationspartner häufig von einem impliziten Wissenbei den Kooperationspartnern aus, welches aber möglicherweise gar nicht vorhan-den ist. Damit ist auch die vorausgesetzte Grundlage zur eindeutigen Verständigungnicht gegeben. Um dies zu verdeutlichen, bittet der Scrum Master, Projekt- oderSchulungsleiter bzw. Moderator (je nachdem, wer für explizites und implizites Wis-sen sensibilisieren will) seine Projektteilnehmer, Schritt für Schritt verbal zu schil-dern, wie er eine Krawatte zu binden hat. Er vollzieht diese Beschreibung mit einerKrawatte in der Hand nach – allerdings für die Projektteilnehmer nicht sichtbar(z. B. hinter einer Metaplanwand). Diese sehen deshalb beispielsweise auch nicht,dass die Krawatte schon einmal gar nicht richtig um den Hals gelegt wurde – eineAnweisung, die in der Regel von keinem der Anwesenden explizit erwähnt wird. Inder Folge kommen interessante Knoten zustande, allerdings selten „richtige“. Mitdiesem und ähnlichen Ansätzen wird Team- oder Workshopmitgliedern sehr spie-lerisch beigebracht, ein Bewusstsein für explizites und implizites Wissen und einGefühl für die hohe Anforderung expliziter Beschreibungen zu erlangen. Sie mer-ken, dass es gar nicht so einfach ist, alles zu explizieren (in Worte zu fassen), wastatsächlich zur Beschreibung einer Handlung gehört.

6.4.6.1 Trainer-Trainee-Verhältnis ohne hierarchische Schieflage –Freiräume für eine dynamische Entwicklung des „Lernplans“

In der klassischen Lehrer-Schüler-Situation, in der ein Lehrender einer Gruppe vonLernenden gegenübersteht, gibt es verschiedene Möglichkeiten, den Lernprozessanzuregen und den tatsächlichen Bedürfnissen der Lernenden anzupassen. Dazugehört beispielsweise, die Inhalte eines Trainings nicht allein vom Trainer festlegenzu lassen. Dieser macht vielmehr explizit, dass das Training den Bedürfnissen derLernenden dienen soll und dass diese ihre Bedürfnisse kundtun müssen: „Ich bieteauch immer die Metaebene an: Sie dürfen nicht nur die Themen bestimmen, überdie wir reden, sondern auch die Art und Weise, wie wir vorgehen.“ Dennoch wirdimmer ein konkretes Ziel der Lehreinheit festgelegt, komplette Offenheit würde zukeinen Ergebnissen führen. Auch in der Vermittlung der Inhalte behält der Lehrendenicht die komplette Kontrolle. Er bespricht die Inhalte nicht in allen Einzelheiten,sondern behandelt Themen bewusst kursorisch „im Telegrammstil“, denn der gan-ze Inhalt ist ohnehin nicht transportierbar. Die Schüler sind selbst angehalten, die

142 S. Porschen

Lücken zu füllen. Sie sollen also selbst forschen und dabei implizites Wissen akti-vieren:

„Ich mache nicht das, was die Leute wollen, sondern das, wo ich nach bestem Wissen undGewissen glaube, dass es das Beste für sie ist. Und natürlich erfahre ich das zur einen Hälftedaraus, was sie mir sagen, zur anderen Hälfte aber durch pure Erfahrung, Fingerspitzenge-fühl oder so etwas.“

Auch der Trainer selbst kennt nicht alle Probleme und deren Lösungen in allenEinzelheiten, wahrscheinlich haben ihm die Lernenden durch ihren Arbeitsalltagbestimmtes Detailwissen und so auch bestimmte Problemlösungskompetenzen so-gar voraus. Dieses Wissen lässt sich über die beschriebene Methode in den Lern-prozess einbringen.

Darüber hinaus lädt der Trainer dazu ein, den Vortrag auch mit „irrwitzigen“Beiträgen zu unterbrechen. Dies führe der Erfahrung nach zu Beteiligung. Zwar istes wichtig, den Diskussionsstrang beizubehalten, aber durch dieses Vorgehen der„schnellen Interaktionsmuster“ entsteht eine besondere Lerndynamik. Ein anderesVorgehen, das schnelle Interaktionsmuster ermöglicht, besteht darin, die Frontal-lehrsituation räumlich aufzubrechen. Wenn die Schüler beispielsweise jeweils aneinem eigenen Rechner um einen Tisch herum sitzen, kann der Trainer um denTisch kreisen („wie ein Simultanschachspieler“) und jederzeit von einem der Schü-ler angehalten werden, der an einem konkreten Punkt Hilfe benötigt. Der Trainergibt hier also die Kontrolle über die zu vermittelnden Inhalte ein Stück weit ausder Hand. Er lässt die Gruppe die Geschwindigkeit und das genaue Vorgehen beider Problemlösung mitbestimmen. Er coacht die Schüler in einer Situation, die ei-ner normalen Arbeitssituation relativ nahe kommt. Auf diese Weise kommt es zuSituationen und Fragen, die der Trainer in einer frontalen Lehrsituation nie be-handelt hätte. Damit verlässt der Trainer sicheres Terrain. Sein Vorgehen zeichnetsich hier durch situative Problemlösung, Verschränkung unterschiedlicher Denksti-le und den Einbezug des Computers/des Programms zur gegenstandsvermitteltenKommunikation aus. In den Intensivschulungen sollen letztlich „Leuchttürme“ auf-gestellt werden, zwischen denen jeder Teilnehmer dann navigieren können sollte.Es werden Anker gesetzt, die dazu befähigen, die Aufgabenstellungen selbststän-dig zu erarbeiten. Damit ist der Ansatz als „Hilfe zur Selbsthilfe“ einzuordnen. Dasschönste Erfolgserlebnis ist hierbei für den Coach, der den roten Faden hält, „wennder Funke auf die Schüler überspringt!“ Dieses Vorgehen verlangt von ihm aberauch, verschiedene Lösungswege parallel begleiten zu können.

Als günstig erweist es sich zudem, wenn der Coach/Trainer auch nach der Schu-lungseinheit als Ansprechpartner im laufenden Arbeitsprozess weiterhin vor Ortist. Zum einen kann er so im Vorfeld spezifische Probleme erkennen, die noch einesTrainings bedürfen. Zum anderen ist auch nach der Schulung eine „Lernbeglei-tung“ möglich. Aus dem Vertrauensvorschuss in dem Sinne ,vielleicht kann mir derLehrer tatsächlich bei meinen Fragestellungen weiterhelfen‘ kann Vertrautheit nachdem Motto werden: „Wenn ich nochmals nachhaken muss, bekomme ich vor Ortsogar sofort eine Antwort [. . . ].“

6 Management des Informellen durch Kooperativen Erfahrungstransfer 143

In der Untersuchung wurde des Weiteren festgestellt, dass die Grundeinstellungdes Coaches Einfluss auf die Atmosphäre und die Lerndynamik nimmt. Bewährthat sich die Einstellung des Coaches/Trainers als „Erster unter Gleichen“. In denIntensivschulungen hat sich des Weiteren der Austausch in kleinen Gruppen mitsechs bis zehn Interessierten als günstig herausgestellt. Wesentlich ist dabei dieoben beschriebene direkte Interaktion mit den Schülern bzw. Trainees in einem sichdurch einen Workshopcharakter auszeichnenden Rahmen. Fehlerfreundlichkeit zusignalisieren, Möglichkeiten zum Umgang mit Fehlern zu betonen und das Prinzip„Ausprobieren“ hochzuhalten sind Merkmale, die das Bild abrunden.

6.4.6.2 „Train the trainer“ und Rollenspiele

Auch für das Training der Trainer gibt es spielerische Ansätze: In dem Fallbeispielwerden zukünftig Wissen vermittelnde MitarbeiterInnen in Rollenspielen auf ihreAufgabe vorbereitet. Das kann beispielsweise so gestaltet sein, dass zwei Expertendie Rolle des „Nichtsverstehenden“ und des „Polemischen und alles Hinterfragen-den“ einnehmen. Der Trainee soll dann in dieser Runde Lernaufgaben vermitteln.Anschließend erhält er ein Feedback, was den Experten aus ihrer Sicht gut undwas schlecht vermittelt wurde. Dieses Vorgehen hilft den Trainees, ihre Stärkenund Schwächen genauer zu erkennen, und ermöglicht den Trainern ein Kennenler-nen des Stils des neuen Mitarbeiters. Der Arbeitsstil ist schließlich bei jedem etwasanders.

6.4.6.3 Offenheit als Anforderung an Führungskräfte und Industriepartner

Folgende Hinweise lassen sich daraus für die Arbeit von Führungskräften ableiten:

� Bereitstellung eines „Raums für Entwicklung“ heißt, Gelegenheitsräume undSpielräume für Entdeckungsreisen und zum Ausprobieren zu schaffen.

� Eine offene Fehlerkultur heißt, Fehler aufzuarbeiten, von ihnen zu lernen undSchuldverschiebereien zuvorzukommen. Dabei hilft die Orientierung „an der Sa-che“.

� Anregungen schaffen, aber „Erfahrungen selbst machen“ lassen!� Die Anforderungen an die Entwicklung und die Vorstellungen der Entwickler

müssen in Einklang gebracht werden. Es bedarf eines „Machbarkeitssinns“! Umdies einschätzen zu können, hilft den Führungskräften der Bezug zu den Inhaltendes Innovationsvorhabens und zu den umsetzenden Mitarbeitern.

Und die Führungskräfte, die in ihrem Unternehmensbereich einen agilen Ent-wicklungsprozess einführen, brauchen durchaus Mut zu Offenheit für Unbekanntes:

144 S. Porschen

„[. . . ] Wenn der Kunde ein paar Mal erfahren hat, dass es dadurch besser ist, dann wird ernatürlich sanftmütig und sagt: ,In Ordnung, zeigt mir noch mehr, was ich machen kann.‘Da kann das Eis brechen, aber er muss ein paarmal die Erfahrung gemacht haben, dasses wirklich geholfen hat. Dann kommt die Offenheit weiterzumachen [. . . ] Das geht dannauch so weit, dass er noch gar nicht reflektieren kann, welche der eingeführten Elementeund Maßnahmen aus dem agilen Bereich im persönlichen Arbeitsalltag geholfen haben,aber allein das Gefühl, dass es geholfen hat, bewirkt Offenheit.“

Im nächsten Abschnitt wird die Übertragung der verschiedenen Prinzipien aufdie Entwicklung und Einführung von Produkten aus dem Hardware-Bereich vorge-stellt.

6.5 Übertragungen agiler Prozesse und des KooperativenErfahrungstransfers auf Hardwareinnovation

Die beschriebenen agilen Entwicklungsansätze wurden in dem beteiligten Unter-nehmen auch für die Innovation von Hardware im Maschinenbau eingesetzt. Esging um die Entwicklung eines Industrieroboters auf der Grundlage eines Vorgän-germodells, wozu neue Linearachsen konstruiert werden mussten. Da das Projektaus Sicht des Managements nicht sehr aussichtsreich war – man überlegte bereits,den Bau der Linearachsen für Industrieroboter einzustellen –, stimmte man zu,in diesem Projekt die aus der Softwareentwicklung bekannten agilen Ansätze zurGrundlage der Zusammenarbeit zu machen. Für das Beratungsunternehmen undden hieraus zu stellenden Scrum Master waren sowohl die Übertragung agiler Pro-zesse in den Hardwarebereich als auch die Anleitung zur Konstruktion eines In-dustrieroboters bis zu diesem Zeitpunkt „absolutes Neuland“. Die Erprobung fandalso mit „fachfremden“ Personen und „fachfremden“ Methoden statt. So ist dieAnwendung im Hardware-Bereich gewissermaßen selbst als spielerische und er-fahrungsgeleitete Annäherung zu bewerten, da noch keine Erfahrungen mit derÜbertragung vorlagen. Welche Erfahrungen dabei gemacht wurden, wird nachfol-gend grob umrissen.

Zunächst wurde ein Entwicklerteam aus einem Teamleiter der Konstruktionsowie sechs Konstrukteuren, einem Produktmanager Entwicklung und einem Pro-duktmanager Vertrieb zusammengestellt. Außerdem wurden entgegen klassischenEntwicklungsprozessen die Produktionsplanung sowie die Produktionsabteilungfrühzeitig eingebunden. Da sowohl für die Konzeptfindung als auch für die Kon-struktion des Industrieroboters Erfahrungswissen von großer Relevanz war, wurdedie Beteiligung erfahrener Konstrukteure als Vorbedingung für das Finden ver-nünftiger Konzepte gesehen – was sich auch bewährt hat. Bei der Entwicklung,die auf der Grundlage eines Vorgängermodells ansetzte, zeigten sich zu Beginn dietypischen Bedingungen für Innovationsarbeit wie Unplanbarkeit, unklare Ziele undein enges Zeitbudget. Hinzu kam ein gegenüber den neuen Organisationsmethoden

6 Management des Informellen durch Kooperativen Erfahrungstransfer 145

skeptisches Management. Die schwierigen Voraussetzungen stellten sich genauerdergestalt dar:

� Das Vorgängerprodukt musste ersetzt werden; Kunden benötigen die Funktio-nalitäten des Vorgängerprodukts. Das mit einer neuen Technik zu konzipierendeModell war von anderen Produkten abhängig und musste Kompatibilitäten zuKundenvorrichtungen aufweisen. Insgesamt handelte es sich um eine risikorei-che Schritt-für-Schritt-Planung.

� Die Ziele der Entwicklung waren nicht klar umrissen: Der neue Roboter sollte (a)„mehr“ können (unter anderem verbesserte Stabilität) und (b) günstiger sein alsdas Vorgängermodell. Die Projektziele mussten nach und nach definiert werden.Dazu wurden (c) die zu entwickelnden Produktvarianten festgelegt und (d) kon-struktive Ziele gesetzt: So sollten Frästeile vermieden und Fertigteile verwendetwerden. Die Entwicklung erfolgte dann (e) nach Produktvarianten (Dimensionendes Roboters).

� Der Zeitplan für das Projekt war sehr eng; In sechs Monaten sollte das Nachfol-gemodell mit deutlichen technischen Verbesserungen fertig sein.

� Das Kundenunternehmen, in dem die Erprobung stattfand, zeichnete sich durchsehr starre Prozesse aus.

Wie wurde die Entwicklungsaufgabe dennoch erfolgreich gelöst? Für die Or-ganisation des Entwicklungsprozesses wurden zunächst kleinteilige, sich wieder-holende Projektschritte („Iterationen“) eingesetzt, die mit informellen Abstimmun-gen, aber auch verschiedenen Meetingformen (wöchentliche Planning Meetings,Daily Meetings des Konstruktionsteams, wöchentliche Review Meetings und Retro-spektive Meetings) vorangebracht wurden. Des Weiteren wurde das „spielerische“Schätzverfahren „Estimation Poker“ unter Einbezug aller entwickelnden Mitarbei-ter eingesetzt. Dieses Instrument gab den Teammitgliedern nicht nur die Möglich-keit, realistische Planungsschritte des Vorhabens zu definieren. Es stärkte vor allemauch das Commitment im Team.

Bezüglich dieser Maßnahmen war bis auf einen Skeptiker und Verweigerer derMethoden überwiegende Aufgeschlossenheit des Teams zu erfahren. Dazu derScrum Master: „Totalverweigerer erkennen Sie daran, dass sie einen Stuhl in dasDaily Stand-up Meeting mitbringen.“ Die ansonsten vorherrschende Offenheit istkeinesfalls als selbstverständlich anzusehen, da hier Mitarbeiter mit unterschiedli-chen Ausbildungshintergründen und Werdegängen aufeinanderstießen. Vielen wardie Art des Vorgehens und der Einbezug in die Definition der Entwicklung imGegensatz zu den Softwareentwicklern nicht vertraut. Technische Zeichner werdenin der Regel in ihrem Berufsalltag kaum so intensiv einbezogen, wie es hier derFall war. Der Scrum Master führt aus:

„Bei einem Softwareentwickler haben Sie es in der Regel mit jemandem zu tun, der Inge-nieurwesen oder Informatik studiert hat oder eine sonstige Hochschulausbildung vorweisenkann. Hier haben Sie es mit einem technischen Zeichner zu tun, der eben keine Hoch-schulausbildung hat und für den so etwas wie das Daily Meeting nicht zu seiner normalen

146 S. Porschen

Erfahrungswelt gehört. Er kommt zwar zum Meeting. Zunächst aber mit der Vorstellung,dass das irgendetwas für Vorgesetzte ist, wo Sie ihre Zeit vertun. Das nehme ich als grund-sätzliche Einstellung wahr und ich war sehr erstaunt, dass die so aufgeschlossen waren undmitgemacht haben. Einer war nicht aufgeschlossen, aber die restlichen Mitarbeiter warenwirklich toll, was das anging.“

Da die Entwicklung von Hardware weniger flexibel ist als die von Software,ging die Übertragung der Methoden in die Industrierobotik mit einem gewissenRisiko einher. Das Management des Informellen erwies sich in diesem „Experi-ment“ jedoch als erfolgreich. Nach ersten Verzögerungen aufgrund verschiedenerUnklarheiten und der üblichen „ungeplanten Vorfälle“ konnte die Entwicklung zweiWochen vor der ursprünglichen Planung fertiggestellt werden. Außerdem konntendie Produktionskosten gegenüber dem Vorgängermodell um ca. 30 Prozent gesenktwerden. So konnte das in diesem Entwicklungsprozess radikal vereinfachte Pro-dukt planmäßig in den Verkauf gehen. Die Organisation der Innovationsarbeit mitden neuen Ansätzen entwickelte sich bis zum Ende des Projektes positiv:

� Das Führungsteam des Unternehmens war zum Ende der Entwicklung erheblichaufgeschlossener für die neuen Ansätze, trotz der Inkompatibilität solcher neuerOrganisationsansätze mit den vorzufindenden starren Strukturen.

� Auch der Totalverweigerer im Team gab seinen Widerstand nach und nach auf,da er zunehmend vom Kommunikationsfluss (in den Daily Stand-up Meetings)abgeschnitten war.

� Das Konstruktionsteam fand die Methode der Zusammenarbeit mehrheitlich an-genehm und der Projektleiter im Industrieunternehmen will die Methode in Zu-kunft weiterhin einsetzen, da sie seiner Ansicht nach sehr gut funktioniert hat.

� Die Mitglieder des Entwicklerteams haben sich zum ersten Mal ernst genommengefühlt, da sie selbst Innovationen vorschlagen konnten und nicht nur „Ausfüh-rende“ waren. In der Folge konnte auf eine hohe Motivation der Teammitgliedergesetzt werden.

� Die mitlaufende Markt- und Kundenorientierung durch den ständigen Kontaktzum Produktmanager im Vertrieb, der konstant Rückmeldung zum Stand desProjektes gab, hat sich als wesentlicher Schlüssel für den Erfolg des Projektesherausgestellt, wie auch folgende Aussage zeigt:

„Wir haben viele Dinge deshalb so gemacht, weil der Produktmanager gesagt hat: ,Daskann ich nicht verkaufen und so können wir das nicht in den Katalog nehmen [. . . ] Fürdie Abbildung im Katalog eignet sich der komplizierte Aufbau nicht, lasst uns das Systemvereinfachen.‘ Das war letztlich auch der Grund, der dazu geführt hat, dass das Ganze imZeitplan funktioniert hat.“

Für den Scrum Master lagen die Vorteile dieses Vorgehens in der schnellen Lern-möglichkeit für die Eigenheiten des Teams und der einzelnen Teammitglieder („wasläuft? was läuft schief? wer arbeitet wie?“); speziell in diesem Fall in der Lern-möglichkeit von Konstruktionsmethoden mit CAD-Technik und wie die einzelnen

6 Management des Informellen durch Kooperativen Erfahrungstransfer 147

Mitarbeiter damit zurechtkommen. Agile Prozesse sind in dieser Hinsicht trans-parenter als ein klassischer Projektansatz, womit eine besondere Verantwortungverbunden werden kann (vgl. 6.6).

6.6 Innovationsarbeit und Management des Informellen –neue Dienstleistungsethik in der Softwareentwicklung

Die geschilderten Ansätze zu Selbstorganisation, Selbstverantwortung und Engage-ment sowie künstlerischen, erfahrungsgeleiteten und spielerischen Vorgehenswei-sen fördern Innovationsarbeit, sofern sie akzeptiert und praktiziert werden. Mit ih-nen können aber auch Kehrseiten einhergehen: Sie können zu einer Extensivierungder Leistungen der Projektmitarbeiter und zu dadurch verursachten Überlastun-gen infolge von Leistungsverdichtung bzw. sogar zu Burn-out führen. Sie eröffnenzudem Möglichkeiten für Selektion und Kontrolle sowie eine direkte (erweiterte)Subjektkritik auf neuem Niveau. Die Ansätze können also einerseits zur Überlas-sung des Gestaltungsprozesses an die Teambeteiligten dienen und die Einbindungund das Engagement der Mitglieder stärken. Sie führen andererseits aber auch zu ei-ner neuen Transparenz für Projektmanager, Produktverantwortliche etc. und gebenneue Kontroll- und Selektionsmöglichkeiten an die Hand.

Wie mit dem Hinweis auf soziale Innovationen bereits angesprochen wurde,greifen die Gestalter und Begleiter der Innovationsprozesse letztlich in das Sozi-algefüge und die Sozialbeziehungen in den Unternehmen ein. Ein Unternehmen,das die Innovationsarbeit in einem Kundenunternehmen begleitet, kann sich im Ge-gensatz zu den Beschäftigten vor Ort allerdings zurückziehen und bleibt von dendaraus resultierenden Folgen unberührt. Vor diesem Hintergrund wird hier disku-tiert, ob sich daraus neue Ansprüche an die Begleitung von Innovationsprozessen,insbesondere an externe Dienstleister, ergeben müssen. Diese Ausführungen sindlediglich erste Diskussionshinweise, die bei der Etablierung dieser und weitererAnsätze zum „Management des Informellen“ berücksichtigt werden sollten.

Das Thema der Verantwortung für die Mitarbeiter und des Umgangs mit Kon-flikten ist eines mit ethischem Gehalt. Es soll hier aber nicht um eine Diskussion umethische Grundsätze gehen, etwa inwieweit sie gerechtfertigt sind und ob sie ver-langt werden können. Es soll eher eine Perspektive für „gute Begleitung“ innerhalbprofessionellen Dienstleistungshandelns entwickelt werden. Die „gute Begleitung“geht mit individueller Verantwortung einher: „Und da das ethisch Gute im Tun liegt,wird es wohl auf die Art und Weise ankommen, wie der Einzelne in den unterschied-lichen Tätigkeitsbereichen handelt“ (Buchinger 2005, S. 9). Sind wie in diesemFall Teams in der Unternehmensorganisation des Auftraggebers zu begleiten, liegtdie besondere Herausforderung in der laufenden Abwägung einander widerspre-chender Werte (ebd., S. 11). Sie resultieren zum einen aus der Überprüfung derFunktionalität bzw. der Bewältigung vorgegebener Aufgaben, zum anderen aus der

148 S. Porschen

Berücksichtigung der Auswirkungen auf die Funktionsträger in der Organisation(aus der sich der Dienstleister wieder herausziehen kann) als Menschen. Dabei istin Rechnung zu stellen:

„Die Menschen und ihre Eigeninteressen, die der Logik der Organisation widersprechen,fordern ihr Recht als hoch relevante Umwelten der Organisation. Die Teams als perso-nenorientierte Arbeitsformen, die immer zentraler für das Überleben der Organisationenwerden, folgen ihrer eigenen Logik, die Konflikte mit der Organisation schaffen usw.“ (Bu-chinger 2005, S. 11)

Aufgrund des Leistungsdrucks gerade bei der hochqualifizierten selbstorgani-sierten Tätigkeit von Softwareentwicklern ist inzwischen die Work-Life-Balanceein Thema, das bei einem verantwortungsvollen Management des Informellen be-rücksichtigt werden sollte.

6.6.1 Entgrenzung von Arbeit und Leben

Leistungsstarke selbstorganisierte und am Arbeitserfolg ausgerichtete Teams kön-nen in der Regel keinen „Dienst nach Vorschrift“ machen. Wenn die Abgabeterminezu den zu verantwortenden Aufgaben nahen, sind endlose Überstunden keine Sel-tenheit. Die Begeisterung und die unermüdliche Arbeit des Teams tragen zwareinerseits zum Projekterfolg bei. Andererseits stellt sich die Frage nach negativenNebenfolgen dieses „grenzenlosen“ Einsatzes. Eine nachhaltige Organisation er-scheint mit den Folgekosten von Burn-out bei kurzfristigem Leistungserfolg nichtvereinbar. Zur Problemstellung der Überlastung wird inzwischen intensiv geforscht(vgl. etwa Gerlmaier u. Latniak 2011) und an Gestaltungsempfehlungen gearbeitet(vgl. Boes et al. 2011). Im Rahmen des Projektes KES-MI konnte diesem Themazwar nicht im Speziellen nachgegangen werden, Hinweise wie die folgenden wur-den aber als Selbstverständlichkeit eingebracht: Dazu zählt zunächst ganz schlichtdie Erkenntnis, dass jemand, der keinen Feierabend macht und kein Privatleben hat,kreative Arbeit nicht lange produktiv praktizieren kann! Anspruchsvolle Tätigkeitenbedürfen ausreichender regenerativer Auszeiten, die freilich individuell verschiedenausgeprägt sind. Das Mindestmaß sind die in gesetzlichen Bestimmungen ange-gebenen Mindestwerte auch in Phasen großen Drucks – darüber hinausgehendeAngebote zeichnen gute Arbeitgeber aus.

6.6.2 Estimation Poker als Selektionsinstrument?

In den nachstehenden Ausführungen wird an das oben erläuterte Beispiel „Esti-mation Poker“ (vgl. Abschn. 6.4.2) angeknüpft und dessen kritische Seite zur Dis-kussion gestellt. Beispielsweise kann der Projektleiter aus der Art und Weise des

6 Management des Informellen durch Kooperativen Erfahrungstransfer 149

Agierens und Reagierens beim „Estimation Poker“ sehr rasch einiges über die „Mit-spieler“ erfahren: Wie gehen sie in den Prozess? Wie souverän sind sie? Wie gut istihr Einschätzungsvermögen? Werden sie den Anforderungen im Entwicklungspro-zess gewachsen sein? Wer bringt die Innovation am besten voran? Eignet sich derMitarbeiter für das bei Innovationsarbeit idealerweise angestrebte Hochleistungs-team? Wer eher nicht? Das Instrument, das eigentlich dazu eingesetzt werden soll,Teams zu fördern, kann somit auch zur Leistungsbeurteilung, als Kontrollinstru-ment und zur Selektion gebraucht bzw. missbraucht werden.

Projektverantwortliche haben ein Interesse daran, „High Performer“ in ihreEntwicklungs- und Programmierteams zu rekrutieren, schließlich wollen sie ihrProjektziel bestmöglich ans Ziel bringen. Es ist heute fast selbstverständlichesLehrbuchwissen, dass in die Teams unterschiedliche Charaktere eingebunden wer-den sollten. Aber die Einbindung verschiedener Charaktere steht noch nicht fürein Bekenntnis zur Einbindung unterschiedlich ausgeprägter Leistungsträger. Mitder neuen Transparenz durch die Kommunikationsinstrumente (Meetingformen)und Schätzverfahren (Estimation Poker) und die schnelle Einschätzung über dieFähigkeiten der Mitarbeiter eröffnet sich prinzipiell die Möglichkeit, vermeintliche„Low Performer“ gänzlich auszugrenzen, ohne den Mitarbeitern Chancen einge-räumt zu haben, sich im Prozess der Arbeit zu bewähren. Die Frage ist nun, wiemit der Möglichkeit zum schnellen Ein- und Überblick konstruktiv umgegangenwerden kann. Dazu ist es unter anderem hilfreich, sich vor Augen zu führen, wasder Missbrauch der Instrumente als Kontrollinstrumente bedeuten würde.

In dem Blog eines bekannten Vertreters von agilen Prozessen ist unter der Über-schrift „Scrum is not for everybody“ Folgendes zu lesen:

„I had very bad experience in one of my last trainings. I was not relaxed enough just tolisten away. Some people simply do not want to get it [. . . ] The only way to deal with thesepeople, fire them. Get rid of them! Find another job for them! Help them to see they do notfit to your team.“ (Gloger 2009)

Können und Wollen sind hierzu wesentliche Schlagworte. Beides kann schwan-ken. Stellt sich die Frage, ob es Grenzen im Umgang mit „nicht performanten“Beschäftigten gibt. Im Projekt KES-MI kristallisierte sich diese Frage als eine Aus-einandersetzung mit Teamdynamiken heraus. Wie funktioniert ein Team als Team?Der Geschäftsführer hat eine Vielzahl agiler Projekte durchgeführt bzw. begleitetund dabei verschiedene Erfahrungen mit der Zusammenarbeit in Teams gesammelt:

„Ein Team, das aus lauter Überfliegern besteht, funktioniert gar nicht. Man kann auchnicht lauter überproduktive Leute zusammenspannen. [. . . ] Dabei können die nicht direktfachlichen Aspekte eines Projekts untergehen. Meine Erfahrung ist bei Entwicklern, diewahnsinnig produktiv sind, dass die eine Sache beispielsweise sehr gut durchdenken. Diehaben aber keinen Überblick. Die Menschen, die den Überblick haben, sind wiederum nichtunbedingt die produktivsten.“

Der Projektverantwortliche als Auftragnehmer ist gegenüber seinem Auftragge-ber verpflichtet. Zugleich wird der konstruktive Umgang mit Mitarbeitern alleinschon aus der Notwendigkeit des Projekterfolgs unabdingbar. Eine Methode wie

150 S. Porschen

Estimation Poker schafft Transparenz über den Projektaufwand, aber auch überMitarbeiterkompetenzen. Ersteres ist eigentliches Ziel, letzteres ein Nebeneffekt;wird dieser im Umgang mit den Mitarbeitern dekonstruktiv ausgespielt, wird dieTeamdynamik gefährdet:

„Das ist immer eine Frage der Grenzziehung. Also zunächst mal bin ich als Berater natür-lich immer meinem Auftraggeber verpflichtet. Dass es in einem Team mehr oder wenigerleistungsfähige Menschen gibt, ist von vornherein klar. Das ist an sich auch kein Problem.Problematisch wird es immer dann, wenn du an bestimmte Grenzen kommst. Das heißt,wenn du merkst, es sind Leute in dem Team, deren Leistungsfähigkeit für das, was sie tunsollen, eigentlich nicht ausreicht. Die Aufgabe von einem Berater ist es auch, darauf hinzu-weisen. Wenn man das nicht tut, läuft die Entwicklung früher oder später gegen die Wand.Ein Team muss in Entwicklungsprozessen produktiv sein. Ein Effekt der agilen Methodenist, dass ein Team zum Ausschluss von Mitarbeitern bzw. Wünschen zu Veränderungen imEntwicklungsteam keinen Berater von außen braucht, sondern das passiert oft auch schoninnerhalb des Teams. Somit nimmt der Druck auf Leute, die wenig ,performant‘ sind, er-fahrungsgemäß von sich aus zweckbringend zu. Tatsächlich ist die Transparenz, die manmit den agilen Methoden erzeugt, sehr groß.“

Die Frage nach Leistungsregelung und Akzeptanz wird in einem agilen Prozessdamit zu einem Bestandteil der Teamdynamik als selbstorganisierendem System.Dazu kommt, dass sich Fähigkeiten und Engagement nicht zwangsläufig ergänzen.Der Wert von Fähigkeiten ohne Engagement ist für den Prozess ebenso fraglich wieder von Engagement ohne Fähigkeiten. Engagement bei begrenzten Fähigkeitennicht zu würdigen kann jedoch heikle Züge annehmen, wie die folgende Ausfüh-rung zeigt:

„Wenn ich diejenigen, die sich da trotzdem einbringen, mitmachen usw., wenn ich die an-fange ,zu verbrennen‘, dann zerstöre ich meinen Prozess. [. . . ] Wenn ich jetzt anfangenwürde zu sagen: ,Okay, Person X bringt mir eigentlich nicht genug, bringt sich zwar imPrinzip sehr eng mit in den Prozess ein, aber an einer Stelle sehe ich, dass er dies und jenesnicht kann und dass er das und das nicht weiß‘ – das würde sich in einem Team sehr negativauswirken.“

Festgestellt wird aber auch: „Teamorientierte Prozesse funktionieren nicht, wennich ein Team habe, das im Endeffekt zur Hälfte aus Leuten besteht, die was arbeiten,und zur Hälfte aus Leuten, die sich einen faulen Lenz machen.“

Wenn das Team nicht richtig funktioniert, ist es ein Tabu, jemanden „vorzufüh-ren“:

„Das geht gar nicht, damit funktionieren teamorientierte Prozesse nicht mehr. [. . . ] Wennich merke, da stimmt irgendetwas nicht, würde ich dem Auftraggeber niemals sagen: ,Xist weniger leistungsfähig als der Rest.‘ [. . . ] Es kommt schon mal vor, dass mich ein Vor-gesetzter anspricht und sagt: ,Was halten Sie denn jetzt von den Leuten?‘ Darauf entgegneich: ,Ich kenne das Team ja nur in bestimmten Situationen und ich kann mir nicht anmaßen,Ihnen zu sagen, wer ist da der Beste oder der Schlechteste.‘“

Entscheidend ist letztlich, mit welcher Intention ein Instrument wie EstimationPoker eingesetzt wird: „Es ist eine Sache, ob ich eine solche Methode einsetze unddann bestimmte Fakten feststelle. Es ist eine andere Sache, die Methode bewussteinzusetzen, um diese Fakten zu sehen. Ich tue das nicht.“ Agile Methoden bewusst

6 Management des Informellen durch Kooperativen Erfahrungstransfer 151

im Sinne einer Art Assessment Center einzusetzen kommt einem Vertrauensbruchgleich, der den agilen Prozess gefährdet:

„Es geht um die Frage, wie man es schafft, eine offene Diskussionsebene zu erhalten. Wennich dies missbrauche, setze ich mich der Gefahr aus, dass niemand mehr irgendwas heraus-lässt und dass im Endeffekt der ganze agile Prozess dadurch in sich zusammenfällt.“

6.6.3 Retrospektive Meetings – Transparenz als Gefahr?

In den nachstehenden Ausführungen wird an das oben erläuterte Beispiel „Retro-spektive Meetings“ angeknüpft (vgl. Abschn. 6.4.3). Bei kritischer Betrachtungstellen sich hier folgende Fragen: Wie geht man mit Befindlichkeiten um, die inRetrospektiven Meetings aufgedeckt werden? Wie persönlich dürfen die Teammit-glieder werden? Wie kann vermieden werden, dass die Teilnehmer zu persönlichwerden oder dass bei der Aufdeckung von Unangenehmem negative Folgen für dieMitarbeiter im weiteren Arbeitsgeschehen resultieren? Darf etwas aus dem Retro-spektivmeeting weitervermittelt werden?

Hierzu ließe sich ein einfacher Grundsatz aufstellen: Alles, was im Team bespro-chen wird, bleibt im Team. Denn Informationen, Befindlichkeiten, Schwierigkeitenan Vorgesetzte und Kollegen zu kommunizieren kann moralisch kritisch werden.Deshalb ist in dem agilen Ansatz Scrum beispielsweise verankert, dass der ProductOwner, der in der Regel eine Vorgesetztenfunktion in dem auftraggebenden Unter-nehmen einnimmt, aus den Retrospektiven Meetings ausgeschlossen ist:

„During this meeting, the team considers three things: what went well, what didn’t, andwhat improvements could be made in the next sprint. Since the Product Owner sits thismeeting, team members can speak frankly about the sprint’s successes and failures. It’san especially important opportunity for the team to focus on its overall performance andidentity strategies to improve its processes. Moreover, it allows the ScrumMaster to observecommon impediments that impact the team and then work to resolve them.“25

Dieses Zitat aus der „Scrum-Methodologie“ zeigt, dass es ein Bewusstsein obder möglichen Schwierigkeiten von zu viel persönlicher Offenheit im hierarchischorganisierten Arbeitsleben gibt. Es wird darauf verwiesen, dass die Teilnahme desProduct Owner am Retrospektiven Meeting eine offene Aussprache über sozialeSchwierigkeiten des Projekts gefährden kann. Dabei wird jedoch vergessen, dasssich hierarchische Strukturen mit den zugehörigen Selbstdarstellungs-Balancennicht nur an der Person des Vorgesetzten festmachen lassen, sondern auch in dieBeziehungsmuster der Mitarbeiter selbst eingefügt sind.26 Die Transparenz in unddurch Retrospektiv-Meetings kann das Beziehungsgeflecht im Unternehmen aufeine Bewährungsprobe stellen und zu Instabilitäten führen.

25 http://scrummethodology.com/scrum-meetings/, 22.09.2011.26 Der Diskussionsbeitrag um „Selbstdarstellungs-Balancen“ geht auf Christian Zeller zurück (Zel-ler 2011).

152 S. Porschen

Damit erfordert der Anspruch, die Art und Weise der Zusammenarbeit selbst zuthematisieren und im Entwicklungsprozess „offen“ miteinander umzugehen, vomProjektbegleiter (Scrum Master) besondere Sensibilität. Er muss sich fragen, obes zu rechtfertigen ist, von den Mitgliedern des Scrum Teams, die nach der Been-digung des Scrum-Projekts wieder in ihren bisherigen Arbeitsstrukturen „funktio-nieren“ müssen, eine Art und einen Grad von Gesprächsbereitschaft zu verlangen,welche die herkömmlichen Arbeitsstrukturen empfindlich stören und für die Arbeit-nehmer zu Nachteilen im Arbeitsleben führen können. Dazu zunächst ein Blick aufdie Handhabung eines Retrospektiv-Meetings in der Praxis:

„Das Retrospektiv-Meeting ist ein Meeting des Teams und in einem Retrospektiv-Meetingnimmt keiner von außerhalb teil. Bei anderen Meetings ist es so, dass es in der Regel immerLeute gibt, die sich als Zuschauer dazusetzen können. Ein Retrospektiv-Meeting macheich nicht so. Retrospektiven müssen im Team bleiben! In Retrospektiv-Meetings gehörenauch keine Dinge, die auf bilateraler Ebene geklärt werden sollten. Wenn X zu Y sagt: ,Dukönntest dich mal waschen‘ – was tatsächlich einmal vorkam –, gehört das natürlich nicht inein Retrospektiv-Meeting. Dieses sollte von gegenseitiger Anerkennung und gegenseitigemRespekt geprägt sein. Auch wenn man in dem Meeting durchaus Dinge sagen darf, dieunangenehm sind.“

Eine professionelle Moderation dieses Kommunikationsforums ist unerlässlich:

„Am Anfang erklärt man das natürlich und ansonsten bin ich zumindest in der Anfangspha-se bei solchen Meetings dabei und ich unterbinde auch mal Diskussionen [. . . ] Es kommtschon mal vor, dass ich irgendwann sage: ,Moment mal Leute, also das diskutieren wirhier nicht. Das können wir nachher unter vier oder sechs Augen diskutieren, aber nichthier.‘“

Die zentrale Anforderung an die Moderation liegt in sensiblen Grenzziehungen:

„Da ist eben eine scharfe Abgrenzung immer sehr schwierig: Es gibt Dinge, die sind reinpersönlich, es gibt Dinge, die sind nicht rein persönlich. Also, wenn ich z. B. feststelle, esgibt ein Problem damit, dass einer morgens immer sehr spät kommt, dann kann das durch-aus sinnvoll sein, das in einem Retrospektiv-Meeting zu diskutieren: Wie gehe ich mit derSituation um? Wenn ich aber merke, das ist so eine Hackerei zwischen zwei Teammitglie-dern, dann sage ich: ,Das diskutieren wir jetzt nicht hier!‘ [. . . ] Dinge, die zwischen zweiMenschen liegen, die aber eigentlich nichts mit dem Team zu tun haben, die gehören nichtin Retrospektiv-Meetings rein!“

Die Offenheit der Entwickler in einem Retrospektiven Meeting fördert auchübergreifende Konflikte ans Tageslicht. Ob diese dann behoben werden können,steht auf einem anderen Blatt. Denn das dafür einzuschaltende Management stehtin der Regel „außen vor“:

„Das Problem ist, dass diese Entwicklungsprozesse sehr weit abgelöst vom Managementsind. Oder umgekehrt – das Management ist häufig sehr weit abgelöst von den Entwick-lungsprozessen. Und das Ergebnis ist eben oft, dass zwar in einem Entwicklungsteam dieseDinge diskutiert werden und auch klar sind, aber dass eine Ebene höher diese Dinge schonnicht mehr diskutiert werden. Das hat auch etwas mit den Bedenken gegenüber der Mess-barkeit, die man damit erzeugt, zu tun.“

6 Management des Informellen durch Kooperativen Erfahrungstransfer 153

Um die agile Entwicklung durchführen zu können und Lähmung durch Ängsteum Machtpositionen zu überwinden, bedarf es deshalb der Unterstützung der obe-ren Führung:

„Man braucht letztendlich, um über diese Punkte rauszukommen, einen Durchgriff in diehöchste Führungsebene. Man kommt relativ nah und gut dran, weil man eben solche Feed-backschleifen hat, mit denen irgendwann offensichtlich wird, wo es hängt. Man kann dasdann tatsächlich manchmal durchsichtig machen, wenn auch nicht immer. Aber es gibtrelativ gute Chancen [. . . ].“

Das folgende Zitat fasst den Anspruch an konstruktive Arbeit in agilen Prozessenund die diese Arbeit begleitenden Barrieren schön zusammen:

„Wesentlich ist, zu fragen, was will man eigentlich. Man möchte insbesondere erreichen,dass Projekte nicht so oft scheitern und vielleicht sogar ein kleines bisschen besser laufen.Das ist letztendlich der Anspruch, den man hinter all den Dingen hat. Wenn man sich kon-kret anschaut, woran scheitern Projekte, dann gibt es in meinen Augen zwei wesentlicheStränge. Der eine Strang kann durch agile Prozesse vordergründig ziemlich gut abgedecktwerden: dass in Teams zu wenig kommuniziert wird, dass Teams im Endeffekt unklareAufgaben haben, dass Teams nicht wirklich in die Arbeit eingebunden sind. Diesen Punktbekommt man vordergründig relativ gut in den Griff. Den zweiten Aspekt kann man folgen-dermaßen charakterisieren: In den meisten Firmen bekommst du im Gespräch mit Leutenin der Entwicklung zu hören: ,Was die da für Termine setzen, das ist doch alles unrealis-tisch.‘ Es ist natürlich traurig, dass die Leute das so sehr aufgegeben haben. Zum anderenzeigt es aber auch ein Missverhältnis im Management, das vordergründig mit einem agilenProzess, wenn du keine Möglichkeiten zum Eingriff hast, nicht in den Griff zu bekommenist.“

Nun gehört die situative Auflösung von widersprüchlichen Anforderungen alskonstitutives Moment zum Beraterhandeln. Wenn die agilen Prozesse zur Förde-rung von Innovationsarbeit gut vorbereitet werden, lässt sich das Spannungsfeldallerdings verringern. Die obigen Ausführungen zusammenfassend, heißt das:

� Das Entwicklerteam muss bedacht zusammengestellt werden, für die Beteiligtenmüssen die Anforderungen erfüllbar sein.

