cult. spiel der toten

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Douglas Preston / Lincoln ChildC U L T

SPIEL DER TOTEN.

Ein neuer Fall für Special Agent Pendergast

Aus dem Amerikanischen von Michael Benthack

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Lincoln Child widmet dieses Buch seinerTochter Veronica

Douglas Preston widmet dieses Buch Karen

Copeland

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»Kannst du das glauben, Bill? Ich kann’snämlich immer noch nicht. Sie haben es mir vorfast zwölf Stunden mitgeteilt, aber ich fasse esnoch immer nicht.«»Glaub’s nur, Süße.« William Smithback jr.reckte seine schlaksigen Glieder, streckte sichauf dem Sofa im Wohnzimmer aus und legteseiner Frau den Arm um die Schultern. »Gibt’snoch einen Schluck von dem Port für mich?«Nora schenkte nach. Er hielt das Glas ins Lichtund bewunderte die granatrote Farbe. Dergute Tropfen hatte ihn hundert Dollargekostet – und er war es wert. Er nippte undatmete durch die Nase aus. »Du bist der neueStar im Museum. Wart’s ab. In fünf Jahrenmachen die dich zur Dekanin dernaturwissenschaftlichen Abteilung.«»Werd nicht albern.«

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»Nora, in drei aufeinanderfolgenden Jahrenwurde der Etat gekürzt, und trotzdem hat mandeiner Forschungsreise grünes Licht gegeben.Dein neuer Chef ist doch kein Trottel.«Smithback schmiegte sein Gesicht an NorasHaar. Obwohl sie nun schon so langeverheiratet waren, fand er den Geruch – eineSpur Zimt, ein Hauch Wacholder – jedes Malaufs Neue erregend.»Stell dir mal vor, wir wären im kommendenSommer wieder in Utah bei einer Ausgrabung!Das heißt, wenn du dir zu der Zeit freinehmenkannst.«»Mir stehen für dieses Jahr noch vier WochenUrlaub zu. Ich werde den Leuten bei der Timeszwar wahnsinnig fehlen, aber dann müssen sieeben ohne mich klarkommen.« Er trank nocheinen Schluck und schwenkte den Portwein imMund. »Mit Nora Kelly auf Expedition Nummerdrei gehen. Du hättest mir kein schöneresGeschenk zum Hochzeitstag machen können.«Nora blickte ihn ironisch an. »Ich dachteeigentlich, du hättest mir das Abendessen

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heute geschenkt.«»Stimmt. Das war mein Geschenk.«»Und es war perfekt. Danke.«Smithback erwiderte ihr Zwinkern. Er hatteNora in sein Lieblingsrestaurant eingeladen,das Café des Artistes in der West 67. Straße. Esgab kein besseres Lokal für ein romantischesDinner: die sanfte, verführerische Beleuchtung,die gemütlichen Polsterbänke, die pikantenGemälde von Howard Chandler Christy an denWänden und schließlich, als Krönung von allem,die exquisiten Speisen.Er merkte, dass Nora ihn ansah. In ihren Augenund in dem schlauen Lächeln lag einVersprechen, dass er sich auf noch einGeschenk zum Hochzeitstag freuen könne. Erküsste sie auf die Wange und zog sie enger ansich.Sie seufzte. »Sie haben mir jeden Pennybewilligt, um den ich gebeten habe.«Smithback murmelte eine Antwort. Er war’szufrieden, mit seiner Frau zu schmusen und dasMenü, das er vorhin verzehrt hatte, Revue

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passieren zu lassen. Als Aperitif hatte er sichfür zwei steife Martinis entschieden, alsVorspeise für den Charcuterie-Teller. AlsHauptgang konnte er dann dem Steakbéarnaise nicht widerstehen, medium gebraten,mit Pommes frites und einer großen PortionRahmspinat. Wobei er sich anschließendnatürlich auch noch ordentlich bei NorasRehrücken bedient hatte …»Begreifst du eigentlich, was das bedeutet? Ichkönnte meine Untersuchungen zur Verbreitungdes Kachina-Kults im Südwesten abschließen.«»Das wäre phantastisch.« Zum Dessert hatte esSchokoladen-Fondue für zwei gegeben und zumAbschluss verschiedene herrlich stinkigefranzösische Käsesorten. Smithback ließ diefreie Hand leicht auf seinem Bauch ruhen.Auch Nora verfiel in Schweigen, und so bliebensie eine Weile ruhig liegen, zufrieden, dieGegenwart des anderen zu genießen.Smithback warf seiner Frau einen verstohlenenBlick zu. Ein Gefühl des Behagens breitete sichüber ihm aus wie eine Decke. Er war kein

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religiöser Mensch, eigentlich nicht, und dochempfand er es als Segen Gottes, hier zu sein, indieser schicken Wohnung in der großartigstenStadt der Welt, und genau den Job zu haben,von dem er immer geträumt hatte. Und in Norahatte er nicht weniger als die perfektePartnerin gefunden. In den Jahren seit ihremersten Kennenlernen hatten sie viel gemeinsamdurchgemacht, aber die Schwierigkeiten undGefahren hatten sie einander nur noch nähergebracht. Nora war nicht nur schön und grazil,hatte nicht nur einen lukrativen Job, der ihrSpaß machte, und war gefeit gegen Nörgeleien,dazu einfühlsam und intelligent, sie hatte sichauch als ideale Seelengefährtin entpuppt. Undals er sie so ansah, musste er unwillkürlichlächeln. Nora war ganz einfach zu gut, um wahrzu sein.Sie regte sich. »Ich darf es mir nicht allzugemütlich machen. Jedenfalls noch nicht.«»Wieso denn nicht?«Sie löste sich von ihm und ging in die Küche, umihre Handtasche zu holen. »Weil ich noch etwas

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besorgen muss.«Er sah verdutzt drein. »So spät noch?«»Ich bin in zehn Minuten wieder da.« Sie kehrtezum Sofa zurück und beugte sich über ihn,strich ihm die Haare aus der Stirn und gab ihmeinen Kuss. »Rühr dich ja nicht vom Fleck, meingroßer Junge«, sagte sie leise.»Machst du Witze? Ich bin der Fels vonGibraltar.«Sie lächelte, strich ihm noch einmal übers Haarund ging dann Richtung Wohnungstür.»Gib auf dich acht«, rief er ihr hinterher. »Denkan die merkwürdigen Päckchen, die wirbekommen haben.«»Keine Sorge. Ich bin ein großes Mädchen.«Kurz darauf fiel die Tür hinter ihr ins Schloss.Smithback verschränkte die Hände hintermKopf und streckte sich seufzend auf dem Sofaaus. Er hörte, wie Noras Schritte auf dem Flurverhallten, dann das Klingeln des Aufzugs.Schließlich war alles still bis auf das leiseBrausen des Stadtverkehrs draußen.Er konnte sich schon denken, wohin sie

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gegangen war – zur Patisserie an der Ecke. Diehatte bis Mitternacht geöffnet, und dort gab esseine Lieblingstorten. Eine besondere Vorliebehatte Smithback für die praline génoise mitCalvados-Buttercreme. Mit etwas Glück hatteNora zur Feier des heutigen Tages genaudiesen Kuchen bestellt.Und so lag er auf dem Sofa in dem schwacherleuchteten Apartment und lauschte denGeräuschen Manhattans. Die Cocktails, die ergetrunken hatte, verlangsamten seineDenkvorgänge ein klein bisschen. Ihm fiel eineZeile aus einer Kurzgeschichte von JamesThurber ein: auf eine schläfrige, umnebelteWeise glücklich und zufrieden. Er hatte schonimmer eine fraglose, völlig unkritischeZuneigung zu den Texten seinesJournalistenkollegen und Schriftstellers JamesThurber empfunden. Wie auch für dieGeschichten von Robert E. Howard, dergroßartige Schundromane geschrieben hatte.Der eine, fand Smithback, hatte sich immer zusehr bemüht, der andere zu wenig.