� Agile Methoden bewusst im Sinne eines Assessment Centers zu nutzen, kommteinem Vertrauensbruch gleich, der zum Zusammenbruch des agilen Prozessesführen kann.

� In den zusammengestellten Teams gilt das Prinzip vertrauensvoller Kooperation.Das heißt zum Beispiel, dass alles, was im Team besprochen wird, im Teambleibt. Das gilt insbesondere für Retrospektiven!

� Ein Tabu stellen Auskünfte über Leistungen der Teammitglieder an Personen au-ßerhalb des Teams dar. Der Scrum Master sollte also mit mitarbeiterbezogenenInformationen gegenüber den Vorgesetzten der Projektmitarbeiter sehr sensibelumgehen. Mitteilungen über Arbeitsleistungen, subjektive Arbeitseinschätzun-gen der Mitarbeiter oder zwischenmenschliche Probleme zwischen den Mitar-beitern an den Arbeitgeber durch den Scrum Master sind nicht nur aus bera-tungsethischer Sicht fragwürdig. Sie sind auch in Bezug auf die Zielerreichungdes Projekts dysfunktional.

154 S. Porschen

Ist das Projekt gefährdet, wird erstens eine Reflexion über realistische Ausgangs-voraussetzungen und zweitens eine Beleuchtung der Teamdynamik notwendig. Einunvorsichtiger Schritt, der als ungerecht empfunden wird, kann die gesamte Team-dynamik gefährden.

Wenn Offenheit erwartet wird, bedarf es zudem eines Schutzraumes. Und es be-darf eines Verständnisses der darstellungsbezogenen Identitätspolitik der Mitgliederwährend und nach der Beendigung des agilen Entwicklungsprozesses, um die Ängs-te und Vorbehalte von Mitarbeitern gegenüber solchen Ansätzen nachvollziehen zukönnen. Sofern die Mitarbeiter nicht auf die persönliche Vertrauenswürdigkeit undSeriosität des Scrum Masters vertrauen dürfen, wird kaum das Potenzial offenerKommunikation in der Softwareentwicklung auszuschöpfen sein. Nur in von unmit-telbaren Sanktionen befreiten Handlungszusammenhängen wird „Offenheit“ ihrewirtschaftlichen und die Arbeitsautonomie fördernden Potenziale entfalten können(vgl. Zeller 2011).

Was kann die IT-Dienstleister zu „guter Begleitung“ antreiben? Hier kommtnicht zuletzt die innere Haltung ins Spiel, die ein Ansprechpartner, der bereits alleScrum-Rollen in den Entwicklungsprozessen eingenommen hat, für sich folgender-maßen beschreibt:

„Es ist gut, wenn man es so sieht: ,Ich diene der Sache und dem Menschen.‘ Oder um esanders zu sagen: ,Die Haltung eines guten Handwerkers, ich will mein Zeug richtig machen,ich will es gut machen.‘“

6.7 Schlussbemerkung

Das Feedback zu den hier beschriebenen Maßnahmen des Managements des Infor-mellen durch Kooperativen Erfahrungstransfer – das meist nur in Teilen eingesetztwird – ist trotz der offensichtlich gewordenen Bedenken positiv. Von Praktikernwird dieser Rahmen für Innovationsarbeit als Erfolgskonzept gewertet – auch wennes unterschiedliche Anliegen und Vorstellungen darüber gibt, was die einzelnenElemente bringen können, hätten bringen sollen oder was noch ausgeschöpft hättewerden können. Die weitere Verbreitung der agilen Entwicklungsprozesse in Formder Ansätze, die im vorliegenden Artikel auf ihr Potenzial für die Unterstützungkünstlerischer, erfahrungsgeleiteter und spielerischer Innovationsarbeit analysiertwurden, lässt somit auf neue Wege zum Management von Innovation in der Soft-wareentwicklung– aber auch der Entwicklung von Hardware hoffen.

Literatur

Beck K (1999) Optional Scope Contracts.http://xprogramming.com/ftp/Optional+scope+contracts.pdf. Zugriff 23. August 2011

6 Management des Informellen durch Kooperativen Erfahrungstransfer 155

Boes A (2010) Agile Methoden aus Sicht der Arbeitssoziologie. Interview mit Susann Mathis. In:VKSI (Verein der Karlsruher Software-Ingenieure) Magazin, H 2, S 16–17

Boes A, Kämpf T, Gül K (2011) Die IT-Industrie – Vom Eldorado gesunder Arbeit zur Burn-Out-Zone? In: Gerlmaier A, Latniak E (Hrsg) Burnout in der IT-Branche. Ursachen und betrieblichePrävention. Asanger, Kröning, S 19–52

Böhle F (2009) Weder rationale Reflexion noch präreflexive Praktik. Erfahrungsgeleitet-subjektivierendes Handeln. In: Böhle F, Weihrich M (Hrsg) Handeln unter Unsicherheit. VS –Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, S 203–230

Böhle F, Bolte A (2002) Die Entdeckung des Informellen. Der schwierige Umgang mit Koopera-tion im Arbeitsalltag. Campus, Frankfurt/Main u. a.

Böhle F, Meil P (2003) Das Unplanbare bewältigen – Erfahrungsgeleitetes Handeln im Pro-jektmanagement. In: Projektmanagement in Zeiten des Wandels. Tagungsband 2. FachtagungProjektmanagement. Zentrum für Weiterbildung und Wissenstransfer (ZWW). Universität Augs-burg, S 36–46

Bolte A, Porschen S (2006) Die Organisation des Informellen – Modelle zur Organisation vonKooperation im Arbeitsalltag. VS – Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden

Bolte A, Neumer J, Porschen S (2008) Die alltägliche Last der Kooperation – Abstimmung alsArbeit und das Ende der Meeting-Euphorie. Edition sigma, Berlin

Buchinger K (2005) Dimensionen der Ethik in der Beratung. http://www.systemagazin.de/bibliothek/texte/buchinger_Ethik_in_der_beratung.pdf. Zugriff am 19. August 2011

Burns T, Stalker GM (2003) The Management of Innovation. In: Handel MJ (Hrsg) The Sociologyof Organizations. Classic, Contemporary and Critical Readings. Sage, Thousand Oaks, S 45–51

Cockburn A (2003) Agile Softwareentwicklung. Mitp, Heidelberg u. a.

Cockburn A (2007) Agile Software Development. The Cooperative Game. Pearson Education Inc,Boston

Cohn M (2005) Agile Estimating and Planning. Pearson Education Inc., Massachusetts. http://www.mountaingoatsoftware.com/system/hidden_asset/file/15/aep_sample.pdf. Zugriff 10. August2011

Fagerberg J (2005) Innovation: A Guide to the Literature. In: Fagerberg J, Mowery D, Nelson R(Hrsg) The Oxford Handbook of Innovation. Oxford University Press, Oxford, S 1–27

Feuerhelm D, Reussner R (2010) Editorial zur Ausgabe Agil! Agile Softwareentwicklung: Rollen-spiel. Kombinationsspiel. Passspiel. VKSI (Verein der Karlsruher Software-Ingenieure) Magazin,H 2 u 3. http://www.vksi.de/fileadmin/downloads/magazin/VKSIMagazin-1002m.pdf. Zugriff 25.Juli 2011

Gerlmaier A, Latniak E (Hrsg) (2011) Burnout in der IT-Branche: Ursachen und betriebliche Prä-vention. Asanger, Kröning

Gloger B (2009) Scrum is not for everybody! http://borisgloger.com/2009/03/23/scrum-is-not-for-everybody/. Zugriff 18. August 2011

Gloger B (2011) Scrum. Produkte zuverlässig und schnell entwickeln. Hanser, München

Graebsch M, Lindemann U, Weiß S (2007) Lean Development in Deutschland. Eine Studie überBegriffe, Verschwendung und Wirkung. Dr. Hut, München

Grenning J (2002) Planning Poker or How to avoid analysis paralysis while release planning. http://www.renaissancesoftware.net/files/articles/PlanningPoker-v1.1.pdf. Zugriff 10. August 2011

Habscheid S (2001) Empraktisches Sprechen in computergestützten Arbeitssettings. In: Matu-schek I, Henninger A, Kleemann F (Hrsg) Neue Medien im Arbeitsalltag. Westdeutscher Verlag,Wiesbaden, S 17–36

156 S. Porschen

Himmelreich J (2006) Agile Softwareentwicklung nach Winston Royce. In: Oestereich B (Hrsg)Agiles Projektmanagement. dpunkt, Heidelberg, S 123–134

Hirsch-Kreinsen H (2008) Innovationspolitik: Die Hightech-Obsession. In: Hirsch-Kreinsen H,Weyer J Soziologisches Arbeitspapier 22/2008, Technische Universität Dortmund. http://www.wiso.tu-dortmund.de/wiso/is/Medienpool/Arbeitspapiere/ap-soz22.pdf. Zugriff 25. Juli 2011

Howaldt J, Schwarz M (2010) Soziale Innovation im Fokus. Transcript, Bielefeld

Hruschka P (2005) Seien Sie agil! In: Starke G (Hrsg) Effektive Software-Architekturen. Hanser,München u. a., S 7–8

Keller E (1998) Arbeiten und Spielen am Arbeitsplatz. Campus, Frankfurt/Main u. a.

Kreikebaum M (2009) Ästhetik als Produktionsfaktor. Kunst und Kultur als Bestandteil des tägli-chen Schaffens. In: Innovationsmanager. Magazin für Innovationskultur, H 1, S 86–87

Lozanov G (1978) Suggestology and Outlines of Suggestopedy (Psychic Studies). Routledge, Lon-don

Lundak J (2006) Chaos oder Wunderwaffe? In: Enterprise Architektur Magazin, H 10, S 56–57

Lutz B, Winge S (2007) Innovation in kleinen Unternehmen. Hinweise und Anregungen fürden Praktiker. Zentrum für Sozialforschung Halle e.V. an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Northover M, Northover A, Gruner S, Kourie DG, Boake A (2007) Extreme Programming: AKuhnian Revolution? In: Akhgar B (Hrsg) ICCS 2007. Proceedings of the 15th International Work-shops on Conceptual Structures. Springer, London, S 199–204

Oeij P, Krann KO, Vaas F (2010) Impact of social innovation on organisational performan-ce and sickness absence. Paper XVII ISA World Congress of Sociology, Session 5: Innovationclusters. Actors, promoters and incubators. ISA International Sociological Association, 11-17July, 2010, Gothenburg, Sweden. http://www.tno.nl/downloads/social_innovation_conference_presentation.pdf. Zugriff 25. Juli 2011

Oestereich B (Hrsg) (2006) Agiles Projektmanagement. dpunkt, Heidelberg

Porschen S (2002) Erfahrungsgeleitete Kooperation im Arbeitsalltag – Neue Anforderungen anIngenieure. ISF München Forschungsberichte, München

Porschen S (2008) Austausch impliziten Erfahrungswissens. VS – Verlag für Sozialwissenschaf-ten, Wiesbaden

Rammert W (2008) Technik und Innovation. In: Maurer A (Hrsg) Handbuch der Wirtschaftssozio-logie. VS – Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, S 291–319

Schachtner C (1993) Geistmaschine. Faszination und Problematik am Computer. Suhrkamp,Frankfurt/Main

Schön, D (1983) The Reflective Practitioner. How Professionals Think in Action. Basic Books,New York

Schwaber K (2007) Agiles Projektmanagement mit Scrum. Microsoft Press, Seattle

Schwaber K (2008) Scrum im Unternehmen. Microsoft Press, Seattle

Schwaber K, Beedle M (2001) Agile Software Development with SCRUM. Prentice Hall, NewJersey

Sieber A (2006) Arbeitsstile in der Softwareentwicklung. Wie die Einführung neuer Me-thoden in kleinen Softwareunternehmen gelingt. Dissertation an der Technischen Universi-tät Chemnitz. http://www.qucosa.de/recherche/frontdoor/?tx_slubopus4frontend%5bid%5d=urn:nbn:de:bsz:ch1-200700014. Zugriff 22. August 2011

6 Management des Informellen durch Kooperativen Erfahrungstransfer 157

Simonsmeier W (1992) Arbeitszufriedenheit und Überforderung der Software-Entwicklerinnenund Software-Entwickler. In: Trautwein-Kalms G (Hrsg) Kontrastprogramm Mensch – Maschine.Bund, Köln, S 202–211

Sprengholz P (2011) Lean Software Development: Kundenzentrierte Softwareentwicklung durchAnwendung schlanker Prinzipien. Akademische Verlagsgemeinschaft, München

Wehner T, Raeithel A, Clases E, Endres E (1996) Von der Mühe und den Wegen der Zusam-menarbeit – Ein arbeitspsychologisches Kooperationsmodell. In: Endres E, Wehner T (Hrsg.)Zwischenbetriebliche Kooperation. Psychologie-Verlags-Union, Weinheim, S 39–58

Wühr D, Sauer S (2010) „Scrum“ als Innovations- und Emanzipationsgenerator? Was traditio-nelle Branchen von der agilen Software-Entwicklung lernen können. In: Computer und Arbeit.Vernetztes Wissen für Betriebs- und Personalräte, H 11, S 10–14

Zeller C (2011) (Beratungs-)Ethische Probleme in agilen Softwareprozessen. UnveröffentlichtesManuskript

Zobel A (2005) Agilität im dynamischen Wettbewerb. Deutscher Universitätsverlag, Wiesbaden

Kapitel 7Management des Informellendurch Entscheidungen im Arbeitsprozess

Judith Neumer

Innovationen finden nicht nur in der Forschung und Entwicklung eines Unterneh-mens statt, sondern auch in ausführenden Bereichen wie der Produktion. Im direk-ten Umgang mit Arbeitsgegenständen und -mitteln entstehen immer wieder Impulseund Ideen für Veränderungen und Verbesserungen der Produkte, Produktionsweisenund -abläufe. Innovationsarbeit beinhaltet das Treffen verschiedenster Entscheidun-gen über das weitere Vorgehen bei der Auswahl und Umsetzung neuer Ideen. In denausführenden Bereichen finden diese Entscheidungen vor allem im laufenden Ar-beitsprozess statt. Sie zeichnen sich durch eine künstlerische Haltung, erfahrungs-geleitetes Vorgehen und eine spielerische Situationsdefinition aus. Aufgabe einesManagements des Informellen ist es, Entscheidungen im laufenden Arbeitsprozesszu ermöglichen und zu unterstützen.1

7.1 Produktion als „Ort“ der Innovation

Mittlerweile kann der Trend zur Open Innovation nicht nur überbetrieblich, son-dern auch innerbetrieblich gefasst werden (vgl. Reichwald et al. 2010). Unter demStichwort „employee driven innovation“ finden sich vor allem in der skandinavi-schen Literatur – sowie auch in der spanischen, französischen und italienischenForschung – Studien zu Innovationsarbeit auf allen Ebenen und in allen Bereichenvon Unternehmen (vgl. Høyrup 2010; LO 2008; Kesting u. Ulhøi 2010; Teglborg-Lefèvre 2010; Kristensen 2010; Møller 2010; Ahedo 2010; Telljohann 2010).

Hieran anknüpfend werden in diesem Kapitel Beschäftigte in der Produktionals Akteure der Innovation und die Produktion selbst als Ort der Innovationsarbeit

1 Für die Unterstützung bei den empirischen Erhebungen bedanke ich mich bei Martina Hedwig.

Judith Neumer (B)Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e.V. (ISF) München, Jakob-Klar-Straße 9,80796 München, [email protected]

159F. Böhle et al. (Hrsg.), Innovation durch Management des Informellen,DOI 10.1007/978-3-642-24341-7_7,© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012

160 J. Neumer

betrachtet. Im Mittelpunkt stehen dabei inkrementelle Innovationen, also Entwick-lungen, die auf einem Status quo aufbauen und diesen schrittweise verändern – imGegensatz zu sog. radikalen Innovationen, die ein völlig neues Produkt (im weiterenSinne) zur Folge haben. Diese Perspektive geht mit aktuellen Ansätzen in der Inno-vationsforschung konform, die zum einen inkrementelle Innovationen als Motor derInnovationsfähigkeit eines Unternehmens insgesamt betrachten2 und zum anderenInnovationen als nur in ihrem spezifischen Kontext identifizierbar definieren3 (vgl.Keucken u. Sassenbach 2010, S. 390). Der Fokus auf inkrementelle Innovationendurch Innovationsarbeit in der Produktion steht im deutlichen Gegensatz zu For-schungsansätzen, die Innovationsarbeit nur dort verorten, wo sie einen offiziellenBestandteil der Arbeitsaufgabe darstellt (vgl. Moldaschl 2007, S. 495). Innovati-onsarbeit in Bereichen, in denen sie nicht offiziell vorgesehen ist, ist nicht per se„zufälliges“ Handeln. Und die Umsetzung einer neuen Idee muss nicht zwangsläu-fig in gesonderten Gremien wie Quality- oder KVP-Zirkeln erfolgen, sondern siekann auch im laufenden Arbeitsprozess bzw. in situativ eingerichteten Freiräumenstattfinden.4

Der Blick auf laufende Arbeitsprozesse ist auch hinsichtlich der internationa-len Forschung eine Erweiterung. Hier werden zwar informelle Aspekte des Ler-nens (vgl. Høyrup 2010), der Interaktion und Kooperation (vgl. Høyrup 2010; Kes-ting u. Ulhøi 2010), des Wissensaustauschs (vgl. Høyrup 2010; Kesting u. Ulhøi2010; Teglborg-Lefèvre 2010) und auch spezifische Wissensformen (kontextabhän-giges Wissen, Erfahrungswissen etc., vgl. Kesting u. Ulhøi 2010; LO 2008) fürInnovationsarbeit thematisiert. Allerdings beschäftigen sich diese Untersuchungenvorrangig mit der Frage, wie Innovationsarbeit jenseits der Forschungs- und Ent-wicklungsabteilungen in formal geregelte Strukturen und Abläufe überführt werdenkann. Die Vorschläge hierzu laufen einheitlich auf eine Trennung von Innovati-onsarbeit und eigentlicher Arbeitstätigkeit hinaus.5 Demgegenüber wird in diesem

2 Inkrementelle Innovationen gelten als „Nährboden“ für radikalere Neuerungen, beide Formenbefruchten sich gegenseitig (vgl. Høyrup 2010, S. 147; LO 2008, S. 12 f.).3 Und zwar sowohl hinsichtlich der Unterscheidung inkrementell – radikal als auch hinsichtlich derFrage der Neuartigkeit. Die Einführung einer neuen Technologie zur Herstellung von elektrischenKontakten revolutioniert bei weitem nicht das Auto, in diesem Kontext handelt es sich um eineinkrementelle Innovation. Aber womöglich revolutioniert diese neue Technologie das Innenlebenelektrischer Fensterheber und stellt in diesem Rahmen eine radikale Neuerung dar. Analog wirdin vorliegender Untersuchung die Neuartigkeit einer Veränderung definiert: Neu ist das, was imjeweiligen Kontext neu ist, also als neue Handlungsweise erschlossen werden muss.4 Porschen (2008a, S. 180 f.) gibt einen Hinweis darauf, dass Praktikergemeinschaften überbekannte Formen der Arbeitskooperation und des Wissensaustauschs hinaus einen Stellen-wert haben: „Unternehmen benötigen nicht nur fest etablierte Praktiker-Gemeinschaften, derenMitglieder sich längerfristig und regelmäßig treffen. Vielmehr bedarf es auch solcher Praktiker-Gemeinschaften, die sich unmittelbar problembezogen und damit situativ zusammenfinden, umein akut anstehendes Problem zu lösen.“5 Im Vordergrund stehen Verfahren zur Sammlung, Beurteilung und Auszeichnung vonMitarbeiterideen zum formal geregelten Wissensaustausch über Abteilungs- und Hierarchie-grenzen hinweg (beispielsweise durch spezielle Meetingformen) und zur Weiterbildung derBeschäftigten (vgl. Kristiansen u. Bloch-Poulsen 2010; Teglborg-Lefèvre 2010; LO 2008).

7 Management des Informellen durch Entscheidungen im Arbeitsprozess 161

Kapitel aufgezeigt, wie Innovationsarbeit und die ihr inhärenten Entscheidungenin laufenden Arbeitsprozessen durch die Beschäftigten selbst organisiert werdenkönnen, welche subjektiven Leistungen hierbei erbracht werden und wie das Ma-nagement diese informellen Prozesse stützen und befördern kann, ohne sie durchFormalisierungsbestrebungen zu gefährden.

Entscheidung in laufenden Arbeitsprozessen bei Innovationen6 wurde in einemmittelständischen Unternehmen des Baunebengewerbes untersucht.7 Das Unter-nehmen verfügt über zwei Produktionsstandorte in Deutschland, wovon einer alsHauptstandort mit den entsprechenden Verwaltungs- und Managementstrukturenfungiert. Neben vereinzelten Entwicklungen eigener neuer Produkte konzentriertsich das Unternehmen als Systemabnehmer vor allem auf die Fertigung und End-montage der Produkte. Hierbei werden in erster Linie spezifische Kundenwünscheumgesetzt, so dass es sich vorwiegend um Klein- und Kleinstserienproduktionenhandelt. Die Innovationen liegen dementsprechend im Bereich der inkrementellenWeiterentwicklung der Produktkomponenten und deren technischer Integration,ebenso in der bedarfsgerechten Veränderung und Verbesserung der Produktions-weisen und -prozesse.8 Die Produktion ist teilweise automatisiert, beinhaltet aberzu einem großen Teil auch handwerkliche Arbeit. Als mittelständischer Systemab-nehmer verfügt das Unternehmen nicht über eine eigene Entwicklungsabteilung,sondern über ein technisches Büro, welches in Zusammenarbeit mit externen Ent-wicklern die Verantwortung für Innovationen innehat.

An den inkrementellen Produkt- und Prozessinnovationen ist aber bei weitemnicht nur das technische Büro beteiligt. Die inkrementellen Innovationen findenvor allem auch in der Produktion und den produktionsnahen Bereichen statt, dennsie sind eine wichtige Schnittstelle: Ingenieure9 und technische Zeichner kommenin die Produktion und den Versuchsaufbau, um gemeinsam mit den Beschäftigtenvor Ort Lösungen für Probleme zu finden und offene Fragen zu klären; Mitarbeiter

6 Zu Beginn des Forschungsprojekts leitete Annegret Bolte die Untersuchungen zu diesem For-schungsfeld. An dieser Stelle sei ihr herzlich gedankt für die Unterstützung während des gesamtenProjekts.7 Im untersuchten Unternehmen wurden 18 halbstandardisierte qualitative Interviews (Einzel-und Gruppengespräche) mit Beschäftigten unterschiedlicher Unternehmensbereiche, Standorteund Hierarchieebenen geführt. Die Interviews wurden aufgezeichnet, transkribiert und nach denMaßgaben der strukturierenden Inhaltsanalyse ausgewertet. Die Interviews fanden in drei Er-hebungswellen über einen Zeitraum von einem Jahr statt. Die Erhebungen wurden jeweils vonBetriebs- und Arbeitsplatzbesichtigungen flankiert.8 Zum Untersuchungszeitpunkt befand sich das Unternehmen in einer längeren und umfas-senden Umbruchphase, die die strategische Ausrichtung, die organisatorischen Strukturen desGesamtunternehmens und die Organisation und technologische Weiterentwicklung der Produktionbetraf. Neben dem weiterhin bestehenden Kerngeschäft als Systemabnehmer will das Unterneh-men zukünftig auch verstärkt eigene Produkte entwickeln. Das Unternehmen stellt Produkte derSonnenschutztechnik her. So betrachtet die vorliegende Fallstudie die Entwicklung und Serienpro-duktion beispielsweise von Jalousien nach individuellen Kundenbedürfnissen.9 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Text jeweils nur die männliche Form gebraucht.Selbstverständlich ist jedoch an jeder Stelle auch das weibliche Geschlecht adressiert.

162 J. Neumer

anderer Bereiche (z. B. Einkauf, Vertrieb) gehen durch die Produktion und habenspontane Einfälle, was man am Produkt, an der Verpackung, an der Lagerung ver-ändern könnte; die Produktionsarbeiter selber haben Ideen zur Verbesserung derProduktionsweisen und -abläufe und der Produkte. In der Produktion ist also ei-ne lebendige Form eines kontinuierlichen Verbesserungsprozesses zu beobachten,der vor allem von der Expertise der Beschäftigten vor Ort getragen wird und vomdirekten Gegenstandsbezug lebt: Die Produktionsarbeiter kennen sich mit den prak-tischen Details des Produkts und des Produktionsvorgangs aus, sie sind kompetenteAnsprechpartner, wenn es darum geht, Problemstellungen im Konkreten zu ergrün-den oder neue Ideen direkt auszuprobieren. Der Gegenstandsbezug birgt enormesErkenntnispotenzial, so dass neue Ideen unbürokratisch und schnell entweder um-gesetzt oder verworfen werden können – in beiden Fällen kommt man über diepraktische Handlung im konkreten Ausprobieren zu einer tragfähigen und ange-messenen Entscheidung.10

Im planungsorientierten Innovationsmanagement werden solche Vorgehenswei-sen zur Innovation kaum systematisch in den Blick genommen,11 die Innovationsar-beit in der Produktion wird in der einschlägigen Literatur weitestgehend vernachläs-sigt.12 Dabei sind die Innovationsleistungen in der Produktion erfolgskritisch für dieinsgesamte Innovationsfähigkeit von Unternehmen. So machten Jürgens und Lip-pert bereits 1997 darauf aufmerksam, dass vor allem in deutschen Unternehmen die„Produktionskompetenz“ für Innovationen unterschätzt werde. In der Regel seienwährend der Konzeptionsphase lediglich einzelne Personen aus der Arbeitsvorbe-reitung mit der Überprüfung der Konstruktionszeichnungen und der Aufarbeitungder Arbeitspläne für die Produktion betraut. Ein Großteil der potenziellen Beiträ-ge der Produktion zum Erfolg des Innovationsprozesses komme damit gar nichtzum Einsatz. Kritisch erscheine vor allem die mangelnde Einbeziehung der Werkerselbst. Im Vergleich agierten amerikanische Unternehmen hier nachhaltiger, indemdas Erfahrungswissen der Beschäftigten in der Produktion frühzeitig eingebundenwerde:

„Die Werkerbeteiligung hat nicht nur zu spezifischen produkt- und prozesstechnischen Än-derungen geführt, sondern auch wesentlich zu einer Verminderung der Probleme beim

10 Dies steht in einem deutlichen Gegensatz zum Instrument des betrieblichen Vorschlagswesens.Nicht nur im Beispiel-, sondern auch in vielen anderen Unternehmen ist dieses Instrument zurSammlung der Ideen Beschäftigter aller Bereiche nicht nachhaltig wirksam. Aus verschiedens-ten Gründen (etwa zu lange Umsetzungsdauer, mangelnde Anerkennung für umgesetzte Ideen,fehlendes Feedback und unklare Auswahlkriterien) ebbt das Interesse der Beschäftigten an derTeilnahme oft und schnell deutlich ab.11 Wenn doch, geschieht dies mit dem Bestreben, Ordnung ins vermeintliche „Chaos“ zu bringen.12 Mit der aktuellen Debatte zur „employee driven innovation“ wird zwar teilweise die Gruppeder un- und angelernten Beschäftigten in den Blick genommen, es wird aber kaum zwischen Mit-arbeitergruppen einzelner Unternehmensbereiche differenziert. Die Gruppe der Beschäftigten inder Produktion erhielt vor allem Ende der 1990er Jahre besondere Aufmerksamkeit unter demStichwort des „empowerment“ (vgl. Ahanotu 1998). Jürgens und Lippert thematisierten 1997 imSpeziellen die Rolle der Produktionsarbeiter in Innovationsprozessen. Danach scheint die Befor-schung dieses Bereichs abgeebbt zu sein.

7 Management des Informellen durch Entscheidungen im Arbeitsprozess 163

Serienanlauf und in der Serienfertigung selbst beigetragen. Dabei erwies es sich als au-ßerordentlich nützlich, dass informelle Netzwerke zwischen den Produkt- und Prozessent-wicklern, Zulieferern und Montagewerkern entstanden waren, die in der Phase des Anlaufsund danach unbürokratisch und rasch Problemlösungen zu finden halfen, während in dertraditionellen Organisation kostspielige Produktionsunterbrechungen und Qualitätsproble-me zu befürchten gewesen wären.“ (Jürgens u. Lippert 1997, S. 82)13

In der Konsequenz ergäben sich für die untersuchten deutschen Unternehmennicht nur deutliche Probleme im Serienanlauf, die Beschäftigten in der Produktionentwickelten auch verhältnismäßig wenig „Ownership-Bewusstsein“ für das neueProdukt bzw. den neuen Prozess.

Mittlerweile zeigt sich in produzierenden Unternehmen ein steigendes Bewusst-sein für die Relevanz der Produktionsperspektive im Innovationsprozess,14 in dereinschlägigen Literatur zu Innovationsmanagement wird dieser Trend jedoch nochnicht systematisch reflektiert.

7.2 Entscheidungen außerhalbund innerhalb des Arbeitsprozesses

Die in der einschlägigen Literatur zum Innovationsmanagement dargestellten Ver-fahren zur Durchführung und Gestaltung von Innovationsprozessen in Unterneh-men15 überschneiden sich in deutlichem Maß mit empfohlenen Prozederen zurEntscheidungsfindung: Es handelt sich überwiegend um Planungs- und Analyseme-thoden wie beispielsweise Szenariotechniken, Roadmapping, Portfolioanalyse undScoring-Modelle. Diese und weitere vorherrschende Modelle zu Innovationsmana-gement und Entscheidungsfindung zielen auf eine weitestgehende Formalisierungvon Vorgehensweisen und die Objektivierung von eingesetzten Wissensbeständen:

„Durch die Systematik von Methoden sollen komplexe Aufgaben strukturiert abgearbeitet,Fehler vermieden, die Grenzen individueller intellektueller Fähigkeiten überwunden unddie Objektivität und Rationalität bei der Bearbeitung von Aufgaben erhalten werden kön-nen.“ (Gärtner 2007, S. 121)

Es ist mittlerweile kaum mehr strittig (weder in der Wissenschaft noch in derunternehmerischen Praxis), dass perfekt rationale Entscheidungen selten möglich

13 Ein mangelndes Bewusstsein für die Relevanz von Produktionsaspekten für Innovationen zeigtsich Jürgens und Lippert (1997, S. 82) zufolge auch darin, dass der „Fertigungserfahrung alsElement der betrieblichen Sozialisierung und Qualifizierung in Deutschland ein geringerer Wertbeigemessen wird als in den USA. In den von uns untersuchten deutschen Unternehmen warensowohl die gegenwärtige Praxis wie auch der Wunsch, Ingenieure in der Fertigung anzulernen,erheblich weniger ausgeprägt als bei den US-amerikanischen Unternehmen.“14 Beispielsweise geben Bolte und Porschen (2007) in einer Untersuchung zur Beschleunigung vonProduktionsanläufen Hinweise auf eine Integration des Produktionsbereichs bereits in den erstenPlanungsstufen.15 Für einen umfassenden Überblick siehe Gärtner (2007, S. 119f.).

164 J. Neumer

sind. Entscheidungsalternativen, deren Konsequenzen und die kontextuellen Rah-menbedingungen sind stets schon je für sich genommen von letztlich nicht hin-tergehbaren Unsicherheiten gekennzeichnet, die sich potenzieren, sobald man ver-sucht, relevante Wechselverhältnisse zu erfassen. Vor allem in Innovationsprozessentritt das Moment der fundamentalen Unsicherheit von Entscheidungen deutlich zuTage, da es immer um die Erschließung bisher unbekannter Möglichkeiten geht. Diebekannten Methoden und Verfahren bieten eine spezifische Antwort hierauf, derenAlternativlosigkeit durchaus angezweifelt werden kann: Unsicherheit muss durchdetaillierte Planung und zugleich umfassende Berücksichtigung aller erdenklichenrelevanten Aspekte so weit als möglich minimiert werden, um annäherungsweisetragfähige Entscheidungen treffen zu können.

7.2.1 Entscheidungsfindung in Meetings

Die bevorzugte Form der Sammlung, Koordinierung und Abstimmung von Wis-sensbeständen und der Erarbeitung und Diskussion von Analyseergebnissen istin Unternehmen die diskursive Koordinierung in Gremien, Meetings und Bespre-chungsrunden (vgl. Bolte et al. 2008).16 Hier werden strategische Entscheidungenzu Ausrichtung und Wandlung von Unternehmen(sbereichen), Investitionsentschei-dungen über die Entwicklung und Einführung neuer Technologien und Produkte,Entscheidungen im Rahmen laufender Innovationsprojekte etc. getroffen. DieseEntscheidungen am „grünen Tisch“ zeichnen sich durch eine spezifische Hand-lungsweise aus: Sie erfolgen getrennt von der produktiven Arbeit an einemgesonderten Ort, sie sind zeitlich und inhaltlich geplant und beruhen auf expli-zierbarem Wissen und sprachlich-argumentativer Verständigung – in Gremien undMeetings werden Entscheidungsfindungen inhaltlich objektiviert und in ihremAblauf formalisiert.

Meetings bringen zweifelsohne eine Reihe von Vorteilen mit sich: alle Beteilig-ten werden auf den gleichen Informationsstand gebracht, der Entscheidungsprozesswird transparent und intersubjektiv nachvollziehbar, unterschiedliche Perspektivenwerden eingebracht, Aufgaben können offiziell verteilt werden etc. Gleichzeitigkönnen Abstimmungsprozesse in Meetings jedoch auch bemerkenswerte Nachteilemit sich bringen, denen auch eine bessere Organisation der Besprechungen kaumbeikommen kann. So ist eigenen bisherigen Untersuchungen nach paradoxerwei-se ein zentrales Problem von Meetings, dass die Beteiligten dort zu keinen Ent-

16 Reppesgaard (2002) zufolge ist die Frequenz von Besprechungsrunden vor allem in deut-schen Unternehmen vergleichsweise hoch. Rausch hat eine Reihe von internationalen Studienzusammengetragen, die die Häufigkeit von Meetings in modernen Unternehmen belegen. Zumeistthematisieren diese Studien auch das Phänomen, dass ein Großteil der abgehaltenen Meetingsin den Augen der Teilnehmer zu viel Zeit benötigt und zu wenige brauchbare Ergebnisse liefert(Rausch 2008, S. 5 f.).

7 Management des Informellen durch Entscheidungen im Arbeitsprozess 165

scheidungen kommen: Sie werden beispielsweise mit Informationen überflutet, de-ren Auswertung und Ordnung neue Probleme bereiten; Entscheidungskompetenzenfehlen oder sind unklar; aufgrund einer unternehmenskulturell verankerten Null-Fehler-Toleranz bestehen Entscheidungsscheu oder gar -ängste und in der Konse-quenz werden die Meetings eher zur Absicherung und Rechtfertigung der eigenenHandlungen als zur produktiven Erörterung eines Sachverhalts genutzt (vgl. Bolteu. Neumer 2008).

In ihrer breit angelegten Studie zu Innovationshemmnissen machten Jürgens undLippert darauf aufmerksam, dass vor allem in deutschen Unternehmen Innovati-onsprojekte durch eine hohe Dichte an Gremien zur Aushandlung und Abstim-mung gekennzeichnet sind, die jedoch „in erster Linie eine Koordinierungs- undInformationsfunktion“ (1997, S. 84) haben und kaum zur Klärung sachbezoge-ner Fragen dienlich sind, im Gegenteil: Entscheidungsprozesse ziehen sich in dieLänge, getroffene Entscheidungen werden immer wieder neu in Frage gestellt, dieTeilnehmer machen die Erfahrung, dass die wirklich relevanten Entscheidungen ananderen Stellen getroffen werden; letztlich treibt der beobachtbare übermäßige Ein-satz formaler Gremien Entwicklungskosten und -zeiten in die Höhe (ebd.). Unserenneueren Untersuchungen zufolge hat sich an diesem häufigen Einsatz von Meetingsund Besprechungen und an den hiermit verbundenen Effizienzproblemen bis datokaum etwas geändert. Eine solche Meetingkultur wird von den Beschäftigten haupt-sächlich als Belastung empfunden (vgl. Neumer 2007; Bolte et al. 2008; Porschen2008b).

Der beobachtbare Trend, Innovation zur Aufgabe aller Mitarbeiter – nicht nurder Forschungs- und Entwicklungsabteilungen – zu machen, verschärft diese Pro-blematiken von Meetings. Noch mehr Teilnehmer in noch mehr Planungs- undBesprechungsrunden zu schicken kann kaum eine erfolgversprechende Strategie zurBewältigung der ansteigenden Innovationsanforderung sein.

7.2.2 Entscheidungsfindung im laufenden Arbeitsprozess

Entscheidungsfindungen in Meetings orientieren sich an Maßgaben der Zweckra-tionalität und Planung. In Meetings werden Entscheidungsalternativen und derenKonsequenzen „im Geist“ analysiert. Die Umsetzung der Entscheidung ist demnachgelagert und erfährt als eigentliche Handlung in den etablierten Entscheidungs-modellen und -theorien bisher wenig Aufmerksamkeit. Im Folgenden werden em-pirische Ergebnisse zu Entscheidungsprozessen vorgestellt, die jenseits der stan-dardisierten Methoden und Rahmenbedingungen stattfinden, nämlich im laufendenProzess der produktiven Arbeit, und gerade deswegen einen wichtigen Beitrag zurInnovationsfähigkeit von Unternehmen leisten. In Entscheidungen im laufendenArbeitsprozess kommt weniger rational-planungsorientiertes als vielmehr künstleri-sches, erfahrungsgeleitetes und spielerisches Handeln zum Einsatz; Handlungszieleund Problemlösungen erschließen sich nicht über detaillierte Bedarfs- und Mach-

166 J. Neumer

barkeitsanalysen, sondern werden im Prozess selbst „erfahren“. Bei Entscheidun-gen im Arbeitsprozess wird also die Trennung von analysierend-planender Refle-xion und praktischer Umsetzung tendenziell aufgehoben. Dementsprechend ist ein„Entscheiden im Handeln“17 zu beobachten.

Impulse für Innovationen entstehen oftmals ungeplant, in der spontanen Ver-knüpfung unterschiedlicher Wissensbestände, durch ein Gespür für neue Anforde-rungen oder Lösungswege sowie durch ungewöhnliche assoziative Verbindungenvon bisher getrennt betrachteten Problemen und Erkenntnissen – dies passiert vorallem im eigentlichen Arbeitshandeln, Entscheidungen stellen dabei im Suchpro-zess sozusagen die Weichen. Der Modus der diskursiven Koordinierung in Meetingsist für eine Beförderung solcher Impulse, das schnelle Aufgreifen und die zeitnaheUmsetzung kaum geeignet.

In der aktuellen Diskussion wird darauf hingewiesen,

„dass rationale Methoden wesentliche Qualitäten gelungener Entscheidungen nicht erfas-sen können, da menschliche Existenz und menschliche Erkenntnisfähigkeit weit mehr um-fassten als rationales Erfassen und das ,Gespür‘ oft notwendig sei, um innovative Entschei-dungen treffen zu können, da logisch-rationales Denken nicht in der Lage sei, systemüber-steigend Neues hervorzubringen.“ (Sevsay-Tegethoff 2007, S. 158 f.)

Künstlerisches, erfahrungsgeleitetes und spielerisches Handeln kann als Aus-druck eines solchen Gespürs verstanden werden, das in Entscheidungen in laufen-den Arbeitsprozessen viel selbstverständlicher zum Einsatz kommt als in standar-disierten Verfahren und planungsorientierten Meetings.

Entscheidungen im künstlerischen, erfahrungsgeleiteten und spielerischen Han-deln beruhen maßgeblich auf informellen Abstimmungsprozessen und der Anwen-dung impliziten Wissens. Dennoch sind Entscheidungen in laufenden Arbeitspro-zessen keine Black Box, sie folgen spezifischen Handlungssystematiken und be-dürfen eines „Managements des Informellen“, um effizient und effektiv wirksam zusein.

7.3 Entscheidungen bei Innovationsarbeit

Im Folgenden wird gezeigt, wie Innovationsarbeit in der Produktion praktisch statt-findet und in welcher Weise die Elemente des Künstlerischen, Erfahrungsgeleitetenund Spielerischen für Entscheidungen im Innovationsprozess relevant sind.

Die Produktionsarbeiter betreiben permanente Arbeitsplatzoptimierung, sie ge-hen dabei kreativ vor, kombinieren vorhandene Möglichkeiten, Gegenstände undMaterialien neu. Anstöße sind konkrete Problembehebungen oder auch einfachspontane Eingebungen: Ein Blick fällt auf einen Gegenstand oder eine Vorrichtung

17 Eine Auseinandersetzung mit der Differenzierung und dem theoretischen und praktischen Ver-hältnis von „Entscheiden“ und „Handeln“ kann an dieser Stelle nicht vorgenommen werden, siehehierzu jedoch konkreter Neumer 2012.

7 Management des Informellen durch Entscheidungen im Arbeitsprozess 167

und man hat blitzartig eine Idee, was man damit machen könnte. In der Produktionwerden jedoch nicht nur vorhandene Arbeitsplätze verbessert, sondern auch nötigeneue Arbeitsplätze durch Produktionsarbeiter selbst installiert und organisiert.

Neben und im Zuge der permanenten Arbeitsplatzoptimierung werden auch Pro-duktionsweisen und -abläufe verbessert. Alte Vorgehensweisen werden teilweiseverändert oder komplett umgestellt, störende Vorgänge oder überflüssige Arbeits-schritte werden eliminiert, indem man neue Ideen vor Ort ausprobiert.

In der Produktion entstehen auch Impulse für die Veränderung der Produkteselber, sei es durch Produktionsmitarbeiter oder in Kooperation mit Mitarbeiternanderer Unternehmensbereiche; viele Ideen werden gemeinsam am Produkt, amGegenstand entwickelt.

Im Zuge dessen treffen die beteiligten Beschäftigten permanent Entscheidungen,beispielsweise darüber, ob eine Idee wirklich ausprobiert wird, welche Kollegen zurHilfe herangezogen werden, welche Materialien und Gegenstände wie zur Anwen-dung kommen, in welche Richtung der Explorationsprozess weiter vorangetriebenwird, welche Lösung final umgesetzt wird – diese Entscheidungen fallen im laufen-den Prozess und im autonomen Handeln der Beschäftigten.

7.3.1 Künstlerische Haltung im Entscheiden

Mit der Kategorie des Künstlerischen ist nicht gemeint, dass kunstvolle oder künst-lerisch wertvolle Ergebnisse im Entscheidungshandeln produziert werden. Sonderndie Kategorie des Künstlerischen birgt die spezifischen Aspekte einer Offenheitfür Unbekanntes, des kreativen Scheiterns und des inneren Anliegens (vgl. Ab-schn. 3.3), die für Entscheidungsfindungen relevant sein können. „Künstlerisch“ imRahmen von Innovationsarbeit bezieht sich auf eine besondere subjektive Haltung,die das innovative Potenzial von Entscheidungsprozessen steigert.

So zeigt sich eine subjektive Offenheit für Unbekanntes in einer Bereitschaftzur Perspektivenverschränkung im Entscheidungsprozess. Auch Mitarbeiter ande-rer Bereiche (z. B. Einkauf, Vertrieb, technisches Büro) sind in der Produktionunterwegs. In ihrem Arbeitsalltag ist es immer mal wieder nötig, in die Produk-tion zu gehen, um mit Personen zu sprechen oder konkrete Dinge anzuschauen.Hierbei können produktionsfremden Mitarbeitern Details auffallen, die den Be-schäftigten in der Produktion selber nicht (mehr) auffallen („Betriebsblindheit“),oder sie können bei einer Problemlösung oder in Veränderungsbemühungen nocheine entscheidende Idee oder relevantes Wissen aus einer anderen Perspektive ein-bringen. So schildert eine Mitarbeiterin aus der Einkaufsabteilung:

„Meinetwegen, dass du durch die Fertigung gehst und siehst, die haben dort ein Problem,und du weißt halt, das könnte man eigentlich so und so lösen. Dann gehst du halt erst mal

168 J. Neumer

über den Meister ran und sagst: ,Ist das überhaupt realistisch, wenn man das so und so lösenwürde?‘“18

Ein Vertriebsmitarbeiter beschreibt die Notwendigkeit des Austauschs mit denProduktionsarbeitern vor Ort:

„Wenn ich jetzt mit dem Produkt arbeite, mit einer Neuentwicklung oder jetzt eben in derFertigung mit einer Reklamation oder irgendwas, dann fällt es halt einfacher, wenn mandas dann anschaut und mit dem Kollegen diskutieren kann. Wenn das jetzt wirklich nichtmöglich wäre, dann müsste man ja Bilder machen oder – ich kann es mir eigentlich gar nichtvorstellen, dass man das jetzt einfach nur beschreiben kann und dann wird das Problembehoben. Ich kann es mir so nicht vorstellen. [. . . ] Oder vielleicht sieht man auch dann dieUrsache gleich an einem Automaten.“

Dasselbe gilt für den Austausch zwischen Mitarbeitern unterschiedlicher Pro-duktionsbereiche. Ein kurzes Nachfragen, ein kurzer Austausch am Gegenstandbringt schnelle Klärung und Ideen, die zeitnah umgesetzt werden können.

Fehlentscheidungen möchte man dabei zwar stets vermeiden, dies ist jedochkaum zu hundert Prozent möglich. Fehlentscheidungen markieren ein Scheitern,das jedoch kreativ gewendet werden kann und innovatives Potenzial birgt, wenn esals Anreiz zum Lernen interpretiert wird, wenn Fehlentscheidungen also als Aus-gangspunkt für eine Suche nach neuen Problemlösungen betrachtet werden. EinProduktionsarbeiter paraphrasiert dies folgendermaßen: „Wie sagt man so schön:Wer A sagt, muss nicht B sagen, sondern kann erkennen, dass A falsch war.“ Undein Meister aus der Produktion führt konkreter aus:

„Gut, das war ein Fehler und ich suche dann eine bessere Lösung. Ich habe gedacht, wennman das so macht, ist das besser und geht schneller und einfacher. Wir haben es dann auchso gemacht und dann war es doch nicht so gut. Dann habe ich zugegeben: Ja, gut, war haltdoch nichts, wir müssen es doch wieder anders machen. Aber wir haben es versucht, dieIdee war schon ok, aber es hat nicht funktioniert. Also das gebe ich dann schon zu, das istein Fehler, das müssen wir halt noch mal machen, bzw.: ,Was sollen wir machen, damit eswirklich geht?‘“

Letztlich haben die Beschäftigten ein intrinsisch motiviertes Interesse an ihrerArbeit, sie haben ein inneres Anliegen, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Mitdem inneren Anliegen wird immer auch ein persönlicher Ausdruck, eine subjekti-ve Haltung transportiert, was „gute Arbeit“ eigentlich ist. Diese subjektive Haltungfließt in den täglichen Arbeitsprozess ein, sie wird jeden Tag in das Unternehmeneingebracht und beeinflusst selbstverständlich grundlegend Entscheidungsfindun-gen.

Die subjektive Haltung kann mit den Unternehmenszielen konform gehen unddennoch schwierige Entscheidungen mit sich bringen – die weniger in der Subjek-tivität der Person als vielmehr in der partiellen Widersprüchlichkeit der Unterneh-mensziele begründet sind. Ein Meister erklärt:

18 Die im Text aufgeführten Zitate entstammen den empirischen Erhebungen in der Fallstudie.Zur besseren Lesbarkeit sind Satzbau und Grammatik stellenweise überarbeitet, ohne jedoch denSinngehalt der Aussagen zu verändern.

7 Management des Informellen durch Entscheidungen im Arbeitsprozess 169

„Qualität steht für das Unternehmen natürlich an erster Stelle und das Nächste ist natürlichdie Liefertreue. Ich kann nicht sagen: ,Ich habe termingerecht geliefert‘, und dann liefereich Schrott aus. [. . . ] Ich habe auch schon Entscheidungen getroffen, wo ich sage: ,Ichliefere das nicht aus!‘ Und dann kommt die nächsthöhere Instanz und sagt: ,Was ist dennda los? Wir müssen da den Liefertermin verschieben?‘ Dann sage ich: ,Also ich liefere dasso nicht aus. So verlässt das nicht meine Abteilung!‘“

7.3.2 Erfahrungsgeleitete Handlungsweise im Entscheiden

Die Kategorie des Erfahrungsgeleiteten impliziert die Handlungsdimensionen desexplorativ-entdeckenden Vorgehens, der sinnlichen Wahrnehmung, der Imaginationdes Verwendungszusammenhangs und des Gespürs für eine immanente Entwick-lungslogik (vgl. Abschn. 3.4).

Die Anpassung und Optimierung der Arbeitsplätze, aber auch die inkrementel-le Weiterentwicklung der Produkte selber findet in der Produktion durch konkre-tes Ausprobieren statt. Durch explorativ-entdeckendes Vorgehen am Gegenstandkommen die Beschäftigten auf neue Ideen. Die Entscheidung für oder gegen eineVeränderung fällt dann am Arbeitsgegenstand. Ein Produktionsarbeiter nennt eineinfaches Beispiel:

„Wenn es um bestehende Produkte geht, wo man was vereinfachen kann, weil man einfacheine Schraube umsetzen muss, das geht schnell. Da hole ich einen Techniker mit an dieWerkbank und dann sagen wir: ,Du, pass‘ mal auf, so und so schaut’s aus, wir können unsvorstellen, dass das die bessere Lösung ist, weil es einfach stabiler ist oder einfach optischschön ausschaut.‘ Wenn es rein um eine konstruktive Sache geht, dann ist die ruckzuckabgeklärt.“

Die Eigeninitiative der Beschäftigten in der Produktion treibt Innovationsprozes-se voran, so erzählt ein Meister:

„Und ich probiere das ja schon, ich probiere so ein ähnliches Teil irgendwoher zu be-kommen und dann probiere ich das aus. Ich kann ja dann schon ein Ergebnis sagen: ,HeyTechniker, schau mal her, das ist das Ergebnis, habe ich schon und jetzt bring es mal aufsBlatt Papier.‘ Ich versuche ja nur, dass das Produkt besser wird.“

Auch in der Zusammenarbeit des technischen Büros mit dem Prototypenbauzählt der Gegenstandsbezug: Hier geht es um die konkrete Umsetzung, um einenersten Versuch, der neue Entscheidungsgrundlagen zum weiteren Vorgehen schafftund Unklarheiten beseitigt. Wichtig ist eine direkte Auseinandersetzung mit demMaterial und der Zusammensetzung der einzelnen Komponenten. Ein Beschäftigteraus dem Versuchsaufbau erklärt:

„Er [Mitarbeiter des technischen Büros] arbeitet mit einer Zeichnung und sagt: ,Du, sokommen wir überhaupt nicht hin, das funktioniert gar nicht, das müssen wir so oder so ma-chen.‘ Ich sehe das dann vor mir am Produkt, er ja nur am Rechner, der hat ja im Grundegenommen nur ein Bild vor sich, aber ich sehe dann die Komponenten: ,Halt, wie funktio-nieren die?‘ Es streift hier, es streift da, es gibt vieles, was man auf CAD nicht sieht.“

170 J. Neumer

Produktentwicklungen sind nicht bis ins Detail planbar, im Gegenteil ist ein vor-hergehender Praxistest oftmals hilfreicher als zeitintensive theoretische Planungen.Ein Produktionsarbeiter sagt:

„Heute zum Beispiel war ein Kollege von der Technik da, und dann sagt er: ,Kann mandas und das machen?‘ Und dann hab ich halt irgendwie ein paar Teile geholt, hab sie sohingehalten und hab gesagt: ,Ja, ich muss Getriebe drehen, und wenn wir das so und somachen, geht’s in Ordnung.‘ Und dann dampft er wieder ab und zwei Tage später bringt ermir eine Zeichnung.“

Informelle Kooperation und Kommunikation vor Ort ist hierbei die tragendeSäule: Formalisierte Kommunikation in Planungsrunden und Meetings, die außer-halb der eigentlichen Produktion stattfinden, bietet nur sehr begrenzte Möglich-keiten, tatsächlich auf den Arbeitsgegenstand (seien es Arbeitsgeräte, -maschinenoder die Produkte selbst) zu rekurrieren. Informelle Kommunikation kann darüberhinaus sogar dann eine schöpferische Qualität haben, wenn das gar nicht das vorder-gründige Ziel der Kontaktaufnahme war. Ein kurzes informelles Gespräch darüber,mit welchen Themen man gerade befasst ist – vor allem auch mit Kollegen aus ei-nem anderen Unternehmensbereich –, kann schnelle und unerwartete Lösungen fürProbleme bringen, die als solche noch gar nicht erkannt wurden. Ein Beispiel fürinformelle Kooperation im laufenden Prozess:

„Mit einem Kollegen kommst du manchmal in ein Gespräch rein, dann debattierst dumanchmal und sagst: ,Mensch du, das haben wir vergessen, an das haben wir nicht ge-dacht. Gut, dass du dran gedacht hast.‘ Wäre das Gespräch jetzt nicht zustande gekommen,dann hätten wir’s verbockt. Oder wir hätten ein Problem – das wir jetzt aber gleich gelösthaben!“

Eine weitere Aussage desselben Interviewpartners aus dem Bereich Versuchsauf-bau:

„Wenn man sich immer auf einen Punkt fixiert, da kommt man nicht weiter, weil man sichimmer festschaut. Wenn dann irgendwo aus der Fertigung einer kommt und das ist nur einSpruch: ,Warum machst du es nicht so?‘ Dann denkst du: ,So unrecht hat der gar nicht.Schauen wir mal in die Richtung, da hab’ ich noch gar nicht dran gedacht.‘ Da kann mansagen: So schlecht ist das gar nicht, weil der das ganz anders denkt und ganz anders siehtals ich.“

So werden in informellen Gesprächen auch oftmals anstehende Entscheidungenvorbereitet und somit die formale Abstimmung effektiviert. Eine Beschäftigte ausdem Einkauf:

„Also die wichtigsten Entscheidungen werden eigentlich prinzipiell in den Meetings ge-fällt. Vorbereitet, besprochen und schon so angedacht oder sehr weit gedacht werden sie,wenn wir uns in den Pausen irgendwo treffen. Deswegen, ich finde die jetzt gar nicht sounkreativ, diese kurzen Treffen, wenn wir ein Problem dort besprechen. Ohne die würden,glaube ich, die Projektrunden wesentlich anders laufen. Wenn du alles dann dort noch maldurchkauen müsstest, um dann dort zu einem Ergebnis zu kommen, würde das wesentlichlänger dauern.“

Durch die sinnliche Wahrnehmung werden in der direkten Kommunikation mitdem Gegenüber Einschätzungen des Gesprächspartners unvermittelt, ungefiltert er-

7 Management des Informellen durch Entscheidungen im Arbeitsprozess 171

fahren. Allein schon Mimik, Aussprache und Intonation eines Gesprächspartnersenthalten viele relevante Informationen zur Entscheidungsfindung: Wie schätzt derKollege die Alternativen ein? Steht er ihnen skeptisch gegenüber, ist er sich unsi-cher? Dies sind Informationen, die man per Mail entweder nicht direkt mitbekommtoder aufwändig mitkommunizieren muss.

Sinnliche Wahrnehmung bezieht sich aber auch auf Arbeitsgegenstände. Bei-spielsweise wird im Versuchsaufbau die richtige Abmessung und Montierung derverschiedenen Produktelemente nicht nur anhand von Maßzahlen ermittelt, denndie Eigenschaften des Materials und Produktaufbaus lassen eine detaillierte Be-rechnung nicht immer zu. Die Entscheidung über korrekte Maße muss daher bei-spielsweise auch nach Gehör und Vibrationssinn getroffen werden. Ein versierterMitarbeiter weiß, welche Geräusche und Vibrationen ein korrekt montiertes End-produkt hervorrufen soll und welche ein Zeichen für falsche Abmessung sind:

„Das ist Erfahrung, das ist Gefühl, wie das streift, dass ich sagen kann: ,Bis hier, jetzt lassenwir es und den Rest, die fünf, sechs Zentimeter nehmen wir noch als Sicherheit, das lassenwir, aber jetzt wird es kritisch.‘ Das ist einfach Erfahrung. Da kommt es immer darauf an,wo wickelt es und wo streift es.“

Einige Entscheidungen über konstruktive Details eines geplanten Produkts fallenalso im konkreten Handeln und basieren auf dem Gespür erfahrener Mitarbeiter, dietechnischen Zeichnungen werden dementsprechend im Nachgang angepasst.

Imagination des Verwendungszusammenhangs meint mit Blick auf Entschei-dungsfindung: welche Konsequenzen haben die eigenen Entscheidungen für Ab-läufe in anderen Abteilungen oder anderen Kontexten und umgekehrt? Der un-ternehmensinterne Blick in andere Bereiche ist wichtig, um zu erfahren, welcheInformationen diese Bereiche von einem selber in welcher Form brauchen und wel-che aktuellen Entwicklungen oder Problemlagen dort vorliegen, die auch die eigeneArbeit direkt oder indirekt betreffen:

„Ich finde es ganz wichtig, dass du wirklich einen Draht in diese einzelnen Abteilungen hastund hältst, dass du auch weißt, wenn es irgendwo klemmt. Ich sollte das dann als Vertretermeiner Abteilung wissen.“

Dieselbe Interviewpartnerin:

„Du hast einen Vorgesetzten, aber du kannst trotzdem auch mal mit der Technik reden unddas muss dann nie über den Vorgesetzten laufen, sondern du kannst wirklich kürzere Wegenehmen. Und ich mag von meiner Arbeitsweise persönlich doch mal ein bisschen über denTellerrand hinausschauen und auch von meiner Denkweise und Entscheidungsweise, dassman wirklich sagt: ,Wenn ich jetzt das und das mache, was passiert dann da und da undwelche Synergieeffekte hat das eigentlich in den anderen Abteilungen?‘“

Der Verwendungszusammenhang der Produkte geht natürlich auch über die Un-ternehmensgrenzen hinaus: Wie kommen die einzelnen Produkte beim Kunden zumEinsatz und welche Probleme müssen beim Kunden vor Ort gelöst werden? DiesesWissen ist nicht nur für die Beschäftigten aus Montage und Service relevant, dieohnehin immer wieder beim Endkunden vor Ort sind oder in direktem Kontakt ste-hen. Auch für Beschäftigte in der Produktion und im Prototypenbau sind solche

172 J. Neumer

Informationen wichtig, wenn sie ihr spezifisches Wissen in den Innovationsprozesseinbringen sollen:

„Ich sage: ,Zu der Baustelle fahren wir jetzt beide hin.‘ Ich möchte das selber sehen, nichtnur die Monteure. Zuerst möchte ich es sehen: Wie ist es montiert, wie sieht es aus? Undwenn wir das Problem lösen und wenn wir dann genau wissen: ,Halt, das ist es!‘, dannkönnen es die Monteure machen.“

Insbesondere die langjährigen Mitarbeiter haben ein großes Erfahrungswissenüber ihren Arbeitsbereich und die zu fertigenden Produkte und können daher oh-ne aufwändige Erkundungen oder Berechnungen schnelle Einschätzungen liefern,welche Ideen und Alternativen es sich weiter zu verfolgen lohnt, sie haben einGespür für immanente Entwicklungslogiken. Hier wird nicht „auf gut Glück“ ent-schieden, sondern eine auf Erfahrung basierende Entscheidung getroffen. Ein Inter-viewpartner nennt ein Beispiel, in diesem Fall aus dem technischen Büro:

„Wenn er den Auftrag anschaut und fünf Minuten später sagt: ,Machen oder machen wirnicht. Machen wir so oder so‘, mag das vielleicht für den Außenstehenden wie eine Bauch-entscheidung ausschauen, weil es eben auch so schnell gegangen ist, alles nur angeschauthat, ein bisschen rumgeblättert hat in seinen Unterlagen. Aber das ist keine Bauchentschei-dung.“

Ähnliche Aussagen kommen aus dem Produktionsbereich:

„Zum Beispiel der Vorarbeiter. Wenn ich sage: ,Kuck‘ mal, was du da machen kannst,kannst du da nicht ein Teil bauen, dass das anders funktioniert?‘, wenn es mal wieder eineSonderlösung ist. Dann sagt er ,Ah, ich habe da schon so eine Idee.‘ Dann haben wir in derSchlosserei noch einen, dem gibt man das einfach und dann sage ich: ,Lass’ dir mal waseinfallen‘, und dann kommen da schon ein paar Ideen. Und das ist einfach das Zusammen-spiel und das funktioniert.“

Erfahrungswissen meint aber noch etwas anderes, nämlich das Wissen, das mansich dadurch aneignet, dass man reale Erfahrungen macht. Diese Erfahrungen amkonkreten Gegenstand begründen das spezifische Expertenwissen der Produktions-arbeiter, welches den Beschäftigten aus planenden und koordinierenden Unterneh-mensbereichen nicht ohne weiteres zugänglich ist. Daher kommen Mitarbeiter un-terschiedlichster Bereiche immer wieder in die Produktion: Sie brauchen den Ge-genstandsbezug, um Sachverhalte tatsächlich einschätzen und so im Rahmen dereigenen Arbeitsaufgaben tragfähige Entscheidungen treffen zu können.

7.3.3 Spielerische Definition von Entscheidungssituationen

Entscheidungen im betrieblichen Alltag sind nicht mit einem Spiel gleichzusetzenund es wäre fatal, wenn Beschäftigte mit ihren Entscheidungskompetenzen nichtverantwortungsvoll umgingen. Dennoch kann eine spielerische Herangehensweiseeine Entscheidungsfindung auf nützliche Weise vorantreiben. Eine spielerische Si-tuation zeichnet sich dadurch aus, dass der „Spieler“ mental in das Spielgeschehen

7 Management des Informellen durch Entscheidungen im Arbeitsprozess 173

eintauchen kann: Im Sinn einer absichtslosen Zweckerreichung wird das Spielzielals Selbstzweck verfolgt, also nicht in seiner potenziellen Relevanz über den Spiel-kontext hinaus reflektiert. Das Spiel stellt dabei einen geschützten Raum dar, dieSpielverläufe haben in der „Realität“ keine Konsequenzen. Im Spiel gibt es stetsRegeln, die zu beachten sind, der Spielverlauf und die Spielergebnisse sind jedochprinzipiell offen und ungewiss (vgl. Abschn. 3.5).

Was meint „in eine Situation eintauchen“ in Bezug auf Entscheidungen der Pro-duktionsarbeiter? Sich in einen Sachverhalt zu vertiefen, das „Drumherum“ zu ver-gessen: die Kollegen, das Telefon, den Termindruck. Oder auch Begeisterung füreine Aufgabe oder ein Thema zu entwickeln und sich in dem berühmten Flow-Zustand19 zu befinden: der Wille ist zentriert, ohne etwas erzwingen zu wollen,man ist selbstvergessen und widmet der Aufgabe volle Konzentration, ohne es alsMühsal zu empfinden. Hinweise hierauf liefert die Untersuchung auch im Zusam-menhang mit innovativem Entscheidungshandeln. Ideen zu entwickeln und neuenAlternativen auf die Spur zu kommen kann begeistern! Ausschlaggebend ist der or-ganisatorische und zeitliche Freiraum, einen Gedankenfluss wirklich verfolgen, inein Thema „eintauchen“ zu können. Ein Meister im Interview:

„Dadurch, dass wir jonglieren, auch Job Rotation unter den Mitarbeitern machen, könnenwir auch mal sagen: ,Hey, pass’ mal auf, der hat eine gute Idee, lass’ den mal zwei Stundenmachen‘, weil jetzt ist er drin im Gedankenfluss.“

Im Spiel befindet man sich in einem geschützten Raum: Es baut sich eine positi-ve Spannung auf, ohne dass man vor seinen Mitspielern Angst haben muss, denn esist ja schließlich „nur ein Spiel“.20 Wenn man keine Angst hat, traut man sich auchmal einen wagemutigen Spielzug zu, traut man sich auch mal, eine neue Spielva-riante auszuprobieren, entscheidet man sich auch mal für den unkonventionellen,den unbekannten Weg und entdeckt dabei neue Möglichkeiten. Ein Unternehmenist kein Spielplatz, aber auch hier gilt: Angst vor Fehlern, Angst vor dem Vorge-setzten, Angst, sich lächerlich zu machen, lähmt!

Ein geschützter Raum kann auch ein lockeres Gespräch oder eine intensive undanregende Diskussion im Kollegenkreis sein. Wenn man sich kennt, sich versteht,sich gegenseitig wenig übel nimmt, kann man „das Herz auf der Zunge tragen“. EinBeschäftigter aus dem Versuchsaufbau erinnert sich an ein vergangenes Ritual:

„Freitags war um viertel eins Feierabend. Um halb zwölf hat die ganze Gruppe über dieganzen Probleme der Woche miteinander gesprochen. Wo der eine gesagt hat: ,Ich hab dasoder das Problem‘ und ein anderer vom anderen Bereich gesagt hat: ,Warum machst dues eigentlich nicht so? So würde ich es machen!‘ Der eine hätte mit dem anderen gar nicht

19 Bekanntester Vertreter der motivationspsychologischen Flow-Theorie ist sicherlich Csíkszent-mihályi, der seine Untersuchungen sowohl im Bereich des Alltagslebens (vgl. Csíkszentmihályi1997) als auch hinsichtlich Innovation (1996) und Führung (2003) durchgeführt hat.20 Jeder, der schon mal ein Spiel gespielt hat, kennt auch die umgekehrte Situation. Wenn dieTeilnehmer das Spiel persönlich nehmen und sich womöglich angegriffen fühlen, dann ist dasSpiel ganz schnell „kein Spiel mehr“.

174 J. Neumer

gesprochen, wenn jetzt die Runde nicht da wäre. Und irgendwie ist immer wieder was dabeirausgekommen: ,Wie könnten wir es machen?‘“

Er betont, dass diese Runde nicht jeden Freitag stattgefunden hat, sondern nurdann, wenn es den Kollegen zeitlich gepasst hat, wenn sie mit ihrer Arbeit fertigwaren und es ihnen sinnvoll erschien:

„Wenn es ein Muss oder eine Pflicht ist, dass man das miteinander macht, kommt nie wasdabei raus. Es muss immer von Herzen kommen, nicht Pflicht sein. Sonst kommt nicht das-selbe raus, wie wenn jeder aus freiem Herzen reden kann und auf Deutsch sagt: ,Menschdu, ich hab wieder einen Idioten heute am Telefon gehabt, der hat mich rundgemacht, derwollte wieder was, das kannst du gar nicht bauen, so wie er das wollte.‘ Das hast du dann er-zählt und dann sagt ein anderer: ,Aber das hättest du vielleicht so oder so machen können.‘,Oh, an das hab ich gar nicht gedacht.‘“

Selbstverständlich ersetzen solche Gesprächssituationen nicht formale Meetingsund Besprechungen. An den Beispielzitaten wird aber deutlich, dass die hierin be-schriebene Form der Problemdiskussion eine spezifische Qualität aufweist: Mankann sich Frust von der Seele reden und gleichzeitig andere Perspektiven aufneh-men. Man kann aktuelle Probleme ganz offen ansprechen, ohne dabei Angst zuhaben, sich auf der „Meeting-Bühne“ vor seinen Kollegen zu blamieren oder ge-genüber seinem Vorgesetzten einen schlechten Eindruck zu machen. Dabei stößtman oft auf alternative Handlungsmöglichkeiten, die einem selbst nicht eingefallenwären.

Die Beschäftigten in der Produktion sind im Arbeitsalltag auch immer wiedermit zwar nicht unbekannten, aber dennoch unvorhersehbaren Situationen konfron-tiert, die ein schnelles Eingreifen, hohe Flexibilität und schnelle Entscheidungenerfordern: Ein Kollege fällt aus, ein Auftrag wird sehr kurzfristig erteilt oder einKunde hat einen Änderungswunsch zu einem Auftrag, der bereits in Bearbeitungist. Im Umgang mit diesen Unwägbarkeiten legen die Beschäftigten eine durchausspielerische Haltung an den Tag, die ihnen eine erfolgreiche Bewältigung unvor-hersehbarer Situationen ermöglicht. Sie verstehen sich als „eingespieltes“ Team, indem man sich in solchen Situationen gut die „Bälle zuspielen“ kann: „Wir jonglie-ren, wir suchen immer nach einer Lösung.“21 Und an anderer Stelle meint derselbeBeschäftigte aus der Produktion über diese Kooperationsweise: „Und da machtes dann auch richtig Spaß!“ So werden im alltäglichen Produktionsprozess vieleschnelle Entscheidungen zum konkreten weiteren Vorgehen getroffen. Dies betrifftjedoch nicht nur die Organisation der Auftragsabarbeitung, sondern auch die Ferti-gung der Produkte selbst. Ein Meister:

„Dadurch, dass wir keine Serienproduktion haben, sondern eine Einzelfertigung, d. h. wennder Kunde 99,9 cm bestellt in einer Breite, dann kriegt er das so, das ist keine Stangenware.Dadurch, dass die Produkte manchmal sehr technisch behaftet sind, und durch die Vielfaltder Produkte kann man nicht auf den Punkt genau planen.“

21 Eine völlig andere Situationsdefinition wäre beispielsweise die Beurteilung als stressreiche„Feuerwehraktion“, eine Beschreibung, die wenig spielerische Elemente enthalten würde.

7 Management des Informellen durch Entscheidungen im Arbeitsprozess 175

Wie das Jonglierergebnis aussehen wird und ob es sich um eine situativ ange-passte Lösung oder um eine grundlegende Neuerung in der Produktionsorganisationund -weise handelt, ist dabei prinzipiell offen, klar ist die Regel: Die Aufträge müs-sen erledigt werden.

Mit dieser Darstellung der empirischen Ergebnisse zum Entscheidungshandelnder Beschäftigten in der Produktion in inkrementellen Innovationsprozessen wirddeutlich, dass eine Reihe elementarer Entscheidungen im laufenden Arbeitsprozessund nicht in zeitlich und örtlich davon abgegrenzten Gremien am grünen Tischgetroffen wird. Dies beeinflusst den Erfolg der inkrementellen Innovation posi-tiv: Anstehende Entscheidungsfragen werden sofort geklärt, die Umsetzung einerLösung ist dem explorativ-gegenständlichen Entscheidungsprozess inhärent; Er-fahrungswissen, Kreativität und Improvisationsfähigkeit der Produktionsexpertenkommen als wichtige Ressourcen bei der Bewältigung von Unwägbarkeiten undunsicheren Entscheidungssituationen zum Einsatz.

7.4 Management des Informellen zur Förderungvon Entscheidungen in laufenden Arbeitsprozessen

Entscheidungen bei Innovationsarbeit sind stark im nicht-formalisierten oder nicht-formalisierbaren Bereich verankert. Zum einen hinsichtlich der spezifischen Situa-tionen, in denen diese Dimensionen zum Tragen kommen (situative Entscheidungs-und Abstimmungsprozesse im laufenden Arbeitsprozess), zum anderen hinsicht-lich der spezifischen personellen Fähigkeiten der Beschäftigten: Eine künstlerischeHaltung, eine erfahrungsgeleitete Handlungsweise und spielerische Situationsdefi-nitionen sind immer subjektgebunden. Sie können kaum als außersubjektive Ent-scheidungsstrategie festgeschrieben werden, wie beispielsweise der klassische Ra-tionalansatz einer objektiven Kosten-Nutzen-Abwägung als Handlungsanweisungausgesprochen werden kann. Der Aufforderung „Wäge Kosten gegen Nutzen ab!“kann man unmittelbar nachkommen.22 Der Aufforderung „Zerstöre kreativ!“ oder„Spiele!“ nachzukommen gestaltet sich da ungleich schwieriger. Das Managementkann Kreativität und spielerische Situationsdefinitionen nicht einfordern, aber eskann Möglichkeitsräume hierfür eröffnen.

Ineffiziente und uneffektive Entscheidungsprozesse kranken zumeist an unter-schiedlichen organisatorischen Aspekten, die jedoch weniger die Organisation derjeweiligen Entscheidungssituation betreffen als vielmehr die Gesamtorganisation(vgl. Neumer 2007; Bolte et al. 2008). So bedeutet beispielsweise die Konzen-tration von Zeichnungsbefugnissen allein auf höheren Hierarchieebenen, dass diesein Entscheidungsfragen informiert werden müssen und deren Rückmeldung abzu-

22 An dieser Stelle sei davon abgesehen, dass komplexe Zusammenhänge eine Kosten-Nutzen-Abwägung extrem schwierig und durchaus auch unmöglich machen können.

176 J. Neumer

warten ist, was die Dauer von Entscheidungsfindungen negativ beeinflussen kann.23

Auch überbordende Dokumentationspflichten sind oft zeitintensiv und schaffen fürkonkrete Entscheidungssituationen nicht ohne weiteres die gewünschte Klarheit.24

Unklare Zuständigkeiten und Entscheidungsbefugnisse sind, ebenso wie mangeln-de Budgetverteilung, ein weiterer Aspekt schwieriger Entscheidungsprozesse. Einedurch komplexere Qualitätssicherungs- und Prozessmanagementsysteme induzierteVerpflichtung auf eine Null-Fehler-Toleranz auch in Entscheidungsfragen ignoriertdie unvermeidliche Konstante der grundlegenden Unsicherheit in allen Entschei-dungsfragen und treibt Beschäftigte in die Entscheidungsunfähigkeit. Für die Be-schäftigten bringen derlei aufwändige Entscheidungsprozesse eine Reihe von Nach-teilen mit sich: Neben dem hohen Zeitaufwand sind dies vor allem widersprüchlicheArbeitsanforderungen25, unselbstständiges Arbeiten und mangelnde Anerkennungihres Erfahrungswissens als Experten ihrer Arbeit.

Auch das Management ist nicht an zeitlichen Verzögerungen und Demotivati-on der Beschäftigten interessiert. Um die genannten Probleme zu beheben, zähltnicht allein eine bessere formale Organisation der Zuständigkeiten und Abläufe,auch die informellen Handlungen und Abstimmungen müssen organisatorisch ad-äquat flankiert werden. Damit stellt sich die Frage, welche Voraussetzungen vonSeiten des Managements geschaffen werden können, damit bei Innovationsarbeit inder Produktion schnelle Entscheidungen im laufenden Arbeitsprozess zum Einsatzkommen können. Die Untersuchung zeigt, dass ein Management des Informellensowohl auf arbeitsorganisatorische Aspekte abzielen muss als auch in der konkre-ten Interaktion zwischen Mitarbeitern und Management platziert sein sollte.

23 Beispielsweise, wenn die nächsthöhere Vorgesetztenebene nicht schnell erreicht werden kann,wenn Entscheidungsgrundlagen in Frage gestellt werden oder wenn immer weitere Detailfragengeklärt werden sollen, bevor ein Verantwortungsträger bereit ist, die Entscheidung abzuzeichnen– ganz abgesehen von machtstrategischen Gesichtspunkten, die hier mit hineinspielen können.24 Beispielsweise da standardisierte Daten nicht ohne weiteres auf unterschiedliche und/oderdiffuse Entscheidungsfragen angewandt werden können und da große Datenmengen die Entschei-dungsfindung auch eher verkomplizieren als erleichtern können.25 An anderer Stelle haben wir verschiedene Problemkonstellationen widersprüchlicher Arbeits-anforderungen analysiert, die aus den oben angeführten gesamtorganisatorischen Mängeln resul-tieren (siehe Bolte et al. 2008, S. 85 ff.). So befinden sich die Beschäftigten beispielsweise ineiner Zwickmühle, wenn sie dafür verantwortlich sind, ihre Arbeitsprozesse zu steuern, aufrechtzu erhalten und sogar zu optimieren, gleichzeitig jedoch nur über unklare oder keine formalen Ent-scheidungskompetenzen verfügen. Existiert dieser Widerspruch in einem Kontext von Zeitdruck,sind die Beschäftigten gezwungen, Entscheidungen zu treffen, für die sie nicht offiziell autorisiertsind, denn ein Nicht-Handeln würde ihre Arbeitsabläufe in Gefahr bringen. Sie müssen also mitnegativen Sanktionen rechnen, egal ob sie eigenmächtig entscheiden oder nicht. Eine Kultur derNull-Fehler-Toleranz potenziert dabei die Gefahr der negativen Sanktion und führt zu Entschei-dungsängsten.

7 Management des Informellen durch Entscheidungen im Arbeitsprozess 177

7.4.1 Arbeitsorganisation

Die arbeitsorganisatorischen Möglichkeiten zur Förderung von Entscheidungspro-zessen in Innovationsarbeit zielen auf drei Aspekte: die Beförderung von Entschei-dungskompetenzen, die Einrichtung von Gelegenheitsstrukturen und die Anerken-nung von Erfahrungswissen.

7.4.1.1 Dezentralisierung von Entscheidungen

In modernen Unternehmen ist die Dezentralisierung von Entscheidungen ein zen-trales Thema: Die Flexibilisierung und Beschleunigung von Reaktionen auf Kun-denwünsche und Marktanforderungen stellen direkte Anforderungen an Entschei-dungsprozesse und Entscheidungsträger. Die Etablierung flacher Hierarchien undselbstorganisierter Einheiten ist hier oftmals das Mittel der Wahl. Diese Organisa-tionsmodelle sind jedoch keine Selbstläufer und sie funktionieren nicht vorausset-zungslos: Sie sind kein Garant dafür, dass Entscheidungskompetenzen auch tatsäch-lich delegiert werden. Beispielsweise muss geklärt werden, ob in Selbstorganisationlediglich Lösungsvorschläge erarbeitet und die finale Wahl beim Vorgesetzten odergar bei der Geschäftsführung liegt oder ob zur Suche nach Alternativen auch dietatsächliche Auswahl durch die Beschäftigten gehört. Uneindeutige, willkürlichverteilte bzw. entzogene und stark eingeschränkte Entscheidungskompetenzen wir-ken sich negativ auf das persönliche Involvement der Beschäftigten aus. Das innereAnliegen und der persönliche Ausdruck können dann schnell Frustrationen zumOpfer fallen. So erinnert sich eine Interviewpartnerin, in diesem Fall aus einemBereich außerhalb der Produktion, an vergangene Zeiten: „Es war eigentlich sehrbürokratisch. Wir durften gar nichts selber entscheiden, nichts freigeben ohne eineAbsprache, ohne eine Unterschrift.“ Wenn Beschäftigte kaum entscheiden dürfen,wenn jeder Schritt eine Unterschrift vom Vorgesetzten voraussetzt, konzentrierensie sich vor allem darauf, die Vorschriften einzuhalten. Die Entwicklung produktiverGedanken über die eigenen Tätigkeiten, Schnittstellenkontakte und Kooperations-weisen, die Chance für kreative Überlegungen verringert sich damit.

7.4.1.2 Gelegenheitsstrukturen

Entscheidungen im laufenden Arbeitsprozess können nicht formal geregelt werden,sie bedürfen aber dennoch bestimmter Voraussetzungen, die ein Management desInformellen schafft. Das beobachtete hohe Maß an Selbststeuerung bei der Innovati-onsarbeit in der Produktion setzt erweiterte Handlungsspielräume der Beschäftigtenvoraus. Ein Management des Informellen geht jedoch über die rein passive Delega-tion von Entscheidungskompetenzen hinaus. Wichtig ist die aktive Unterstützungder Beschäftigten bei der Gestaltung und Nutzung der Spielräume zur Innovations-arbeit.

178 J. Neumer

7.4.1.2.1 Ausprobieren

Im untersuchten Unternehmen erfolgt die Einrichtung eines neuen Arbeitsplatzesnicht mittels einer formalen Planung durch Vorgesetzte, sondern die Verantwor-tungsträger in der Produktion setzen hierfür die Produktionsarbeiter selber ein. Siekönnen am besten beurteilen, welche Einrichtung praktikabel ist, aufgrund ihrerErfahrung sind sie in der Lage, ohne aufwändige Vorausplanung eine sinnvolle An-ordnung und Ausstattung im praktischen Ausprobieren direkt zu erarbeiten. EinVerantwortungsträger aus der Produktion:

„Ich habe auch Mitarbeiter, die können hinten top organisieren. Ich versuche dann, dieirgendwo freizustellen. So einen Mitarbeiter den Arbeitsplatz organisieren zu lassen, dasist für den das Größte. Dann sage ich: ,Sortiere den Arbeitsplatz, sage mir, was brauchst dudazu.‘ Dann sortiert der den durch. Das sind dann Mitarbeiter, die muss man so einsetzen.“

Voraussetzung ist, dass die Führung einen Blick dafür entwickelt, welcher Mit-arbeiter über die Erfahrung und auch über hinreichend umfassendes Wissen überdie Produktionszusammenhänge verfügt, so dass nicht nur ein singulärer Bereichinstalliert wird, sondern auch die Schnittstellen zu den vor- und nachgelagerten Pro-duktionsschritten berücksichtigt werden. Solchen Mitarbeitern werden bei Bedarfdie Zeit und der Raum zur Verfügung gestellt, sich in Ruhe und Konzentration derAufgabe zu widmen – eine gute Voraussetzung für ein spielerisches „Eintauchen“in den Prozess. Dieser Prozess wird nicht durch formale Vorgaben oder Anfor-derungen (Dokumentation des Vorgehens, konkrete Zielvorgaben) vorstrukturiert,sondern den Beschäftigten wird zunächst freie Hand gelassen. Eine formale Do-kumentation der Arbeitsergebnisse erfolgt, wenn sie als sinnvoll erachtet wird, imNachgang.