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Aus irgendeinem Grund kehrten seineGedanken zu jenem Sommertag zurück, an demer Nora kennengelernt hatte. Die vielenErinnerungen tauchten wieder auf: Arizona,Lake Powell, der heiße Parkplatz, die großeLimousine, in der er eingetroffen war. Erschüttelte den Kopf und lächelte. Nora Kellywar ihm zunächst wie eine ziemliche Zickevorgekommen, eine frischgebackene Dr. phil.mit Komplexen. Andererseits hatte auch erkeinen besonders guten Eindruck gemacht undsich wie ein Vollidiot aufgeführt, das stand malfest. Doch das lag jetzt vier Jahre zurück, oderfünf … Herrje, war die Zeit wirklich so schnellvergangen?Von draußen vor der Wohnungstür war einScharren zu hören, dann das Kratzen einesSchlüssels im Schloss. Nora? Schon zurück?Er wartete darauf, dass sich die Tür öffnete,aber stattdessen kratzte der Schlüssel nocheinmal, als habe Nora Schwierigkeiten mit demSchloss. Vielleicht balancierte sie ja einenKuchen auf dem Arm. Er wollte gerade

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aufstehen, um ihr zu öffnen, als die Türplötzlich knarrend aufging und im EingangsflurSchritte zu hören waren.»Wie versprochen, ich bin immer noch da«, riefer. »Mr. Gibraltar persönlich.«Er hörte noch einen Schritt. Irgendwie klangdas aber nicht nach Nora. Er war zu langsamund schwer und hörte sich irgendwiewatschelnd, unsicher an.Smithback setzte sich auf dem Sofa auf. In derkleinen Diele zeichnete sich undeutlich eineGestalt ab, erhellt vom Licht aus demdahinterliegenden Korridor außerhalb derWohnung. Die Gestalt war so groß undbreitschultrig, dass es sich unmöglich um Norahandeln konnte.»Wer zum Teufel sind Sie?«, rief Smithback.Rasch griff er nach der Lampe auf demBeistelltisch neben sich und knipste sie an. Ererkannte die Person fast auf Anhieb. Odermeinte doch, sie zu erkennen – aberirgendetwas stimmte mit dem Gesicht nicht. Eswar aschfahl, aufgedunsen, fast breiig. Es

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war aschfahl, aufgedunsen, fast breiig. Eswirkte krank … oder Schlimmeres.»Colin?«, rief Smithback. »Sind Sie’s? Was zumTeufel machen Sie in meiner Wohnung?«In diesem Augenblick sah er dasSchlachtermesser.Sofort sprang er auf. Die Gestalt schlurfte einpaar Schritte näher und versperrte ihm denWeg. Ein kurzer, furchtbarer Moment desStillstands. Dann stach das Messer zu, mitfurchterregender Geschwindigkeit sauste esdurch die Luft, dorthin, wo Smithback vorweniger als einer Sekunde noch gestandenhatte.»Was zum Teufel … ?«, brüllte Smithback.Wieder stach das Messer zu. Verzweifeltversuchte er, dem Hieb auszuweichen, fiel überden Beistelltisch und stieß ihn dabei um. Errappelte sich auf und schaute seinem Angreifermitten ins Gesicht – tief in der Hocke, die Händeabwehrend geöffnet, die Finger gespreizt undbereit. Rasch blickte er sich nach einer Waffeum. Nichts. Der Kerl stand zwischen ihm und

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der Küche. Wenn er an ihm vorbeikam, könnteer sich ein Messer schnappen undWaffengleichheit herstellen.Er zog leicht den Kopf ein, hielt einen Ellbogennach vorn und griff an. Der Mann taumelteunter der Attacke zwar nach hinten, aber imletzten Augenblick zuckte die Hand mit demMesser nach vorn und schlitzte Smithback denArm auf, eine tiefe Wunde vom Ellbogen bis zurSchulter. Vor Überraschung und Schmerzschrie Smithback auf und drehte sich zu einerSeite weg – und empfand gleichzeitig einenextrem kalten Schmerz, als ihm das Messer tiefins Kreuz gerammt wurde.Die Klinge schien endlos in ihn einzudringenund seine innersten Organe zu treffen, so dassihn ein Schmerz durchzuckte, wie er ihn ähnlichnur einmal im Leben verspürt hatte. Smithbackkeuchte auf, stürzte zu Boden und versuchte zufliehen. Er spürte, wie das Messer aus ihmherausgezogen, dann wieder hineingestoßenwurde. Plötzlich war da etwas Feuchtes aufseinem Rücken, als ob ihn jemand mit warmem

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Wasser übergießen würde.Er mobilisierte all seine Kräfte und rappeltesich auf. Mit dem Mut der Verzweiflung ging erauf seinen Angreifer los und schlug mit denblanken Fäusten auf ihn ein. Wieder undwieder zerschnitt das Messer SmithbacksHandknöchel, aber das spürte er schon nichtmehr. Unter seinem wütenden Angriff taumelteder Mann nach hinten. Das war seine Chance!Blitzartig machte er kehrt, in der Absicht, sichin die Küche zurückzuziehen. Aber es kam ihmvor, als ob der Fußboden aus derWaagerechten kippte, außerdem verspürte erinzwischen bei jedem Atemzug einmerkwürdiges Brodeln in der Brust. Er wanktein die Küche. Keuchend und um seinGleichgewicht ringend tastete er mit feuchtenHänden nach der Schublade mit denKüchenmessern. Aber noch während er sieaufzog, sah er einen Schatten auf denKüchentresen fallen … und dann traf ihnnochmals ein furchtbar tiefer Messerstich,diesmal zwischen den Schulterblättern. Er

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versuchte sich fortzudrehen, aber immerwieder stieß das Messer zu, hob und senktesich, bis die karmesinrote Klinge immerundeutlicher und es rings um ihn dunkel wurde…So hebt mich auf den Scheiterhaufen – allesvergangen, getan; das Fest ist vorbei, und alleLichter aus fortan … Die Fahrstuhltüren glitten auseinander. Noratrat hinaus in den Flur. Sie hatte sich beeilt,und mit ein wenig Glück würde Bill noch aufdem Sofa liegen, vielleicht den Roman vonThackeray lesen, von dem er ihr schon dieganze Woche vorgeschwärmt hatte. Behutsambalancierte sie den Kuchen-Karton auf derHandfläche, während sie mit der anderen Handnach dem Wohnungsschlüssel suchte. Bill hattebestimmt schon erraten, wohin sie gegangenwar, aber es war eben schwer, den Partner amersten Hochzeitstag zu überraschen …Irgendetwas stimmte nicht. Sie war so inGedanken versunken, dass ihr erst nach einem

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Moment klar wurde, was sie störte: DieWohnungstür stand sperrangelweit offen.Jemand kam aus der Wohnung. Nora kannteden Mann. Seine Kleidung war blutdurchtränkt,in der Hand hielt er ein großes Messer. Undwährend er stehen blieb und zu ihr hinblickte,tropfte von seinem Messer Blut auf den Boden.Instinktiv und ohne nachzudenken ließ Noraden Kuchen-Karton und den Schlüssel fallenund stürzte sich auf ihn. Gleichzeitig kamenNachbarn aus ihren Wohnungen, riefen vorAngst und Schrecken laut durcheinander. Alssie auf den Mann losging, hob dieser dasMesser, aber sie schlug seine Hand weg undversetzte ihm einen Schlag in den Solarplexus.Er holte aus und schleuderte sie gegen diegegenüberliegende Wand des Flurs, so dass siemit dem Kopf auf den harten Verputz prallte.Nora sank zu Boden und sah nur nochSternchen. Mit erhobenem Messer schlurfte erauf sie zu. Sie wich der Klinge aus, mit der ervon oben auf sie einstechen wollte, dannversetzte er ihr einen brutalen Fußtritt gegen

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den Kopf und holte nochmals mit dem Messeraus. Schreie hallten auf dem Korridor wider.Doch Nora hörte sie nicht. Sie konnte nichtsmehr erkennen, sondern sah nur nochverschwommene Bilder. Und dannverschwanden auch die.

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Lieutenant Vincent D’Agosta stand in demproppevollen Korridor vor der Tür zurZweizimmerwohnung von Nora Kelly und BillSmithback. Er zuckte in seinem braunen Anzugmit den Schultern und versuchte, die feuchtenArme von seinem Polyesterhemd zu lösen. Erwar sehr zornig, was aber gar nicht gut war. Eswürde nur seine Ermittlungen beeinflussen undihn daran hindern, alles genau unter die Lupezu nehmen.Er holte tief Luft und stieß sie wieder aus, umseine Wut vielleicht auf diese Weiseloszuwerden.Die Wohnungstür ging auf. Ein hagerer,gebeugter Mann mit einem kleinenHaarbüschel auf der Glatze trat aus derWohnung. Er schleppte einen Sack mitGerätschaften und schob einen auf einem