Das direkte Ausprobieren passiert aber nicht nur in solchen situativ eingerich-teten „Sonderzonen“, sondern vor allem auch im alltäglichen Arbeitsprozess. DieProduktionsarbeiter variieren bis zu einem gewissen Maß ihren Arbeitsplatz, ihreArbeitsabläufe selbst, sie probieren neue Ideen in Eigeninitiative direkt aus. Auchhier steht wieder der praktische Versuch am Anfang, wozu es im untersuchtenUnternehmen keiner formalen Einverständniserklärung durch einen Vorgesetztenbedarf. Wenn Mitarbeiter mit Vorschlägen an Vorgesetzte herantreten, erhalten siezeitnahes Feedback, ggf. auch tatkräftige Unterstützung:

„Die Verbesserungsvorschläge, wenn jetzt einer kommt und sagt, er hätte seinen Tisch ger-ne um 90 Grad gedreht, und es ist möglich in der Halle, ohne dass ich irgendjemand andersbehindere, ja, der ist in zehn Minuten umgedreht, dann drehen wir ihn um.“

7.4.1.2.2 Informelle Kooperation und Kommunikation

Die Umsetzung neuer Ideen (egal ob im Arbeitsprozess oder in situativ eingerichte-ten, nicht-formalisierten Sonderzonen) ist dabei in informelle Kommunikation undKooperation zwischen den Beschäftigten eingebettet. Diese hat eine hohe Funktio-

7 Management des Informellen durch Entscheidungen im Arbeitsprozess 179

nalität für Betriebe im Allgemeinen26 und für die hier beschriebenen Entscheidun-gen in Innovationsprozessen im Besonderen. Die Beschäftigten beraten sich bei derUmsetzung neuer Ideen gegenseitig, auf dem „kurzen Dienstweg“ erkundigt mansich bei einem Kollegen in der Produktion oder in anderen Unternehmensbereichendanach, ob ähnliche Ideen schon mal ausprobiert wurden, welche Erfolgschancenandere sehen, mit welchen Vorgehensweisen sie schon Erfahrungen gemacht habenusw. Dieser Austausch erfolgt vor Ort am zu bearbeitenden Gegenstand und führtzu schnellen und fundierten Entscheidungen darüber, welche Vorgehensweise wei-terhin verfolgt werden sollte. Durch diese gegenstandsvermittelte Kooperation insituativ entstehenden Praktiker-Gemeinschaften findet nicht nur ein Austausch ex-pliziten, sondern vor allem auch impliziten Erfahrungswissens (vgl. Porschen 2008asowie Kap. 6 in diesem Band) statt. Die inkrementellen Neuerungen und Optimie-rungen entstehen somit nicht in einem „kreativen Chaos“, sondern sind Resultatinformierter Exploration.

Die Chancen für informelle Kooperation und Kommunikation können von derManagementseite aktiv gestützt werden, beispielsweise durch die Einrichtung vonorganisatorischen Schnittstellen oder sozialen Begegnungsräumen, an bzw. in de-nen die Beschäftigten zusammenkommen. Personalpolitische Modelle zur Vernet-zung der Beschäftigten über einzelne Produktions- und Unternehmensbereiche hin-aus (etwa Job Rotation oder ein Durchlaufen verschiedener Abteilungen und Be-reiche in der Einarbeitungsphase) haben zum Ziel, Einblicke in Arbeitsweisen,Bedarfe und Perspektiven verschiedenster Bereiche zu vermitteln. Gleichzeitig sindsie ein Weg, Ansprechpartner in anderen Abteilungen kennen zu lernen, auf die manim Bedarfsfall mit Fragen zugehen kann (vgl. Bolte u. Porschen 2006, S. 105 ff.).Durch solche Maßnahmen wird eine direkte Interaktion zwischen Beschäftigten be-fördert, sie besuchen sich am jeweiligen Arbeitsplatz und erhalten so Einblicke inansonsten fremde Abläufe und Wissensbestände. Eine solche direkte Interaktion istnicht durch Formalismen überformt (seien es vorgefertigte Kommunikationsformu-lare oder eine vorgegebene Agenda), sondern bietet die Möglichkeit, Perspektiventiefgehend und im konkreten Kontext auszutauschen.

7.4.1.2.3 Schutzräume

Das Spiel mit Alternativen und Ideen ist ein wichtiger Bestandteil innovativerEntscheidungsprozesse. Informelle Kooperationsweisen markieren dabei gewis-se Schutzräume, in denen man auf den ersten Blick abwegige oder noch nichtvollständig durchdachte Ideen äußern kann. Solche Räume können naturwüchsig

26 Böhle und Bolte (2002) sowie Bolte und Porschen (2006) haben umfangreiche Studien zuAblauf, Funktionalität und Gestaltungsmodellen informeller Kooperation und Kommunikation an-gestellt. Zur Funktionalität informeller Kooperationsweisen siehe beispielsweise auch Kumbruck(1998, 1999), Suchman (1987) – hier wird der Begriff der „situierten Kooperation“ entwickelt –und Moldaschl (1991).

180 J. Neumer

entstehen, es ist aber durchaus eine Herausforderung, diese zu erkennen und sieauch als solche zu belassen. Klassischerweise tendiert das Management dazu, ent-deckte Zusammenhänge informeller Kooperation und Kommunikation entwederzu delegitimieren („Sie sind nicht zum Reden, sondern zum Arbeiten hier!“) oderzu formalisieren, beispielsweise indem Turnus und Teilnehmer definiert werden,Anfragen zukünftig in gebündelter Form an einen definierten Ansprechpartnergerichtet werden sollen oder Vorgesetzte regelmäßige Berichte über Besprechungs-ergebnisse einfordern. Dies konterkariert die spezifische Qualität der informellenKooperation und mindert die Bereitschaft der Beschäftigten, sich zu engagieren.

Es wird oft unterstellt, dass produktive informelle Arbeitszusammenhänge inkleinen und mittelständischen Unternehmen naturwüchsig entstünden. Es handeltsich hierbei aber keineswegs um eine Selbstverständlichkeit. Auch in KMU ist mitt-lerweile der Trend zu standardisierten Managementinstrumenten angekommen, die– ohne deren Nützlichkeit bei angemessenem Einsatz zu bezweifeln – den Blickauf die Funktionalität des Informellen verstellen können. Auch hier ist also die be-sondere Aufmerksamkeit des Managements gefragt: Sowohl in räumlichen Zonender Ungestörtheit als auch in intensiven, anregenden Diskussionen im Kollegen-kreis können Begeisterung, Konzentration und Flow-Zustände entstehen. WelcherKontext wann angemessen und produktiv sein kann, können nur die Beteiligtenselbst bestimmen, sie stellen ihn selbst situativ her. Das Management kann hierfüraber gewisse Zeitkontingente bereitstellen. Im untersuchten Unternehmen erfolgtdies indirekt, durch das bereits genannte Instrument der Job Rotation: Die Produk-tionsarbeiter werden an mehreren Arbeitsplätzen eingesetzt und können sich somitgegenseitig vertreten und Freiräume schaffen, um z. B. in Ruhe einen neuen Ar-beitsplatz zu installieren oder an einer Optimierungsidee zu arbeiten.

7.4.1.2.4 Perspektivenerweiterung

Die genannten Gelegenheitsstrukturen erweitern den Blick der Beschäftigten „nachinnen“, sie bekommen Einblicke in fremde Arbeitstätigkeiten, können somit Bedar-fe und Notwendigkeiten aus anderen Bereichen besser einschätzen und ihr eigenesHandeln darauf ausrichten. Die Möglichkeit, eigene Gedanken und Ideen in fremdeArbeitszusammenhänge einzubringen, steigert die Chancen für Innovationen. Sol-che Möglichkeiten sind im Unternehmensalltag keine Selbstverständlichkeit. Ein-blicke in andere Abteilungen oder gar die Beschäftigung mit Arbeitstätigkeiten und-prozessen, die nicht die eigenen sind, werden aus Managementperspektive nichtimmer positiv bewertet. Im Gegenteil kann in Unternehmen immer wieder beobach-tet werden, dass die informelle abteilungsübergreifende Kooperation und Kommu-nikation aktiv unterbunden wird. Um tragfähige und für das Gesamtunternehmennachhaltig sinnvolle Entscheidungen im Rahmen der eigenen Arbeitstätigkeitentreffen zu können, ist es jedoch von Vorteil, einen breiteren Kontext mitdenken zukönnen. Neben mehr oder weniger zufälligen Kontakten und individueller Initiativegibt es zu diesen Zwecken verschiedene Hospitations- und Netzmodelle (vgl. Bolte

7 Management des Informellen durch Entscheidungen im Arbeitsprozess 181

u. Porschen 2006, S. 71 ff.), von denen eines bereits erfolgreich im untersuchtenUnternehmen installiert wurde.27

Zur Perspektivenerweiterung gehört nicht nur der Blick „nach innen“, sondernauch der Blick „nach außen“. Dieser Blick kann vielfältig sein. In der Empirie istdeutlich geworden, dass es für die Beschäftigten wichtig ist, das Produkt nicht nurin der eigenen Produktion, sondern auch beim Kunden vor Ort sehen und beurteilenzu können. Dabei zählt nicht allein die technische Betrachtungsweise, alltäglicheLebenszusammenhänge können für die Entscheidungen im Konstruktionsprozessebenso ausschlaggebend sein. So erzählt ein Produktionsarbeiter:

„Der Kunde wollte das ja so, aber ich habe dann auch gesagt: ,Es wird so passieren: DasDing ist herausgefahren, da kommt dann ein Kind, macht dann den hier [macht eine Rüt-telbewegung] und dann reißt das ganze Ding ab.‘“

Der Blick nach außen kann neben dem Fokus auf das eigene Produkt auch aufeine Wissensqualifizierung in der Produktion abzielen, beispielsweise durch denAustausch mit Unternehmenspartnern oder gezielte außerbetriebliche Qualifizie-rungsmaßnahmen.

7.4.1.3 Anerkennung von Erfahrungswissen

Bei Innovationsarbeit kommt insbesondere im Zusammenhang mit der erfahrungs-geleiteten Handlungsweise Erfahrungswissen bzw. implizites Wissen zum Einsatz.Solche Wissensformen können jedoch kaum als Entscheidungsgrundlage dokumen-tiert werden. Von Seiten des Managements ist hier ein Vertrauen in die subjektiveErfahrung und Expertise des Mitarbeiters notwendig, um die subjektgebundenenWissensformen als legitime Basis einer Entscheidungsfindung anzuerkennen.

Aufwändige und detaillierte Dokumentationsvorgänge zeugen davon, dass alleinobjektiviertes Wissen in Entscheidungsprozessen berücksichtigt wird. Doch geradesolche Entscheidungsprozesse, in denen Erfahrungswissen eine wichtige Grund-lage darstellt, lassen sich zwar in ihrem Ergebnis, aber kaum in ihrem Verlaufdokumentieren. Um die Vorteile einer erfahrungsbasierten Entscheidung (nicht nurSchnelligkeit, sondern auch ein Gespür für die immanente Entwicklungslogik einesSachverhalts) nutzen zu können, muss die Führung den besonderen Prozess einersolchen Entscheidung zulassen – für eine Führung, die sich maßgeblich als Kon-trollinstanz versteht, ist das kein leichtes Unterfangen.

Ein Management des Informellen verlangt selbstverständlich nicht, auf Doku-mentationen zu verzichten, aber es verlangt einen angemessenen Einsatz von und

27 Im Rahmen eines vorhergehenden, vom BMBF geförderten Gestaltungsprojekts wurde im unter-suchten Unternehmen ein Hospitationsmodell zwischen den zwei Standorten etabliert (vgl. Bolte2008). Beschäftigte unterschiedlicher Hierarchieebenen aus Sachbearbeitung und Produktion ha-ben über einen längeren Zeitraum im Schwesterstandort mitgearbeitet und dadurch ganz konkreteEinblicke in die spezifischen Arbeitsabläufe erhalten. Die Kooperation und Koordination zwischenden Standorten wurde dadurch nachhaltig verbessert.

182 J. Neumer

einen realistischen Anspruch an Dokumentation. Die Idee, durch die Anhäufungenormer Datenmengen stichfeste Grundlagen für zukünftige Entscheidungen zuschaffen, widerspricht der steigenden Anforderung, schnell zu entscheiden, dagroße Datenmengen unübersichtlich werden und einer zeitaufwändigen Aufberei-tung bedürfen.28 Eigene Untersuchungen haben ergeben, dass Unternehmen, diebei Entscheidungsfindungen vor allem auf explizite Wissensformen setzen, mit demProblem kämpfen, keine Abbruchkriterien für Entscheidungsprozesse zu finden:Die Suche nach immer besseren und detaillierteren Informationen kann theore-tisch endlos fortgesetzt werden (Bolte u. Neumer 2008, S. 156; Bolte et al. 2008,S. 69 ff.).

Wenn bei Innovationsarbeit nur Entscheidungen und Entscheidungskriterien alslegitim erachtet werden, die auf objektiviertem Wissen basieren, kann dies zu einemstrukturellen Nachteil der Innovativität in der Produktion führen. Aufgrund des di-rekten Umgangs mit materiellen Arbeitsgegenständen sind hier die Chancen aufErwerb und Einsatz subjektgebundener Wissensformen groß. Wird diese Expertisenicht als Kompetenz zur Innovationsarbeit erkannt, können Entscheidungen in lau-fenden Arbeitsprozessen kaum einen Beitrag zu Innovationsarbeit leisten – wenndoch, so werden sie als „stille“ Leistungen im Innovationsprozess nicht registriert.

Gelegenheitsstrukturen für Entscheidungen in laufenden Arbeitsprozessen, dieDelegation von Entscheidungskompetenzen und die Anerkennung von Erfahrungs-wissen befördern schnelle Entscheidungen und eröffnen Chancen für künstlerische,erfahrungsgeleitete und spielerische Innovationsarbeit. Neben diesen arbeitsorgani-satorischen Aspekten ist ein Management des Informellen auch in der alltäglichenInteraktion zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern verortet.

7.4.2 Führung

Die genannten arbeitsorganisatorischen Elemente werden erst zu gelebter Praxis,wenn sie im Arbeitsalltag einen entsprechenden Stellenwert erhalten; erst durcheine hierauf ausgerichtete Interaktion können sie von den Beschäftigten als ver-lässliche Strukturen wahrgenommen werden. Im Folgenden werden die wichtigstenInteraktionsaspekte eines Managements des Informellen herausgegriffen und erläu-tert.

28 Ausgehend von der wissenstheoretischen Annahme, dass mehr Wissen nicht nur neue Gewiss-heiten, sondern auch neue Ungewissheiten erzeugt, weist Weick darauf hin, dass die Anwendungetablierten Wissens auf neue Situationen kritische Folgen haben kann, und stellt fest: „In a fluidworld, wise people know that they don’t fully understand what is happening right now, becausethey have never seen precisely this event before.” (1993, S. 641)

7 Management des Informellen durch Entscheidungen im Arbeitsprozess 183

7.4.2.1 Umgang mit Fehlentscheidungen

Entscheidende Fragen sind hier: Bringen Fehlentscheidungen heftige verbale An-griffe mit sich oder werden sie sachbezogen und konstruktiv besprochen? HabenBeschäftigte die Möglichkeit, ihre Beweggründe argumentativ darzulegen undFehlentscheidungen zu korrigieren, oder stoßen sie auf eine Null-Fehler-Toleranzund dementsprechende Sanktionierung von Seiten der Führung? Gibt es genügendRaum für eine sachliche Eruierung der Fehlerquellen, wird das aufgetretene Pro-blem als Anlass zum Überdenken der etablierten Abläufe gesehen oder wird esallein als Versagen des Mitarbeiters gewertet?

An anderer Stelle haben wir aufgezeigt, dass eine Null-Fehler-Toleranz Beschäf-tigte in letzter Konsequenz entscheidungsunfähig macht: Entweder wird ihnen un-tersagt, Entscheidungen selbstständig zu treffen, oder sie haben Angst davor, eigen-ständig zu handeln. Beschäftigte versuchen dann, „auf Nummer sicher zu gehen“,indem sie permanent Rücksprache mit ihrem Vorgesetzten halten. In einer sol-chen Situation ist es schwierig, kreativ zu sein oder neue Möglichkeitsräume inden Blick zu nehmen. Fehlentscheidungen werden dann kaum mehr als Lernanrei-ze interpretiert, sie stellen kaum einen Ausgangspunkt für die Suche nach kreativenProblemlösungen dar. Vielmehr versuchen Beschäftigte, sich so eng wie möglich anStandards und Vorgaben zu halten, um sich nicht der Gefahr einer erneuten Fehl-entscheidung auszusetzen (vgl. Bolte u. Neumer 2008).

7.4.2.2 Verhältnis von Planung und Praxis

Entscheidende Fragen sind hier: Zählt für Vorgesetzte bei der Bewertung von Ideenund Verbesserungsvorschlägen allein der Blick auf Planungsunterlagen und Kalku-lationen oder werden auch Ideen eruiert, die noch nicht in eine standardisierte Formüberführt wurden? Gehen Vorgesetzte vor Ort in die Produktion, um sich Vorschlä-ge am Gegenstand erklären zu lassen, so dass eine empraktische Kommunikationund gegenständliche Vermittlung möglich wird?

Im untersuchten Unternehmen holen sich die Techniker Unterstützung und Ratin der Produktion. Dieser praktische Austausch ist bei weitem nicht in jedem Un-ternehmen üblich, denn er funktioniert nicht voraussetzungslos. Eine solche Vor-gehensweise impliziert eine bestimmte Grundeinstellung zu dem Verhältnis vonPlanung und Praxis: Planung funktioniert bei gleichzeitigem Praxisabgleich oft-mals besser. Die zeitliche Verschränkung wird davon getragen, dass die Mitarbeiterin direktem Austausch miteinander stehen und vom Anfang einer Idee an Versucheund Erprobungen anstellen. Hierbei geht es dann nicht (nur) um die Frage, ob diePlanung funktioniert. Es geht vor allem auch darum, eine Vorstellung davon zu be-kommen, woran sich eine gute Planung eigentlich orientieren muss, und die Dingeabzuklären, die in der theoretischen Planung nicht oder nur schlecht erfasst werdenkönnen.

184 J. Neumer

Vorgesetzte können dies unterstützen, indem sie das praktische Ausprobierenund informelle Kooperation und Kommunikation als funktionale Elemente fürInnovations- und Entscheidungsprozesse anerkennen. Dies impliziert neben denbereits genannten arbeitsorganisatorischen Strategien, dass informeller Austausch,Eigeninitiative und praktische Versuche im Alltag nicht missbilligt, negativ kom-mentiert oder gar strikt unterbunden werden.

7.4.2.3 Alternativensuche erwünscht!

Entscheidende Frage ist hier: Ruft Eigeninitiative negative Reaktionen hervor oderwird sie von Führungsseite positiv konnotiert? Wenn die Suche nach alternativenMöglichkeiten, nach Optimierung und Neuerungen Bestandteil der Arbeitsaufgabesein soll, so muss das den Beschäftigten signalisiert werden. Den Untersuchungennach reicht hierzu ein formales Vorschlagswesen allein nicht aus. Es wurde bereitserwähnt, dass dieses Instrument oftmals an strukturellen Mängeln krankt und daherkeine nachhaltige Wirkung zeigt. Über derlei Instrumente zur Sammlung von Mitar-beiterideen hinaus ist es daher eine wichtige Aufgabe der Führung, im Arbeitsalltagfür die Beschäftigten ansprechbar zu bleiben, Vorschläge aktiv aufzugreifen undzeitnahes Feedback zu geben. Auch die Etablierung personaler Brücken zur Mit-arbeiterebene ist hierfür sinnvoll: Meister, Gruppenleiter oder Vorarbeiter stehen indirektem Kontakt zu den Produktionsarbeitern. Sie sind nah dran, wenn alternativeIdeen ausprobiert werden, können Verbesserungsvorschläge sofort aufgreifen, ggf.unterstützen und Vorgesetzte über innovative Entwicklungen auf dem Laufendenhalten.

7.4.2.4 Vertrauenskultur

Die genannten arbeitsorganisatorischen Elemente eines Managements des In-formellen erweitern die Handlungs- und Entscheidungsspielräume der Beschäf-tigten. Dies erfordert von Führungsseite ein Vertrauen in die Fähigkeiten derBeschäftigten, sollen diese erweiterten Spielräume nicht durch neu eingezogeneFormalisierungs- und Kontrollmechanismen konterkariert werden. Gleichzei-tig bleibt das Interesse der Führung an einem angemessenen Einblick in dieInnovations- und Entscheidungsprozesse auf Mitarbeiterebene bestehen. Wichtigist daher die Entwicklung einer Vertrauenskultur, die nicht auf „blindem“ Ver-trauen, sondern auf Wechselseitigkeit und gemeinsamen Erfahrungshintergründenvon Mitarbeitern und Vorgesetzten beruht (vgl. Böhle 2010). Eine solche reflexiveerfahrungsbasierte Vertrauenskultur kann beispielsweise durch eine Beteiligungder Mitarbeiter in laufenden Veränderungsprozessen – jenseits bekannter Partizi-pationsmodelle – und eine Integration der Führung in laufende Arbeitsprozesse

7 Management des Informellen durch Entscheidungen im Arbeitsprozess 185

generiert werden.29 Letzteres geht über ein „management by walking around“ hin-aus, welches oft als reines Kontrollinstrument eingesetzt wird. Eine tatsächlicheIntegration der Führung in laufende Arbeitsprozesse zeichnet sich demgegen-über durch eine Vermittlung konkreter Arbeitsinhalte aus, indem beispielsweiseVorgesetzte für einen gewissen Zeitraum in verschiedenen Unternehmens- undProduktionsbereichen mitarbeiten oder über eine Politik der offenen Tür hinaus imArbeitsalltag für die Beschäftigten präsent und ansprechbar sind.

Eine Integration der Führung in laufende Arbeitsprozesse gibt Vorgesetzten au-ßerdem die Chance, „stille“ Leistungen ihrer Mitarbeiter zu erkennen und zu hono-rieren. In laufenden Arbeitsprozessen tauchen immer auch unvorhergesehene Pro-bleme und Herausforderungen auf, die die Beschäftigten selbstständig schnell be-arbeiten und lösen. Solche Situationen bergen stets ein Potenzial für Innovationenund Verbesserungen. Diese Potenziale kann die Führung nur dann erkennen undaufgreifen, wenn sie das Vertrauen der Mitarbeiter genießt und diese nicht bemühtsind, aus Angst vor Kritik unvorhergesehene Ereignisse und Arbeitstätigkeiten vorder Führung zu verbergen.

Mit der vorliegenden Untersuchung konnte gezeigt werden, dass Beschäftigtein der industriellen Produktion und die Produktion als physischer Ort eine tra-gende Rolle bei inkrementellen Innovationen spielen – seien es technische, orga-nisatorische oder Produktinnovationen. Aufgrund des direkten Umgangs mit denmateriellen Arbeitsgegenständen in der Produktion verfügt diese Beschäftigten-gruppe über spezifische Wissensrepertoires und Möglichkeiten zur Generierung,Aneignung und Vermittlung spezifischen Wissens. Dies begründet nicht nur dieNotwendigkeit der Teilhabe von Produktionsmitarbeitern in Innovationsprozessenund macht sie zu zentralen Ansprechpartnern. Durch künstlerische, erfahrungsge-leitete und spielerische Innovationsarbeit werden diese auch selbstständige Akteurebei der Entwicklung und Umsetzung neuer Ideen.

Literatur

Ahanotu ND (1998) Empowerment and production workers: a knowledge-based perspective. In:Empowerment in Organizations. Jg 6, H 7, S 177–186

Ahedo M (2010) Exploring the innovative potential of SMEs in Spain. In: Transfer – EuropeanReview of Labour and Research, Jg 16, H 2, S 197–209

29 Eine Integration der Führung in laufende Arbeitsprozesse, die Beteiligung der Mitarbeiter inlaufenden Veränderungsprozessen und weitere betriebliche Handlungsfelder zur Genese und Ge-staltung einer reflexiven erfahrungsbasierten Vertrauenskultur werden derzeit in dem vom BMBFgeförderten Forschungsprojekt „Vertrauen in flexiblen Unternehmen – reflexiv, erfahrungsba-siert, dynamisch: Neue Verfahren zur Bewältigung der Risiken des Wandels“ (Verred) erforscht.Erste Ergebnisse weisen auf die Relevanz der Handlungsfelder hin und liefern Hinweise aufpraxistaugliche Modelle zur Integration der Führung und Beteiligung der Mitarbeiter. Auf derProjekthomepage kann Einblick in den Stand der Forschung genommen werden (www.verred.de).

186 J. Neumer

Böhle F (2010) Leadership and Selforganization – Experience-based Trust instead of Formalizati-on and Objectification. In: Schloemer S, Timoschek N (Hrsg) Leading in Complexity. New Waysof Management. Carl Auer, Heidelberg, S 57–62

Böhle F, Bolte A (2002) Die Entdeckung des Informellen. Der schwierige Umgang mit Koopera-tion im Arbeitsalltag. Campus, Frankfurt/Main u. a.

Bolte A (2008) Die Integration verschiedener Unternehmenskulturen. In: Böhle F, Bolte A, Bür-germeister M (Hrsg) Die Integration von unten. Der Schlüssel zum Erfolg organisatorischenWandels. Carl Auer, Heidelberg, S 83–99

Bolte A, Neumer J (2008) Entscheidungsfindung in Meetings: Beschäftigte zwischen Hierarchieund Selbstorganisation. In: Arbeit – Zeitschrift für Arbeitsforschung, Arbeitsgestaltung und Ar-beitspolitik, Jg 17, H 3, S 151–165

Bolte A, Porschen S (2006) Die Organisation des Informellen. Modelle zur Organisation von Ko-operation im Arbeitsalltag. VS – Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden

Bolte A, Porschen S (2007) Kooperation jenseits von Gremien. In: Oesterle M, Leidig F (Hrsg)Methodisch sichere, schnelle Produktionsanläufe in der Mechatronik (MESSPRO). VDMA,Frankfurt/Main, S 69–83

Bolte A, Neumer J, Porschen S (2008) Die alltägliche Last der Kooperation. Abstimmung alsArbeit und das Ende der Meeting-Euphorie. Edition sigma, Berlin

Csíkszentmihályi M (1996) Creativity: Flow and the Psychology of Discovery and Invention. Har-per Collins, New York

Csíkszentmihályi M (1997) Finding Flow: The Psychology of Engagement with Everyday Life.Basic Books, New York

Csíkszentmihályi M (2003) Good Business: Flow, Leadership and the Making of Meaning. Viking,New York

Gärtner C (2007) Innovationsmanagement als soziale Praxis. Grundlagentheoretische Vorarbeitenzu einer Organisationstheorie des Neuen. Hampp, München u. a.

Høyrup S (2010) Employee-driven innovation and workplace learning: basic concepts, approachesand themes. In: Transfer – European Review of Labour and Research, Jg 16, H 2, S 143–154

Keuken F, Sassenbach U (2010) Innovationsstrategien und Partizipation jenseits traditionellenManagements. In: Jacobsen H, Schallock B (Hrsg) Innovationsstrategien jenseits traditionellenManagements. Beiträge zur Ersten Tagung des Förderschwerpunkts des BMBF. Fraunhofer, Stutt-gart, S 351–364

Kesting P, Ulhøi JP (2010) Employee-driven innovation: extending the license to foster innovation.In: Management Decision, Jg 48, H 1, S 65–84

Kristensen PH (2010) Transformative dynamics of innovation and industry: new roles for employ-ees? In: Transfer – European Review of Labour and Research, Jg 16, H 2, S 171–183

Kristiansen M, Bloch-Poulsen J (2010) Employee-driven innovation in team (EDIT) – Innovativepotential, dialogue, and dissensus. In: International Journal of Action Research, Jg 6, H 2/3, S155–196

Kumbruck C (1998) Tele-Kooperation und Hintergrund-Kooperation. Lit, Münster

Kumbruck C (1999) Angemessenheit für situierte Kooperation. Lit, Münster

Jürgens U, Lippert I (1997) Schnittstellen des deutschen Produktionsregimes. Innovationshemm-nisse im Produktentstehungsprozess. In: Naschold F, Soskice D, Hancké B, Jürgens U (Hrsg)Ökonomische Leistungsfähigkeit und institutionelle Innovation. Das deutsche Produktions- undPolitikregime im globalen Wettbewerb. Edition sigma, Berlin, S 65–94

LO, the Danish Confederation of Trade Unions (2008) Employee-driven innovation – Improvingeconomic performance and job satisfaction.

7 Management des Informellen durch Entscheidungen im Arbeitsprozess 187

http://www.lo.dk/English%20version/~/media/Publikationer/Publikations%20filer/English/3213emplyeedriveninnovation2008pdf.ashx. Zugriff 26. August 2011

Moldaschl M (1991). Frauenarbeit oder Facharbeit? Montagerationalisierung in der Elektroindus-trie II. Campus Verlag, Frankfurt/Main u. a.

Moldaschl M (2007) Von der Arbeitsinnovation zur Innovationsarbeit. In: Streich D, Wahl D(Hrsg) Innovationsfähigkeit in einer modernen Arbeitswelt. Personalentwicklung – Organisati-onsentwicklung – Kompetenzentwicklung. Campus, Frankfurt/Main u. a., S 489–500

Møller K (2010) European innovation policy: a broad-based strategy. In: Transfer – EuropeanReview of Labour and Research, Jg 16, H 2, S 155–169

Neumer J (2007) Und täglich ruft das Meeting . . . Eine Fallstudie über die Ambivalenzen selbst-gesteuerter Abstimmung im Unternehmen. ISF München Forschungsberichte, München

Neumer J (2012) Entscheiden unter Ungewissheit. Von der bounded rationality zum situativenHandeln. In: Böhle F, Busch S (Hrsg) Management von Ungewissheit. Neue Ansätze jenseits vonKontrolle und Ohnmacht. Transcript, Bielefeld. Im Erscheinen

Porschen S (2008a) Austausch impliziten Erfahrungswissens. Neue Perspektiven für das Wissens-management. VS – Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden

Porschen S (2008b) Belastungen bei der Bewältigung von Arbeit: Widersprüchliche Kooperati-onsanforderungen. In: Wirtschaftspsychologie, Jg 9, H 1, S 72–77

Rausch A (2008) Controlling von innerbetrieblichen Kommunikationsprozessen. Effektivitäts-und Effizienzmessung von Face-to-Face-Meetings. Gabler, Wiesbaden

Reichwald R, Möslein KM, Neyer A, Scheler J (2010) „Open Innovation: Methodologische Prä-zisierung und praktische Umsetzung“ im Projekt Open-I: Open Innovation im Unternehmen. In:Jacobsen H, Schallock B (Hrsg) Innovationsstrategien jenseits traditionellen Managements. Fraun-hofer, Stuttgart, S 243–250

Reppesgaard L (2002) Vergeudung als Dienstpflicht. In: Handelsblatt, 22. November 2002

Sevsay-Tegethoff N (2007) Bildung und anderes Wissen – Zur „neuen“ Rolle von Erfahrungswis-sen in der beruflichen Bildung. VS – Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden

Suchman LA (1987) Plans and situated actions. The problem of human-machine communication.Cambridge University Press, Cambridge

Teglborg-Lefèvre A (2010) Modes of approach to employee-driven innovation in France: an em-pirical study. In: Transfer – European Review of Labour and Research, Jg 16, H 2, S 211–226

Telljohann V (2010) Employee-driven innovation in the context of Italian industrial relations: thecase of a public hospital. In: Transfer – European Review of Labour and Research, Jg 16, H 2, S227–241

Weick KE (1993) The collapse of sensemaking in organizations: The Mann Gulch disaster. In:Administrative Science Quarterly, Jg 38, H 4, S 628–652

Kapitel 8Innovationsarbeit lernen –Lernkonzept und Rahmenbedingungen

Hans G. Bauer, Christiane Hemmer-Schanze, Claudia Munz und Jost Wagner

Lässt sich ein Innovationshandeln der in diesem Buch herausgearbeiteten Artüberhaupt erlernen, und gegebenenfalls wie? Diese Frage ist keineswegs ei-ne rhetorische. Denn dieses Innovationshandeln zeichnet sich durch spezifischeQualitäten aus, die nicht über ein herkömmliches, kognitiv-wissensvermittelndes(Beherrschungs-)Lernen erworben werden können. Vielmehr bedarf es hierfür sol-cher Lernwege, wie sie das Konzept einer Kompetenzentwicklung bereit hält, dasauf den Erwerb von Handlungsfähigkeit in offenen, komplexen und unsicherenSituationen abzielt. In diesem Kapitel werden dieses Lernkonzept und die dafürerforderlichen Rahmenbedingungen dargestellt.

8.1 Das Erlernen von Innnovationskompetenzkann kein Beherrschungslernen sein

In diesem Buch erfolgt – wie insbesondere in Kap. 3 beschrieben – eine systemati-sche Bestimmung der besonderen Merkmale des Arbeitshandelns bei Innovations-arbeit. Dieses Arbeitshandeln unterscheidet sich von sonstiger Arbeit und besitzteinen besonderen Charakter, der vor allem im Wie dieser Arbeit begründet ist. Wiein Kap. 3 gezeigt wurde, liegen die besonderen Ausprägungen des Innovations-handelns gegenüber sonstiger Arbeit darin, dass die subjektive Haltung vor allemdem Modus des künstlerischen Handelns entspricht, die Handlungsweise dem Mo-dus des erfahrungsgeleiteten Handelns und die Situationsdefinition dem Modus desspielerischen Handelns – womit also ein allgemeines Konzept von Innovationsar-beit umrissen ist.

Hans G. Bauer (B), Christiane Hemmer-Schanze (B), Claudia Munz (B), Jost Wagner (B)GAB München – Gesellschaft für Ausbildungsforschung und Berufsentwicklung,Lindwurmstraße 41/43, 80337 München, [email protected], [email protected],[email protected], [email protected]

189F. Böhle et al. (Hrsg.), Innovation durch Management des Informellen,DOI 10.1007/978-3-642-24341-7_8,© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012

190 H. G. Bauer et al.

Dieses Kapitel wendet sich nun der Frage zu, ob und wie ein solches Innovations-handeln erwerb- bzw. erlernbar ist, und bezieht sich somit auf die mit der Lernebeneverbundenen komplexen Fragen des Erwerbs von Kompetenzen, der damit verbun-denen Aspekte methodisch-didaktischer Art und der wünschenswerten bzw. sogarerforderlichen lernförderlichen Rahmenbedingungen.

Es läge nun nahe – und entspräche auch gängigen Trends u. a. in der Berufs-bildung –, jene besonderen Charakteristika des Innovationshandelns einfach als„Innovationskompetenz“ zu fassen und für sie sozusagen „nach allen Regeln desKompetenzerwerbs“ entsprechende Lern- bzw. Trainingsprogramme zu entwickeln.Allerdings stellt sich hierbei, gerade des inflationären Ge- und Missbrauchs desKompetenzbegriffs wegen, die Frage, ob eine „Innovationskompetenz“ als eigen-ständige Kategorie überhaupt sinnvoll ist. Eine ausführliche Erörterung der um-fänglichen Kompetenzdebatte sprengte allerdings den Rahmen dieses Kapitels. Vordem Hintergrund des hier vertretenen Kompetenzverständnisses, dass „Kompetenz[. . . ] ein Programm [ist] und kein Begriff – schon gar nicht ein eindeutig zu de-finierender“ (Erpenbeck u. Rosenstiel 2007, S. XXXVII)1, ist für uns der Gedan-ke durchaus nachvollziehbar, die beschriebene Bündelung spezifischer Fähigkeitenfür Innovationsarbeit im Sinne einer Zielkategorie als „Innovationskompetenz“ zubezeichnen. Ähnlich wie bei der Diskussion z. B. um eine „Interkulturelle Kom-petenz“2 lässt sich aber auch hier feststellen, dass das entscheidende Kriteriumder Handlungskompetenz – und damit auch des Innovationshandelns – darin be-steht, in komplexen, entscheidungs- und zukunftsoffenen, oft problemgeladenenHandlungssituationen selbstorganisiert und kreativ handeln zu können (vgl. z. B.Heyse et al. 2010). Von einer allgemeinen Handlungskompetenz unterscheidet sich,ähnlich der „Interkulturellen Kompetenz“, auch eine „Innovationskompetenz“ vorallem durch die Beschaffenheit des Handlungsfeldes (d. h. die in ihm enthaltenenHandlungsanforderungen), auf das sie bezogen ist. Das spezifische Mehr gegenüberder allgemeinen Handlungskompetenz besteht somit in denjenigen Fertigkeiten undFähigkeiten, die den Transfer in dieses jeweilige Bezugsfeld sichern (vgl. Bolten2007, S. 8). Daraus aber ergibt sich eine Verschiebung und mit ihr eine Präzisierungder Fragestellung: Auskunft über das Wesen der „Innovationskompetenz“ gibt vorallem die Frage nach denjenigen Fähigkeiten, die in innovatorischen Handlungssi-tuationen als besonders wichtig, ja sogar als handlungsentscheidend gelten können.

Als Wesenselemente einer künstlerisch-erfahrungsgeleitet-spielerischen Innova-tionsarbeit gelten, nochmals kurz zusammengefasst, deren Unbestimmtheit und Of-fenheit, die eines Managements des Informellen bedürfen (d. h. situatives Projekt-management, kooperativer Erfahrungstransfer, Entscheidungen im Innovationspro-zess). Entscheidend für sie ist das Bündel aus Fähigkeiten des künstlerischen („Hal-tung“, Dispositionen), erfahrungsgeleiteten („Handlungsweise“) und spielerischenHandelns („Situationsdefinition“). Diesem Fähigkeitenbündel liegt ein erweiterter

1 Einen wesentlichen Aspekt dieser „Programmatik“ sehen wir z. B. in dem Kompetenzverständnis„Menschenbildung statt Wissensbildung“ (Erpenbeck u. Rosenstiel 2009, S. 7).2 Vgl. zu dieser Diskussion z. B. Bauer u. Triebel (2011).

8 Innovationsarbeit lernen – Lernkonzept und Rahmenbedingungen 191

Begriff von Subjekt (nämlich als Quelle von Kreativität und Innovation) und vonSelbstorganisation zugrunde, von zentraler Bedeutung ist überdies die Reflexivität,insbesondere in Form nicht rein kognitiver Reflexion.

Pädagogisch gesehen befindet man sich mit dieser Positionierung jedoch weitaußerhalb der dominierenden Bildungs- und Lernkultur, die durch ein „Beherr-schungslernen“ (Rumpf) geprägt ist. Damit gemeint ist, dass nach wie vor „Normender Vereinzelung, der Homogenisierung, der Planbarkeit, der Kontrollierbarkeit, dersubjekt- und inhaltsneutralen Handhabbarkeit [dazu] zwingen, das auszufällen, wasihnen ins Gehege kommen könnte [. . . ] das nicht Vorhersehbare, die subjektive Ver-gegenwärtigung“ (Rumpf 1987, S. 14).

In der Tat begegnen sich hier zwei Grundbilder des Menschenlernens, schon frü-her beschrieben z. B. als „Bildungswissen“ vs. „Herrschaftswissen“ (Scheler 1960,S. 200 ff.), als Bilder der strategischen Verfügung, technisch instrumentellen undobjektiven bzw. objektivierenden Deutung, Verwissenschaftlichung vs. Bilder einesVerständnisses von Lernen, das auf „Vergegenwärtigung“ (Rumpf 1987) und „Ein-wurzelung“ (Weil 1956), also dessen subjektorientierte, subjektivierende Anteilesetzt.

Auch in der Berufsbildung und -pädagogik hat der objektivierende Modus desBildens und Lernens zu einer „Missachtung und systematischen Verdrängung“ des-sen geführt, was als „subjektivierend-erfahrungsgeleiteter Modus des Handelns,Denkens, Lernens und Erfahrens“ (Bauer et al. 2006, S. 73) bezeichnet werdenkann. Die Geschichte der Berufsbildung ist ein beredtes Zeugnis solcher Prozes-se der Verwissenschaftlichung, Objektivierung und Erfahrungsverengung auch desLernens (vgl. ausführlich ebd., S. 73 ff.).

Hier findet sich nun eine interessante Parallele zwischen der geschilderten Cha-rakterisierung und Positionierung der Innovationsarbeit mit ihren Elementen, dieüber ein rein planmäßig-zweckrationales Handeln hinausreichen, und der Diskussi-on über Kompetenz(en). So wenig nämlich ein solches zweckrationales Handelndazu geeignet ist, Innovationen hervorzubringen (vgl. das Beispiel der „Beherr-schung“ von Natur und Umwelt in Kap. 3), so wenig ist auch ein funktionalistisch-instrumentelles Kompetenzverständnis dazu geeignet, etwa eine über „Wissens-bildung“ hinausreichende „Menschenbildung“ zu betreiben, in der das Subjekt –wie beim Innovationshandeln – als Quelle von Innovation und Kreativität gesehenwird. Denn eine der Quellen von Missinterpretationen in der Kompetenzdiskussionbesteht darin, Wissen, Fertigkeiten, Qualifikationen und Fähigkeiten in „Kompeten-zen“ umzuettiketieren3, mit der Folge, dass damit eben auch dem „Beherrschungs-lernen“ Tür und Tor geöffnet sind und bleiben. Diese Gefahr ist keineswegs gering

3 Insofern ist es sowohl ein programmatischer als auch ein begrifflicher Teil auch unseres Ver-ständnisses von Kompetenz, Wissen, Fertigkeiten, Qualifikationen für sich genommen nicht alsKompetenz(en) zu begreifen, obwohl es ohne sie keine Kompetenz geben kann: „Kompetenzenschließen Fertigkeiten, Wissen und Qualifikationen ein, lassen sich aber nicht darauf reduzieren.Bei Kompetenzen kommt einfach etwas hinzu, das die Handlungsfähigkeit in offenen, unsiche-ren, komplexen Situationen erst ermöglicht, beispielsweise selbstverantwortete Regeln, Werte undNormen [. . . ] des selbstorganisierten Handelns.“ (Erpenbeck u. Rosenstiel 2007, S. XII)

192 H. G. Bauer et al.

zu schätzen. Denn zwar ist, jedenfalls soweit es die Berufsbildung und -pädagogikangeht, etwa seit Mitte der 1990er Jahre die Rede von einer „kompetenzorientiertenWende“ (vgl. Arnold u. Schüssler 2001). Geißler und Orthey weisen aber zu Rechtdarauf hin, dass der Einzug des Kompetenzbegriffs in die sozialwissenschaftlicheDebatte vor allem auf Chomsky (1970) und Habermas (1971) zurückgeht, derenAnsatz mit dem, „[. . . ] was heute so flott als Erklärung und Angebot zur Lösungpädagogischer Probleme daherkommt, [. . . ] nur einen sehr lockeren und oberfläch-lichen Zusammenhang“ aufweist (Geißler u. Orthey 2002, S. 70). In der Tat lassensich Entwicklungen identifizieren, die es rechtfertigen, den Kompetenzbegriff als„ökonomisierte Variante des klassischen Bildungsbegriffs“ (Vonken 2001, S. 520)zu beschreiben. Dies insbesondere deshalb, weil ihnen die Anbindung an die in denfrüheren Konzepten enthaltenen Perspektiven der (Stärkung der) Subjektivität, Au-tonomie und Souveränität, der Ermöglichung von Selbstverwirklichung weitgehendfehlt. Pointiert sprechen Geißler und Orthey daher von einer „umfassende[n] Ver-einnahmung der Person“ (2002, S. 73) im Rahmen einer „kompetenzgesteuerte[n]Flucht in die Zukunft“ (ebd., S. 69).

Diese vor beinahe zehn Jahren formulierte Kritik an einem ökonomisch zentrier-ten, der „Selbstrationalisierung“ verpflichteten Kompetenzkonzept, das „nicht zueiner Entwicklung der Besonderheit und Eigentümlichkeit des Subjektes, sonderneher zu dessen Auslöschung“ (ebd., S. 73) führe, besitzt wegen der anhaltenden Ge-fahrenlage einer baren Verwertung von Kompetenz zweifelsohne auch heute nochhohe Relevanz. Nach wie vor verbreitet ist in den „sehr heterogenen Diskussions-strängen“ (Bolder 2010, S. 814) neben besagtem Austausch der Begriffe auch dieGefahr, dass Kompetenzen, also die subjektiven Potenziale des Individuums, aufihre verwertbaren Anteile reduziert werden. Insofern sind in der neueren Kompe-tenzdebatte und insbesondere im Blick auf die Fragen der Kompetenzentwicklungauch für diesen Zusammenhang solche Ansätze bedeutsam, die nicht kognitivistischausgerichtet sind.4

Kompetenzen werden einem physisch und geistig selbstorganisiert handelndenMenschen auf Grund bestimmter, beobachtbarer Verhaltensweisen als „Dispositio-nen selbstorganisierten Handelns“ zugeschrieben, sie sind „Selbstorganisationsdis-positionen“ (Erpenbeck u. Rosenstiel 2007, S. XI). Gerade mit Blick auf die Gefahrdes inflationären Gebrauchs des Kompetenzbegriffs ist es für dieses Verständnisdes Ansatzes entscheidend, dass hier von einer Handlungsfähigkeit die Rede ist, diesich auf die (erfolgreiche) Bewältigung offener, unsicherer und komplexer Anforde-rungen bzw. Situationen bezieht. Daraus ergeben sich gerade für die pädagogischeFrage der Kompetenzentwicklung einige wesentliche Folgerungen:

� Der Komplexitätsgrad der Anforderungen muss hoch genug sein, dass sie oh-ne Selbstorganisationsprozesse nicht zu bewältigen wären. Dies bedeutet auch,

4 Als kognitivistisch ausgerichtete Ansätze werden hier solche beschrieben, die – in Absetzungvon Ansätzen der neueren Kognitionspsychologie – Emotionen, Motivationen und affektive Vor-aussetzungen für erfolgreiches Handeln dezidiert ausschließen (vgl. Hartig u. Klieme 2007, S. 5).

8 Innovationsarbeit lernen – Lernkonzept und Rahmenbedingungen 193

dass zur Bewältigung solcher Situationen und Anforderungen „sowohl kognitive[fachlich-methodische] wie motivationale, ethische [personale] willensmäßige[aktivitätsbezogene] und soziale [sozial-kommunikative] Komponenten“ (ebd.,S. XXXI) eingesetzt werden (müssen).

� Wie beschrieben, reicht die selbstorganisierte Handlungsfähigkeit über Wissen,Fertigkeiten und Qualifikationen hinaus. Hinzu kommen „interiorisierte, alsozu eigenen Emotionen und Motivationen verinnerlichte Regeln, Werte (Bewer-tungen) und Normen“ (Erpenbeck u. Rosenstiel 2009, S. 7). Diese durch dieeigene Motivation und Emotion angeeigneten, interiorisierten Werte – im Gegen-satz zu lediglich angelernten – sind die „Kerne von Kompetenzen“ (Schweizeret al. 2010). Ohne Einbezug der Werteebene ist eine authentisch-individuelleKompetenzentwicklung also nicht möglich. Die Interiorisation aber stellt ein„Anrühren, Irritieren, Aufbrechen und Umorientieren von Emotionen in denMittelpunkt“ und damit solche Vorgehensweisen, die eine „emotionale Labili-sierung“ (Erpenbeck u. Rosenstiel 2009, S. 8) ermöglichen.

� Dies hat tiefgreifende pädagogische Konsequenzen. Denn Lernprozesse, die zusolcher Kompetenzentwicklung führen, sind über die herkömmlichen Wege desBeherrschungslernens, des schulischen und unterweisenden, wissensbasierten„Anlernens“ nicht möglich. Vieles muss, nach wie vor, gelernt werden – kannaber nicht (mehr) direkt gelehrt werden.

Es ist, so gesehen, keine Überraschung, dass auch im pädagogischen Bereichsolche Ansätze und Medien, die einer interiorisierenden, emotionalen Labilisierungdienlich sein können – Ansätze einer in diese Richtung weisenden „Ermöglichungs-didaktik“ (Arnold u. Schüssler 2003) also –, nur subdominant vertreten sind. Dennsie sind, wie beschrieben, selbst eine Form von wissenschaftlicher (aber auch dortnoch immer als quasi exotisch betrachteter) Innovationsarbeit. Nimmt man jedochdas hier beschriebene Kompetenzverständnis ernst, so scheinen besonders die For-men eines künstlerischen, erfahrungsgeleiteten und spielerischen Handelns in derLage zu sein, ihrer anderen Qualität wegen wirklich zu einer neuen, innovativenund innovationsfreundlichen Handlungs- und Lernkultur beizutragen. Allerdingsbedürfen sie, wie schon angedeutet, auch eigener Formen des Erwerbs.

8.2 Innovationsarbeit: Welche Fähigkeiten werden benötigt?

Um Innovationsarbeit lernbar zu machen, bedarf es zunächst des Blickes darauf,was denn genau gelernt werden sollte, also auf die Fähigkeiten, die mit den un-terschiedlichen Handlungsdimensionen des Künstlerischen, Erfahrungsgeleitetenund Spielerischen verbunden sind. Wir konzentrieren uns – notwendigerweise bei-spielhaft, verkürzt und mit dem Hinweis darauf, dass neben den hier genanntennatürlich auch eine ganze Reihe von fachbezogenen Fähigkeiten für Innovationsar-beit unabdingbar sind und vorausgesetzt werden müssen – auf die Frage: Welcher

194 H. G. Bauer et al.

spezifischen Fähigkeiten bedarf es für eine künstlerische, erfahrungsgeleitete undspielerische Innovationsarbeit?

8.2.1 Innovationsrelevante Fähigkeitendes künstlerischen Handelns

Künstlerisch zu handeln bedeutet vor allem, Offenheit nicht nur zu bejahen, sondernbewusst zu suchen bzw. herzustellen. Dies erfordert Mut und Initiative, die Realitätnicht als gegeben und unveränderbar, sondern als gestaltbar zu verstehen, als eineWelt, in der etwas Neues, noch nicht Dagewesenes – eben Innovatives – geschaffenwerden kann.

Damit dies gelingt, muss der Handelnde zum Ersten dazu fähig sein, sich vongegebenen Kontexten zu lösen und die damit verbundene Sicherheit hinter sich zulassen. Er muss sich auf Neues, Unbekanntes einlassen und mit dem Handeln be-ginnen können, ohne genau zu wissen, wohin die Reise geht. Dies gelingt umsobesser, je mehr er sich nicht vorschnell auf Antworten fixiert, sondern fragenori-entiert handelt, voreilige und eingeübte Schlüsse vermeidet und nach neuen undungewohnten Zusammenhängen sucht. Die zentrale Fähigkeit des künstlerisch Han-delnden besteht somit darin, Regeln, die in scheinbarer Objektivität von außen anihn herantreten, nicht einfach zu akzeptieren, sondern eigene Regeln zu setzen undin der gegebenen Umwelt ins Gespräch zu bringen.

Zum Zweiten bedeutet künstlerisches Handeln, nicht nur einfach reaktiv mit derWelt umzugehen, sondern nach Formen zu suchen, mit denen einem eigenen in-neren Anliegen Ausdruck verliehen werden kann. Gerade in der Innovationsarbeitbedeutet dies, nicht nur Situationen und Fragestellungen zu bearbeiten oder Proble-me zu lösen, sondern ein eigenes inneres Anliegen mit dem Arbeitsanliegen undden Gegebenheiten der rahmenden Umwelt so zu verbinden, dass beides miteinan-der in einen Dialog tritt und zu unerwarteten und überraschenden Entwicklungenführt. Um dies zu können, bedarf es aber zunächst einmal der Fähigkeit, die eige-nen Motive und Werte zu ergründen und kennenzulernen. Gleiches gilt auch für die„Anliegen“ des Gegenübers, des Kollegen, des Arbeitsgegenstandes oder des Kun-denbedürfnisses. Auch diese wollen erkundet und in ihren Eigengesetzlichkeitenverstanden werden. Das wiederum macht die Fähigkeit erforderlich, „hinter“ dieDinge und die sie begleitenden Phänomene zu schauen und zu erkennen, worum esim Eigentlichen geht: Was ist der Kern des zu bearbeitenden Problems, des Anlie-gens des Kollegen etc.?

Der künstlerische wie der Innovationsprozess zielen darauf ab, etwas Neues, Ori-ginäres zu schaffen. Dies erfordert zum Dritten die Fähigkeit, neue Möglichkeitengeistesgegenwärtig zu erkennen und ungewohnte, ungewöhnliche Aspekte, die sichim Prozess zeigen, aufzugreifen. Welche Aspekte dabei die „lohnenden“ sind, lässtsich nicht objektiv bestimmen, sondern bedarf letztendlich einer gewissen Intui-tionsfähigkeit und auch des Mutes zu Entscheidungen, die dem eigenen künstleri-

8 Innovationsarbeit lernen – Lernkonzept und Rahmenbedingungen 195

schen Anspruch genügen müssen. Der kreative Schaffensprozess des Künstlers (wieauch des Innovationsarbeiters) verläuft dabei in der Regel nicht geradlinig, sondernkann von Krisen und Störungen gekennzeichnet sein und ist es meist auch. Diesals immanenten Bestandteil des Innovationsprozesses zu akzeptieren und produk-tiv zu nutzen ist ein weiterer wichtiger Aspekt einer am Künstlerischen orientiertenInnovationsarbeit. Die erforderliche Fähigkeit ist vor allem die, auch in schwieri-gen Situationen das nötige Durchhaltevermögen zu entwickeln. Hilfreich ist dabeinicht nur die Fähigkeit, mit Konflikten produktiv umzugehen, sondern auch die Fä-higkeit, das Vertrauen aufzubringen, dass sich die Lösung im Prozess irgendwannzeigen wird – dass Störungen und Fehler dazugehören und letztendlich zu Quellenfür Inspiration werden können.

8.2.2 Innovationsrelevante Fähigkeitendes erfahrungsgeleiteten Handelns

Die künstlerische Haltung beinhaltet immer auch, der Welt erfahrungsoffen entge-genzutreten. Es besteht also eine enge Verbindung zur erfahrungsgeleiteten Vorge-hensweise. Beide bedürfen einer umfassenden Erfahrungs- und Wahrnehmungsfä-higkeit.

Für Innovationsarbeit entscheidend ist die Fähigkeit, jeder Situation wahrneh-mungs- und erfahrungsoffen zu begegnen und das, was auf einen zutritt, mit allenSinnen und ohne zu schnelle Urteile und Bewertungen wahrzunehmen. Dabei sindnicht nur die klassischen fünf Sinne von entscheidender Bedeutung, sondern allekörperlichen und seelischen Resonanzen des Handelnden. Wahrnehmungsfähig-keit bezieht sich eben nicht nur auf die „Welt da draußen“, sondern auch auf denHandelnden selbst, seine eigenen Gefühle, Eindrücke, Gedanken, die durch die Be-gegnung mit der Welt ausgelöst werden. Wirksam und wahrnehmbar sind nichtnur objektive und beschreibbare Fakten, sondern auch Qualitäten wie Stimmun-gen, Atmosphären u. ä. Hier eine eher „spürende“ denn analytisch „registrierende“Wahrnehmungsfähigkeit für Aspekte und Verläufe zu entwickeln, über die man imAlltag leicht hinweggeht, scheint gerade für Innovationsarbeit von besonderer Be-deutung zu sein.

Für das erfahrungsgeleitete Handeln ist es essenziell, Gefühl und Gespür fürSituationen, Ideen, Menschen oder Dinge zu entwickeln – zweifellos ein für In-novationsarbeit wichtiger Fähigkeitenbereich. Dies bedeutet allerdings, dass dieseDimensionen überhaupt in ihrer Relevanz erkannt und in ihr Recht gesetzt wer-den. Zwar können subjektivierende Herangehensweisen objektivierende Betrach-tung und gedankliche Durchdringung nicht ersetzen, wohl aber entscheidend er-gänzen und erweitern. Um Situationen, Gegebenheiten, „zum Sprechen zu bringen“und daraus Ideen und Handlungsweisen für die Zukunft abzuleiten, bedarf es selbst-verständlich analytischer und intellektueller Fähigkeiten. Die besagte Dimension

196 H. G. Bauer et al.

des Gefühls und Gespürs eröffnet jedoch Wahrnehmungsmöglichkeiten für Aspek-te, die einer rein analytischen Herangehensweise notwendig verborgen bleiben.

Erfahrungen überhaupt machen zu können setzt Erfahrungsoffenheit voraus undmit ihr die Neugier auf phänomenologische Entdeckung sowie eine dialogisch-explorative Herangehensweise, die sich den Dingen entdeckend nähert, ohne vonvornherein zu wissen, was einem begegnen wird. Gerade auch Innovationsarbeitbenötigt die Fähigkeit, mit der Umwelt in einen Dialog zu treten, in enger Verknüp-fung von Handlung und Wahrnehmung experimentell zu handeln, die sich dabeiergebenden Reaktionen und Impulse aufzugreifen und in das eigene Handeln ein-zubeziehen. Das Verhältnis zum Gegenstand ist dabei kein instrumentelles, sonderndas zu einem gleichberechtigten „Gesprächspartner“. Lösungsansätze und weitereVorgehensweisen zeigen sich „an der Sache“ – vorausgesetzt, man hat die Geduld,nicht gleich der erstbesten Idee zu folgen, sondern noch eine Weile mit den Gege-benheiten zu „spielen“.

8.2.3 Innovationsrelevante Fähigkeitendes spielerischen Handelns

Innovationsarbeit findet zweifelsohne in einem Arbeitskontext statt, in dem es um„ernsthafte“ Ergebnisse geht. Dennoch – und u.E. gerade deshalb – ist die Fähigkeit,einen spielerischen Zugang zu der Situation und den Gegebenheiten zu wählen, fürInnovationsarbeit von zentraler Bedeutung, auch wenn dieses spielerische Elementin den Arbeitskontext oft nur schwer „hineinzudenken“ ist.

Die Definition einer Situation als „Spiel“, also als „Nicht-Ernst“ oder „nicht-tatsächlich“, schafft einen gewissen Freiheitsgrad im Handeln, da sie dieses Han-deln von der Notwendigkeit einer sofortigen utilitaristischen Rechtfertigung befreit.Eine Situation als Spiel zu definieren bedeutet, einen begrenzten Rahmen zu schaf-fen, innerhalb dessen „unübliche“, scheinbar irrationale oder nicht durch gegen-seitige Erwartungen gedeckte Handlungsweisen erlaubt sind. Gerade weil es „nurein Spiel“ ist, kann – und muss – sich der Handelnde ganz darauf einlassen. Daswiederum setzt gewisse Fähigkeiten voraus: Man darf – und man muss – sich ganzhineinbegeben, sich involvieren, sich engagieren und das eigene Handeln von derFreude und Lust am Spiel leiten lassen. Man muss also loslassen und sich der Dy-namik des Prozesses hingeben können. Gleichzeitig ist ein Spiel immer nur einSpiel, was zu einer paradoxen Anforderung führt: Der Spielende muss sich zwarganz auf den Prozess einlassen, darf aber die rahmende Situationsdefinition nie ausden Augen verlieren. Er muss in der Lage sein, mitzubekommen, wann „aus SpielErnst“ wird, wo der Spiel-Modus verlassen werden muss und auf der Meta-Ebeneder Real-Modus angesprochen ist. Beide Modi müssen somit gleichzeitig im Blickgehalten werden, was bedeutet, die damit verbundene Ambivalenz und Irritationauszuhalten, aktiv und proaktiv zwischen den Ebenen zu wechseln und den damit

8 Innovationsarbeit lernen – Lernkonzept und Rahmenbedingungen 197

verbundenen Perspektivwechsel zu vollziehen. Dies erfordert nicht nur eine hoheAmbiguitätstoleranz, sondern auch die Fähigkeit, mehrere Ebenen gleichzeitig imBewusstsein zu behalten.

Spielen bedeutet immer den aktiven Umgang mit Regeln. Spiele sind deshalbSpiele, weil in ihnen oft andere Regeln gelten als in der „Realität“. Zum Spielenbraucht es also die Fähigkeit, mit diesen Regeln umzugehen, sie zu verstehen undauf den speziellen Handlungsfall anzuwenden. Gleichzeitig gilt es aber gerade auch,diese Regeln im Zweifelsfall zu missachten und zu unterlaufen. Spielen umfasst da-her nicht nur die starre Befolgung von Regeln, sondern auch den kreativen Umgangmit ihnen. Dazu bedarf es, neben einem gewissen Maß an Selbstvertrauen, vor al-lem der Fähigkeit, hinter die Regeln zu schauen, eine eigene Strategie zu überlegenund diese situativ an den Spielverlauf anzupassen.

8.3 Künstlerisch, erfahrungsgeleitet, spielerisch –Das Lernkonzept

Der Blick auf die Fähigkeiten, die mit dem künstlerischen, erfahrungsgeleitetenund spielerischen Handeln verbunden sind, macht deren Breite wie deren engeVerwobenheit deutlich, zugleich auch ihre Relevanz für Innovationsarbeit. DieseFähigkeiten liegen sowohl auf personaler, sozialer und methodischer als auch aufeiner wertebezogenen Ebene. Sie können daher – wie bereits zu Eingang diesesKapitels hinsichtlich der Entwicklung von Kompetenzen ausgeführt – nur schwereinzeln und schon gar nicht in unterrichtlich-belehrenden Lernformen vermitteltwerden. Sie sind nicht im klassischen Sinne lehrbar, allerdings lernbar – und zwardurch praktisches Handeln. Mit anderen Worten: Künstlerisch, erfahrungsgeleitetund spielerisch zu handeln lernt man nur, indem man künstlerisch, erfahrungsgelei-tet und spielerisch handelt.

Dazu eine grundsätzliche Anmerkung: Aus der pädagogischen Perspektive derKompetenzentwicklung war und ist es sinnvoll und aufschlussreich, die drei Ele-mente des Künstlerischen, Erfahrungsgeleiteten und Spielerischen analytisch zutrennen, um die Spezifik und die besondere Akzentuierung jedes einzelnen Aspektsbesser herausarbeiten zu können. Genauso wichtig ist aber auch der Hinweis, dassdiese Elemente im praktischen Tun eng miteinander verknüpft sind und sich zumTeil gegenseitig bedingen und befruchten. Bezüglich ihres Erwerbs bedeutet dies al-lerdings, dass es gerade dieser Interdependenzen wegen wenig Sinn machen würde,separate „Trainingseinheiten“ zu veranstalten.

Unter pädagogischem Blick lässt sich diese Art des Zusammenspiels gut veran-schaulichen anhand des Tetraeders, eines symmetrischen geometrischen Körpers,dessen Oberfläche aus vier gleichschenkligen Dreiecken besteht, die sich alle ge-genseitig berühren. Stellt man sich die zu entwickelnde kompetente Innovationsfä-higkeit als Basis vor, so sind künstlerisches, erfahrungsgeleitetes und spielerisches

198 H. G. Bauer et al.

Abb. 8.1 Der Innovationskompetenz-Tetraeder

Handeln als die drei anderen Flächen des Körpers mit ihr verbunden und habengleichermaßen auch untereinander Kontakt (siehe Abb. 8.1).

Für das Lernkonzept heißt dies, dass die drei Aspekte „Künstlerisches Handeln –Erfahrungsgeleitetes Handeln – Spielerisches Handeln“ als verschiedene Seiten der„Medaille Innovationskompetenz“ angesehen werden können, die es im Rahmenvon bewusst gestalteten Lernarrangements und geeigneten Handlungssituationenals Ganzes zu erwerben gilt.

Ein Lernkonzept, das die Elemente des künstlerischen, erfahrungsgeleiteten undspielerischen Handelns in Richtung einer Kompetenzentwicklung für Innovations-arbeit nutzen will, muss Handlungssituationen schaffen, in denen die Lernenden dieMöglichkeit haben, die jeweiligen Handlungsformen – oder eine Kombination ausihnen – tatsächlich aktiv zu vollziehen. Dazu bedarf es dreier Elemente:

� erstens exemplarischer Lernsituationen, in denen künstlerisches, erfahrungsge-leitetes, spielerisches Handeln „getan“ und dadurch gelernt werden kann;

� zweitens des Blicks und des Transfers auf betriebliches Arbeits- bzw. Innovati-onshandeln;

� drittens einer Lernprozessgestaltung, die diese beiden Elemente so miteinanderverbindet, dass sie sich gegenseitig befruchten und zu einer Kompetenzentwick-lung beitragen können.

Diese drei Elemente werden im Weiteren kurz dargestellt.

8.3.1 Exemplarische Lernsituationen schaffen

Lernsituationen für ein künstlerisches, spielerisches und/oder erfahrungsgeleitetesHandeln sind üblicherweise nicht Teil des betrieblichen Alltages (meist verbietet

8 Innovationsarbeit lernen – Lernkonzept und Rahmenbedingungen 199

es schon das professionelle Selbstverständnis, Arbeit als Spiel aufzufassen, dennschließlich geht es, auch in der Innovationsarbeit, um etwas Ernstes), sondern müs-sen meist erst einmal geschaffen werden. Das Erlernen solcher Handlungsweisenmacht es daher (meist) erforderlich, den Rahmen und das Medium zu wechseln, denBetriebsalltag zu verlassen und Situationen zu schaffen, die von betrieblicher undverwertungsorientierter Rationalität befreit sind. In der Regel sind das Workshop-Settings oder Ähnliches. Diese exemplarischen Erfahrungsräume können dabei sehrunterschiedlichen Charakter haben, je nachdem, wie sie in Bezug zum Arbeitshan-deln stehen.

Ein eher deduktiver Zugang zu besagten Handlungserfahrungen besteht darin,Räume zu schaffen, in denen es gar nicht um die Arbeit oder um arbeitsnahe The-men geht, sondern in denen einfach Kunst gemacht, gespielt oder aber erfahrungs-geleitet vorgegangen werden kann. Beispiele dafür sind etwa Kunstworkshops, freieSpiele oder Wahrnehmungsschulungen. Man nimmt den Lernenden bewusst ausdem Arbeitssetting heraus und ermöglicht ihm, tief in den spezifischen Handlungs-typus einzutauchen, um „am eigenen Leib“ erfahren zu können, was es bedeutet, zuspielen oder sich künstlerisch oder erfahrungsgeleitet mit Dingen oder der Umweltauseinanderzusetzen.5 Gerade weil die Handlungssituation von Arbeitsbezügen be-freit ist, gerade weil es „um nichts geht“, ist es den Lernenden möglich, sich ganzauf die jeweiligen Aufgabenstellungen einzulassen. Dann wird direkt erlebbar, wases bedeutet, einmal ganz anders, nicht rational-planerisch vorzugehen und dennochzu tragfähigen, vermutlich überraschenden und auch innovativen Ergebnissen zukommen. Man erfährt, wie man den Dingen, Bedingungen oder der sozialen Si-tuation mit einer künstlerischen Haltung begegnen kann, was es heißt, schnellenLösungsideen zu widerstehen, dialogisch-explorativ zuerst das Material zu erkun-den, damit herumzuspielen und dabei ganz neue Seiten zu entdecken – all diesAspekte, die auch in der Innovationsarbeit eine große Rolle spielen, dort aber häu-fig hinter der rational-objektivierenden Rahmung verschwinden. Gerade weil dieHandlungstypen des Künstlerischen, Erfahrungsgeleiteten oder Spielerischen einer-seits so fern der Arbeitsrealität zu sein scheinen, andererseits aber vieles in sichtragen, was aus dem Arbeitsalltag bekannt ist, lässt sich ihre besondere Qualitäteigentlich nur über persönliche Erfahrung vermitteln. Gleichzeitig können solche„ganz anderen“, eben in einem eher unbekannten und fremden Medium gemachtenErfahrungen das erzeugen, was wir eingangs in Anlehnung an die Kompetenzent-wicklungsdebatte Labilisierungserfahrungen genannt haben. Das Erlebnis, plötzlichmit den normalen (Arbeits-)Routinen nicht mehr weiterzukommen, weil sich etwadas Schaffen eines Kunstwerkes gerade nicht planen, umsetzen und kontrollierenlässt oder weil eine persönliche Strategie im Spiel nicht funktioniert, kann die Er-schütterung erzeugen, der es bedarf, um wirklich neue Fähigkeiten zu erwerben undzur Kompetenz zu verdichten. Der Wechsel in das künstlerische, erfahrungsgelei-tete und/oder spielerische Medium und die daraus resultierende Veränderung der

5 Zu methodisch-didaktischen Fragen insbesondere in Bezug auf Kunst sowie zu einer Definitionvon künstlerischen Aufgabenstellungen vgl. Brater u. Wagner (2011).

200 H. G. Bauer et al.

Handlungsbedingungen kann also nicht nur spezifisch für den Erwerb von Inno-vationskompetenz, sondern generell für Kompetenzentwicklung im hier gemeintenSinne – nämlich die Entwicklung von Handlungsfähigkeit in offenen, komplexenSituationen – eine entscheidende Komponente sein.

Um (Innovations-)Kompetenz zu entwickeln, reicht es jedoch nicht aus, dieLernenden einfach nur künstlerischen, erfahrungsgeleiteten und/oder spielerischenHandlungserfahrungen „auszusetzen“. Es gilt auch, sie darin zu unterstützen, dieseErfahrungen auszuwerten, einzuordnen und sie auf das betriebliche Handeln zuübertragen. Damit aus dem Erlebnis einer künstlerischen, erfahrungsgeleiteten oderspielerischen Vorgehensweise eine Erfahrung wird, bedarf es in einem zweitenSchritt einer „reflektierenden“ Betrachtung und Bearbeitung des Erlebten. Der Ler-nende muss zuerst einmal emotional und gedanklich das durchdringen, was er erlebthat, wie er vorgegangen ist, was seine Vorgehensweise von der im betrieblichenAlltag üblichen unterscheidet (oder gerade mit ihr zu tun hat). Der Arbeitsbezugkommt hier also zu der zunächst „arbeitsfernen“ Erfahrung hinzu.

Man kann den Arbeitsbezug aber auch zum Ausgangspunkt von künstlerischen,erfahrungsgeleiteten oder spielerischen Erfahrungen machen. Beispiele für dieseneher induktiven Zugang sind etwa künstlerische Übungen, Planspiele oder Erkun-dungsaufgaben. Dabei werden betriebliche oder arbeitsbezogene Fragestellungenin das Medium der Kunst, des Spiels oder der Erfahrung „übersetzt“. Das Planspieletwa zielt darauf ab, einen Ausschnitt aus der betrieblichen Realität zu simulie-ren (Blötz 2008). Die künstlerische Übung sucht nach Metaphern für betrieblicheFragen, um diese dann im Medium des Künstlerischen zu behandeln (Brater u.Wagner 2011). Oder eine Erkundungsaufgabe leitet einen erfahrungsoffenen Zu-gang zu einer Arbeitssituation ein (vgl. Bauer u. Munz 2004). In allen drei Fällenbegegnet der Lernende einem bekannten Problem, einer Fragestellung oder Her-ausforderung, jedoch in einer ganz anders gerahmten Situation und einem anderenMedium. Im Planspiel oder der künstlerischen Übung bestehen plötzlich ganz ande-re Handlungs- und Erfahrungsmöglichkeiten, die dennoch einen direkten Bezug zurArbeitswirklichkeit haben. Diesen veränderten Bezug dem Lernenden nicht nur be-wusst zu machen, sondern ihn auch in die Arbeitswelt zu transferieren ist wiederumAufgabe der das Erlebnis rahmenden didaktischen Gestaltung.

Erkennbar wird hier somit die Bedeutung des Schaffens von exemplarischen Er-fahrungsräumen für andere, insbesondere eben künstlerische, erfahrungsgeleiteteund spielerische Handlungszugänge.

8.3.2 Arbeitshandeln aufbereiten und transformieren

Diese Erfahrungsräume sind aber in Bezug auf Innovationshandeln kein Selbst-zweck. Die Lernenden sollen ja nicht etwa zu Künstlern oder Spielern ausgebildetwerden, sondern für ihr betriebliches Handeln lernen. Um dies zu ermöglichen, be-darf es nicht nur neuer Erfahrungen, sondern auch eines anderen Blickes auf die

8 Innovationsarbeit lernen – Lernkonzept und Rahmenbedingungen 201

bisherigen und alltäglichen Erfahrungen. Damit betriebliches Handeln verändertbzw. verbessert werden kann – und darum geht es ja beim beruflichen Lernen –,müssen Lernerfahrungen an diesem Handeln ansetzen. Gefordert ist also ein Zu-gang zum Arbeitshandeln, der die bisherigen Erfahrungen der Lernenden zum Aus-gangspunkt nimmt und fragt, worin dessen besondere Handlungsherausforderungenbestehen. Um etwa Innovationsarbeit zu verbessern, bedarf es erst einmal eines ge-teilten Verständnisses der Realität von Innovationsarbeit zwischen Lernenden undLernbegleitern6: Wie gehen die Lernenden bisher vor? Welche Herausforderungenbestehen dabei? Wo treten in der Regel Probleme auf? Wo kommt man mit derbisherigen Vorgehensweise nicht weiter? In anderen Worten: Der Lernbedarf wirdzunächst gemeinsam mit den Lernenden identifiziert. Dies erfolgt zum einen an-hand einer intensiven Auswertung der bisherigen Erfahrungen, zum anderen mitHilfe eines gemeinsamen Zielbildes, das aufzeigt, wo und wie das Arbeitshandelnverbessert werden könnte.

Durch diese gemeinsame Lernbedarfsanalyse geschieht dreierlei: Zum Erstenwird sichergestellt, dass Lernen tatsächlich an den Problemen der Handelnden an-setzt, denn deren Lernbedarf sollte ja der Ausgangspunkt des Lernens sein. ZumZweiten gewinnen die Lernenden einen anderen Blick auf das eigene Handeln. ImBetriebsalltag etwa ist es oft notwendig, das eigene Handeln zu rechtfertigen undzu rationalisieren. Schnell wird da aus einem eher explorativen und improvisieren-den Vorgehen im Rückblick ein planerisch-rationales, so als ob man die ganze Zeitgewusst hätte, was sich am Schluss ergeben wird. Durch einen erfahrungsgeleite-ten Blick auf das eigene Handeln im Austausch mit Kollegen ist es daher oft ehermöglich, die tatsächliche Arbeitsrealität zu beschreiben, weil man feststellt, dass esden anderen ähnlich ergeht. Gerade bei der Innovationsarbeit werden hierdurch dieAspekte sichtbar, die sich einem rational-objektivierenden Zugang eher entziehen.Das Bild der eigenen Arbeit und der damit verbundenen Herausforderungen wirdreicher. Drittens schließlich wird ein Vertrauensverhältnis zwischen Lernenden undLernbegleitern etabliert, das die Basis schafft, sich auf die neuen Erfahrungen imMedium des Künstlerischen, Erfahrungsgeleiteten oder Spielerischen wirklich ein-zulassen. Denn im Rahmen einer betrieblichen Fortbildung „einfach zu spielen“ istim Grunde ja zunächst eine ziemliche Zumutung.

So wichtig wie die Aufbereitung bisheriger Arbeitserfahrungen ist auch die Be-reitstellung von Möglichkeiten für neue. Dabei gilt es, die Erkenntnisse und Erfah-rungen der Auseinandersetzung mit künstlerischem, erfahrungsgeleitetem und/oderspielerischem Handeln nicht nur intellektuell und theoretisch, sondern auch kon-kret und praktisch auf das eigene Handeln zu übertragen, also mit Veränderungenim Arbeitshandeln zu experimentieren und damit neue Erfahrungen zu machen:Was bedeutet es konkret, in einem betrieblichen Innovationsprozess die Offenheitmöglichst lange beizubehalten? Wie „spiele“ ich mit den Gegebenheiten so, dassich zu innovativen Lösungen komme? Welche Kombination aus eher objektivieren-

6 Zum Konzept der Lernbegleitung vgl. Bauer et al. (2002).

202 H. G. Bauer et al.

den und eher subjektivierenden Herangehensweisen führt in welchen Situationenzu Innovationen?

Instrument für diese Experimente können z. B. persönliche Lern- und Verän-derungsprojekte der Lernenden sein, die den Rahmen des Workshops oder desarbeitsfernen Lernsettings verlassen und Lernen im realen Arbeitsalltag ermögli-chen (Bauer et al. 2004). Der Lernende nimmt sich eines Aspektes an, mit demer in seinem Handeln weiterkommen will, und versucht in der alltäglichen Arbeitmit diesem Aspekt zu „spielen“, zu experimentieren, neue Erfahrungen zu machen.Letztere werden dann im Workshop wieder individuell oder gemeinsam reflektiertund kollegial beraten, unter Umständen werden bestimmte Handlungsweisen vertie-fend geübt. So werden schrittweise neue Herangehensweisen und Handlungsformenerlernt, beherrscht und in das persönliche Handlungsrepertoire integriert.

Innovationsfähigkeiten dieser Art zu lernen erfordert also immer beides: dieSchaffung neuer exemplarischer Erfahrungsräume wie auch deren Anbindung anbisheriges und zukünftiges Arbeitshandeln der Lernenden.

8.3.3 Lernprozessgestaltung

Damit dies gelingt, bedarf es auch einer spezifischen Gestaltung des Lernprozesses.Wichtige Elemente hierfür sind:

� Offene und partizipative Prozessgestaltung: Künstlerische, erfahrungsgeleiteteund spielerische Handlungserfahrungen sind immer sehr persönlich und entzie-hen sich tendenziell einer didaktischen Planbarkeit. Welche Erfahrungen Ler-nende etwa in einem freien Spiel oder in einer künstlerischen Übung machen,hängt in hohem Maße vom Handelnden selbst ab. Dies reduziert die Planbarkeitvon Lernprozessen im Sinne einer Input-Output-Orientierung erheblich, müssensie hier doch als offene und situativ zu steuernde Prozesse verstanden werden.Gleichzeitig gilt es, den Lernenden an der Steuerung dieses Prozesses zu betei-ligen, da es letztendlich ja um seine Entwicklung geht.

� Erfahrung vor Theorie: Weil die mit künstlerischem, spielerischem und erfah-rungsgeleitetem Handeln verbundenen Fähigkeiten nicht theoretisch, sondernnur über die eigenaktive Erfahrung erwerbbar sind, ist es notwendig, dem Ler-nenden eine möglichst unverfälschte Erfahrung dieser Handlungsmodelle zu er-möglichen. Dies gelingt nicht, indem man in klassischer Manier zunächst Wissenoder Theorie vermittelt und dann beispielhaft eine Handlungssituation eröffnet.Erfahrungsgeleitet zu lernen bedeutet vielmehr, die Verallgemeinerung des Er-fahrenen, d. h. also die Theorie, gemeinsam aus den gemachten Erfahrungen zugenerieren. Dies ist für viele Lernende eine eher ungewohnte Herangehensweiseund verlangt oft ein hohes Vertrauen in die Lernbegleiter.

� Gemeinsames Lernen von- und miteinander: Auch wenn viele – arbeitsbezogenewie in Workshops gewonnene – Erfahrungen eher persönlicher Natur sind, haben

8 Innovationsarbeit lernen – Lernkonzept und Rahmenbedingungen 203

sie auch einen intersubjektiven Anteil. Wie bereits angemerkt, stellen Lernendeoft im Austausch mit anderen fest, dass sie ähnliche Probleme haben wie dieanderen und umgekehrt. Und auch Erfahrungen im Spiel oder in der künstleri-schen Aktivität werden von und mit anderen geteilt. Diese sozialen Erfahrungenkönnen die Basis liefern, um Unterschiede und individuelle Stärken in den Blickzu nehmen, wodurch ein Lernen voneinander möglich wird.

� Veränderung von Handeln und Strukturen: Damit das individuelle Lernen auffruchtbaren Boden fällt und die neuen Fähigkeiten sich in der Realität auch ver-wirklichen lassen, bedarf es überdies oftmals auch einer Veränderung der dieArbeitshandlung rahmenden Strukturen. Nur so kann gesichert werden, dass dieneu erworbenen Innovationsfähigkeiten tatsächlich in das Arbeitshandeln trans-feriert und integriert werden können. Wesentlich sind somit auch innovations-und lernfreundliche Arbeitsstrukturen. Auf diese wird nachfolgend ausführlicheingegangen.

8.3.4 Rahmenbedingungen für künstlerisches,erfahrungsgeleitetes und spielerisches Lernenzum Erwerb von Innovationskompetenz

Der Erwerb innovativer Kompetenzen stellt, so wie der Erwerb von Kompetenzengenerell, nicht nur methodisch-didaktische Anforderungen, sondern auch solchean die Rahmenbedingungen dieses Lernens. Im Grundsatz bestehen letztere dar-in, dass dieses Lernen möglichst realitätsnah, optimalerweise sogar arbeitsintegriertstattfindet. Wie aber sehen darüber hinaus die Rahmenbedingungen aus, die als lern-förderlich für innovatorisches Handeln erachtet werden können?

Die Gegebenheiten in eher traditionell orientierten Unternehmen mit hierarchi-scher Organisationsstruktur, klaren Vorgaben und durchgeplanten Abläufen fördernAbteilungs- und Zuständigkeitsdenken. Innovatives Arbeiten und Lernen hingegenbraucht Offenheit und Flexibilität, die Möglichkeit, „über den Tellerrand hinaus“zu denken und zu agieren, sich jenseits von Funktions- und Abteilungsgrenzen ineinem „Innovationsraum“ zu bewegen, in dem nicht Altes weitergedacht wird, son-dern neue Möglichkeiten experimentell entwickelt und ausprobiert werden können.

Innovatives Arbeiten lässt sich weder anordnen noch analytisch-planvoll organi-sieren, es lässt sich nicht „lehren“, sondern nur in der tätigen Auseinandersetzungmit Neuem herausbilden. Wie dabei die spezifischen Beiträge künstlerischen, erfah-rungsgeleiteten und spielerischen Handelns selbst erfahren und auf den Arbeitsall-tag transferiert werden können, wurde bereits geschildert. Hier soll der Blick nunauf die Rahmenbedingungen für eine Organisations- und Arbeitsgestaltung gerich-tet werden, die sich die Chancen der Integration künstlerischer, erfahrungsgeleiteterund spielerischer Ansätze zunutze macht. Dabei geht es um drei Dimensionen, diezu einem Gesamtsetting zusammengeführt werden müssen: um die Gestaltung

204 H. G. Bauer et al.

� lernförderlicher Arbeitsbedingungen als Grundlage, auf der erst� kompetenzentwickelndes Lernen möglich wird, welches wiederum� besonderes Augenmerk auf künstlerisches, erfahrungsgeleitetes und spieleri-

sches Lernen und Arbeiten legt.

8.3.5 Lernförderliche Arbeitsgestaltungfür kompetenzentwickelndes Lernen

Die steigenden Anforderungen an die Arbeitenden verlangen von diesen, sich kon-tinuierlich weiterzubilden und weiterzuentwickeln und für die Aufrechterhaltungihrer Beschäftigungsfähigkeit Sorge zu tragen. Allerdings erweisen sich die klas-sischen formellen Weiterbildungen „off the job“ hierfür als immer weniger zu-reichend. Erforderlich sind zunehmend Formen des informellen und non-formalenLernens, d. h. eine Verknüpfung von Arbeits- und Lernprozessen. Und auch die imZusammenhang mit dem Lernkonzept beschriebene Übertragung der neuen Erfah-rungen auf betriebliches Handeln, etwa in Form von experimentellen Veränderungs-projekten, bedarf ja dieser Verknüpfung. Wie aber kann diese hergestellt werden?Zunächst einmal ganz generell durch eine lernförderliche Arbeitsgestaltung.

Üblicherweise werden als Grundlage für Maßnahmen lernförderlicher Ar-beitsgestaltung Lernförderlichkeitsanalysen (durch Befragung von Beschäftigten,Arbeitnehmervertretung und Vorgesetzten) eingesetzt, die Arbeitsabläufe, Ar-beitsinhalte und die sozialen Beziehungen am Arbeitsplatz erfassen. Die dabeibetrachteten Themenkreise beziehen sich auf die Merkmale Selbstständigkeit, Par-tizipation, Komplexität/Variabilität, Kommunikation/Kooperation, Feedback undInformation.

Ebenso empfiehlt es sich, Aufgaben- und Tätigkeitsanalysen vorzunehmen, umdie mit den einzelnen Arbeitsplätzen verbundenen Anforderungen zu ermitteln.Diese werden dann mit den vorhandenen Mitarbeiter-Kompetenzen durch Selbst-und Fremdeinschätzungen abgeglichen, um daraus Anhaltspunkte für wünschens-werte Weiterentwicklungen insbesondere durch die Anreicherung der Tätigkeitenmit neuen Anforderungen zu gewinnen, die Lernanreize für die Entwicklung neuerKompetenzen bieten. Diese Analysen treten dann zu den oben beschriebenen erfah-rungsgeleiteten Lernbedarfsanalysen ergänzend hinzu.