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Kofferkuli festgezurrten Aluminiumkoffer vorsich her. »Wir sind fertig, Lieutenant.« DerMann schnappte sich von einem anderenBeamten ein Klemmbrett und meldete sich ab,sein Assistent ebenso.D’Agosta schaute auf die Uhr: 15 Uhr. DieLeute von der Spurensicherung hatten langegebraucht. Sie waren besonders sorgfältigvorgegangen. Ihnen war klar, dass er undSmithback sich schon lange kannten. Esärgerte ihn, dass sie sich mit gesenktem Kopfan ihm vorbeistahlen, ihn von der Seite ansahenund sich fragten, wie er mit der Sache wohlfertig werden würde. Ob er den Fall abgebenwürde. Viele Detectives im Morddezernatwürden das tun – und sei es nur deshalb, weiles im Gerichtssaal zu Fragen kommen würde.Es machte nämlich gar keinen guten Eindruck,wenn die Verteidigung einen in denZeugenstand rief und fragte: »Der Verstorbenewar ein Freund von Ihnen? Also finden Sienicht, dass das ein ziemlich interessanter Zufallist?« Auf derlei Komplikationen sollte man in

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Gerichtsverfahren tunlichst verzichten,außerdem konnte kein Bezirksstaatsanwalt esausstehen, wenn sich so etwas ergab.Aber D’Agosta dachte nicht daran, diesenMordfall abzugeben. Niemals. Außerdem wardie Sache glasklar. Der Täter war so gut wieverurteilt, sie hatten ihn praktisch auf frischerTat ertappt. Jetzt mussten sie den Dreckskerlnur noch finden.Der letzte Mitarbeiter desSpurensicherungsteams kam aus der Wohnungund checkte aus. D’Agosta blieb allein mitseinen Gedanken zurück. Eine Minute langstand er auf dem inzwischen menschenleerenFlur und bemühte sich, seine angespanntenNerven zu beruhigen. Dann streifte er ein PaarLatexhandschuhe über, zog das Haarnetz überseine beginnende Glatze und ging zur offenenWohnungstür. Ihm war leicht übel. Die Leichewar natürlich abtransportiert worden, abersonst hatte man nichts angerührt. Dort, wo derEingangsflur im rechten Winkel abbog, warenein schmaler Streifen des dahinterliegenden

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Zimmers und eine Blutlache zu erkennen,zudem blutige Fußabdrücke und der Abdruckeiner Hand, die an der cremefarbenen Wandhinuntergezogen worden war.D’Agosta machte einen behutsamen Schrittüber die Blutlache und blieb vor demWohnzimmer stehen. Ledersofa, zwei Sessel,umgestürzter Beistelltisch, weitere Blutfleckenauf dem Perserteppich. Er ging langsam bis zurZimmermitte, wobei er ganz vorsichtig mitseinen Schuhen mit den Kreppsohlen auftrat,blieb stehen, drehte sich um und versuchte,sich das Tatgeschehen zu vergegenwärtigen.D’Agosta hatte das Team gebeten,umfangreiche Proben der Blutflecken zunehmen; es gab da überlappende Muster vonBlutspritzern, die er abklären wollte,Fußabdrücke, die sich durchs Blut zogen,übereinanderliegende Abdrücke von Händen.Smithback hatte sich wie ein Löwe gewehrt;ausgeschlossen, dass der Täter geflohen war,ohne DNA-Spuren hinterlassen zu haben.Auf den ersten Blick handelte es sich um ein

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simples Verbrechen, einen schlecht geplanten,schmutzigen Mord. Der Täter hatte sich miteinem Hauptschlüssel Zutritt zur Wohnungverschafft. Smithback hielt sich im Wohnzimmerauf. Der Mörder stach auf Smithback ein, wasdiesen sofort stark in die Defensive drängte.Dann hatten Täter und Opfer gekämpft. DerKampf hatte sich in der Küche fortgesetzt –Smithback hatte versucht, sich zu bewaffnen:Die Messer-Schublade stand halb offen, amGriff und auf dem Küchentresen befanden sichblutige Abdrücke von Händen. Er hatte sichaber kein Messer schnappen können; verdammtschade. Hatte währenddessen einenMesserstich in den Rücken bekommen. Dannhatten sie noch einmal gekämpft. Inzwischenmusste Smithback ziemlich übel verletztgewesen sein, überall auf dem Boden warenBlut und Rutschflecken von nackten Füßen.Aber D’Agosta war sich ziemlich sicher, dassauch der Täter mittlerweile blutete. Blutete,Haare und Fasern verlor, keuchte undschnaufte vor Anstrengung, vielleicht Speichel

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und Schleim verspritzte. Es war alles da, und erwar überzeugt davon, dass dasSpurensicherungsteam nichts übersehen hatte.Die hatten sogar mehrere Dielenbretterausgesägt und mitgenommen, darunter auchmehrere mit Messerspuren. Sie hatten Stückeaus der Trockenbauwand herausgeschnitten,Fingerabdrücke von allen Oberflächengenommen, jede Faser eingesammelt, die siefinden konnten, jede Fluse und jedes FitzelchenSchmutz.D’Agosta ließ den Blick weiter durch dasZimmer schweifen, während in seinem Kopf derFilm über das Verbrechen weiter ablief.Schließlich hatte Smithback sehr viel Blutverloren und war so weit geschwächt gewesen,dass der Mörder ihm den Todesstoß versetzenkonnte. Laut Aussage des Pathologen war dasMesser mitten durchs Herz gestoßen wordenund hatte sich mehr als einen Zentimeter tief inden Fußboden gebohrt. Der Täter hatte es, umes herauszuziehen, so heftig gedreht, dass dasHolz gesplittert war. D’Agosta merkte, dass er

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wieder eine ungeheure Wut und Trauerempfand. Auch dieses Dielenbrett warherausgesägt worden.Nicht, dass all die Aufmerksamkeit für Detailseinen großen Unterschied machte – sie wusstenja schon, wer der Täter war. Es konnte dennochnie schaden, Beweismittel anzuhäufen. Manwusste ja nie, mit was für Geschworenen manes in dieser verrückten Stadt zu tun habenwürde.Und dann war da noch dieser bizarre Krempel,den der Mörder zurückgelassen hatte. Einzermanschtes Gebinde aus Federn, verschnürtmit grünem Bindfaden. Ein Kleidungsstück,bestickt mit knallbunten Pailletten. Ein kleinesBeutelchen aus Backpapier mit einermerkwürdigen Zeichnung darauf. Der Mörderhatte das alles in die Blutlache gelegt wieOpfergaben. Die Jungs von derSpurensicherung hatten die Sachen zwar allemitgenommen, aber sie standen D’Agosta nochdeutlich vor Augen.Eine Sache hatten die Spurensicherungsleute

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allerdings nicht mitnehmen können: das eilighingekritzelte Bild an der Wand. ZweiSchlangen, die sich um irgendeinmerkwürdiges, stacheliges, pflanzenähnlichesEtwas wanden, dazu Sterne, Pfeile, komplizierteLinien und ein Wort, das aussah wie»Dambala«. Das Bild war ohne Zweifel mitSmithbacks Blut gemalt worden.D’Agosta ging in das Schlafzimmer und nahmdas Bett in Augenschein, die Kommode, denSpiegel, das Fenster mit Blick nach Südostenauf die West End Avenue, den Teppich, dieWände, die Decke. Am gegenüberliegendenEnde des Zimmers befand sich ein zweites Bad,die Tür war verschlossen.Aus dem Bad drang ein Geräusch: derWasserhahn, der auf- und zugedreht wurde.Jemand von der Spurensicherung befand sichalso noch in der Wohnung. D’Agosta ging mitlangen Schritten hin, packte den Türgriff undstellte fest, dass die Tür abgeschlossen war.»He, Sie da drin! Was machen Sie da?«»Nur einen Moment«, ließ sich eine gedämpfte

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Stimme vernehmen.D’Agostas Erstaunen verwandelte sich inVerärgerung. Der Idiot war auf die Toilettegegangen. Und das an einem versiegeltenTatort. Irre. Unfassbar.»Machen Sie die Tür auf, mein Freund. Sofort.«Die Tür sprang auf – und vor ihm stand SpecialAgent A. X. L. Pendergast, Reagenzgläser ineinem kleinen Gestell in der einen Hand,Pinzette in der anderen, eine Juwelierlupe aneinem Stirnband auf dem Kopf.»Vincent«, begann er in seinem vertrauten,seidenweichen Tonfall. »Es tut mir so leid, dasswir uns unter solch unglücklichen Umständenwiedersehen.«D’Agosta starrte ihn entgeistert an.»Pendergast – ich hatte ja keine Ahnung, dassSie wieder in der Stadt sind.«Pendergast steckte die Pinzette geschickt einund legte das Gestell mit den Reagenzgläsern,dann die Lupe in seine altmodische Arzttasche.»Der Mörder war weder hier drin noch imSchlafzimmer. Eine recht offensichtliche