Nutzt man als Basis für diese Analysen das Modell der Vollständigen (Arbeits-)Handlung (Hacker 2010, 1973; Bauer et al. 2011), ist hiermit bereits ein zentra-les Merkmal lernförderlicher Arbeitsgestaltung benannt: Sie kann nicht auf Teil-arbeitsschritte beschränkt werden, sondern muss vollständige Aufgabenzuschnitteumfassen. Die entsprechenden Tätigkeiten sollen erfordern: das eigenständige Er-kennen der Aufgabe (statt der Befolgung detaillierter Anweisungen), das selbststän-dige Planen, die eigenverantwortliche Entscheidung (wann die Planungsaktivitätenausreichend sind und mit der Realisierung der Planung begonnen werden soll),

8 Innovationsarbeit lernen – Lernkonzept und Rahmenbedingungen 205

die Durchführung der Aufgabe, ihre Prüfung und Kontrolle, ihre Bewertung undKorrektur, das selbst gesetzte Abschließen der Arbeit sowie die Reflexion des ge-samten Prozesses. Dazu gehört schließlich auch, die eigenen Lernerfahrungen imProzess auszuwerten und als Lernertrag in die bisherige „Fähigkeitengestalt“ zuintegrieren.

In einer vollständigen Arbeitshandlung liegt also bereits grundsätzlich das Po-tenzial für die Verknüpfung von Arbeits- und Lernprozess. Dieses Potenzial kannzum Tragen kommen, wenn folgende technische, organisationale und personale Be-dingungen gegeben sind:

� Die Arbeitstätigkeit bietet Handlungs-, Verantwortungs- und Entscheidungs-spielräume einschließlich der Möglichkeit der Selbstkontrolle und -korrektur.

� Die Arbeitenden verfügen über eine sachgerechte technische Ausstattung sowieeinen leichten und umfassenden Zugang zu arbeitsrelevanten Informationen undHintergrundwissen.

� Soziale Beziehungen sind Bestandteil der Arbeit: Kommunikation mit Kollegenund Kunden ist erforderlich und erwünscht und muss selbstständig gestaltbarsein; Zusammenarbeit auch quer zur Hierarchie muss möglich sein.

� Die Aufgabenstellungen sind so zugeschnitten, dass sie individuell das Maß anleichter Überforderung enthalten, das als Lernanreiz wirkt. Sie zeichnen sichdurch Anforderungsvielfalt und Problemhaltigkeit aus.

� Das Arbeits- und Lernklima ist von Offenheit und Fehlerfreundlichkeit geprägt:Fehler werden als Anlass für Verbesserungsprozesse gesehen, Selbstkontrollesteht vor Fremdkontrolle, es gibt „Vorschussvertrauen“.

� Es gibt Partizipationsmöglichkeiten in Bezug auf die Mitgestaltung von Arbeits-und Lernbereichen und -prozessen sowie Unternehmensentwicklungen und-entscheidungen.

� Maßnahmen der Lernunterstützung stehen zur Verfügung: von zeitlichen Res-sourcen für das Lernen über den leichten Zugriff auf Lernmaterialien und dasAngebot von Job Rotation bis zur gegenseitigen Lernbegleitung durch Kollegenin Teams sowie durch Vorgesetzte.

� Es gibt eine Feedbackkultur, die sich sowohl auf Teams untereinander wie auchauf Rückmeldungen durch Vorgesetzte bezieht.

Diese zunächst allgemein skizzierten Bedingungen für eine lernförderliche Ar-beitsgestaltung sind unerlässlich, wenn es um kompetenzförderndes Lernen geht.Wie bereits oben ausgeführt, bilden sich Kompetenzen ausschließlich in der tätigenAuseinandersetzung mit konkreten Handlungssituationen, die von Unwägbarkeiten,von Offenheit und Problemhaltigkeit und von Herausforderungen gekennzeichnetsind. Schon häufig erledigte Routinetätigkeiten, die immer in gleicher Weise zu er-bringen sind, erzeugen keinen Kompetenzzuwachs. Daher bilden die oben genann-ten Merkmale einer lernförderlichen Arbeitsgestaltung die unverzichtbare Basis fürkompetenzentwickelndes Lernen. Dieses ist ein individuelles Lernen, das nur zurWeiterentwicklung von Kompetenzen führt,

206 H. G. Bauer et al.

� wenn es arbeits- bzw. tätigkeitsintegriert erfolgt;� wenn es in Selbstorganisation der Lernenden geschieht;� wenn es konstruktivistisches Lernen ermöglicht, bei dem die Lernenden durch

Anschluss an ihr individuelles Referenz- und Wertesystem ihren Lernprozessund -ertrag selbst bestimmen;

� wenn es Erfahrungslernen ist, bei dem kognitive, emotionale und wertorientierteKomponenten gleichberechtigt zum Zug kommen können;

� wenn die für Kompetenzentwicklung entscheidenden „Labilisierungserfahrun-gen“ (vgl. Erpenbeck u. Rosenstiel 2009, S. 8) herausgefordert werden;

� wenn die gründliche, nicht rein kognitive Reflexion der Erfahrungen im Arbeits-Lernprozess integraler Bestandteil des Lernens ist.

Innovative Arbeit braucht Freiräume in mehrfacher Hinsicht. Hier zeigen sichwesentliche Übereinstimmungen mit den Bedingungen, wie sie vorab für kompe-tenzentwickelndes Arbeiten und Lernen geschildert wurden. Da innovatives Arbei-ten nicht verordnet werden kann, sondern auf Selbstständigkeit und Eigenverant-wortlichkeit der Einzelnen beruht, brauchen Mitarbeiter/innen Verantwortungs- undHandlungsspielräume zum eigenständigen – auch experimentierenden – Handeln.Dies erfordert

� Verantwortungsübergabe an die Mitarbeiter/innen;� Verzicht auf vorab klar definierte Ziele und Wege, Definition eines nur grob um-

rissenen Zielkorridors anstelle detaillierter Vorgaben („Mut zur Unschärfe“ freinach Heisenberg);

� zeitliche Ressourcen: Spielräume, in denen jenseits von reinen Effizienzkriterienausprobiert, probegehandelt, fantasiert werden kann;

� Zugang zu allen relevanten Personen/Funktionen und Informationen, so dass derGesamtzusammenhang erkennbar wird;

� eine „innovationsstimulierende“ Umgebung: etwa Ortswechsel, ungewöhnlicheMaterialien;

� Möglichkeiten, die spezifischen Aspekte künstlerischen, erfahrungsgeleitetenund spielerischen Handelns exemplarisch aktiv zu erleben;

� heterogene Teams, um möglichst unterschiedliche Sichtweisen zum Tragen zubringen;

� (Vorschuss-)Vertrauen anstelle enger Kontrolle;� innovations- und fehlerfreundliche Unternehmenskultur, Akzeptanz von Sto-

ckungen, Irrwegen und Krisen;� wertschätzenden Umgang der Mitarbeiter/innen untereinander sowie seitens der

Vorgesetzten.

Innovative Arbeit ist – analog zu kompetenzorientiertem Lernen – nicht voll-ständig beherrschbar, sie erfordert Mut zu Offenheit, Unsicherheit und Risiko.Neues entsteht eben nicht durch das Befolgen bereits bekannter Regeln, sonderndurch Probieren und Experimentieren, durch ein Sich-Einlassen auf neue Sichtwei-

8 Innovationsarbeit lernen – Lernkonzept und Rahmenbedingungen 207

sen, durch das Finden neuer Regeln und Gesetzmäßigkeiten, durch persönlichesInvolviert-Sein in den Prozess mit allen Sinnen und durch das produktive Zusam-menwirken unterschiedlicher Akteure.

Künstlerisch, erfahrungsgeleitet und spielerisch inspiriertes innovatives Arbeitenund Lernen gleicht also eher einer Expedition durch unbekanntes Gelände. Bei einersolchen Expedition kann man sich auch verlaufen, es kann zu brenzligen Situatio-nen kommen, Krisen gehören dazu. Der hier geschilderte Lernprozess will es aller-dings ermöglichen, zu „Sicherheit in der Unsicherheit“ zu finden. Die exemplarischangedeuteten Erfahrungen künstlerischen, erfahrungsgeleiteten und spielerischenLernens stellen Möglichkeiten dar, eine neue Art des Handelns kennenzulernen.Dieses Handeln erlaubt es zu erleben, dass jenseits gewohnter Sicherheiten durchgegebene Regeln eine neue Handlungssicherheit entsteht, die auf dem Vertrauenbasiert: „Wie gehandelt werden kann, zeigt sich.“

Die Entwicklung einer „Innovationskompetenz“ verlangt – im Sinn der recht ver-standenen Kompetenzentwicklung – über das exemplarisch-erlebende Bekanntwer-den mit den „Grundgesten“ künstlerischen, erfahrungsgeleiteten und spielerischenHandelns hinaus, so viel wie möglich bereits in der Echtsituation der alltäglichenArbeit zu erlernen, zumindest aber möglichst realitätsnahe Lernsituationen nutzenzu können. Sei es in der Form „persönlicher Verbesserungsprojekte“, bei denen derEinzelne selbst definiert, was er neu erproben möchte, oder sei es in Form von Inno-vationsprojekten in Teams, in denen die neu erworbenen künstlerischen, erfahrungs-geleiteten und spielerischen Herangehensweisen ganz gezielt eingesetzt werden.Zumindest ein solcher Übergang von einem Üben im Schonraum zur Erprobungin der Arbeitsrealität muss von betrieblichen Rahmenbedingungen ermöglicht wer-den. Dazu kommt, dass es Aufgabe der Vorgesetzten ist, das Umfeld derjenigen, dieInnovationskompetenz lernen sollen, positiv auf die Akzeptanz von neuen Wegeneinzustimmen, um eventuellen demotivierenden Reaktionen vorzubeugen.

Literatur

Arnold R, Schüssler I (2001) Entwicklung des Kompetenzbegriffs und seine Bedeutung für dieBerufsbildung und für die Berufsbildungsforschung. In: Franke, G (Hrsg) Komplexität und Kom-petenz. W. Bertelsmann, Bielefeld, S 52–74

Arnold R, Schüssler I (Hrsg) (2003) Ermöglichungsdidaktik. Erwachsenenpädagogische Grundla-gen und Erfahrungen. Schneider, Hohengehren

Bauer HG, Munz C (2004) Erfahrungsgeleitetes Handeln lernen – Prinzipien erfahrungsgeleitetenLernens. In: Böhle F, Pfeiffer S, Sevsay-Tegethoff N (Hrsg) Die Bewältigung des Unplanbaren.VS – Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, S 55–73

Bauer HG, Triebel C (2011) KomBI-Laufbahnberatung. Kompetenzorientiert. Biografisch. Inter-kulturell. Ein Arbeitsbuch. Tür an Tür, Augsburg

208 H. G. Bauer et al.

Bauer HG, Brater M, Büchele U, Dufter-Weis A, Maurus A, Munz C (2002) Lern(pro-zess)begleitung in der Ausbildung: wie man Lernende begleiten und Lernprozesse gestalten kann,2. Aufl. W. Bertelsmann, Bielefeld

Bauer HG, Brater M, Büchele U, Dahlem H, Maurus A, Munz C (2004) Lernen im Arbeitsalltag:Wie sich informelle Lernprozesse organisieren lassen. W. Bertelsmann, Bielefeld

Bauer HG, Böhle F, Munz C, Pfeiffer S, Woicke P (2006) Hightech-Gespür. ErfahrungsgeleitetesArbeiten und Lernen in hoch technisierten Arbeitsbereichen: Ergebnisse eines Modellversuchsberuflicher Bildung in der chemischen Industrie, 2. überarbeitete Aufl. W. Bertelsmann, Bielefeld

Bauer HG, Munz C, Schrode N, Wagner J (2011) Die Vollständige Arbeitshandlung (VAH). Ein er-folgreiches Modell für die kompetenzorientierte Berufsbildung. R&W Verlag der Editionen, Berlin

Blötz U (Hrsg) (2008) Planspiele in der beruflichen Bildung. Auswahl, Konzepte, Lernarrange-ments, Erfahrungen. W. Bertelsmann, Bielefeld

Bolder A (2010) Arbeit, Qualifikation und Kompetenzen. In: Tippelt R, Schmidt B (Hrsg) Hand-buch Bildungsforschung. VS – Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, S 651–674

Bolten J (2007) Was heißt „Interkulturelle Kompetenz“? Perspektiven für die internationalePersonalentwicklung. In: Künzer V, Berninghausen J (Hrsg) Wirtschaft als interkulturelle Her-ausforderung. IKO – Verlag für Interkulturelle Kommunikation, Frankfurt/Main, S 21–42

Brater M, Wagner J (2011) Die Erweiterung der Erwachsenenbildung durch künstlerische Praxis.Ein Handbuch. GAB München, München

Chomsky N (1970) Aspekte der Syntax-Theorie. Suhrkamp, Frankfurt/Main

Erpenbeck J, Rosenstiel L von (Hrsg) (2007) Handbuch Kompetenzmessung. Erkennen, Verstehenund Bewerten von Kompetenzen in der betrieblichen, pädagogischen und psychologischen Praxis,2. Aufl. Schäffer-Poeschel, Stuttgart

Erpenbeck J, Rosenstiel L von (2009) Vom Oberlehrer zur Kompetenzhebamme. In: Weiterbil-dung, H 2, S 6–9

Geißler KH, Orthey FM (2002) Kompetenz: Ein Begriff für das verwertbare Ungefähre. In: NussilE, Schiersmann C, Siebert H (Hrsg) Kompetenzentwicklung statt Bildungsziele? Literatur- undForschungsreport Weiterbildung Nr. 49. W. Bertelsmann, Bielefeld, S 69–79

Habermas J (1971) Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kom-petenz. In: Habermas J, Luhmann, N. (Hrsg) Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie.Suhrkamp, Frankfurt/Main, S 101–141

Hacker W (1973) Allgemeine Arbeits- und Ingenieurpsychologie – Psychologische Struktur undRegulation von Arbeitstätigkeiten. Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin

Hacker W (2010) Psychische Regulation von Arbeitstätigkeiten. In: Kleinbeck U, Schmidt KH(Hrsg) Arbeitspsychologie. Hogrefe, Göttingen, S 3–37

Hartig J, Klieme E (Hrsg) (2007) Möglichkeiten und Voraussetzungen technologiebasierter Kom-petenzdiagnostik. Eine Expertise im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung.Bildungsforschung, Bd 20. Bundesministerium für Bildung und Forschung, Bonn

Heyse V, Erpenbeck J, Ortmann S (Hrsg) (2010) Grundstrukturen menschlicher Kompetenzen.Waxmann, Münster u. a.

Rumpf H (1987) Belebungsversuche. Ausgrabungen gegen die Verödung der Lernkultur. Juventa,Weinheim u. a.

Scheler M (1960) Die Wissensformen und die Gesellschaft. Gesammelte Werke, Bd 8, 2 A. Fran-cke, Bern u. a.

8 Innovationsarbeit lernen – Lernkonzept und Rahmenbedingungen 209

Schweizer G, Müller U, Adam T (Hrsg) (2010) Wert und Werte im Bildungsmanagement. W.Bertelsmann, Bielefeld

Vonken M (2001) Von Bildung zur Kompetenz. Die Entwicklung erwachsenenpädagogischer Be-griffe oder Rückkehr zur Bildung. In: Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik (BWP), H4, S 501–522

Weil S (1956) Die Einwurzelung. Einführung in die Pflichten dem menschlichen Wesen gegenüber.Kösel, München

Kapitel 9Balanced Innovation Management Accounting –Verlässliche Evaluierung und Planungim Innovationsprozess

Markus Bürgermeister

Das Controlling von Innovation ist ein kritischer Erfolgsfaktor in Unternehmen,insbesondere im verschärften Wettbewerb. Es besteht allerdings das Grundproblem,dass Innovation sich häufig nicht umfassend planen und ohne weiteres berechnenlässt. Damit verbunden ist die Gefahr, dass der Erfolg von Innovation realitätsfernbewertet wird. Im Projekt KES-MI wurde das Konzept eines Balanced InnovationManagement Accounting entwickelt. Das Konzept richtet sich auf eine verlässlicheEvaluierung und Planung im Innovationsprozess. Gestärkt wird hierbei eine ver-lässliche Identifikation und Bewertung von planbaren Aktivitäten und relativ exaktmessbaren Innovationseffekten. Gleichermaßen Berücksichtigung finden aber auch„weiche“ Innovationseffekte, kreative Innovationsarbeit und eine flexible Organi-sation von Innovationsarbeit. Einen Rahmen für die Evaluierung und die Planungbilden die Balanced Evaluating Innovation Scorecard und die Balanced Planning In-novation Scorecard. Ausgehend von einem Überblick zum Innovationscontrollingstellt dieses Kapitel das Konzept vor und schließt mit einem Ausblick.

9.1 Innovationscontrolling im Überblick

Das Controlling von Innovation ist ein kritischer Erfolgsfaktor in Unternehmen1.Das Innovationsmanagement ist darauf angewiesen, dass es auf eine verlässlichePlanung und Bewertung zurückgreifen kann, weil sonst entscheidende Kompeten-

1 Unternehmen sind bei der Betrachtung des Innovationscontrolling wegen ihrer Markt- und Tech-nologieorientierung häufig von zentraler Bedeutung. Sie werden hier exemplarisch dargestellt.Damit kann eine sinngemäße Übertragung auf andere Organisationstypen erfolgen.

Markus Bürgermeister (B)Sozioökonomie der Arbeits- und Berufswelt, Philosophisch-Sozialwissenschaftliche Fakultät,Universität Augsburg, Eichleitnerstraße 30, 86159 Augsburg, [email protected]

211F. Böhle et al. (Hrsg.), Innovation durch Management des Informellen,DOI 10.1007/978-3-642-24341-7_9,© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012

212 M. Bürgermeister

zen und Ressourcen für Innovation verloren gehen können, mit womöglich existen-ziellen Folgen. Für das Controlling besteht aber das Grundproblem, dass Innovationsich häufig nicht umfassend planen lässt – wie aus Kap. 1 hervorgeht – und nichtohne weiteres zu berechnen ist (vgl. Wouters et al. 2011; Bürgermeister u. Habler2010; Attar 2010; Davila et al. 2009; Hauschildt u. Salomo 2007, S. 465 ff.; Holtrupu. Littkemann 2005; Vahs u. Burmester 2005, S. 283 ff.; Malmi 1999). Zwei Ursa-chen sind hierfür verantwortlich: erstens die begrenzte Messbarkeit von Innovationund Innovationsarbeit und zweitens komplexe Ursache-Wirkungs-Beziehungen, dieangesichts der zunehmenden Parallelisierung von Innovationstätigkeiten und In-novationsprojekten verstärkt auftreten (vgl. Wouters et al. 2011; Bürgermeister u.Habler 2010; Steinhoff 2010; Gerpott 2005, S. 63 ff.).

Klassische Prinzipien des Controlling legen nahe, zunächst planbare Aktivitätenund relativ exakt messbare Innovationseffekte zu betrachten (vgl. Bürgermeisteru. Habler 2010; Holtrup u. Littkemann 2005). Zweifellos können hieraus wichtigeInformationen gewonnen werden, häufig mit fundamentalem Charakter. Für ein ver-lässliches Innovationscontrolling und zielgerichtetes Innovationsmanagement ist esdaher unstrittig sinnvoll, sich an planbaren Aktivitäten und relativ exakt messbarenInnovationseffekten zu orientieren. Ist dies alleiniger Orientierungspunkt, bestehtaber die Gefahr, dass der Erfolg und die Erfolgsursache von Innovation realitätsfernbewertet werden (vgl. Bürgermeister u. Habler 2010). „Weiche“ Innovationseffekte,kreative Innovationsarbeit und eine flexible Organisation von Innovationsarbeit, ge-rade im verschärften Wettbewerb mitentscheidend, bleiben dann häufig im Schattendes Innovationsmanagements oder werden gar systematisch verhindert (vgl. Bür-germeister u. Habler 2010). Überdies erstreckt sich die Gefahr, den Erfolg und dieErfolgsursache realitätsfern zu bewerten, auch auf planbare Aktivitäten und relativexakt messbare Innovationseffekte, wenn die Bewertung nicht in geeigneter Weiseerfolgt, insbesondere im Hinblick auf das verstärkte Auftreten komplexer Ursache-Wirkungs-Beziehungen im verschärften Wettbewerb.

Der Innovationsprozess kann als Verankerung des Innovationscontrolling dienen(vgl. Wouters et al. 2011; Davila et al. 2009; Heesen 2009; Cooper u. Edgett 2008;Hauschildt u. Salomo 2007, S. 535 f.; Holtrup u. Littkemann 2005; Vahs u. Burmes-ter 2005, S. 283 ff.; Gerpott 2005, S. 86 ff.). Grundlegend ist hierbei zu beachten,dass es sich heute oftmals um einen flexiblen Innovationsprozess handelt, was sichunter anderem begründet durch ein verstärktes Auftreten von Ungeplantem im ver-schärften Wettbewerb und Entwicklungen einer zunehmenden Parallelisierung vonInnovationstätigkeiten und Innovationsprojekten. Der KES-MI-Innovationsprozess,der in Kap. 4 gesondert dargestellt ist, betont in diesem Zusammenhang die Fle-xibilität des Innovationsprozesses, indem die Prozesselemente in ihrem grundle-genden Ablaufschema nicht fixiert werden. Die hier definierten Elemente a) Im-puls, b) Ideenpool, c) Auswahl/Initiierung, d) Forschung, e) Entwicklung, f) Pro-duktion, g) Einbringung in den Markt/das Unternehmen und h) Durchsetzung imMarkt/Unternehmen können so in veränderter Reihenfolge und parallel auftretenoder es können einzelne Elemente entfallen. Gleiches gilt für die Teilelemente, wiebeispielsweise d1) Grundlagenforschung und d2) angewandte Forschung.

9 Balanced Innovation Management Accounting 213

Mit der Flexibilität zwischen den Elementen und Teilelementen des Innova-tionsprozesses einher geht die Variabilität von Innovationsprojekten und Innova-tionsteilprojekten. Diese können versetzt oder parallel sein und ein oder mehre-re Elemente teilweise oder vollständig abdecken. Die Flexibilität des KES-MI-Innovationsprozesses richtet sich zudem nicht nur auf die Beziehung zwischen denElementen, sondern ist auch innerhalb der einzelnen Elemente angelegt, indem ei-ne systematische Ergänzung der Planung durch künstlerische, erfahrungsgeleiteteund spielerische Innovationsarbeit (KES-Innovationsarbeit) erfolgen kann. Unterdem Schlagwort „Open Innovation“ (Chesbrough 2003) wird Innovationsarbeit da-bei zunehmend auch von externen Partnern geleistet, womit folgende Einheiten, dieInnovationsarbeit leisten, unterschieden werden können (vgl. Kap. 4):

� eigens im Unternehmen für Innovation eingerichtete Einheiten (falls vorhanden),� andere (alle) Abteilungen und Berufsgruppen im Unternehmen und� externe Partner.

Für das Innovationscontrolling ist es ein erster Schritt, Planung und Ungewiss-heit im Innovationsprozess bzw. Innovationsprojekt/Innovationsteilprojekt näher zubestimmen. Wie in Kap. 4 ausgeführt, lassen sich hier drei Fallkategorien grundle-gend unterscheiden:

1. Ergebnis und Weg stehen vorab weitgehend fest;2. Ergebnis steht vorab weitgehend fest, Weg ist weitgehend unklar;3. Ergebnis und Weg sind weitgehend unklar.

Abhängig von der jeweiligen Fallkategorie gibt es fundamentale Unterschiede inder Planbarkeit des Innovationsprozesses bzw. Innovationsprojekts/Innovationsteil-projekts. Die Planung und Bewertung von Tätigkeiten und Ergebnissen hat sich imSinne des Innovationserfolgs hieran zu orientieren, in den Dimensionen Zeit, Kos-ten/Erlöse und Qualität. Damit verbunden ist ein differenzierter Umgang mit Stage-Gates (Cooper u. Edgett 2008; Cooper et al. 2002, 2002a), Meilensteinen (Hamilton2004, S. 322–323), Elementen/Teilelementen des Innovationsprozesses und Re-views (Cooper et al. 2002, 2002a). Stage-Gates stehen zwischen den Elementendes Innovationsprozesses (vgl. Heesen 2009, S. 72). Sie stehen für einen Zeit-punkt der Bewertung der Innovationstätigkeiten und -ergebnisse, um nach jedemElement des Innovationsprozesses zu entscheiden, ob die Innovationstätigkeitenfortgeführt werden (vgl. Heesen 2009, S. 72). Am Ende des Innovationsprozes-ses steht ein Review zur abschließenden Bewertung des Innovationserfolgs (vgl.Cooper et al. 2002, 2002a). Im Kontext des Projektmanagements sind Stage-Gatesals Meilensteine zu verstehen. Neben den Stage-Gates lassen sich im Projektplannoch weitere Meilensteine platzieren, um das Controlling von Innovationsprojek-ten/Innovationsteilprojekten zu unterstützen. Projekt-Reviews können hieran ge-knüpft sein oder davon entkoppelt stattfinden, um den Erfolg im Projektverlauf zu

214 M. Bürgermeister

planen, zu steuern und zu bewerten, intern und auch nach außen (vgl. Schatten et al.2010, S. 117 ff.; Hab u. Wagner 2004). Häufig steht zudem ein Review am Ende desInnovationsprojekts/Innovationsteilprojekts, um den Projekterfolg abschließend zubewerten (vgl. Schatten et al. 2010, S. 117 ff.; Hab u. Wagner 2004).

Weitreichende Nutzenpotenziale für ein verlässliches Innovationscontrollingbietet das Konzept der Balanced Scorecard, kurz BSC (Kaplan u. Norton 1996,2001). Allgemein gefasst geht es um eine umfassende Planung und Bewertungvon Ergebnissen und Tätigkeiten (vgl. Jossé 2005; Horvath & Partner 2000). Aus-gehend von Vision und Strategie werden hierbei Ziele definiert und Maßnahmenabgeleitet, unter bestimmten Perspektiven der BSC, die sich aus den betriebli-chen Eigenschaften und Erfordernissen bestimmen, wobei es als grundlegendenVorschlag die folgenden vier Perspektiven der BSC gibt: a) Finanzperspektive, b)Kundenperspektive, c) Prozessperspektive und d) Potenzialperspektive (vgl. Jossé2005; Horvath & Partner 2000; Kaplan u. Norton 1996). Im Kern richtet sich dieFinanzperspektive auf die finanziellen Ergebnisse, die Kundenperspektive auf dieAusrichtung am Markt und die Bewertung durch den Kunden, die Prozessperspek-tive auf Kosten, Zeit und Qualität in der Ablauforganisation zur Erreichung derFinanz- und Kundenziele und die Potenzialperspektive auf die Entwicklung vonPersonal, Organisation und Informationstechnologien (vgl. Jossé 2005; Horvath& Partner 2000; Kaplan u. Norton 1996). Interessant erscheint zudem, die Po-tenzialperspektive um die Einbeziehung der Umwelt zu erweitern, weil so auchdie technologische, ökonomische, ökologische, soziale, kulturelle oder politischeNachhaltigkeit erfasst werden kann, die nicht oder nicht unmittelbar innerhalb desUnternehmens liegt (vgl. Jossé 2005, S. 212 ff.; zum Umweltbegriff Staehle 1999,S. 625 ff.).

Zur Definition von Zielen und Maßnahmen werden Ursache-Wirkungs-Bezie-hungen ermittelt, innerhalb und zwischen den Perspektiven der BSC (vgl. Jossé2005; Horvath & Partner 2000; Kaplan u. Norton 1996). Folgendes Beispiel solldies verdeutlichen, in Bezug auf Ursache-Wirkungs-Beziehungen zwischen denPerspektiven der BSC: „If we increase employee training about products, then theywill become more knowledgeable about the full range of products they can sell; ifemployees are more knowledgeable about products, then their sales effectivenesswill improve. If their sales effectiveness improves, then the average margins of theproducts they sell will increase“ (Kaplan u. Norton 1996, S. 149). Sind Ziele undMaßnahmen über Ursache-Wirkungs-Beziehungen ermittelt, soll ein nachdrückli-cher Einsatz von Kennzahlen erfolgen, um die BSC umzusetzen. Vorgeschlagenwerden Ergebnis- und Potenzialkennzahlen, um als nach- und vorlaufende Indika-toren die Umsetzung der Ziele zu steuern (vgl. Kaplan u. Norton, S. 149–150).Kennzahlen dienen so als Umsetzungsinstrument der BSC, und zwar in der Weise,„[that, Erg. d. Verf.] the Balanced Scorecard should translate a business unit’s missi-on and strategy into tangible objectives and measures“ (Kaplan u. Norton 1996,S. 10). Herauszustellen ist, dass dies sowohl die Bewertung des Ist-Zustands alsauch die Planung betrifft, also die Erfassung von Ist-Werten genauso wie die Schaf-fung von Soll-Werten (vgl. Jossé 2005; Kaplan u. Norton 2001; Horvath & Partner

9 Balanced Innovation Management Accounting 215

2000; Kaplan u. Norton 1996). Damit geht es bei der BSC auch um eine umfassendeTransformation von Qualitativem in Quantitatives, und zwar für die Bestandsauf-nahme ebenso wie für die Planung.

Um das Konzept der Balanced Scorecard speziell für ein verlässliches Innova-tionscontrolling zu nutzen, erscheint der Bezug des Controllings auf die folgendendrei Punkte besonders wichtig:

a) relativ exakt messbare Effekte und „weiche“ Effekte,b) Effekte und Effektursache sowiec) Kennzahlen.

Zu a): Der Bezug auf relativ exakt messbare Effekte und „weiche“ Effekte erwei-tert die klassischen Prinzipien des Ergebniscontrollings um „weiche“ Ergebnisse,wie den Aufbau von Kundenzufriedenheit oder die Verbesserung von Unterneh-mensimage und Mitarbeiterzufriedenheit (vgl. Jossé 2005, S. 31 ff.). In Form be-stimmter Perspektiven werden in diesem Zuge Raster zur Verfügung gestellt, umdie Innovationseffekte ganzheitlich zu erfassen und zielkonsistent zu steuern.

Zu b): Die Betrachtung von Effekt und Effektursache macht es möglich, dasControlling systematisch auf zwei Unterscheidungen zu beziehen: b)a) relativ ein-fache vs. komplexe Ursache-Wirkungs-Beziehungen und b)b) Innovationsergebnisvs. Innovationstätigkeit, oder synonym: Innovationseffekt vs. Innovationsarbeit.

Zu c): Der Bezug auf Kennzahlen kann für ein verlässliches Innovationscon-trolling ausgesprochen wichtig sein. Essenziell zu beachten sind dabei aber diefolgenden drei Prämissen: c)a) die mögliche Begrenztheit der Aussagekraft vonKennzahlen, c)b) die Verwendung von Kennzahlen als Option sowie c)c) die Diffe-renzierung zwischen Ist-Zustand und Planung.

Für ein verlässliches Innovationscontrolling ist es dann ein Weg, diese Nut-zenpotenziale der Balanced Scorecard im flexiblen Innovationsprozess zu veran-kern. Damit geht einher, die Planung und Bewertung von Tätigkeiten und Ergeb-nissen an Grenzen der Planbarkeit auszurichten, in den Dimensionen Zeit, Kos-ten/Erlöse und Qualität. Dies bedeutet, dass die Planung und Bewertung von Tä-tigkeiten und Ergebnissen nicht immer einem vorgegebenen Schema folgen kann,also flexibel sein muss. Meilensteine sind so im Prinzip an jeder Stelle im Inno-vationsprozess denkbar, mit exakten oder vagen Zieldefinitionen, die quantitativoder qualitativ formuliert sein können (vgl. Holtrup u. Littkemann 2005). Ergänztwird die Grobplanung dann häufig durch eine schrittweise Planung und Steuerung(vgl. Hauschildt u. Salomo 2007, S. 465 ff.; Holtrup u. Littkemann 2005). Die mitder Planung und Steuerung verbundenen Zieldefinitionen bestimmen sich aus denEigenschaften und Erfordernissen des Innovationsprojekts/Innovationsteilprojekts.Grundlegend orientieren sich die Zieldefinitionen häufig an den betreffenden Ele-menten/Teilelementen des Innovationsprozesses. So sind die Ziele und Teilziele imBereich Forschung oftmals anders als die Ziele und Teilziele bei der Vermarktungeiner Erfindung. Analog gilt dies für den Innovationsursprung, die Entwicklung,

216 M. Bürgermeister

die Produktion und mögliche weitere Elemente des Innovationsprozesses. Betrach-tet man den gesamten Innovationsprozess als Innovationsprojekt, können sich dieZieldefinitionen am Gesamtprozess orientieren. Gleiches gilt für die mit der Steue-rung verbundenen Erwartungen bezüglich der Zielerreichung.

Konzeptuelle Auseinandersetzungen mit der Balanced Scorecard als Instrumentdes Innovationscontrollings (Blohm et al. 2011; Gerpott 2005, S. 88 ff.) liefern Ziel-kriterien, die in diesem Sinne aufgenommen und sortiert werden können. Für denBereich Idee (Blohm et al. 2011, S. 100 ff.) sind dies beispielsweise die Quote anIdeen durch den Kunden (Kundenperspektive), der „Anteil guter Ideen“ (Prozess-perspektive) oder die „Identifikation neuer Trends“ durch Mitarbeiter und externePartner (Potenzialperspektive). Für den Bereich Forschung und Entwicklung (Ger-pott 2005, S. 90) sind Zielkriterien beispielsweise die „Lizenzeinnahmen“ und„F&E-Aufwendungen“ (Finanzperspektive) oder die „Zahl der Patente pro F&E-Mitarbeiter“ (Potenzialperspektive). Für den gesamten Innovationsprozess oder dieVermarktung (Gerpott 2005, S. 90) sind es beispielsweise die „Kundenbeschwer-deraten“ oder „Kundenzufriedenheitsniveaus“ (Kundenperspektive) und für dengesamten Innovationsprozess oder einzelne Prozesselemente/Prozessteilelemente(Gerpott 2005, S. 90) die „Innovationsprojektkapitalwerte“ (Finanzperspektive).

Essenziell für ein verlässliches Innovationscontrolling kann sein, zwischen Pla-nung und Ist-Zustand zu unterscheiden (vgl. Hauschildt u. Salomo 2007, S. 465 ff.).Planung ist zukunftsgerichtet, die Erfassung des Ist-Zustands dagegen an der Ver-gangenheit orientiert (vgl. Hauschildt u. Salomo 2007, S. 465 ff.). Für die Erfassungdes Ist-Zustands kann der Begriff der Evaluierung verwendet werden (vgl. Hau-schildt u. Salomo 2007, S. 524 ff.; Holtrup u. Littkemann 2005). Bei hoher Planbar-keit haben Planung und Evaluierung häufig große Schnittmengen. Angesichts vonGrenzen der Planbarkeit, die heute im Innovationsprozess immer mehr auftretenund selbst bei weitgehend planbaren Innovationsprojekten erfolgsentscheidend seinkönnen, stimmen Planung und Ist-Zustand oftmals nicht mehr hinreichend überein.Sinnvoll erscheint daher, Planung und Evaluierung als jeweils eigenständige Con-trollinginstrumente zu betrachten. Im flexiblen Innovationsprozess können sie dannan unterschiedlichen Stellen erfolgen und sind für sich an jeder Stelle des Prozessesdenkbar (mit zwei Ausnahmen: Die Evaluierung kann nicht am Beginn, die Planungnicht am Ende des Gesamtprozesses stehen). Planung und Evaluierung erfolgenhäufig zusammen in Verbindung mit Meilensteinen, Stage-Gates und Reviews (vgl.Hauschildt u. Salomo 2007, S. 524 ff.; Holtrup u. Littkemann 2005). Der Betrach-tung von Planung und Evaluation als jeweils eigenständige Controllinginstrumentesteht dies aber nicht entgegen. Vielmehr kann so eine enge zeitliche und sachlicheKopplung erfolgen, um Abweichungen zwischen Planung und Ist-Zustand aufzu-greifen und die Verlässlichkeit des Innovationscontrollings zu stärken. Im flexiblenInnovationsprozess sind Meilensteine, Stage-Gates und Reviews variabel, mit en-gem Bezug zu den faktischen Erfordernissen und Ergebnissen.

In Anbetracht von Grenzen der Planung sind Zieldefinitionen exakt oder va-ge zu formulieren, Soll-Werte mit Ungewissheit über den Eintritt des Geplantenverbunden (vgl. Holtrup u. Littkemann 2005). Bei Ist-Werten beschränkt sich im

9 Balanced Innovation Management Accounting 217

Unterschied dazu die Ungewissheit auf die Frage, inwieweit es eine verlässlicheIdentifikation und Bewertung von Innovationseffekten und Innovationsarbeit gibt.Insofern gilt es für die Evaluierung, entstandene Innovationseffekte und die hier-für maßgebliche Innovationsarbeit möglichst verlässlich zu identifizieren und zubewerten. Kennzahlen liefern häufig wichtige Informationen mit fundamentalemCharakter. Planung und Evaluierung sind aber nicht immer an Kennzahlen gebun-den, weder direkt noch indirekt. Sie können auch qualitativ erfolgen (vgl. Holtrupu. Littkemann 2005). Soll-Werte und Ist-Werte können damit auch qualitative Be-schreibungen sein.

Abbildung 9.1 zeigt Planung und Evaluierung im Innovationsprozess als Über-blick:

Abb. 9.1 Planung und Evaluierung im Innovationsprozess

Das Controlling von Innovation umfasst die Planung und Evaluierung von Inno-vationstätigkeiten und Innovationsergebnissen. Das Rechnungswesen richtet sichin diesem Rahmen nahezu allein auf die Evaluierung, da es fast immer vergangen-heitsbezogen ist (vgl. Littkemann 2005, S. 15 ff.). Das Rechnungswesen ist damitTeil des Controllings. Beim Rechnungswesen geht es zunächst um monetäre Wer-te, anschließend aber auch um nicht-monetäre Werte, soweit hierfür Bedarf besteht(vgl. Schmeisser et al. 2010; Littkemann 2005, S. 20 ff.). Es unterliegt Vorschrif-ten und Regeln, die häufig enger gefasst sind als beim Controlling. Zudem gibt esbei den Vorschriften und Regeln des Rechnungswesens mitunter deutliche Unter-

218 M. Bürgermeister

schiede zwischen internem und externem Rechnungswesen (vgl. Schmeisser et al.2010; Littkemann 2005, S. 20 ff.). So setzen die Vorschriften zum Jahresabschlussoder die Vorgaben des Kunden häufig engere Grenzen als die Regeln des internenReporting (vgl. Schmeisser et al. 2010; Littkemann 2005, S. 20 ff.). Für ein ver-lässliches Innovationscontrolling gilt es folglich, diese Unterschiede dezidiert zuberücksichtigen.

9.2 Konzept eines Balanced Innovation ManagementAccounting

Im Projekt KES-MI wurde das Konzept eines Balanced Innovation ManagementAccounting entwickelt. Das Konzept geht von Abschn. 9.1 aus und richtet sich aufeine verlässliche Planung und Evaluierung im Innovationsprozess. Mit empirischerBasisarbeit verbundene Erkenntnisse stützen das Konzept ab. Für den Innovations-prozess steht der KES-MI-Innovationsprozess, um das Innovationscontrolling aufeinen flexiblen Innovationsprozess im drastisch verschärften Wettbewerb zu be-ziehen. Grundlegend für das Konzept ist, zwischen Planung und Ist-Zustand zuunterscheiden. Planung und Evaluierung werden daher als jeweils eigenständigeControllinginstrumente betrachtet. Im flexiblen Innovationsprozess bzw. im KES-MI-Innovationsprozess können sie dann an unterschiedlichen Stellen erfolgen undsind für sich an jeder Stelle des Prozesses denkbar (mit zwei Ausnahmen: Die Eva-luierung kann nicht am Beginn, die Planung nicht am Ende des Gesamtprozessesstehen). Planung und Evaluierung erfolgen indessen häufig zusammen in Verbin-dung mit Meilensteinen, Stage-Gates und Reviews (vgl. Hauschildt u. Salomo 2007,S. 524 ff.; Holtrup u. Littkemann 2005). Diese sind im entwickelten Konzept varia-bel, mit engem Bezug zu den faktischen Erfordernissen und Ergebnissen.

Zur verlässlichen Planung und Evaluierung im Innovationsprozess wurdendie Instrumente einer Balanced Planning Innovation Scorecard (BPI-Scorecard)und Balanced Evaluating Innovation Scorecard (BEI-Scorecard) entwickelt. DieBEI-Scorecard liefert Daten für das Rechnungswesen, genauer monetäre undnicht-monetäre Werte für das externe und interne Rechnungswesen. Die nähe-re Beschreibung des entwickelten Balanced Innovation Management Accountingrichtet sich im Folgenden zunächst auf die Evaluierung und dann auf die Planungim Innovationsprozess. Grund hierfür ist, dass gerade im Hinblick auf Grenzen derPlanung die Evaluierung eine Schlüsselrolle für ein verlässliches Innovationscon-trolling einnimmt und sie in diesem Zuge häufig Ausgangspunkt für die Planungist. Dies bezieht sich zunächst auf die weitere Planung, kann aber auch für dieerstmalige Planung gelten, speziell wenn der Impuls zur Innovation weitgehendungeplant erfolgt (vgl. Kap. 4).

Als Überblick für die folgende Auseinandersetzung mit der Evaluierung undPlanung zeigt Abb. 9.2 die Balanced Evaluating Innovation Scorecard und die Ba-lanced Planning Innovation Scorecard im KES-MI-Innovationsprozess:

9 Balanced Innovation Management Accounting 219

Abb. 9.2 BEI-Scorecard und BPI-Scorecard im KES-MI-Innovationsprozess

9.2.1 Evaluierung im Balanced Innovation ManagementAccounting

Im Folgenden wird die Evaluierung im Balanced Innovation Management Accoun-ting näher beschrieben. Aufbauend auf einem Überblick werden die einzelnen Vor-gehensschritte dargestellt.