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Schlafzimmer. Eine recht offensichtlicheSchlussfolgerung, aber ich wollte sichergehen.«»Ist das jetzt ein Fall für das FBI?«, fragteD’Agosta und folgte Pendergast durch dasSchlafzimmer ins Wohnzimmer.»Streng genommen nicht.«»Dann arbeiten Sie also wieder frei?«»So könnte man das ausdrücken. Ich würde esallerdings sehr begrüßen, wenn wir meineBeteiligung vorerst für uns behielten.« Erdrehte sich um. »Ihre Meinung, Vincent?«D’Agosta legte seine Rekonstruktion desVerbrechens dar, während Pendergastzustimmend nickte. »Nicht, dass das einengroßen Unterschied macht«, fasste D’Agostazusammen. »Wir wissen ja bereits, wer derDreckskerl ist. Wir müssen ihn nur nochfinden.«Pendergast hob fragend die Brauen.»Er wohnt hier im Haus. Wir haben zweiAugenzeugen, die den Täter gesehen haben,als er das Gebäude betreten, und zwei, als er esverlassen hat, von oben bis unten mit Blut

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besudelt, ein Messer in der Hand. Er hat NoraKelly attackiert, als er die Wohnung verließ –hat es versucht, sollte ich sagen, aber derKampf hat die Nachbarn alarmiert, und da ist ergeflüchtet. Sie haben ihn genau erkannt, dieNachbarn, meine ich. Nora liegt im Moment imKrankenhaus – eine kleineGehirnerschütterung, es dürfte ihr aber gutgehen. Na ja, den Umständen entsprechendgut.«Pendergast nickte kurz.»Der Arsch heißt Fearing. Colin Fearing.Arbeitsloser britischer Schauspieler. Apartmentzwei-eins-vier. Er hat Nora ein paarmal in derLobby belästigt. Für mich sieht das nach einerVergewaltigung aus, die außer Kontrollegeraten ist. Fearing hatte vermutlich gehofft,Nora allein in der Wohnung anzutreffen, aberstattdessen war Smithback da. Kann sein, dasser den Schlüssel aus dem Schlüsselschrank desHausmeisters entwendet hat. Ich lasse dasgerade von einem Beamten überprüfen.«Diesmal nickte Pendergast allerdings nicht

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bestätigend. Nur der üblicheundurchdringliche Ausdruck lag in seinentiefliegenden, blassblauen Augen.»Wie auch immer, der Fall ist glasklar«, sagteD’Agosta, der sich trotzdem irgendwie in dieDefensive gedrängt fühlte. »Nicht nur Nora hatihn identifiziert. Er ist auf den Videobändernder Security des Gebäudes zu sehen, eineoscarreife Darstellung. Kommt rein und gehtraus. Von dem Moment, als er das Gebäudeverließ, haben wir eine Frontalaufnahme, wieer, Messer in der Hand, von oben bis unten mitBlut besudelt, seinen bedauernswerten Hinterndurch die Lobby schleppt, den Doormanbedroht und dann abhaut. Wird bei denGeschworenen einen klasse Eindruckhinterlassen. Da kann sich der Dreckskerl nichtrausreden.«»Ein glasklarer Fall, sagten Sie?«Wieder hörte D’Agosta einen leisen Zweifel inPendergasts Stimme. »Ja«, sagte er bestimmt.»Glasklar.« Er sah auf die Uhr. »Der Doormanwird im Moment befragt, meine Leute warten

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auf mich. Er wird einen fabelhaften Zeugenabgeben, ein verlässlicher, soliderFamilienvater, der den Täter seit Jahrenkannte. Möchten Sie ihm irgendwelche Fragenstellen, bevor wir ihn nach Hause schicken?«»Mit dem größten Vergnügen. Aber bevor wirnach unten gehen …« Pendergast unterbrachsich. Mit seinen spinnedünnen weißen Fingerngriff er in die Brusttasche seines schwarzenAnzugs und zog ein gefaltetes Dokumenthervor. Mit eleganter, knapper Handbewegunghielt er es D’Agosta hin.»Was ist das?« D’Agosta nahm das Schriftstückentgegen, faltete es auseinander undbetrachtete den roten notariellen Stempel, dasGroße Siegel der Stadt New York, den edlenDruck, die Unterschriften.»Colin Fearings Sterbeurkunde. Vor zehnTagen unterschrieben und datiert.«

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Gefolgt von der etwas gespenstischenErscheinung Pendergasts betrat D’Agosta daskleine Security-Kabuff des Gebäudes 666 WestEnd Avenue. Der Doorman, ein rundlicher Herraus der Dominikanischen Republik namensEnrico Mosquea, saß mit gespreizten Beinenauf einem Metallhocker. Er trug einenschmalen Schnurrbart und eine gekräuselteMarcel-Welle zur Schau. Bei ihrem Eintrittsprang er erstaunlich behende auf.»Sie diesen Sohn einer Hure finden«, sagte erleidenschaftlich. »Sie ihn finden.Mr. Smithback, er ein guter Mensch. Ich sageIhnen …«D’Agosta legte sanft eine Hand auf die adrettebraune Uniform des Mannes. »Das hier istSpecial Agent Pendergast vom FBI. Er wird unshelfen.«

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Er musterte Pendergast. »Gut. Sehr gut.«D’Agosta holte tief Luft. Er hatte noch nichtganz begriffen, was das Dokument, dasPendergast ihm gezeigt hatte, bedeutete.Vielleicht hatten sie es hier ja mit einemZwilling zu tun. Möglicherweise gab es zweiColin Fearings. New York war eine große Stadt,und die Hälfte der Briten in der Stadt hieß mitVornamen offenbar Colin. Womöglich war demRechtsmedizinischen Institut ein furchtbarerFehler unterlaufen.»Ich weiß, Sie haben schon sehr viele Fragenbeantwortet, Mr. Mosquea«, fuhr D’Agosta fort,»aber Agent Pendergast hat noch ein paar.«»Keine Schwierigkeit. Ich beantworte Fragenzehn-, zwanzigmal, wenn hilft, diesen Sohneiner Hure zu schnappen.«D’Agosta zog ein Notizbuch hervor. Tatsächlichaber wollte er, dass Pendergast hörte, wasMosquea zu sagen hatte. Der Mann war einabsolut glaubwürdiger Zeuge.Leise sagte Pendergast: »Mr. Mosquea,beschreiben Sie doch bitte einmal, was Sie

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gesehen haben. Von Anfang an.«»Dieser Mann, Fearing, er kommt gerade an,als ich jemand zu Taxi bringe. Ich habegesehen, wie er das Gebäude betreten. Er sahnicht besonders gut aus – als ob er sichgeprügelt hätte. Das Gesicht geschwollen,vielleicht ein blaues Auge. Das Gesicht voneiner komischen Farbe, zu blass. Er auchirgendwie komisch gegangen. Langsam.«»Wann hatten Sie ihn das letzte Mal gesehen –vor diesem Mal?«»Vielleicht zwei Wochen. Ich glaube, er warenverreist.«»Fahren Sie fort.«»Er gehen also an mir vorbei in den Fahrstuhl.Ein bisschen später kommen Mrs. Kelly zurückins Gebäude. Vielleicht fünf Minuten vergehen.Dann er kommt wieder heraus. Unglaublich. Istvon oben bis unten mit Blut beschmiert, hält einMesser in der Hand, taumelt, als ob verletzt.«Mosquea machte eine kurze Pause. »Ichversuche, ihn zu packen, aber er gehen mitMesser auf mich los, dann er sich umdrehen

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und rennt davon. Ich Polizei rufen.«Pendergast strich sich mit seinerelfenbeinfarbenen Hand übers Kinn. »Ich stellemir vor, dass Sie, als Sie die Person zum Taxibrachten – als Fearing das Gebäude betrat –,einen flüchtigen Blick auf ihn erhaschenkonnten.«»Ich einen langen, langen Blick erhaschen.Nicht flüchtig. Wie ich gesagt haben, er istlangsam gegangen.«»Sie sagten, sein Gesicht sei geschwollengewesen. Könnte es sich um jemand anderengehandelt haben?«»Fearing wohnen hier seit sechs Jahren. Ichöffnen dem Sohn einer Hure drei-, viermal amTag die Tür.«Pendergast hielt kurz inne. »Und dann, als erdas Gebäude wieder verließ, war sein Gesichtblutverschmiert?«»Nicht Gesicht. Kein Blut in Gesicht, odervielleicht nur ein bisschen. Blut überall anHänden, Kleidern. Messer.«Pendergast schwieg einen Augenblick. Dann

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sagte er: »Und wenn ich Ihnen nun sage, dassColin Fearings Leichnam vor zehn Tagen imHarlem River gefunden wurde?«Mosquea kniff die Augen zusammen. »Dann ichwürden sagen, Sie irren sich!«»Ich fürchte, dem ist nicht so, Mr. Mosquea. DieLeiche wurde identifiziert, eine Autopsie wurdevorgenommen, alles.«Mosquea, einen Meter sechzig groß, recktesich, seine Stimme klang ernst und würdevoll:»Wenn Sie mir nicht glauben, dann bitten ichSie: Sehen Sie sich Video an. Der Mann auf demBand ist Colin Fearing.« Er hielt inne undschaute Pendergast herausfordernd an.»Irgendeine Leiche in Fluss mich nichtinteressieren. Der Mörder ist Colin Fearing. Ichweiß.«»Haben Sie vielen Dank, Mr. Mosquea«, sagtePendergast.D’Agosta räusperte sich. »Wenn wir nocheinmal mit Ihnen sprechen müssen, lasse ich esSie wissen.«Mosquea nickte, betrachtete Pendergast jedoch

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auch weiterhin mit Skepsis. »Der Mörder istColin Fearing. Sie den Sohn einer Hure finden.« Als Pendergast und D’Agosta auf die West EndAvenue hinaustraten, erfrischte die kühleOktoberluft sie nach der stickigen Enge in derWohnung. Pendergast deutete auf einen Rolls-Royce Silver Wraith, Baujahr 59, der mitlaufendem Motor am Randstein parkte.D’Agosta sah den kräftigen Umriss von Proctor,Pendergasts Chauffeur, auf dem Fahrersitz.»Soll ich Sie in die Stadt mitnehmen?«»Sehr gern. Es ist schon halb vier, ich musswahrscheinlich bis tief in die Nacht arbeiten.«D’Agosta stieg in den Rolls-Royce, in dem esangenehm nach Leder duftete; Pendergastsetzte sich neben ihn. »Sehen wir uns mal dasSecurity-Band an.« Er drückte einen Knopf inder Armlehne, und aus dem Wagenhimmelschwenkte ein LCD-Bildschirm.D’Agosta holte eine DVD aus seinerAktentasche. »Hier, das ist eine Kopie. DasOriginal ist schon auf dem Präsidium.«

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Pendergast schob die DVD ins Laufwerk. Kurzdarauf war die im Weitwinkel aufgenommeneLobby des Gebäudes 666 West End Avenue aufdem Bildschirm zu sehen, dasFischaugenobjektiv deckte den Bereich vomFahrstuhl bis zur Eingangstür ab. Ein kleinesInsert in der Ecke zeigte die ablaufendenSekunden. D’Agosta sah sich – wohl zumzehnten Mal – an, wie der Doorman mit einemder Bewohner das Gebäude verließ, umoffensichtlich ein Taxi herbeizuwinken.Während der Doorman draußen war, drückteeine Gestalt die Eingangstür auf und betrat dasGebäude. Die Art und Weise, wie der Mannging, hatte etwas unaussprechlich Gruseliges –merkwürdig wankend, als hätte er fast keinenHalt, mit schweren Schritten, aber ohne diegeringste Spur von Eile. Er sah einmal kurz zurÜberwachungskamera hoch, mit glasigen,scheinbar blicklosen Augen. Er trug einbizarres Outfit: ein knallbuntes, mit Paillettenbesetztes Kleidungsstück, das er über demHemd trug, mit einem farbenfrohen Besatz aus

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rotem Stoff voller Schnörkel, Herzen undrasselförmiger Knochen. Das Gesicht wirkteaufgedunsen und missgestaltet.Pendergast spulte die Aufnahme vor, bis eineweitere Person ins Blickfeld derÜberwachungskamera kam: Nora Kelly, einenKuchen-Karton tragend. Sie ging zum Fahrstuhlund verschwand wieder. Erneutes Vorspulen,dann wankte Fearing, plötzlich völlig außerFassung, aus dem Fahrstuhl. Jetzt war seineKleidung zerrissen und mit Blut beschmiert, dierechte Hand packte ein großes, etwa 25Zentimeter langes Messer. Der Doorman tratauf ihn zu und versuchte, ihn festzuhalten;Fearing ging mit dem Messer auf ihn los,watschelte durch die doppelflügelige Tür undverschwand im Dunkel.»Dieses Schwein«, sagte D’Agosta. »Ich würdeihm am liebsten die Eier abschneiden und ihmauf Toast servieren.«Er sah zu Pendergast hinüber. Aber der schientief in Gedanken versunken zu sein.»Sie müssen zugeben, dass das Video ziemlich

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eindeutig ist. Sind Sie sicher, dass es sich beider Leiche im Harlem River um Fearinghandelt?«»Seine Schwester hat den Toten identifiziert.Die Leiche wies mehrere Muttermale auf,Tätowierungen, die das bestätigen. Der für denFall zuständige Rechtsmediziner ist verlässlich,wenngleich ein bisschen schwierig.«»Wie ist Fearing gestorben?«»Selbstmord.«D’Agosta stöhnte auf. »Keine weiterenFamilienangehörigen?«»Die Mutter ist geistig verwirrt und lebt ineinem Pflegeheim. Sonst niemand.«»Und die Schwester?«»Ist nach der Identifizierung der Leiche zurücknach England geflogen.« Pendergast verfiel inSchweigen. Plötzlich hörte D’Agosta, wie ersotto voce murmelte: »Sonderbar, sehrsonderbar.«»Was?«»Mein lieber Vincent, in diesem ohnehin schonverwirrenden Fall gibt es etwas, das mir ganz

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verwirrenden Fall gibt es etwas, das mir ganzbesonders rätselhaft erscheint – dasVideoband. Ist Ihnen aufgefallen, was Fearingtut, als er die Lobby das erste Mal betritt – aufdem Weg ins Gebäude?«»Ja, was denn?«»Er hat nach oben in die Kamera gesehen.«»Er wusste, dass sie dort installiert ist. Erwohnte in dem Haus.«»Genau.« Und damit verfiel Pendergastabermals in nachdenkliches Schweigen.

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Caitlyn Kidd saß auf dem Fahrersitz ihres RAV4und balancierte in der einen Hand einFrühstücks-Sandwich und in der anderen einengroßen schwarzen Kaffee. Sie las in einerAusgabe von Vanity Fair, die aufgeschlagen aufdem Lenkrad lag. Draußen auf der 79. StraßeWest quietschte und hupte der morgendlicheBerufsverkehr ein unbehaglich stimmendesOstinato.Aus dem in das Armaturenbrett eingebautenPolizeifunkgerät kam eine Meldung, und sofortwarf Caitlyn einen Blick auf das Gerät.»… Zentrale an 2527, fahren Sie zu einem 10-50an der Ecke 118. und Third …«So rasch ihr Interesse geweckt worden war, soschnell erlosch es wieder. Sie biss noch einmalvon ihrem Sandwich ab und blätterte mit einemfreien Finger die Seiten der Zeitschrift um.

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Caitlyn war Polizeireporterin, zuständig fürManhattan, und lungerte darum viel in ihremAuto herum. Die Verbrechen trugen sich oft inentlegenen Ecken der Insel zu, und wenn mansich gut auskannte, war man mit dem eigenenWagen verdammt viel schneller, als wenn mandie U-Bahn oder ein Taxi nahm. In ihrerBranche bedeutete die große Exklusiv-Storyalles, es kam auf jede Minute an. Und derPolizeifunk sorgte teilweise dafür, dass sieimmer auf dem Laufenden war, was dieinteressantesten Geschichten anging. Einmaleine große Story rausbringen – darauf hofftesie. Eine echt spitzenmäßige Exklusiv-Story.Auf dem Beifahrersitz klingelte ihr Handy. Siegriff danach und klemmte es zwischen Kinn undSchulter, während sie eine ziemlich komplizierteDreier-Jongliernummer mit Sandwich, Handyund Kaffeebecher vollführte. »Kidd.«»Caitlyn. Wo bist du?«Die Stimmte kannte sie: Larry Bassington, derbeim West Sider, dem Boulevardblatt, für dassie beide arbeiteten, die Nachrufe schrieb. Er

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baggerte sie andauernd an. Sie hatte seineEinladung zum Lunch angenommen,hauptsächlich weil sie knapp bei Kasse war underst Ende der Woche ihr Gehalt bekam.»Im Einsatz«, sagte Kidd.»So früh schon?«»Die besten Anrufe kriege ich imMorgengrauen. Dann werden die Leichengefunden.«»Ich weiß nicht, warum du dir so viel Mühegibst – der West Sider ist nicht gerade die DailyNews. Hey, vergiss nicht –«»… Zentrale an 3133, Berichte über einen 10-53in 1579 Broadway, bitte hinfahren.«»3133 an Zentrale, 10-4 …«Sie stellte den Funk leiser und konzentriertesich wieder aufs Telefon. »Entschuldige. Washast du gesagt?«»Ich sagte, du sollst unser Date nichtvergessen.«»Das ist kein Date. Wir gehen Mittag essen.«»Lass mir bitte meine Träume, ja? Wo möchtestdu hin?«