9.2.1.1 Überblick zur Evaluierungim Balanced Innovation Management Accounting

Zunächst zur Evaluierung im Balanced Innovation Management Accounting. DieEvaluierung ist vergangenheitsbezogen. Es geht damit um die Erfassung realisierterInnovationseffekte. Bevor die Innovationseffekte bewertet werden können, müssensie identifiziert werden. Für die Identifikation und Bewertung ist zu beachten, dassoftmals nur ein Teil der Innovationseffekte relativ exakt messbar und verhältnismä-ßig einfach zu erfassen ist, und der andere Teil zwar deutlich weniger zugänglichscheint, jedoch ebenfalls erfolgsentscheidende Informationen für das Innovations-management liefern kann (vgl. Hauschildt u. Salomo 2007, S. 531 ff.). Dazu passt,

220 M. Bürgermeister

die Frage nach der Innovationsarbeit als Ursache für die realisierten Innovations-effekte anzuschließen und zwischen planmäßiger Innovationsarbeit einerseits undkreativer bzw. künstlerischer, erfahrungsgeleiteter, spielerischer Innovationsarbeit(KES-Innovationsarbeit) andererseits zu unterscheiden.2 Innovationseffekte und In-novationsarbeit können quantitativ oder qualitativ erfasst werden (vgl. Hauschildtu. Salomo 2007, S. 534 f.; Holtrup u. Littkemann 2005). Bei der Erfassung vonInnovationseffekten und Innovationsarbeit besteht grundlegend die Möglichkeit, fi-nanzielle Kennzahlen zu generieren, sofern sie nicht bereits direkt vorhanden sind(vgl. Küpper 2008, S. 405 ff.). Inwieweit die Schaffung finanzieller Kennzahlenerfolgt, soll davon abhängen, ob dies jeweils wirtschaftlich oder anderweitig sinn-voll und personell möglich erscheint. Die quantitativen und/oder qualitativen Datenzu den Innovationseffekten und zur Innovationsarbeit werden dem externen undinternen Rechnungswesen zur Verfügung gestellt. Zusammenfassend sind die Vor-gehensschritte der Evaluierung im Balanced Innovation Management Accountingzunächst aus den folgenden Unterscheidungen heraus abzuleiten (vgl. Böhle et al.2011, S. 303):

� Innovationseffekte vs. Innovationsarbeit,� relativ exakt messbare Innovationseffekte vs. „weiche“ Innovationseffekte (Ef-

fekteigenschaft 1),� relativ einfacher Ursache-Wirkungs-Zusammenhang vs. komplexer Ursache-

Wirkungs-Zusammenhang (Effekteigenschaft 2),� planmäßige Innovationsarbeit vs. künstlerische, erfahrungsgeleitete, spielerische

Innovationsarbeit (KES-Innovationsarbeit),� Identifikation vs. Bewertung,� quantitativ vs. qualitativ,� finanziell vs. nicht-finanziell,� monetär vs. nicht-monetär,� internes Rechnungswesen vs. externes Rechnungswesen.

Einen Rahmen für die Evaluierung im Balanced Innovation Management Ac-counting bildet die Balanced Evaluating Innovation Scorecard (BEI-Scorecard).Zwei Ordnungsmerkmale sind hierbei grundlegend zu unterscheiden:

� die Ordnung im Innovationsprozess und� die Ordnung nach Dimensionen von Innovationseffekten.

Für die Ordnung im Innovationsprozess gilt zunächst, dass die Evaluierung anjeder Stelle des Prozesses denkbar ist, mit Ausnahme des Prozessbeginns. Die BEI-Scorecard soll die Evaluierung von Innovationseffekten und Innovationsarbeit nach

2 Dieses Kapitel bezieht sich sowohl auf KES-Innovationsarbeit als auch auf planmäßiges Arbeitenim Innovationsprozess. Es wird daher zwischen KES-Innovationsarbeit und planmäßiger Innova-tionsarbeit unterschieden.

9 Balanced Innovation Management Accounting 221

den betreffenden Stellen im Innovationsprozess ordnen. Die Stellen im Innovations-prozess sind in der BEI-Scorecard kenntlich zu machen, etwa durch Register. Inno-vationseffekte und Innovationsarbeit können so im Innovationsprozess beispielhaftfolgendermaßen unterschieden werden (vgl. Kap. 4):

Innovationseffekte und Innovationsarbeit

� im Gesamtprozess sowie

Innovationseffekte und Innovationsarbeit im Bereich

� Erfindung vs. Vermarktung,� Entwicklung vs. Markteinbringung,� Produktentwicklung im engeren Sinne vs. Produkttest,� Teilprojekt 1 der Produktentwicklung im engeren Sinne vs. Teilprojekt 2 der

Produktentwicklung im engeren Sinne,� Arbeitspaket 1 im Teilprojekt 1 der Produktentwicklung im engeren Sinne vs.

Arbeitspaket 2 im Teilprojekt 1 der Produktentwicklung im engeren Sinne,� Arbeitsschritt 1 im Teilprojekt 1 der Produktentwicklung im engeren Sinne vs.

Arbeitsschritt 2 im Teilprojekt 1 der Produktentwicklung im engeren Sinne.

Für die Ordnung nach Dimensionen von Innovationseffekten soll eine inhaltlicheOrdnung von Innovationseffekten und Innovationsarbeit erfolgen, die sich auf diestrategischen Perspektiven des Innovationsmanagements richtet. Die Dimensionenvon Innovationseffekten bestimmen sich aus den Eigenschaften und Erfordernissendes Innovationsprojekts/Innovationsteilprojekts. In Anlehnung an das Konzept derBalanced Scorecard (Kaplan u. Norton 1996; Kaplan u. Norton 2001) und die damitverbundenen Analysen (Jossé 2005; Horvath & Partner 2000) werden grundlegenddie folgenden Dimensionen vorgeschlagen:

a) Innovationsgegenstand,b) Innovationskunden,c) Innovationspotenzial sowied) Innovationsfinanzen.

Zu a): In der Dimension Innovationsgegenstand geht es um die Erfassung vonInnovationseffekten und Innovationsarbeit mit direktem Bezug zum Innovationsge-genstand (für den Innovationsgegenstand vgl. Kap. 4). Die quantitativen und/oderqualitativen Beschreibungen richten sich hierbei auf die technische Funktionali-tät der Sachgutinnovation, Dienstleistungsinnovation oder Prozessinnovation (vgl.Hauschildt u. Salomo 2007, S. 531 ff.) oder auf die praktische Funktionalität perso-nenbezogener Dienstleistungsinnovation.

Zu b): In der Dimension Innovationskunden geht es um die Erfassung von Inno-vationseffekten und Innovationsarbeit mit direktem Bezug zum Kunden. Die quan-

222 M. Bürgermeister

titativen und/oder qualitativen Beschreibungen richten sich hierbei auf die Ausrich-tung der Innovation am Markt und die Bewertung durch den Kunden.

Zu c): In der Dimension Innovationspotenzial geht es um die Erfassung vonInnovationseffekten und Innovationsarbeit mit direktem Bezug zu den Innovations-potenzialen. Die quantitativen und/oder qualitativen Beschreibungen richten sichhierbei auf die Entwicklung von Personal, Organisation und Informationstechno-logien sowie der Umwelt, mit der auch die technologische, ökonomische, ökolo-gische, soziale, kulturelle oder politische Nachhaltigkeit erfasst werden kann, dienicht oder nicht unmittelbar innerhalb des Unternehmens liegt (zum Umweltbegriffvgl. Staehle 1999, S. 625 ff.).

Zu d): In der Dimension Innovationsfinanzen geht es um die Erfassung vonInnovationseffekten und Innovationsarbeit mit direktem Bezug zu den Innovati-onsfinanzen. Die quantitativen und/oder qualitativen Beschreibungen richten sichhierbei auf die finanziellen Ergebnisse, zentral in Form von Innovationskosten undInnovationserlösen. Aus Innovationskosten und Innovationserlösen lassen sich wei-tere finanzielle, monetäre und nicht-monetäre Kennzahlen zur Innovation errech-nen, wie beispielsweise der Deckungsbeitrag (Contribution Margin), die Kapital-rendite (Return on Investment), der Geschäftswertbeitrag (Economic Value Ad-ded), die Innovationsintensität (Intensity of Innovation) oder die Innovationsrate(Rate of Innovation) (zu den Kennzahlen grundlegend vgl. Weber u. Schäffer 2008,S. 143 ff.; Hermanson et al. 2006, S. 255–288). Überdies erfolgt in der DimensionInnovationsfinanzen die Generierung finanzieller Kennzahlen für Innovationseffek-te und Innovationsarbeit, die in nicht-finanziellen, quantitativen oder qualitativenBeschreibungen vorliegen. Zentral sind auch hier Innovationskosten und Innova-tionserlöse, woraus sich wiederum weitere finanzielle Kennzahlen zur Innovationerrechnen lassen. Im Sinne einer Verwendung von Kennzahlen als Option ist dafürallerdings Voraussetzung, dass diese Möglichkeit bewusst in Anspruch genommenwird unter dem Gesichtspunkt, ob dies jeweils wirtschaftlich oder anderweitig sinn-voll und personell möglich erscheint.

9.2.1.2 Vorgehensschritte der Evaluierungim Balanced Innovation Management Accounting

Die Vorgehensschritte der Evaluierung im Balanced Innovation Management Ac-counting richten sich auf eine verlässliche Identifikation und Bewertung von Inno-vationseffekten und Innovationsarbeit und werden im Folgenden näher beschrieben.

9.2.1.2.1 Maßnahmen zur Identifikation und Bewertungvon relativ exakt messbaren und „weichen“ Innovationseffekten bilden

Für die Vorgehensschritte der Evaluierung seien zuerst die Innovationseffekte be-trachtet. Wichtig ist zunächst, die Effekte überhaupt zu identifizieren, d. h. transpa-

9 Balanced Innovation Management Accounting 223

rent zu machen. In einem zweiten Schritt kann dann eine verlässliche Bewertungvon Innovationseffekten erfolgen. Für die Identifikation und Bewertung gilt es inder Regel, empirische Daten und empirisches Wissen zu nutzen (vgl. Bürgermeis-ter u. Habler 2010, S. 62 f.; Küpper 2008, S. 405 ff.). Folgende Maßnahmen bietensich dabei grundsätzlich an:

� Messung,� Indikatorbestimmung und statistische Methoden sowie� Schätzung.

Messung ist grundsätzlich geeignet, um relativ exakt messbare Innovationsef-fekte zu identifizieren und zu bewerten. Gibt es aus technischen und/oder wirt-schaftlichen Gründen keine Messung, kann es hilfreich sein, auf Indikatoren zu-rückzugreifen. Dies gilt auch, wenn es um die Kontrolle der Messung oder um„weiche“ Innovationseffekte geht. Es sind dann Kennzahlen und/oder qualitati-ve Beschreibungen als Indikatoren heranzuziehen und zueinander in Beziehungzu setzen, im Fall von Kennzahlen mittels statistischer Methoden (vgl. Küpper2008, S. 405 ff.; Gladen 2003, S. 162 ff.). In diesem Zuge besteht grundlegenddie Möglichkeit, aus qualitativen Beschreibungen Kennzahlen zu generieren, so-fern dies jeweils wirtschaftlich oder anderweitig sinnvoll und personell umsetzbarerscheint (vgl. Küpper 2008, S. 405 ff.; Gladen 2003, S. 162 ff.). Wichtig ist, dasssich die Hilfsfunktion von Indikatoren bei der Identifikation und Bewertung vonInnovationseffekten sowohl auf die relativ exakt messbaren Effekte als auch auf die„weichen“ Effekte richtet. Wegen der grundlegenden Schwierigkeiten einer Indika-torisierung in Form einer relativ hohen Abweichungswahrscheinlichkeit von Indika-toren kann es vorteilhaft sein, für die Effekte jeweils mehrere Kennzahlen und/oderqualitative Beschreibungen heranzuziehen bzw. zu entwickeln (vgl. Küpper 2008,S. 394 f.).

In dieser Hinsicht sind es zunächst Messexperten, Statistiker und Controller,die über eine kompetente Messung und Verwendung statistischer Methoden sowiedamit verbundene Schätzungen und qualitative Beschreibungen einen ganz wesent-lichen Beitrag zur Identifikation und Bewertung von Innovationseffekten leisten.Sind aus personellen oder wirtschaftlichen Gründen keine Messexperten und/oderStatistiker verfügbar, treten Controller an deren Stelle. Zur Absicherung einer engenAnbindung an die faktischen betrieblichen Gegebenheiten bzw. die Gegebenheitenim Netzwerk und zur Erhöhung der Identifikationswahrscheinlichkeit und Bewer-tungsverlässlichkeit kann es sinnvoll sein, zudem die faktisch mit den betreffendenInnovationen befassten Führungskräfte, Mitarbeiter und auch externen Partner alssog. Prozessexperten dezidiert einzubeziehen (vgl. Littkemann 2005, S. 270 f.).

Die Prozessexperten können eine Identifikations-, Kontroll- und Bewertungs-funktion einnehmen. In einer Identifikationsfunktion decken sie Innovationseffekteauf, die von Messexperten, Statistikern und Controllern unerkannt bleiben. In einerKontrollfunktion gleichen sie Messung, Berechnung und qualitative Beschreibun-gen mit den faktischen Gegebenheiten ab. Und in einer Bewertungsfunktion beur-

224 M. Bürgermeister

teilen sie „weiche“ Innovationseffekte. Besteht keine Einbeziehung von Prozessex-perten, üben Controller diese Bewertungsfunktion aus. Wichtig zu betonen ist, dassdie Führung des gesamten Identifikations- und Bewertungsprozesses beim Control-ling liegt. Dies beinhaltet, die Anforderungen auf das jeweilige Verständnis vonMessexperten, Statistikern und Prozessexperten herunterzubrechen und die Infor-mationen dieser Experten verzerrungsarm für das Controlling weiterzuverarbeiten.Auf der Ebene der Controllingarbeit gilt es nach Möglichkeit, für Controller und dieweiteren Experten, auch selbst die Potenziale von künstlerischer, erfahrungsgelei-teter und spielerischer Arbeit (KES-Arbeit) zu nutzen: Gespür und Kreativität sindso dezidiert in die Controllingarbeit einzubeziehen, um ergänzend zu planmäßigerArbeit verlässlich zu evaluieren und zu planen.

Abbildung 9.3 zeigt Maßnahmen zur Identifikation und Bewertung von Innova-tionseffekten:

Abb. 9.3 Maßnahmen zur Identifikation und Bewertung von Innovationseffekten

9.2.1.2.2 Relativ exakt messbare und „weiche“ Innovationseffekte identifizieren

Innovationseffekte, die in relativ einfachen Ursache-Wirkungs-Zusammenhängenauftreten, sind leichter zu identifizieren als jene, die sich in einem komplexenUrsache-Wirkungs-Gefüge befinden. Dazu kommt, dass die relativ exakt messba-ren Innovationseffekte einer Offenlegung besser zugänglich sind als die „weichen“Innovationseffekte, wobei hierfür vorausgesetzt ist, dass

9 Balanced Innovation Management Accounting 225

� die relativ exakt messbaren Innovationseffekte auch tatsächlich gemessen wer-den und

� die Messung keine grundlegend falschen Informationen liefert.

Die „weichen“ Innovationseffekte können genau wegen ihrer geringeren Mess-barkeit nicht so leicht berechnet bzw. durch das Controlling erfasst werden. Fürein verlässliches Innovationscontrolling ergibt sich aber häufig, dass nicht nurInnovationseffekte zu erfassen sind, die in relativ einfachen Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen auftreten und/oder relativ exakt messbar sind, sondern auch dieschwieriger zu identifizierenden Innovationseffekte (vgl. Bürgermeister u. Habler2010, S. 63).

Mit Blick auf das Konzept der Balanced Scorecard (Kaplan u. Norton 1996;Kaplan u. Norton 2001) und die damit verbundenen Analysen (Jossé 2005; Horvath& Partner 2000) ist es hierfür ein Weg, Ursache-Wirkungs-Modelle zu generierenund/oder zu nutzen. Zunächst ist dabei von der Ursache auszugehen und die Wir-kung zu analysieren. Die Wirkung muss nicht notwendigerweise positiv sein. ImWeiteren kann es überdies wichtig sein zu erkunden, ob die als Ursachewirkungausgemachten Effekte allein oder überhaupt der betrachteten Ursache zugeschrie-ben werden können oder ob hierfür weitere bzw. andere Ursachen verantwortlichsind. Zwei Unterscheidungen können hierbei getroffen werden: a) inwieweit Wert-änderungen des betreffenden Wirtschaftlichkeitseffekts auf die jeweilige Innovati-on zurückzuführen sind und b) inwieweit die innovationsbezogene Wertänderunggegenüber anderen Stellen im Innovationsprozess abzugrenzen ist. Insgesamt giltfür die Ursache-Wirkungs-Modelle, dass wegen der Eigenheiten von Unternehmenund Netzwerken keine unhinterfragte Übernahme von Standardmodellen erfolgensollte.

Ein einfaches Beispiel für ein Ursache-Wirkungs-Modell im betrachteten Sin-ne ist, dass die Einbringung eines Produkts in den Markt sich in der Anzahl dererstmals verkauften Exemplare auswirkt und auch im Aufbau von Kundenzufrie-denheit, verbunden mit finanziellen Erfolgspotenzialen. Oder dass die Verbesserungeines Produktionsverfahrens gesenkte Durchlaufzeiten, Material- oder Wartungs-kosten, und auch eine erhöhte Mitarbeitermotivation und ein verbessertes Betriebs-klima mit sich bringt, ebenfalls verbunden mit finanziellen Erfolgspotenzialen (vgl.Bürgermeister u. Habler 2010, S. 63). Zur Identifikation dieser Innovationseffektekönnen dann Indikatoren wie der Lagerbestand, die Anzahl und Qualität von Kun-denbeschwerden, Rüstzeiten oder die Mitarbeiterproduktivität hilfreich sein (vgl.Jossé 2005, S. 153 ff.). An den Effekten ansetzend könnte im Weiteren wichtig seinzu erkunden, ob die verkauften Exemplare sowie die Kundenzufriedenheit alleinder Einbringung in den Markt zugeschrieben werden können oder ob hierfür wei-tere Ursachen verantwortlich sind, wie beispielsweise vorgängige Forschungs- undEntwicklungstätigkeiten. Analog gilt dies für die Mitarbeiterzufriedenheit und dasBetriebsklima.

Als Raster für eine systematische Identifikation von Innovationseffekten lässtsich, wie bereits an anderer Stelle (Bürgermeister u. Habler 2010, S. 63) beschrie-

226 M. Bürgermeister

ben, insgesamt ein Innovations-Ursache-Wirkungs-Modell in folgenden Grundka-tegorien festmachen:

� Innovation als– Produktinnovation oder– Prozessinnovation und

� Innovationseffekte,– die relativ exakt messbar sind und

– relativ einfache Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge (A.1) oder– komplexe Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge aufweisen (A.2) oder

– die „weich“ sind und– relativ einfache Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge (B.1) oder– komplexe Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge (B.2) aufweisen.

Abbildung 9.4 zeigt Grundkategorien eines Innovations-Ursache-Wirkungs-Modells mit Beispielen:

Effektkategorie A.1 Effektkategorie A.2 Effektkategorie B.1 Effektkategorie B.2 Effekteigenschaften Messbarkeit relativ exakt relativ exakt inexakt („weich“) inexakt („weich“) Ursache-

Wirkungszusammenhang relativ einfach komplex relativ einfach komplex

Beispiel noitavonnitkudorP

Effekt Anzahl erstmals verkaufter Produkte

Absatzsteigerung anderer Produkte (Cross-Selling)

Aufbau produktbezogener Kundenzufriedenheit

Verbesserung der Gesamt-kundenzufriedenheit

Indikatoren produktbezogen: Senkung des Lagerbe-stands, Erhöhung des Um-satzes, Erhöhung von Ver-sandkosten

bezogen auf andere Pro-dukte: Senkung des Lager-bestands, Erhöhung des Umsatzes, Erhöhung von Versandkosten

produktbezogen:Anzahl und Qualität der Beschwerden,Index aus Kundenzufrie-denheitsbefragung

Gesamtkundenzufrieden-heit: Anzahl und Qualität der Beschwerden, Index aus Kundenzufriedenheits-befragung noitavonnissezorP

Effekt Senkung von Durchlaufzei-ten

Erhöhung des Investitions-volumens

Erhöhung der Mitarbeiter-zufriedenheit bei unmittel-bar Betroffenen

Verbesserung des Be-triebsklimas

Indikatoren Senkung von Rüstzeiten, Senkung von Bearbei-tungszeiten,Senkung von Liegezeiten

Senkung von Durchlaufzei-ten, Senkung von War-tungskosten,Erhöhung des Umsatzes

unmittelbar Betroffene: Mitarbeiterproduktivität,Krankenstand,Personalfluktuation

Gesamtpersonal: Mitarbeiterproduktivität,Krankenstand,Personalfluktuation

Abb. 9.4 Grundkategorien eines Innovations-Ursache-Wirkungs-Modells mit Beispielen (in An-lehnung an Bürgermeister u. Habler 2010, S. 63)

Auf Grundlage der Balanced Evaluating Innovation Scorecard (BEI-Scorecard)gilt es im nächsten Schritt, die Effekte zu ordnen nach a) den betreffenden Stellenim Innovationsprozess und b) den strategischen Perspektiven des Innovationsmana-gements bzw. den Dimensionen Innovationsgegenstand, Innovationskunden, Inno-vationspotenzial sowie Innovationsfinanzen. Um diese Ordnung abzubilden, wirdfolgender Aufbau der BEI-Scorecard vorgeschlagen:

1. BEI-Scorecard für die betreffende Innovation, also zum Beispiel für die Produkt-innovation „Powersensor GT“

2. Berichtsbogenteil für die jeweilige strategische Perspektive bzw. grundlegendeDimension, also zum Beispiel

9 Balanced Innovation Management Accounting 227

a) Berichtsbogenteil „Innovationsgegenstand“,b) Berichtsbogenteil „Innovationskunden“,c) Berichtsbogenteil „Innovationspotenzial“,d) Berichtsbogenteil „Innovationsfinanzen“;

3. im jeweiligen Berichtsbogenteil gibt es Register mit den Ebenen

3.1 Stelle im Innovationsprozess,3.2 Effektidentifikation gegenüber Effektbewertung,3.3 Effektname oder Effektnummer,

also zum Beispield)a) Berichtsbogenteil „Innovationsfinanzen“, Registerteil „Marktein-

bringung/Effektidentifikation/Erstverkaufsanzahl“;

4. im jeweiligen Registerteil sind die Effektkategorien des Ursache-Wirkungs-Modells dargestellt, ggf. mit Indikatoren, also zum Beispiel

d)a)a) Berichtsbogenteil „Innovationsfinanzen“, Registerteil „Markteinbrin-gung/Effektidentifikation/Erstverkaufsanzahl“ mit Effektkategorien A.1,A.2, B.1, B.2, ggf. mit Indikatoren.

Der Aufbau der BEI-Scorecard ist auf seinen Detaillierungsgrad zu hinterfragenunter dem Gesichtspunkt, ob er jeweils wirtschaftlich oder anderweitig sinnvoll undpersonell möglich erscheint. Damit ist der vorgeschlagene Aufbau als Option zuverstehen, die als Ganzes, aber auch nur in Teilen übernommen werden kann.

Abbildung 9.5 zeigt den Berichtsbogenteil „Innovationsfinanzen“ der BEI-Scorecard mit einem Beispiel:

Abb. 9.5 Berichtsbogenteil „Innovationsfinanzen“ der BEI-Scorecard mit Beispiel

228 M. Bürgermeister

Das Projekt KES-MI hat im Einzelnen folgende empirische Innovationsprojektebehandelt:

� Innovationsprojekt „Metalldetektor“: Entwicklung eines Detektors, der in derLage ist, Metallteile zu identifizieren, die im Zementschüttgut eines aus Eisenbestehenden Förderbands verborgen liegen (vgl. Kap. 5);

� Innovationsprojekt „Industrieroboter“: Entwicklung einer neuen Geometrie füreinen Industrieroboter (vgl. Kap. 6);

� Innovationsprojekt „Sonnenschutztechnik“: Entwicklung von Produkten derSonnenschutztechnik nach individuellen Kundenbedürfnissen und Aufnahmeeiner Serienproduktion für bestimmte Jalousien, mit der neue Abläufe undZuordnungen im Fertigungsbereich zu vollziehen sind (vgl. Kap. 7).

Exemplarisch sollen einzelne Aspekte dieser Innovationsprojekte dazu beitra-gen, die BEI-Scorecard im empirischen Beispiel darzustellen, als Rahmen für dieIdentifikation von Innovationseffekten. Bezogen wird dies auf die Prozessstelle„Entwicklung“ und den hierin zu verortenden Innovationseffekt „Prototyp“. Diefolgenden quantitativen und/oder qualitativen Beschreibungen können hierbei er-folgen:

� beim Innovationsgegenstand die technische Funktionalität des Prototyps als Er-gebnis der einzelnen technischen Arbeitsleistungen;

� bei Innovationskunden die Kundenzufriedenheit mit dem Prototyp als Zwischen-ergebnis des Innovationsauftrags;

� beim Innovationspotenzial der Prototyp als Zwischenergebnis der Entwicklungvon Personal, Organisation, Informationstechnologien und der Umwelt;

� bei Innovationsfinanzen die mit dem Prototyp verbundenen Kosten und Erlöseals Ergebnis des Einsatzes von Personal und Sachmitteln sowie weitere finan-zielle Ergebnisse; zudem eine mögliche Umrechnung der nicht-finanziellen Be-schreibungen in finanzielle Werte.

9.2.1.2.3 Relativ exakt messbare und „weiche“ Innovationseffekte bewerten

Offengelegte Innovationseffekte lassen sich bewerten. Am verlässlichsten zu be-werten sind Innovationseffekte, die relativ exakt messbar sind und in einem relativeinfachen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang auftreten, wobei hierfür vorausge-setzt ist, dass

� die relativ exakt messbaren Innovationseffekte auch tatsächlich gemessen wer-den und

� die Messung keine grundlegend falschen Informationen liefert.

9 Balanced Innovation Management Accounting 229

Hier lassen sich dann Kennzahlen mit relativ großer Exaktheit und relativ ge-ringer Fehlerwahrscheinlichkeit bestimmen. Die Anzahl der erstmals verkauftenExemplare nach Einbringung eines Produkts in den Markt ist hierfür ebenso ein ein-faches Beispiel wie gesenkte Durchlaufzeiten, Material- oder Wartungskosten nachder Verbesserung eines Produktionsverfahrens. Befinden sich Innovationseffekte ineinem komplexen Ursache-Wirkungs-Gefüge und/oder sind es „weiche“ Innovati-onseffekte, verringert sich die Bewertungsverlässlichkeit. Relativ exakt messbareInnovationseffekte, die sich in einem komplexen Ursache-Wirkungs-Gefüge be-finden, lassen sich zwar mit relativ großer Exaktheit bestimmen, unterliegen aberauch einer relativ hohen Fehlerwahrscheinlichkeit, die sich aus verstärkten Ab-grenzungsschwierigkeiten heraus ergibt. Befinden sich Innovationseffekte in einemkomplexen Ursache-Wirkungs-Gefüge und sind zugleich „weiche“ Effekte, ergibtsich bei der Bewertung nicht nur eine hohe Fehlerwahrscheinlichkeit, sondern aucheine relativ geringe Exaktheit (vgl. Bürgermeister u. Habler 2010, S. 64). Insgesamtverringert sich die Bewertungsverlässlichkeit auch, wenn relativ exakt messbareInnovationseffekte nicht gemessen werden. Die Bewertung hat sich an diesen Ef-fekteigenschaften und Implikationen auszurichten.

Im Anschluss an die Daten zur Identifikation von Innovationseffekten kannbei der BEI-Scorecard das Register „Effektbewertung“ erstellt werden. Wie beider Identifikation von Innovationseffekten erfolgt die Bewertung in quantitativenund/oder qualitativen Beschreibungen. Mit Blick auf das externe und interne Rech-nungswesen ist oftmals der errechnete finanzielle Erfolg von besonderem Interesse.In diesem Zuge soll nun eine exemplarische Betrachtung des Berichtsbogenteils„Innovationsfinanzen“ als finanzielle Datenquelle angestellt werden. Wir befindenuns nun also bei der BEI-Scorecard im

� Berichtsbogenteil „Innovationsfinanzen“, Register „[Stelle im Innovationspro-zess]/Effektbewertung/[Effektname oder Effektnummer]“ mit Effektkategorien,ggf. mit Indikatoren.

Zunächst gilt es, bereits vorliegende finanzielle Daten zu verwenden. Darüberhinaus kann eine Umrechnung nicht-finanzieller Beschreibungen in finanzielle Wer-te erfolgen. Im Sinne einer Verwendung von Kennzahlen als Option ist für einesolche Umrechnung allerdings Voraussetzung, dass diese Möglichkeit bewusst inAnspruch genommen wird unter dem Gesichtspunkt, ob dies jeweils wirtschaftlichoder anderweitig sinnvoll und personell möglich erscheint.

Aus den empirischen Innovationsprojekten im Projekt KES-MI ergeben sich fürdie Umrechnung in finanzielle Werte folgende Beispiele, bezogen auf den Innova-tionseffekt „Prototyp“:

� Umrechnung der Arbeitszeit, die zur Erstellung des Prototyps eingesetzt wurde,in Personalkosten (Effektkategorie A.1);

230 M. Bürgermeister

� anteilige Abschreibung von Maschinen und Anlagen, die im Innovationsprojektzur Erstellung des Prototyps selbst erstellt wurden und in anderen Projektenund/oder der Serienfertigung weiterverwendet werden (Effektkategorie A.2);

� Rückbezug von Folgeaufträgen des Kunden, im Innovationsprojekt oder ander-weitig, die auf die Kundenzufriedenheit mit dem Prototyp zurückgehen (Effekt-kategorie B.1);

� Rückbezug von Aufträgen anderer Kunden, die auf Referenzen des Prototypszurückgehen (Effektkategorie B.2).

Innovationseffekte weisen ein Kosten- und Erlöspotenzial auf. Innovationskos-ten und Innovationserlöse können daher als Grundlage für finanzielle Kennzahlenvon Innovation genutzt werden. Die Bewertung der Innovationseffekte ist so aufInnovationskosten und Innovationserlöse zu beziehen. Die Kosten setzen sich dabeiaus Personal- und Sachkosten für die Schaffung und das Controlling der Innovati-onseffekte zusammen, die Erlöse können aus Marktpreisen errechnet werden. MitBlick auf unterschiedliche Zahlungszeitpunkte im Innovationsprozess und die damitverbundenen Zinseffekte ist bei der Ermittlung von Kosten und Erlösen der Barwertanzusetzen (vgl. Vahs u. Burmester 2005, S. 212 f.). Insgesamt ist allerdings zurKenntnis zu nehmen, dass sich eine realitätsnahe Zurechnung von Personal- undSachkosten und Bestimmung von Marktpreisen nicht selten als schwierig erweist(vgl. Luft 2009, S. 310–311; Vahs u. Burmester 2005, S. 212 f.). Schwierigkeitenkönnen sich dabei vor allem ergeben aus Informationsasymmetrien, der Verknüp-fung von Kennzahlen sowie unterschiedlichen Kosten- und Erlössätzen im Innova-tionsprozess (vgl. Luft 2009, S. 310–311; Vahs u. Burmester 2005, S. 212 f.).

Um die BEI-Scorecard weiter zu ordnen, kann die Effektbewertung unterteiltwerden in Kosten und Erlöse einerseits und weitere finanzielle Beschreibungen an-dererseits, sodass wir uns dann also bei der BEI-Scorecard befinden im

� Berichtsbogenteil „Innovationsfinanzen“, Register „[Stelle im Innovationspro-zess]/Effektbewertung in Kosten und Erlösen/Effektbewertung in weiteren finan-ziellen Beschreibungen/[Effektname oder Effektnummer]“ mit Effektkategorienund ggf. Indikatoren.

Hieran anknüpfend sind weitere Unterteilungen im Register möglich, beispiels-weise zwischen dem Deckungsbeitrag und der Kapitalrendite als einzelne finanzi-elle Kennzahlen. Zur Berechnung der Innovationskosten und Innovationserlöse alsGrundlage für finanzielle Kennzahlen von Innovation erscheinen insgesamt folgen-de Bewertungsschritte geeignet, mit Bezug auf die jeweilige Stelle der Evaluationim Innovationsprozess:

1. Wertänderung abgrenzen (bei Effektmessung oder Indikator(en));2. monetarisieren (bei nicht-monetären Beschreibungen);3. Indikatoren untereinander gewichten (bei mehreren Indikatoren);

9 Balanced Innovation Management Accounting 231

4. Innovationseffekt schätzen;5. Wert aus Messung oder aus Indikator(en) gegenüber Schätzwert gewichten (bei

Effektmessung oder Indikator(en));6. Erfolg ermitteln.

Zu 1: Erfolgt eine Messung, sind ggf. Abgrenzungen des gemessenen Wirt-schaftlichkeitseffekts vorzunehmen. Der gemessene Wirtschaftlichkeitseffekt istdabei entweder Innovationseffekt oder Indikatorwert, sofern er etwas mit der be-treffenden Innovation zu tun hat. Allerdings muss der Wirtschaftlichkeitseffektnicht vollständig Innovationseffekt oder Indikatorwert sein, sondern kann auch An-teile haben, die nicht zur betreffenden Innovation gehören. In diesem Fall ist eineAbgrenzung zu den innovationsfremden Anteilen vorzunehmen, um den Innovati-onseffekt oder Indikatorwert zu ermitteln. Mit Bezug zum Innovationsprozess kannhieran anschließend der Innovationseffekt oder Indikatorwert gegenüber anderenStellen im Innovationsprozess abgegrenzt werden.

Zu 2: Bei nichtmonetären Beschreibungen ist eine Transformation in monetäreKennzahlen durchzuführen, weil die Basis für den errechneten finanziellen Erfolgmonetär ausgedrückt wird. Dazu sind Umrechnungsfaktoren für Erlöse und Kostenzu bilden.

Zu 3: Werden zur Bewertung eines Innovationseffekts mehrere Indikatoren her-angezogen, ist es notwendig, die Indikatoren untereinander zu gewichten, um mög-liche Unterschiede in der Aussagekraft der einzelnen Indikatoren zu erfassen.

Zu 4: Der Innovationseffekt ist durch Schätzung pauschal zu bewerten.Zu 5: Wird ein Innovationseffekt gemessen oder werden Indikatoren herangezo-

gen, ist der gemessene oder durch die Indikatoren ermittelte Wert gegenüber demSchätzwert zu gewichten.

Zu 6: Zur Erfolgsermittlung des Innovationseffekts werden die ermittelten Kos-ten von den ermittelten Erlösen abgezogen.

Und um mehrere Innovationseffekte zu bewerten: Die Bewertung mehrerer In-novationseffekte erfolgt durch Addition der Erlöse, der Kosten und des Erfolgseinzelner Innovationseffekte.

Somit ergeben sich die in Abb. 9.6 dargestellten Formeln zur Bewertung vonInnovationseffekten:

a) Erlöse gemessener Mengen des Innovationseffekts

( )AmAmmAmmuAmAm q1csqbbcax̂ −⋅⋅+⋅⋅⋅⋅= , wobei gilt: 0 ≤ b, q ≤ 1; c nur für nicht- monetäre Mengen

gewichteter Erlös-Schätzwert

gewichteter, anteili-ger Erlös-Messwert

232 M. Bürgermeister

b) Kosten gemessener Mengen des Innovationseffekts

( )AmAmmAmmuAmAm q1dsqbbdax~ −⋅⋅+⋅⋅⋅⋅= , wobei gilt: 0 ≤ b, q ≤ 1; d nur für nicht- monetäre Mengen

gewichteter Kosten-Schätzwert

gewichteter, anteili-ger Kosten-Messwert

c) Erlöse ohne Messung des Innovationseffekts

( ) ( )BmAmmBmlmn

1lm mmuBmBm q1csqhbbcax̂ −⋅⋅+⋅⋅⋅⋅⋅= ∑ =

gewichteter, anteiliger Erlös-Indikatorwert aus mehreren Indikatoren

gewichteter Erlös-

Schätzwert

, wobei gilt: 0 ≤ b, h, q ≤ 1; c nur für nicht- monetäre Be- schreibungen

d) Kosten ohne Messung des Innovationseffekts

( ) ( )BmAmmBmlmnlm=1 mmuBmBm q1dsqhbbdax~ −⋅⋅+⋅⋅⋅⋅⋅= ∑

gewichteter, anteiliger Kosten-Indikatorwert aus

mehreren Indikatoren

gewichteter Kosten-

Schätzwert

, wobei gilt: 0 ≤b, h, q ≤1; d nur für nicht- monetäre Be- schreibungen

e) Erfolgsermittlung

mmm x~x̂x −=

9 Balanced Innovation Management Accounting 233

f) Bewertung mehrerer Innovationseffekte

∑ == n1i imgesamtm x̂x̂ , analog mx~ , mx

Bedeutung der Variablen und Indizes (allgemein)

aA Wertänderung Wirtschaftlichkeitseffekt als Innovationseffekt

bu Anteil Aktivität

aB Wertänderung Wirtschaftlichkeitseffekt als Indikator

bm Anteil Prozessstelle

Bedeutung der Variablen und Indizes (bezogen auf die Stelle der Evaluation im Innovations-prozess)

cA Erlösfaktor Innovationseffekt m Prozessstelle

cB Erlösfaktor Indikator qA Gewichtungsfaktor Messung

dA Kostenfaktor Innovationseffekt qB Gewichtungsfaktor Indikator(en) dB Kostenfaktor Indikator s Schätzwert Innovationseffekt

rotakidnI lietnA h Erlöse des Innovationseffekts i Innovationseffekt Kosten des Innovationseffekts

rotakidnI l Erfolg des Innovationseffekts

x~

x

Abb. 9.6 Formeln zur Bewertung von Innovationseffekten

9.2.1.2.4 Identifikation und Bewertung von Innovationseffekten im Überblick

Zusammenfassend gibt Abb. 9.7 einen Überblick über die Identifikation und Bewer-tung von Innovationseffekten im Balanced Innovation Management Accounting:

234 M. Bürgermeister

Effektkategorie A.1 Effektkategorie A.2 Effektkategorie B.1 Effektkategorie B.2 Effekteigenschaften Messbarkeit relativ exakt relativ exakt inexakt („weich“) inexakt („weich“) Ursache-

Wirkungszusammenhang relativ einfach komplex relativ einfach komplex

Identifikationswahr-scheinlichkeit und Bewer-tungsverlässlichkeit

hoch mittel mittel gering

Identifikations- und Bewertungsgenauigkeit

hoch hoch gering gering

Fehlerwahrscheinlich-keit in der Identifikati-on und Bewertung

gering hoch gering hoch

Identifikations- und Be-wertungsmaßnahmen Messung geeignet geeignet nicht geeignet nicht geeignet Indikatorbestimmung und

statistische Verfahren hilfreich, wenn keine Mes-sung oder als Messkontrol-le

hilfreich, wenn keine Mes-sung oder als Messkontrol-le

hilfreich hilfreich

esitrepxE Messexperten (ggf.) Identifikations- und Be-

wertungsfunktionIdentifikations- und Be-wertungsfunktion

nicht relevant nicht relevant

Statistiker (ggf.) Identifikations- und Be-wertungsfunktion oder Kontrollfunktion

Identifikations- und Be-wertungsfunktion oder Kontrollfunktion

Hilfsfunktion Hilfsfunktion

Prozessexperten (ggf.) Identifikations-, Bewer-tungs- und Kontrollfunkti-on

Identifikations-, Bewer-tungs- und Kontrollfunkti-on

Identifikations-, Bewer-tungs- und Kontrollfunkti-on

Identifikations-, Bewer-tungs- und Kontrollfunkti-on

Controller Identifikations-, Bewer-tungs- und Controlling-funktion

Identifikations-, Bewer-tungs- und Controlling-funktion

Identifikations-, Bewer-tungs- und Controlling-funktion

Identifikations-, Bewer-tungs- und Controlling-funktion

Bewertungsform Einzelbewertung oder Pau-schalbewertung

Einzelbewertung oder Pau-schalbewertung

Pauschalbewertung Pauschalbewertung

Abb. 9.7 Überblick über die Identifikation und Bewertung von Innovationseffekten (in Anleh-nung an Bürgermeister u. Habler 2010, S. 64)

9.2.1.2.5 Planmäßige und KES-Innovationsarbeit identifizieren und bewerten

Die Bewertung von Innovationseffekten ist für eine verlässliche Evaluierung imInnovationsprozess essenziell, nicht selten sogar hinreichend. Über die Bewertungvon Innovationseffekten hinaus interessiert bei der Evaluierung aber auch häufig,wie die Innovationseffekte zustande gekommen sind, also die Innovationsarbeit.Zwei grundlegende Unterscheidungen lassen sich hierbei treffen:

� die Verteilung der Innovationsarbeit und� die Form der Innovationsarbeit.

Und bei der Verteilung der Innovationsarbeit lässt sich weiter unterscheiden zwi-schen

� der Verteilung im Innovationsprozess und� der Verteilung zwischen Einheiten, die Innovationsarbeit leisten.

Ein Ertrag der Evaluierung von Innovationsarbeit kann darin liegen, Erlöse undKosten und den sich daraus ergebenden Erfolg im Unternehmen bzw. Netzwerkverursachungsgerecht zu verteilen. Ergänzend oder alternativ dazu können die In-formationen über Innovationsarbeit in sonstiger Weise für das Controlling genutzt

9 Balanced Innovation Management Accounting 235

werden, beispielsweise zur Feststellung von Innovationspotenzialen der Mitarbei-ter.

Entlang der getroffenen Unterscheidungen kann es für eine verlässliche Identifi-kation und Bewertung von Innovationsarbeit erforderlich sein, abzugrenzen zu

� anderen Stellen im Innovationsprozess,� anderen Einheiten, die Innovationsarbeit leisten, sowie� planmäßiger Innovationsarbeit bzw. KES-Innovationsarbeit.