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»Du lädst mich ein, also bestimmst du.«Eine Pause. »Wie wär’s mit dem Vietnamesen inder Zweiunddreißigsten?«»Hm, nein danke. Hab da gestern gegessen undes den ganzen Nachmittag bereut.«»Okay, wie wär’s mit Alfredo’s?«Aber wieder lauschte Kidd dem Polizeifunk.»… Einsatzzentrale, Einsatzzentrale, hier 7477,wir sind an dem 10-29-Mord dran. Das Opfer,Smithback, William, befindet sich im Momentauf dem Weg ins Rechtsmedizinische Institutzur Obduktion. Leitender Ermittlungsbeamterverlässt gerade den Tatort.«»10-4, 7477 …«Ihr wäre fast der Kaffeebecher aus der Handgefallen. »Heiliger Bimbam! Hast du dasgehört?«»Was denn?«»Die Meldung ist gerade über Polizeifunkgekommen. Es hat einen Mord gegeben. Undich kenne das Opfer – Bill Smithback. Erschreibt für die Times. Ich hab ihn letztenMonat auf dieser Journalismus-Konferenz an

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der Columbia kennengelernt.«»Und woher weißt du, dass es ein und derselbeTyp ist?«»Wie viele Leute mit Namen Smithback kennstdu? Tut mir leid, Larry, ich muss los.«»Wow, wie furchtbar für ihn. Also, was unserMittagessen angeht …«»Kannste vergessen.« Sie klappte das Handymit dem Kinn zu, ließ es auf den Schoß fallenund startete den Motor. Dann ließ sie dieKupplung kommen und fädelte sich in denVerkehr ein, während Salatblätter, Tomaten,Peperoni und Rührei in hohem Bogen durchsAuto flogen.Es dauerte keine fünf Minuten, bis sie an derEcke West End Avenue und 92. Straße eintraf.Caitlyn kannte sich gut aus in den StraßenManhattans, und ihr Toyota hatte genügendBeulen und Kratzer, dass noch eine Delle auchkeine große Rolle mehr spielte. Sie parkte voreinem Feuerhydranten – mit etwas Glück würdesie ihre Story im Kasten haben und wäre schonwieder weg, ehe ein Verkehrspolizist die

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Ordnungswidrigkeit entdeckt hatte. Und wennnicht, na ja, sie hatte schon dermaßen vieleStrafzettel kassiert, dass die beinahe mehr wertwaren als der Wagen selbst.Raschen Schritts ging sie am Häuserblockentlang und zog dabei ein digitalesAufzeichnungsgerät aus der Tasche. Vor derAdresse 666 West End Avenue parkten mehrereFahrzeuge in zweiter Reihe: zweiStreifenwagen, ein ziviler Crown Vic und einRettungswagen. Ein Leichenwagen fuhr geradevor. Auf den obersten Stufen zum Eingang desGebäudes waren zwei uniformierte Polizistenpostiert und ließen nur die Bewohner desHauses hinein, aber unten auf dem Bürgersteigstand eine kleine Gruppe von Leuten, die leiseund angespannt miteinander sprachen. Siezogen lange, verkniffene Gesichter, fast so – wieKidd sich trocken sagte –, als wäre ihnengerade eben ein Gespenst erschienen.Geübt und effektiv mischte sie sich unter dieunruhigen Leutchen und lauschte einem halbenDutzend Gesprächen gleichzeitig, wobei sie

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gekonnt das nutzlose Geplapper überging undsich auf diejenigen konzentrierte, die offenbaretwas wussten. Sie wandte sich an einenglatzköpfigen, untersetzten Mann mitgranatapfelroter Gesichtsfarbe. Obwohl esschon herbstlich kühl war, schwitzte er heftig.»Entschuldigen Sie bitte«, sagte sie und tratauf den Mann zu. »Caitlyn Kidd, Presse. Stimmtes, dass William Smithback ermordet wordenist?«Er nickte.»Der Journalist?«Wieder nickte der Mann. »Eine Tragödie. Erwar ein netter Bursche, hat mir immerGratisexemplare mitgebracht. Sind Sie eineKollegin?«»Ich arbeite als Polizeireporterin beim WestSider. Sie haben ihn also gut gekannt?«»Hat weiter unten auf dem Flur gewohnt.Gestern habe ich ihn noch gesehen.« Erschüttelte den Kopf.Genau das brauchte sie. »Was ist denn genaupassiert?«

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»Es war gestern spät am Abend. Ein Kerl miteinem Messer hat ihn übel zugerichtet. Ichhabe das alles mitbekommen. Furchtbar.«»Und der Mörder?«»Ich habe ihn gesehen, sogar erkannt, der Kerlwohnt hier im Haus. Colin Fearing.«»Colin Fearing.« Kidd wiederholte den Namenlangsam für den Recorder.Die Miene des Mannes veränderte sich. Jetztkonnte Kidd sie nicht mehr mühelos lesen.»Schauen Sie, es gibt da ein Problem.«Sie stürzte sich sofort auf die Aussage. »Ja?«»Wie es scheint, ist Fearing vor zwei Wochengestorben.«»Ach ja? Wie das?«»Seine Leiche wurde im Harlem River gefunden,sie trieb im Wasser. Wurde identifiziert,obduziert, alles.«»Sind Sie da ganz sicher?«»Ein Polizist hat es dem Doorman gesagt. Dannhat der es uns erzählt.«»Das verstehe ich nicht«, sagte Kidd.Der Mann schüttelte den Kopf. »Ich auch

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nicht.«»Aber Sie sind sich sicher, dass es sich bei demMann, den Sie gestern Abend gesehen haben,ebenfalls um diesen Colin Fearing gehandelthat?«»Ich zweifle keine Sekunde daran. Fragen SieHeidi hier, die hat ihn auch erkannt.« Unddamit deutete der Mann auf eine etwasverängstigt aussehende Frau, die neben ihmstand. »Der Doorman hat ihn auch gesehen.Hat mit ihm gekämpft. Da ist er, kommt geradeaus dem Gebäude.« Er wies zur Eingangstür, inder gerade ein kleiner, adrett gekleideterHispanic erschien.Schnell notierte Caitlyn sich die Namen und einpaar weitere relevante Details. Ihr standförmlich vor Augen, was der Schlagzeilen-Redakteur im West Sider aus dieser Geschichtemachen würde.Mittlerweile waren weitere Reportereingetroffen; sie stürzten sich geradezu wie dieGeier auf die Leute, stritten mit den Polizisten,die inzwischen allerdings wach geworden

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die inzwischen allerdings wach gewordenwaren und die Bewohner zurück in dasGebäude scheuchten. Als Caitlyn an ihremWagen ankam, sah sie unter einem derScheibenwischer einen Strafzettel.Was ihr aber völlig schnuppe war. Sie hatte ihregroße Story ja im Kasten.

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Nora Kelly schlug die Augen auf. Es war Nacht,und alles war ruhig. Eine leichte Brise wehteaus der Stadt durchs Fenster ihresKrankenzimmers und ließ den zugezogenenTrennvorhang um das leere Bett neben ihrrascheln.Der von den Schmerzmitteln verursachte Nebelin ihrem Kopf war verschwunden, und als ihrklar wurde, dass sie sicherlich nicht wiedereinschlafen konnte, blieb sie völlig reglos liegenund versuchte, die Flut des Entsetzens und derTrauer einzudämmen, die sie zu überwältigendrohte. Das Leben war so grausam undlaunenhaft, dass es ihr völlig sinnlos vorkam.Trotzdem versuchte sie, ihre Trauer zumeistern, sich auf das leichte Pochen in ihrembandagierten Kopf, die Geräusche in demgroßen Krankenhaus um sie herum zu

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konzentrieren. Langsam ließ das Zittern inihren Beinen nach.Bill – ihr Ehemann, ihr Geliebter, ihr Freund –war tot. Und nicht nur, dass sie es gesehenhatte; sie spürte es körperlich in ihrem Inneren.Sie empfand eine Abwesenheit, eine Leere. Billwar von der Erde verschwunden.Der Schrecken und das Entsetzen, die diesesEreignis ausgelöst hatte, schienen mit jederStunde nur noch größer zu werden, und dochwaren Noras Gedanken so klar, so schmerzlich,dass sie es kaum noch ertrug. Wie hatte dasnur passieren können? Es war ein Albtraum,die grausame Tat eines erbarmungslosenGottes. Erst gestern Abend hatten sie ihrenersten Hochzeitstag gefeiert. Und jetzt … jetzt…Erneut bemühte sie sich, die Welle ihresunerträglichen Schmerzes zurückzudrängen.Sie streckte die Hand nach derSchwesternklingel aus, wollte um noch eineDosis Morphium bitten, hielt jedoch inne. Daswar keine Lösung. Wieder schloss sie die

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Augen, in der Hoffnung auf die wohltuendeUmarmung des Schlafs, auch wenn sie wusste,dass sie sich nicht einstellen würde. Vielleichtniemals mehr.Da hörte sie etwas; ein flüchtiges Déjà-vu-Gefühl sagte ihr, dass es der gleiche Laut war,der sie gerade eben geweckt hatte. Sie riss dieAugen auf. Ein Grunzen, das vom anderen Bettin dem Doppelzimmer kam. Ihre jähe Panik legtesich; die Schwestern mussten, während siegeschlafen hatte, jemanden in das Nachbarbettgelegt haben.Nora wandte den Kopf, um die Person auf deranderen Seite des Vorhangs zu sehen. Sie hörteein leises Atmen, es kam stoßweise, röchelnd.Der Vorhang bewegte sich leicht, und da wurdeihr klar, dass dies nicht an dem Luftzug imZimmer lag, sondern weil sich die Person imBett bewegte. Ein Seufzen, ein Knistern vongestärkten Bettlaken. Der halb durchsichtigeVorhang wurde von hinten vom Fenster erhellt,so dass Nora gerade eben eine dunkleSilhouette erkannte. Während sie auf diesen

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Umriss blickte, erhob sich die Person unterweiterem Seufzen und mühsamem Keuchen.Der undeutliche Schatten einer Hand kam zumVorschein. Sie strich und glitt an demdurchscheinenden Stoff entlang und setzte denVorhang in schwingende Bewegung. Schließlichfand die Hand eine Öffnung, schlüpfte hindurchund packte die Vorhangkante.Nora starrte hin. Die Hand war schmutzig.Überzogen von dunklen, nassen Streifen, diefast so aussahen wie Blut. Je länger sie in demtrüben Licht hinschaute, desto sicherer war sie,dass es tatsächlich Blut war. Vielleicht handeltees sich um einen Patienten, der frisch aus demOperationssaal gekommen oder dessenOperationsnarbe aufgeplatzt war. Umjemanden, der sehr krank war.»Alles in Ordnung mit Ihnen?« In der Stilleklang ihre Stimme laut und heiser zugleich.Noch ein Stöhnen. Ganz langsam zog sich dieHand wieder hinter den Vorhang zurück. DieLangsamkeit, mit der die Metallringe auf derStange zurückglitten, hatte etwas Gruseliges.

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Sie klirrten mit einer klanglosen, lahmenKadenz. Wieder tastete Nora am Gitter ihresBetts nach dem Klingelknopf.Der Vorhang wurde zurückgezogen, und jetztwurde eine dunkle Gestalt sichtbar, in Lumpengekleidet und mit dunklen Flecken übersät. Dieverfilzten, verklebten Haare standen wirr vomKopf ab. Nora hielt den Atem an. Und währendsie die Erscheinung anstarrte, wandte dieselangsam den Kopf und sah sie an. Der Mundöffnete sich, und ein röchelnder Laut entrangsich ihrer Kehle, wie Wasser, das einen Abflusshinabgesogen wurde.Nora tastete fieberhaft nach dem Klingelknopf.Die Gestalt glitt mit den Füßen auf den Boden,wartete einen Augenblick, als wolle sieverschnaufen, und stand dann unsicher da.Eine Minute schwankte sie hin und her in demmatten Licht. Dann trat sie einen kleinen,beinahe tastenden Schritt auf Nora zu. Imselben Moment fiel ein fahler Lichtstrahl durchden oberen Türschlitz auf das Gesicht, so dassNora ganz kurz die schmutzbedeckten

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Gesichtszüge sehen konnte, aufgedunsen undfeucht. Irgendetwas an diesem Gesicht und anden torkelnden Bewegungen weckte in ihr einfurchterregendes Gefühl der Vertrautheit.Noch ein unsicherer Schritt nach vorn, dannstreckte sich ein zitternder Arm nach ihr aus …Nora kreischte, verzweifelt schlug sie mitbeiden Armen nach der Gestalt und versuchte,ihr kriechend auszuweichen. Dabei verfingensich ihre Füße in der Bettdecke. Sie schrie auf,drückte wieder die Klingel und versuchte mitaller Kraft, die Bettdecke abzuschütteln. Warumbrauchten die Schwestern so lange? Siebefreite sich mit einem gewaltsamen, kurzenZerren, schwang sich aus dem Bett, stieß dabeiden Infusionsständer um und stürzte von Panikund Schrecken erfüllt zu Boden …Nach einem langen Augenblick derBenommenheit und der Verwirrung hörte sieeilige Schritte, Stimmen. Das Licht ging an; eineSchwester beugte sich über sie, hob sie sanftauf und sprach ihr beruhigend ins Ohr.»Entspannen Sie sich«, ließ sich die Stimme

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vernehmen. »Sie hatten nur einen Albtraum …«»Es war hier!«, schrie Nora und wehrte sich.»Hier drin!« Sie wollte die Hand heben, um aufdie Stelle zu zeigen, aber die Schwester hatteschon die Arme um sie gelegt und hielt siesanft, aber bestimmt fest.»Kommen Sie, wir bringen Sie zurück ins Bett.Albträume sind nach einerGehirnerschütterung etwas ganz Normales.«»Nein. Die Erscheinung war wirklich, ichschwöre es!«»Natürlich hat sie wirklich ausgesehen. Aberjetzt ist alles in Ordnung mit Ihnen.« DieSchwester half ihr behutsam zurück ins Bettund legte ihr die Bettdecke über.»Schauen Sie nach! Hinter dem Vorhang!« Norahatte derart pochende Kopfschmerzen, dass siekaum einen klaren Gedanken fassen konnte.Noch eine Schwester kam ins Zimmer gelaufen,mit gezückter Spritze.»Ich weiß, ich weiß. Aber Sie sind jetzt inSicherheit …« Sie betupfte Nora die Stirn miteinem kühlen Tuch. Nora spürte, wie ihr eine

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Nadel in den Oberarm stach. Eine dritteSchwester erschien im Zimmer und richtete denInfusionsständer auf.»Hinter dem Vorhang … in dem Bett …« Norawehrte sich zwar dagegen, doch sie spürte,dass ihr Körper immer schlaffer wurde.»Hier drin?«, fragte die Schwester und standauf. Sie zog den Vorhang zurück – und einpenibel gemachtes Bett kam zum Vorschein.»Sehen Sie? Es war nur ein Traum.«Nora legte sich zurück, ihre Glieder wurdenschwer. Es war doch nicht Realität gewesen.Die Schwester beugte sich über sie, strich dieBettdecke glatt und deckte sie fester zu.Verschwommen sah Nora, wie die zweiteSchwester eine neue Flasche mit einerNährlösung an den Infusionsständer hängteund den Schlauch wieder anbrachte. Allesschien in weite Ferne zu entschwinden. Norawar müde, so müde. Natürlich war es ein Traumgewesen. Und plötzlich interessierte sie dasalles nicht mehr, sondern sie fand ihn herrlich,diesen Zustand, wenn einem alles egal ist …

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Vincent D’Agosta blieb vor der offenen Tür vonNora Kellys Krankenhauszimmer stehen undklopfte zaghaft an. Das Licht der Morgensonneströmte den Flur hinunter und tauchte diemetallisch schimmernden medizinischenGeräte, die an den gekachelten Wändenaufgereiht standen, in ein goldenes Licht.Er hatte nicht damit gerechnet, dass ihm eineso kräftige Stimme antworten würde. »Herein.«Er trat ein und fühlte sich unbehaglich, legteseinen Hut auf den einzigen Stuhl, musste ihndann wieder in die Hand nehmen, um sichsetzen zu können. Er hatte so etwas noch niegut gekonnt. Er betrachtete sie etwas zögerndund wunderte sich über das, was er sah. Statteiner verletzten, verzweifelten, trauerndenWitwe saß da eine Frau vor ihm, die erstaunlichgefasst wirkte. Ihre Augen waren rotgerändert,