KES-Innovationsarbeit zeigt sich in Qualitäten von Kreativität, Gespür, Neugier,Engagement u. Ä., die über planmäßige Innovationsarbeit deutlich hinausgehen(vgl. Kap. 3). KES-Innovationsarbeit ist damit nicht exakt messbar. Darüber hin-aus ist sie unmittelbar an die Personen der Innovatoren geknüpft und stark vonder Innovationskultur in Abteilungen, dem Unternehmen oder dem Netzwerk ab-hängig. KES-Innovationsarbeit ist so nur schwer von außen einsehbar, wodurchdas Controlling mit relativ starken Informationsasymmetrien konfrontiert ist. Umdie Identifikationswahrscheinlichkeit und Bewertungsverlässlichkeit von KES-Innovationsarbeit zu erhöhen, ist es für das Controlling notwendig, eine Nähe zuden Innovatoren und relevanten Einheiten herzustellen, so wie oben beschrieben,durch Prozessexperten, sofern dies wirtschaftlich oder anderweitig sinnvoll undpersonell möglich erscheint.

In direktem Bezug auf die bewerteten Innovationseffekte ergeben sich damit, wieteilweise bereits an anderer Stelle (Bürgermeister u. Habler 2010, S. 65) beschrie-ben, folgende Grundkategorien zur Identifikation und Bewertung von Innovations-arbeit:

� Einheit 1 leistet– an einer bestimmten Stelle im Innovationsprozess

– planmäßige Innovationsarbeit und/oder– KES-Innovationsarbeit;

� Einheit n leistet– an einer bestimmten Stelle im Innovationsprozess

– planmäßige Innovationsarbeit und/oder– KES-Innovationsarbeit.

Am Beispiel der Anzahl der erstmals verkauften Exemplare bei der Einbringungeines Produkts in den Markt ist so offenzulegen und zu bewerten, wie dies zustandegekommen ist, unter

� Bezug auf die betreffende Einheit, die Innovationsarbeit leistet,� etwaiger Beachtung der betreffenden Stelle im Innovationsprozess und� etwaiger Unterscheidung zwischen planmäßiger Innovationsarbeit und KES-

Innovationsarbeit.

236 M. Bürgermeister

Aus den empirischen Innovationsprojekten im Projekt KES-MI ergibt sich fürdie Identifikation und Bewertung von Innovationsarbeit folgendes Beispiel, bezo-gen auf Folgeaufträge des Kunden im Innovationsprojekt, die auf die Kundenzu-friedenheit mit dem Prototyp zurückgehen:

� Projektmitarbeiter des Unternehmens leisten anteilig zu Projektmitarbeitern desKunden und Projektmitarbeitern wissenschaftlicher Einrichtungen Beiträge zurKundenzufriedenheit mit dem Prototyp;

� die Entwicklung leistet anteilig zur Forschung Beiträge zur Kundenzufriedenheitmit dem Prototyp;

� KES-Innovationsarbeit leistet anteilig zu planmäßiger Innovationsarbeit Beiträ-ge zur Kundenzufriedenheit mit dem Prototyp.

Im Anschluss an die Daten zu den Innovationseffekten kann bei der BEI-Scorecard das Register „Innovationsarbeit“ erstellt werden. Wie bei den In-novationseffekten erfolgen die Identifikation und Bewertung in quantitativenund/oder qualitativen Beschreibungen. Und wie bei den Innovationseffekten wirdim Folgenden auch für Innovationsarbeit eine exemplarische Betrachtung des Be-richtsbogenteils „Innovationsfinanzen“ als finanzielle Datenquelle vorgenommen.Für die Identifikation der Innovationsarbeit befinden wir uns bei der BEI-Scorecardim

� Berichtsbogenteil „Innovationsfinanzen“, Register „[Stelle im Innovationspro-zess]/Arbeitsidentifikation/[Effektname oder Effektnummer]“ mit Effektkatego-rien, ggf. mit Indikatoren.

Und für die Bewertung der Innovationsarbeit befinden wir uns bei der BEI-Scorecard im

� Berichtsbogenteil „Innovationsfinanzen“, Register „[Stelle im Innovationspro-zess]/Arbeitsbewertung/[Effektname oder Effektnummer]“ mit Effektkategori-en, ggf. mit Indikatoren.

Zunächst gilt es, bereits vorliegende finanzielle Daten zu verwenden. Darüberhinaus kann eine Umrechnung nicht-finanzieller Beschreibungen in finanzielle Wer-te erfolgen. Im Sinne einer Verwendung von Kennzahlen als Option ist für einesolche Umrechnung allerdings Voraussetzung, dass diese Möglichkeit bewusst inAnspruch genommen wird unter dem Gesichtspunkt, ob dies jeweils wirtschaftlichoder anderweitig sinnvoll und personell möglich erscheint.

Zur Berechnung des Erfolgs von Innovationsarbeit erscheinen die folgenden Vor-gehensschritte geeignet, mit Bezug auf die jeweilige Einheit, die Innovationsarbeitleistet, und die jeweilige Stelle der Evaluation im Innovationsprozess:

9 Balanced Innovation Management Accounting 237

1. Innovationseffekt in Mengen heranziehen;2. planmäßige Innovationsarbeit ermitteln;3. KES-Innovationsarbeit berechnen;4. planmäßige Innovationsarbeit verteilen;5. Verteilung KES-Innovationsarbeit schätzen;6. verteilte planmäßige Innovationsarbeit als Indikator für KES-Innovationsarbeit

nutzen und gegenüber geschätzter Verteilung von KES-Innovationsarbeit ge-wichten;

7. Erfolg von Innovationsarbeit ermitteln.

Zu 1: Ausgangspunkt für die Identifikation und Bewertung von Innovationsarbeitist der betreffende Innovationseffekt in Mengen.

Zu 2: Bezogen auf den betreffenden Innovationseffekt ist in Mengen zu ermit-teln, inwieweit der Innovationseffekt durch planmäßige Innovationsarbeit hervor-gebracht wird. Wichtig ist dabei die Fokussierung auf die betreffende Einheit, dieInnovationsarbeit leistet, und zwar an der betreffenden Stelle im Innovationspro-zess.

Zu 3: Es ist KES-Innovationsarbeit in Mengen zu berechnen, indem planmäßigeInnovationsarbeit in Mengen vom Innovationseffekt in Mengen abgezogen wird.

Zu 4: Zu ermitteln ist, wie sich die betreffende planmäßige Innovationsarbeit imUnternehmen bzw. Netzwerk verteilt.

Zu 5: Es ist zu schätzen, wie sich die errechnete KES-Innovationsarbeit im Un-ternehmen bzw. Netzwerk verteilt.

Zu 6: Die verteilte planmäßige Innovationsarbeit ist als Indikator für KES-Innovationsarbeit zu nutzen und gegenüber der geschätzten Verteilung von KES-Innovationsarbeit zu gewichten. Planmäßige Innovationsarbeit als Indikator fürKES-Innovationsarbeit zu nutzen beruht auf der Annahme, dass eine intensiveAuseinandersetzung mit der betreffenden Innovation durch planmäßige Innova-tionsarbeit nicht nur die „Abarbeitung“ des Geplanten mit sich bringt, sondernnicht selten auch ein hohes Gewicht an Involviertheit, Neugier, Kreativität undRisikobereitschaft als exemplarische Merkmale von KES-Innovationsarbeit.

Zu 7: Zur Erfolgsermittlung der Innovationsarbeit werden die ermittelten Kostenvon den ermittelten Erlösen abgezogen.

Und um Innovationsarbeit bei mehreren Innovationseffekten zu bewerten: DieBewertung von Innovationsarbeit bei mehreren Innovationseffekten erfolgt durchAddition der Erlöse, Kosten und des Erfolgs von Innovationsarbeit für einzelne In-novationseffekte.

Somit ergeben sich die in Abb. 9.8 dargestellten Formeln zur Bewertung vonInnovationsarbeit:

238 M. Bürgermeister

a) Erlöse von KES-Innovationsarbeit mit planmäßiger Innovationsarbeit als Indi-kator

( ) Ajmmn1jm jm

jmmn

1jm jm

jmn1jm jmimjm cq1

s

sq

p

ppxk̂ ⋅

⎥⎥⎥

⎢⎢⎢

⎡−⋅+⋅−=

∑∑∑

===

gewichteter Indi-katorwert

gewichteter Schätzwert

, wobei gilt: 0 ≤ q ≤ 1; c nur für nicht- monetäre Be- schreibungen , analog p̂

b) Kosten von KES-Innovationsarbeit mit planmäßiger Innovationsarbeit als Indi-kator

( ) Ajmmn1jm jm

jmmn

1jm jm

jmn1jm jmimjm dq1

s

sq

p

ppxk~ ⋅

⎥⎥⎥

⎢⎢⎢

⎡−⋅+⋅−=

∑∑∑

===

gewichteter Indi-katorwert

gewichteter Schätzwert

, wobei gilt: 0 ≤ q ≤ 1; d nur für nicht- monetäre Be- schreibungen , analog p~

c) Erfolg von KES-Innovationsarbeit

jmjmjm k~k̂k −= , analog p

9 Balanced Innovation Management Accounting 239

d) Bewertung von Innovationsarbeit bei mehreren Innovationseffekten

∑ == n1i ijmgesamtjm k̂k̂ , analog p,p~,p̂,k,k~

gesamtjmgesamtjmgesamtjm k̂p̂x̂ += , analog x,x~

Bedeutung der Variablen und Indizes (bezogen auf die Stelle der Evaluation im Innovations-prozess)

cA Erlösfaktor Innovationseffekt p̂ Erlöse planmäßiger Innovationsarbeit dA Kostenfaktor Innovationseffekt p~ Kosten planmäßiger Innovationsarbeit i Innovationseffekt p Erfolg planmäßiger Innovationsarbeit

j Einheit, die Innovationsarbeit leistet q Gewichtungsfaktor Indikator

k̂ Erlöse von KES-Innovationsarbeit s Schätzwert KES-Innovationsarbeit k~ Kosten von KES-Innovationsarbeit x̂ Erlöse des Innovationseffekts k Erfolg von KES-Innovationsarbeit x~ Kosten des Innovationseffekts m Prozessstelle x Erfolg des Innovationseffekts p planmäßige Innovationsarbeit in Mengen

Abb. 9.8 Formeln zur Bewertung von Innovationsarbeit

9.2.2 Planung im Balanced Innovation Management Accounting

Im Folgenden wird die Planung im Balanced Innovation Management Accountingnäher beschrieben. Aufbauend auf einem Überblick wird die Offenheit der Planungdargestellt.

9.2.2.1 Überblick zur Planungim Balanced Innovation Management Accounting

Für die Planung im Balanced Innovation Management Accounting grundlegend istdie Unterscheidung von drei Fallkategorien im Innovationsprozess bzw. Innovati-onsprojekt/Innovationsteilprojekt, wie im Abschn. 9.1 eingebracht:

1. Ergebnis und Weg stehen vorab weitgehend fest;2. Ergebnis steht vorab weitgehend fest, Weg ist weitgehend unklar;3. Ergebnis und Weg sind weitgehend unklar.

240 M. Bürgermeister

Zu 1: Stehen Ergebnis und Weg zur Innovation vorab weitgehend fest, kanneine relativ verbindliche Planung des Innovationsprozesses bzw. Innovationspro-jekts/Innovationsteilprojekts erfolgen. Die Tätigkeiten lassen sich häufig relativ naham Projektplan steuern und bewerten, Ergebnisse liegen oftmals relativ nah amProjektplan. Stage-Gates und Meilensteine sind tendenziell zuverlässig, um den je-weiligen Innovationserfolg zu erfassen, Reviews können sich oftmals zielführendauf einen detaillierten Projektplan beziehen. Gleichwohl ist darauf zu achten, Un-geplantes nicht auszugrenzen. Analog zu den Erkenntnissen über das Auftreten vonUnwägbarkeiten in hochtechnisierten Arbeitsbereichen (Bauer et al. 2006) könnenauch bei weitgehend planbaren Innovationsprojekten Unwägbarkeiten auftreten, diesich maßgeblich auf den Innovationserfolg auswirken.

Zu 2: Steht das Ergebnis vorab weitgehend fest, ist der Weg aber weitge-hend unklar, ist die Planbarkeit des Innovationsprozesses bzw. Innovationspro-jekts/Innovationsteilprojekts im Vergleich zur ersten Fallkategorie deutlich einge-schränkt. Zwei Möglichkeiten erscheinen hier sinnvoll: a) Es gibt einen Projektplanmit einem geringeren Detaillierungsgrad als bei Projekten der ersten Fallkategorieoder b) es wird auf einen Projektplan verzichtet.

Zu a): Das Controlling versteht Stage-Gates und Meilensteine mehr als grobeOrientierungspunkte denn als fixe Bestandsaufnahmen und richtet die Bewertungs-zeitpunkte stark an den faktischen Ergebnissen und situativen Erfordernissen aus.Im empirischen Beispiel aus dem Projekt KES-MI bestimmen so vor allem diegewonnenen Daten aus einem Laborexperiment oder der gebaute Prototyp die Zeit-punkte, zu bewerten, inwieweit es erfolgversprechend ist, das Projekt fortzusetzenund zusätzliche Ressourcen zu investieren. Reviews bringen tendenziell einen ho-hen Erkenntnisgewinn für die Planung von Folgeaktivitäten und Folgeprojekten.

Zu b): Die Bewertungszeitpunkte bestimmen sich allein aus den faktischen Er-gebnissen und situativen Erfordernissen. Abhängig davon, ob und wann weiterfüh-rende Daten aus einem Laborexperiment vorliegen oder der Prototyp gebaut ist, istzu bewerten, inwieweit es erfolgversprechend ist, das Projekt fortzusetzen und zu-sätzliche Ressourcen zu investieren. Reviews bringen auch hier tendenziell einenhohen Erkenntnisgewinn für die Planung von Folgeaktivitäten und Folgeprojekten.

Zu 3: Sind das Ergebnis und der Weg weitgehend unklar, ist die Planbarkeit desInnovationsprozesses bzw. Innovationsprojekts/Innovationsteilprojekts vergleichs-weise am deutlichsten eingeschränkt. Die Handlungsoptionen, die in den Ablei-tungen zur zweiten Fallkategorie dargestellt sind, erscheinen auch hier sinnvoll.Gleiches gilt für die mit den Handlungsoptionen verbundenen Implikationen.

Grundlegend für das entwickelte Konzept des Balanced Innovation Manage-ment Accounting ist, zwischen Planung und Ist-Zustand zu unterscheiden. Planungund Evaluierung werden daher als jeweils eigenständige Controllinginstrumentebetrachtet, wie bereits einleitend angeführt. Als Instrumente eines gemeinsamenKonzepts mit Basisprinzipien ergeben sich zwischen der Planung und Evaluierungaber auch weitreichende Analogien. Die Beschreibungen zur Evaluierung im Ab-schn. 9.2.1 können so weitreichend als Muster für die Planung übernommen wer-den. Die Besonderheiten der Planung werden im Folgenden dargestellt. Sie set-

9 Balanced Innovation Management Accounting 241

zen damit auf den Beschreibungen zur Evaluierung auf und sind sinngemäß zuergänzen.

9.2.2.2 Offenheit der Planung im Balanced Innovation ManagementAccounting

Zusammenfassend ergeben sich für das Balanced Innovation Management Accoun-ting aus den aufgezeigten drei Fallkategorien im Innovationsprozess bzw. Innovati-onsprojekt/Innovationsteilprojekt die folgenden drei Planungskategorien:

� detaillierte Planung;� offene Planung;� keine Planung.

Zu beachten ist, dass die Planungskategorien immer für eine spezifische Stelle imInnovationsprozess bzw. Innovationsprojekt/Innovationsteilprojekt stehen, analogzur Evaluierung. Über verschiedene Stellen kann eine einzige Planungskategoriestehen, oder es gibt eine Kombination der Planungskategorien, im Projektverlaufhäufig in Form einer Konkretisierung der Planung, aber auch in Form einer Öffnungder Planung. Die drei Planungskategorien lassen sich auch als bewusste Handlungs-alternativen verstehen. Somit kann bewusst auf Planung verzichtet werden, oder eskann eine offene oder detaillierte Planung geben. Die Balanced Planning InnovationScorecard (BPI-Scorecard) bildet einen Rahmen für alle drei Planungskategorien.Für die Kategorie der Nicht-Planung beschränkt sich die BPI-Scorecard allerdingsauf die Dokumentation des Verzichts auf Planung, falls sinnvoll mit Ausführungenzur Begründung. Der vorgeschlagene Aufbau der BPI-Scorecard richtet sich an denMaximalanforderungen der Planung aus, analog zur BEI-Scorecard. Die detaillier-te Planung kann diesen Rahmen ausschöpfen oder sich auf einen Teil beschränken.Die offene Planung und die Nicht-Planung beschränken sich dazu abgestuft weiter.

Im empirischen Beispiel aus dem Projekt KES-MI gibt es eine Kombinationder Planungskategorien. Ein Aspekt hiervon ist die qualitative Beschreibung vonErfolgspotenzialen gegenüber dem Kunden als Basis für dessen Entscheidung überdie Projektfortführung. Wie im Abschn. 9.2.1.2 in den Blick gerückt, erfolgt hierbeiim Controlling KES-Arbeit, indem zur verlässlichen Eruierung von Erfolgspoten-zialen Gespür und Kreativität dezidiert genutzt wurden, ergänzend zu planmäßigerArbeit.

Der vorgeschlagene Aufbau der BPI-Scorecard ist sehr ähnlich dem Aufbau derBEI-Scorecard und stellt sich folgendermaßen dar:

1. BPI-Scorecard für die betreffende Innovation, also zum Beispiel für die Produkt-innovation „Powersensor GT“

2. Berichtsbogenteil für die jeweilige strategische Zielperspektive bzw. grundle-gende Zieldimension, also zum Beispiel

242 M. Bürgermeister

a) Berichtsbogenteil „Innovationsgegenstand“,b) Berichtsbogenteil „Innovationskunden“,c) Berichtsbogenteil „Innovationspotenzial“,d) Berichtsbogenteil „Innovationsfinanzen“;

3. im jeweiligen Berichtsbogenteil gibt es Register mit den Ebenen

3.1 Stelle im Innovationsprozess,3.2 Zieleffektidentifikation gegenüber Zieleffektbewertung,3.3 Effektname oder Effektnummer,

also zum Beispiel

d)a) Berichtsbogenteil „Innovationsfinanzen“, Registerteil „Markteinbrin-gung/Zieleffektidentifikation/Erstverkaufsanzahl“;

4. im jeweiligen Registerteil sind die Effektkategorien dargestellt, ggf. mit Indika-toren, also zum Beispiel

d)a)a) Berichtsbogenteil „Innovationsfinanzen“, Registerteil „Markteinbrin-gung/Zieleffektidentifikation/Erstverkaufsanzahl“ mit Effektkatego-rien A.1, A.2, B.1, B.2, ggf. mit Indikatoren;

d)a)b) Berichtsbogenteil „Innovationsfinanzen“, Registerteil „Markteinbrin-gung/Zieleffektbewertung/Erstverkaufsanzahl“ mit EffektkategorienA.1, A.2, B.1, B.2, ggf. mit Indikatoren;

d)a)c) Berichtsbogenteil „Innovationsfinanzen“, Registerteil „Markteinbrin-gung/Zielarbeitsidentifikation/Erstverkaufsanzahl“ mit Effektkatego-rien A.1, A.2, B.1, B.2, ggf. mit Indikatoren;

d)a)d) Berichtsbogenteil „Innovationsfinanzen“, Registerteil „Markteinbrin-gung/Zielarbeitsbewertung/Erstverkaufsanzahl“ mit EffektkategorienA.1, A.2, B.1, B.2, ggf. mit Indikatoren.

9 Balanced Innovation Management Accounting 243

Abbildung 9.9 veranschaulicht die Offenheit der Planung im Balanced Innovati-on Management Accounting:

Abb. 9.9 Offenheit der Planung

9.3 Ausblick zum Balanced Innovation ManagementAccounting

Das vorgestellte Konzept eines Balanced Innovation Management Accounting rich-tet sich auf eine verlässliche Planung und Evaluierung im Innovationsprozess. Spe-ziell im drastisch verschärften Wettbewerb ist das Innovationsmanagement nämlichdarauf angewiesen, dass es auf eine verlässliche Planung und Bewertung zurück-greifen kann, weil sonst entscheidende Kompetenzen und Ressourcen für Innova-tion verloren gehen können, mit womöglich existenziellen Folgen. Das Konzeptkann daher einen hohen ökonomischen und gesellschaftlichen Nutzen hervorbrin-gen, erfordert aber auch, sich mit folgenden Implikationen auseinanderzusetzen,verbunden mit weiterem Forschungsbedarf:

� Relativität: Eine Steigerung der Verlässlichkeit des Controlling ist relativ undlöst daher eine mögliche Begrenztheit der Aussagekraft von Kennzahlen, Be-wertungen und Dokumentationen nicht grundlegend auf. Das Innovationsmana-

244 M. Bürgermeister

gement sollte dies bei den Entscheidungen dezidiert berücksichtigen. Controllerkönnen das Management hierbei unterstützen, indem sie auf eine mögliche Be-grenztheit der Aussagekraft von Kennzahlen, Bewertungen und Dokumentatio-nen deutlich hinweisen.

� Anpassungsfähigkeit: Der Detaillierungsgrad des Controlling hat sich an denPrämissen wirtschaftlicher oder anderweitiger Sinnhaftigkeit und personellerMöglichkeit auszurichten.

� Umsetzungsvereinfachung: Die Schaffung einer informations- und kommunika-tionstechnologischen Anwendung kann deutlich dazu beitragen, die Umsetzungdes vorgestellten Konzepts zu vereinfachen.

� Schätzungssubjektivität: Die Subjektivität der Schätzung ermöglicht die Werter-mittlung und eine Erhöhung der Wertverlässlichkeit. Die Schätzungsverläss-lichkeit wird tendenziell erhöht durch Fachkompetenz und Erfahrungswissenund gemindert durch psychosoziale Schwierigkeiten, die sich aus Machtasym-metrien, Opportunismus, Gruppendynamik u. Ä. ergeben. Zur Förderung derSchätzungsverlässlichkeit ist folglich eine Erhöhung von Fachkompetenz undErfahrungswissen anzustreben, durch Expertenanzahl, Personalauswahl undQualifizierung. Zudem anzustreben sind Schätzverfahren, die den psychosozia-len Schwierigkeiten entgegenwirken.

� Methodische Schwierigkeiten:– Kommunikation: Bei Identifikations- und Bewertungsleistungen anderer

Fachexperten besteht für Controller die nicht immer einfache Aufgabe, dieAnforderungen auf das jeweilige Verständnis herunterzubrechen und dieerlangten Informationen verzerrungsarm für das Controlling weiterzuverar-beiten.

– Innovationsfinanzen: In der Dimension Innovationsfinanzen erweist sich einerealitätsnahe Bestimmung von Marktpreisen und Zurechnung von Personal-und Sachkosten nicht selten als schwierig (vgl. Luft 2009, S. 310 f.).

– Weitere Dimensionen: Über Innovationsfinanzen hinaus können sich metho-dische Schwierigkeiten in weiteren Dimensionen ergeben, wie beispielsweisebeim Innovationsgegenstand, bei Innovationskunden und/oder Innovations-potenzialen.

� Datenabgrenzung: Bei der Verwendung der Controllingdaten sind die spezifi-schen Vorschriften und Regeln des internen und externen Rechnungswesens ge-nau zu beachten.

� Vertragliche Schwierigkeiten: Die differenzierte Erfolgsermittlung kann Schwie-rigkeiten mit sich bringen in der Gestaltung und Kontrolle von Verträgen zwi-schen Unternehmen und externen Partnern, weil Standardvereinbarungen undBest-Practice-Verfahren häufig nicht vollständig Verwendung finden. Über not-wendige Kontrollmechanismen hinaus sind daher verstärkt Anerkennung undVertrauen erforderlich.

9 Balanced Innovation Management Accounting 245

Literatur

Attar H (2010) The Dance on the Feet of Chance. Handling Uncertainty and Managing Risk in theFuzzy Front-End of Innovation. Xlibris, Australia

Bauer HG, Böhle F, Munz C, Pfeiffer S, Woicke P (2006) Hightech-Gespür. ErfahrungsgeleitetesArbeiten und Lernen in hoch technisierten Arbeitsbereichen, 2. Aufl. W. Bertelsmann, Bielefeld

Böhle F, Bürgermeister M, Heidling E, Munz C, Neumer J, Porschen S, Wagner J (2011) KES-MIals neuer Weg zur Innovation. Innovationserfolg durch künstlerische, erfahrungsgeleitete, spieleri-sche Innovationsarbeit und ein Management des Informellen. In: Schallock B, Jacobsen H (Hrsg)Innovationsstrategien jenseits traditionellen Managements. Wissenschaftliche und praktische Er-gebnisse des Förderschwerpunktes. Fraunhofer, Stuttgart, S 298–306

Blohm I, Leimeister JM, Rieger M, Krcmar H (2011) Controlling von Ideencommunities. Ent-wicklung und Test einer Ideencommunity-Scorecard. In: Controlling, Jg 23, H 2, S 98–105

Bürgermeister M, Habler T (2010) Aspekte erweiterten Innovations-Controllings. In: Controller-Magazin, Jg 35, H 3, S 60–66

Chesbrough HW (2003) Open Innovation. The New Imperative for Creating and Profiting fromTechnology. Harvard Business School Press, Boston

Cooper RG, Edgett SJ (2008) Maximizing Productivity in Product Innovation. In: Research Tech-nology Management, Jg 51, H 2, S 47–58

Cooper RG, Edgett SJ, Kleinschmidt EJ (2002) Optimizing the Stage-Gate-Process. What Best-Practice Companies Do (I). In: Research Technology Management, Jg 45, H 5, S 21–27

Cooper RG, Edgett SJ, Kleinschmidt EJ (2002a) Optimizing the Stage-Gate-Process. What Best-Practice Companies Do (II). In: Research Technology Management, Jg 45, H 6, S 43–49

Davila A, Foster G, Oyon D (2009) Accounting and Control, Entrepreneurship and Innovation.Venturing into New Research Opportunities. In: European Accounting Review, Jg 18, H 2, S 281–311

Gerpott TJ (2005) Strategisches Technologie- und Innovationsmanagement, 2. Aufl. Schäffer-Poeschel, Stuttgart

Gladen W (2003) Kennzahlen- und Berichtssysteme. Grundlagen zum Performance Measurement,2. Aufl. Gabler, Wiesbaden

Hab G, Wagner R (2004) Projektmanagement in der Automobilindustrie. Effizientes Managementvon Fahrzeugprojekten entlang der Wertschöpfungskette. Gabler, Wiesbaden

Hamilton A (2004) Handbook of Project Management Procedures. Telford, London

Hauschildt J, Salomo S (2007): Innovationsmanagement, 4. Aufl. Vahlen, München

Heesen M (2009) Innovationsportfoliomanagement. Bewertung von Innovationsprojekten in klei-nen und mittelgroßen Unternehmen der Automobilzulieferindustrie. Gabler, Wiesbaden

Hermanson RH, Edwards JD, Ivancevich SD (2006) Managerial Accounting. A Decision Focus,8. Aufl. Freeload Press, USA

Holtrup M, Littkemann J (2005) Probleme der Erfolgsevaluierung von Innovationsprojekten. In:Littkemann J (Hrsg) Innovationscontrolling. Vahlen, München, S 253–284

Horvath & Partner (2000) Balanced Scorecard umsetzen. Schäffer-Poeschel, Stuttgart

Jossé G (2005): Balanced Scorecard. Ziele und Strategien messbar umsetzen. Deutscher Taschen-buch Verlag, München

Kaplan RS, Norton DP (1996) The Balanced Scorecard. Translating Strategy into Action. HarvardBusiness Press, Boston

246 M. Bürgermeister

Kaplan RS, Norton DP (2001) The Strategy-Focused Organization. How Balanced ScorecardCompanies Thrive in the New Business Environment. Harvard Business Press, Boston

Küpper HU (2008) Controlling. Konzeption, Aufgaben und Instrumente, 5. Aufl. Schäffer-Poeschel, Stuttgart

Littkemann J (2005) Einführung in das Innovationscontrolling. In: Littkemann J (Hrsg) Innovati-onscontrolling. Vahlen, München, S 3–55

Luft J (2009) Nonfinancial Information and Accounting. A Reconsideration of Benefits and Chal-lenges. In: Accounting Horizons, Jg 23, H 3, S 307–325

Malmi T (1999) Activity-Based Costing Diffusion across Organizations. An Exploratory Empi-rical Analysis of Finnish Firms. In: Accounting, Organizations and Society, Jg 24, H 8, S 649–672

Schatten A, Demolsky M, Winkler D, Biffl S, Gostischa-Franta E, Östreicher T (2010) Best Prac-tice Software-Engineering. Eine praxiserprobte Zusammenstellung von komponentenorientiertenKonzepten, Methoden und Werkzeugen. Spektrum, Heidelberg

Schmeisser W, Mohnkopf H, Hartmann M, Metze G (Hrsg) (2010) Innovation Performance Ac-counting. Financing Decisions and Risk Assessment of Innovation Processes. Springer, Heidelbergu. a.

Staehle WH (1999) Management. Eine verhaltenswissenschaftliche Perspektive, 8. Aufl. Vahlen,München

Steinhoff F (2010) Product Innovativeness in Success Factor Research. Influencing Factor orContingency Factor. In: Schmeisser W, Mohnkopf H, Hartmann M, Metze G (Hrsg) Innovati-on Performance Accounting. Financing Decisions and Risk Assessment of Innovation Processes.Springer, Heidelberg u. a., S 3–18

Vahs D, Burmester R (2005) Innovationsmanagement. Von der Produktidee zur erfolgreichen Ver-marktung, 3. Aufl. Schäffer-Poeschel, Stuttgart

Weber J, Schäffer U (2008) Einführung in das Controlling, 12. Aufl. Schäffer-Poeschel, Stuttgart

Wouters M, Roorda B, Gal R (2011) Managing Uncertainty during R&D Projects. A Case Study.The Project Portfolio Option-Value Method Offers a Way to Assess and Manage Risk and De-monstrate Interdependency among R&D Projects. In: Research Technology Management, Jg 54,H 2, S 37–46

Autorenverzeichnis

Hans G. Bauer ist Berufs- und Arbeitssoziologe und Gesellschafter der GAB Mün-chen – Gesellschaft für Ausbildungsforschung und Berufsentwicklung. Studiumder Soziologie und der Erziehungswissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Wayne State University, Detroit/Michigan, USA. Erforscht und entwickelt u. a. in den Themenbereichen Erfahrungsgeleitetes Arbei-ten und Lernen, Lernbegleitung, Kompetenzentwicklung und -feststellung sowieerlebnispädagogische Ansätze in der Beruflichen Bildung.

Prof. Dr. Fritz Böhle ist Leiter der Forschungseinheit Sozioökonomie derArbeits- und Berufswelt an der Universität Augsburg und Vorstandsvorsitzenderdes Instituts für Sozialwissenschaftliche Forschung e.V. (ISF München). Habilita-tion für Soziologie an der Universität Bielefeld, Promotion (Dr. rer. pol.) an derUniversität Bremen und Studium der Soziologie in Verbindung mit Volkswirtschaftund Psychologie an der LMU München. Er forscht in den Gebieten Entwicklungenvon Arbeit, Verwissenschaftlichung von Arbeit und Erfahrungswissen, Grenzender Planung und Umgang mit Ungewissheit. Beteiligung an mehreren Sonderfor-schungsbereichen, u. a. SFB 536 Reflexive Modernisierung (1999–2009).

Dr. Markus Bürgermeister ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungs-einheit Sozioökonomie der Arbeits- und Berufswelt an der Universität Augsburg.Promotion in Wirtschaftswissenschaften (Dr. rer. pol.) und Studium der Betriebs-wirtschaftslehre an der Universität Augsburg, davor Ausbildung zum Versiche-rungskaufmann. Er forscht in den Gebieten Innovation, Controlling, Managementund Organisation, unter besonderer Berücksichtigung von Grenzen der Planung.

Dr. Eckhard Heidling, Wissenschaftler am Institut für SozialwissenschaftlicheForschung (ISF München e.V.). Promotion (Dr. rer. pol.) und Studium der Politi-schen Wissenschaft, Wirtschaftswissenschaft und Soziologie an der Freien Univer-sität Berlin. Davor Ausbildung zum Industriekaufmann. Forschungsaufenthalte ander Rutgers University (7/2010) und der Université Nanterre, Paris X (10/2002–7/2003). Projektleiter für die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ)

247F. Böhle et al. (Hrsg.), Innovation durch Management des Informellen,DOI 10.1007/978-3-642-24341-7,© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012

248 Autorenverzeichnis

(Algier, 1998–2001). Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen u. a. Globalisie-rung und international verteilte Arbeit sowie neue Formen kollektiver Interessen-vertretung. Beteiligung am Sonderforschungsbereich SFB 536 Reflexive Moderni-sierung.

Christiane Hemmer-Schanze ist Soziologin und wissenschaftliche Mitarbei-terin der GAB München – Gesellschaft für Ausbildungsforschung und Berufsent-wicklung. Studium der Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität Mün-chen. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehört die wissenschaftliche Begleitung undEvaluation von Modellprojekten und innovativen Ansätzen im Bereich der schuli-schen und beruflichen Bildung. Außerdem: Forschung zum Thema „Früherkennunginnovativer Tätigkeitsfelder im personennahen Dienstleistungssektor“.

Claudia Munz ist Soziologin und Gesellschafterin der GAB München – Gesell-schaft für Ausbildungsforschung und Berufsentwicklung. Studium der Soziologiean der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sie forscht und entwickelt Pra-xiskonzepte zum erfahrungsgeleiteten Arbeiten und Lernen, zum künstlerischenHandeln, zur berufsbiografischen Gestaltungsfähigkeit sowie zu innovativen berufs-pädagogischen Ansätzen.

Judith Neumer ist Arbeits- und Industriesoziologin am Institut für Sozialwis-senschaftliche Forschung (ISF München e.V.). Davor wissenschaftliche Mitarbeite-rin und Dozentin für Arbeits- und Industriesoziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Studium der Soziologie, Sozialpsychologie und Politik an derLudwig-Maximilians-Universität München. Sie forscht in den Gebieten Arbeit undInnovation, erfahrungsgeleitetes Arbeitshandeln und Entscheidungsfindung, Ver-trauen in flexiblen Unternehmen.

Karin Orle ist Arbeits- und Industriesoziologin und Geschäftsführerin der eo ip-so Konzept & Training GmbH. Studium der Soziologie, Psychologie und Betriebs-wirtschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Über zwölf Jahre Tä-tigkeit in internationalen Konzernen. Sie forscht und entwickelt Praxiskonzepte u. a.zur coachingorientierten Strategieentwicklung, zum spielerischen Handeln und zumErfahrungslernen. Unter diesem Fokus berät und begleitet sie namhafte Unterneh-men bei innovativen Konzepten der Organisations- und Personalentwicklung.

Dr. Stephanie Porschen ist Arbeits- und Industriesoziologin am Institut fürSozialwissenschaftliche Forschung e.V. (ISF München). Promotion (Dr. rer. pol.)an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Augsburg. Studiumder Soziologie, Sozialpsychologie und Betriebswirtschaftslehre an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Davor Ausbildung zur Bankkauffrau. Zu ihrenForschungsgebieten zählen u. a. Arbeit und Innovation, Austausch impliziten

Autorenverzeichnis 249

Erfahrungswissens, Vertrauen in flexiblen Unternehmen. Beteiligung am Son-derforschungsbereich SFB 536 Reflexive Modernisierung.

Jost Wagner ist Soziologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter der GAB Mün-chen – Gesellschaft für Ausbildungsforschung und Berufsentwicklung. Studium derSoziologie und Neueren Geschichte an der Technischen Universität Berlin, davorAusbildung zum Erzieher. Zu seinen Forschungsgebieten gehören u. a. BeruflicheBildung, Kompetenzentwicklung, Netzwerkprozesse, Erfahrungsgeleitetes Arbei-ten und Lernen, künstlerisches Handeln sowie innovative Ansätze und Methoden inder Bildungsarbeit.

Sachverzeichnis

AAgile Softwareentwicklung, 20Agiler Entwicklungsprozess, 123

Agile Allianz, 124Agile Methoden, 150Agilität, 124Belastung, 131, 147, 148Estimation Poker, 129, 131, 133, 145, 148,

150Scrum, 123, 125–128, 141, 145, 151, 152,

154Verschlankung des Entwicklungsprozesses,

124Ambiguitätstoleranz, 197Arbeitsalltag, 199, 201–203, 207

BBacklog, 125

Impediment Backlog, 126Product Backlog, 126, 130

CControlling von Innovation, 15, 21

EEntscheidung, 20

Laufende Arbeitsprozesse, 160, 161, 165Unsicherheit, 164

ErfahrungsgeleitetDialogisch-interaktiv, 92, 95Entscheiden, 169Erfahrungsgeleitet-subjektivierendes

Handeln, 31

Explorativ-entdeckend, 35, 95Gespür, 36, 100, 103

Erfahrungswissen, 172, 181Evaluierung, 216, 219

FFiktive Realität, 39Flow-Zustand, 173, 180

GGelegenheitsstruktur, 177Grenzen der Planung, 1, 3, 7

HHandlungsspielräume, 196, 206Hospitationsmodell, 135, 137, 138, 180

IIdentifikations- und Bewertungsmaßnahmen

Indikatorbestimmung, 223Messung, 223

Innovationsarbeit, 12, 20, 25, 26, 29, 41, 87,220, 234–236

Anforderungen, 28Definition, 29Definition der Situation, 31Erfahrungsgeleitet, 35Handlungsweise, 30Spielerisch, 37, 96Ungewissheit, 28

Innovationsbegriff, 13, 47Employee driven Innovation, 159Inkrementelle Innovation, 160

251

252 Sachverzeichnis

Innovationscontrolling, 15, 211–213Innovationsdimensionen, 46, 47Innovationseffekte, 220, 224, 228, 230, 233Innovationserlöse, 230Innovationsfinanzen, 221, 227, 229, 230, 236,

242Innovationskosten, 230Innovationsmanagement, 1, 3–5, 7, 162, 163

Formalisierung, 163Innovationsprojekt, 49, 76–79, 84, 85, 91, 108Innovationsprozess, 13, 15, 17, 19, 45, 46,

48–54, 56, 81, 212, 213Auswahl, 51, 59Durchsetzung, 51, 63Einbringung, 51, 62Entwicklung, 51, 60Forschung, 51, 59Ideenpool, 51, 58Impuls, 51, 57Produktion, 51, 61

Innovationsverständnis, 12, 13Involvement, 39

KKünstlerisch, 32

Entscheiden, 167Haltung, 118Künstler, 195, 200Kreatives Scheitern, 87, 89, 90Offenheit, 28, 33Persönlicher Ausdruck, 35

Kommunikation, 135Empraktische Kommunikation, 183Gegenstandsvermittelte Kommunikation,

142Informelle Kommunikation, 170, 178Kommunikationskultur, 117

Kompetenz, 15, 21, 200Handlungskompetenz, 190, 207Innovationskompetenz, 190, 198, 203, 207Kompetenzentwicklung, 192, 193, 197,

198, 206, 207Kontrolle, 147

Kontrollinstrumente, 149Leistungsbeurteilung, 149Machtposition, 153Selektion und Kontrolle, 147, 149

Kooperation, 104Dialogisch-interaktives Vorgehen, 120Erfinder- und Kommunikationsspiel, 122Informelle Kooperation, 128, 170Kooperationsmodell, 135

Kunde, 104Praktiker-Gemeinschaft, 179

Kooperativer Erfahrungstransfer, 129, 133

LLernen, 15, 21, 202

Beherrschungslernen, 189, 191Dialog, 194, 196Erfahrungsoffenheit, 196, 200Fehlerfreundlichkeit, 205, 206Handlungserfahrungen, 199, 200, 202Krise, 195, 206, 207Labilisierung, 193, 199, 206Lernanreiz, 204, 205Lernbedarfsanalyse, 201, 204Lernbegleiter, 201, 202, 205Lernförderliche Arbeitsgestaltung, 204Lernkultur, 191, 193, 208Lernprozessgestaltung, 198Partizipation, 202, 205Reflexion, 191, 200, 205, 206Transfer, 190, 198, 200, 203Werte, 193, 206

MMeeting, 164

Daily Stand-up Meeting, 125, 127, 133,134, 145

Diskursive Koordinierung, 164Meeting-Euphorie, 134Meetingkultur, 133Planning Meeting, 133, 145Retrospektives Meeting, 126, 133, 134,

145, 151, 152Review Meeting, 133, 145

NNetzwerk, 70

PPaarprogrammierung, 135, 136Planung, 101, 216, 239–241

Grenzen der Planung, 129Handlungsspielräume, 101

Produktion, 20, 161Produktionsarbeiter, 162

ProjektUnternehmensübergreifend, 71–73

Projektmanagement, 3, 7, 20, 75Prototyping, 138

Wachsendes Produkt, 135, 139

Sachverzeichnis 253

SSchätzung, 223Scorecard, 214

Innovation Scorecard, 218, 226Selbstorganisation, 177, 191, 192, 197, 206Situatives Projektmanagement, 77, 78, 98, 99,

110Spielerisch, 97, 109

Entscheiden, 166, 172Entspannte Spannung, 40Offenheit innerhalb gewisser Regeln, 118Unberechenbarkeit, 39Zwecklosigkeit, 38

UUngewissheit, 1, 3, 7, 144

Unvorhergesehenes, 130Unwägbarkeiten, 129

Ursache-Wirkungs-Modelle, 225

VVertrauen, 181, 184

WWissensaustausch, 20, 135, 139

Erfahrungswissen, 129, 133Informeller Wissensaustausch, 129, 136

ZZieldefinition, 130