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blickten aber klar und entschlossen. EinVerband, der einen Teil ihres Kopfs bedeckte,und eine leicht bläuliche Verfärbung unter demrechten Auge waren die einzigen Anzeichen derAttacke zwei Tage zuvor.»Nora, es tut mir leid, so verdammt leid …« Erstockte.»Bill hat Sie als guten Freund betrachtet.« Siesprach langsam und mit Bedacht, als wüsste sieirgendwie, was gesagt werden musste, ohne imGrunde etwas davon zu begreifen.Pause. »Wie geht es Ihnen?« Dabei wusste er,noch während er das sagte, wie lahm die Frageklang.Nora schüttelte nur den Kopf und gab die Fragezurück. »Und wie geht es Ihnen?«D’Agosta antwortete ehrlich. »Beschissen.«»Bill hätte sich darüber gefreut, dass Sie … dashier übernehmen.«Er nickte.»Gegen Mittag kommt der Arzt, und wenn allesin Ordnung ist, werde ich entlassen.«»Nora, es gibt da etwas, das Sie wissen müssen:

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Wir werden diesen Scheißkerl finden. Wirwerden ihn finden und einsperren und denSchlüssel wegwerfen.«Sie gab ihm keine Antwort darauf.Er rieb sich mit der Hand über die kahle Stelleauf dem Kopf. »Und zu diesem Zweck werde ichIhnen noch einige weitere Fragen stellenmüssen.«»Nur zu. Reden … Reden hilft tatsächlich.«»Gut.« Er zögerte. »Sind Sie sich sicher, dass esColin Fearing war?«Sie blickte ihm fest in die Augen. »So sicher,wie ich hier liege, in diesem Moment, in diesemBett. Es war Fearing, garantiert.«»Wie gut kannten Sie ihn?«»Er hat mich des Öfteren angegafft, in derLobby. Einmal hat er mich um ein Dategebeten – obwohl er wusste, dass ichverheiratet bin.« Sie schüttelte sich. »Einechtes Schwein.«»Hatten Sie irgendwie den Eindruck, dass erpsychisch labil ist?«»Nein.«

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»Erzählen Sie doch mal, wie er Sie, äh, um einDate gebeten hat.«»Wir sind zufällig in den gleichen Fahrstuhlgestiegen. Er hat sich zu mir umgedreht, mitden Händen in den Hosentaschen, und mich inseinem schnöseligen britischen Akzent gefragt,ob ich mit zu ihm in die Wohnung kommen undmir seine Stiche ansehen möchte.«»Das hat er wirklich gesagt? Stiche?«»Er hat das wohl für witzig gehalten.«D’Agosta schüttelte den Kopf. »Haben Sie ihn inden, sagen wir, letzten zwei Wochen gesehen?«Nora antwortete nicht gleich. Offenbar fiel esihr schwer, sich zu erinnern, und D’Agostaempfand Mitleid mit ihr. »Nein. Warum fragenSie?«Er war noch nicht so weit, sie daraufanzusprechen. »Hatte er eine Freundin?«»Nicht, dass ich wüsste.«»Haben Sie mal Fearings Schwesterkennengelernt?«»Ich wusste nicht einmal, dass er eineSchwester hat.«

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»Hatte er gute Freunde? Andere Verwandte?«»Um das sagen zu können, kannte ich ihn nichtgut genug. Er hat auf mich ein bisschen wie einEinzelgänger gewirkt. Er hatte keinengeregelten Tagesablauf, er war eben so einSchauspielertyp, hat fürs Theater gearbeitet.«D’Agosta blickte auf seinen Notizblock, auf dener einige Routinefragen gekritzelt hatte. »Nurnoch ein paar Formalitäten, der Ordnunghalber. Wie lange sind Sie und Billverheiratet?« Er brachte es einfach nicht übersich, die Frage in der Vergangenheitsform zustellen.»Es war unser erster Hochzeitstag.«D’Agosta versuchte, seine Stimme ruhig undneutral klingen zu lassen, aber es gab da eineArt Blockade in seiner Kehle. Er schluckte.»Wie lange war er bei der Times beschäftigt?«»Vier Jahre. Davor war er bei der Post. Unddavor wiederum hat er freiberuflich gearbeitet,hat Bücher über das Museum und das BostonAquarium geschrieben. Ich schicke Ihnen eineKopie seines Lebenslaufs …« Jetzt klang ihre

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Stimme sehr leise. »Wenn Sie das möchten.«»Danke, das wäre sehr hilfreich.« Er machtesich eine Notiz. Dann blickte er wieder sie an.»Nora, entschuldigen Sie bitte, aber ich mussdas fragen: Haben Sie irgendeine Idee, warumFearing das getan hat?«Sie schüttelte den Kopf.»Keine Streitereien? Kein böses Blut?«»Nicht, dass ich wüsste. Fearing war nurjemand, der im selben Haus wohnte.«»Sicher, diese Fragen sind schwierig, und ichweiß es sehr zu schätzen –«»Was ich schwierig finde, Lieutenant, ist, dassFearing noch immer auf freiem Fuß ist. FragenSie, was Sie wissen müssen.«»Gut. Glauben Sie, dass er vorhatte, Sie zuvergewaltigen?«»Kann sein. Sein Timing war allerdingsschlecht. Er ist in die Wohnung gekommen,kurz nachdem ich gegangen war.« Sie hielteinen Augenblick inne. »Darf ich Sie etwasfragen, Lieutenant?«»Natürlich.«

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»So spät am Abend musste er doch damitrechnen, dass wir beide zu Hause sind. Aber erhatte nur ein Messer bei sich.«»Das ist richtig, nur ein Messer.«»Kein Mensch bricht mit einem Messerbewaffnet in die Wohnung von jemandem ein,wenn er damit rechnet, zwei Personengegenüberzustehen. Jeder kann sichheutzutage eine Schusswaffe besorgen.«»Ganz recht.«»Was glauben Sie also?«D’Agosta hatte lange darüber nachgedacht.»Das ist eine gute Frage. Und Sie sind sicher,dass es Fearing war?«»Die Frage stellen Sie mir nun schon zumzweiten Mal.«Er schüttelte den Kopf. »Ich wollte mich nurvergewissern, mehr nicht.«»Aber Sie suchen doch wirklich nach ihm?«»Das tun wir. Darauf können Sie sichverlassen.« Ja, zum Beispiel suchen wir inseinem Grab. Die für eine Exhumierung nötigenPapiere wurden schon ausgestellt. »Nur noch

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ein paar weitere Fragen. Hatte Bill Feinde?«Zum ersten und einzigen Mal lachte Nora. Aberes lag kein Humor darin; es war nur ein leises,freudloses Schnauben. »Er war Reporter beider New York Times. Natürlich hatte er daFeinde.«»Jemand im Besonderen?«Sie überlegte einen Moment. »Lucas Kline.«»Wer ist das?«»Er leitet eine hier in der Stadt ansässigeSoftwareentwicklungsfirma. Legt gern seineSekretärinnen flach und schüchtert sieanschließend ein, damit sie den Mund halten.Bill hat einen Artikel über ihn geschrieben.«»Und warum ragt er heraus?«»Weil er Bill einen Brief geschrieben hat. EinenDrohbrief.«»Den würde ich gern mal sehen, wenn esmöglich wäre.«»Kein Problem. Kline ist allerdings nicht derEinzige, den er sich zum Feind gemacht hat. Dawar zum Beispiel diese Artikelserie über denTierschutz, an der Bill gearbeitet hat. Und dann

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waren da diese merkwürdigen Päckchen …«»Was für merkwürdige Päckchen?«»Bill hat im vergangenen Monat zwei davonbekommen. Kleine Schachteln mit seltsamenDingen darin. Winzige aus Flanell genähtePuppen. Tierknochen, Moos, Pailletten. Wennich nach Hause komme …« Ihre Stimme brach,sie räusperte sich und sagte mit fester Stimme:»Wenn ich nach Hause komme, sehe ich Billsausgeschnittene Zeitungsartikel durch undstelle die zusammen, die jemanden verärgerthaben könnten. Sie sollten auch mit seinemRedakteur bei der Times sprechen, er kannIhnen sagen, woran Bill gerade gearbeitet hat.«»Steht schon auf meiner Liste.«Nora schwieg eine Zeitlang und sah ihn ausihren rotgeränderten Augen an, die soentschlossen blickten. »Lieutenant, kommt esIhnen nicht auch so vor, als handelte es sichhier um ein besonders stümperhaftesVerbrechen? Fearing ist in das Gebäude hinein-und wieder herausspaziert, ohne auf Zeugen zuachten, ohne zu versuchen, sich zu verbergen

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achten, ohne zu versuchen, sich zu verbergenoder der Überwachungskameraauszuweichen.«Das war noch so ein Punkt, über den D’Agostanachgegrübelt hatte. War Fearing wirklich soblöd? Mal unterstellt, dass es sich bei demTäter überhaupt um ihn handelte. »Es bleibtnoch viel aufzuklären.«Sie sah ihn noch einen Moment an, dann senktesie den Blick auf die Bettdecke. »Ist dieWohnung noch versiegelt?«»Nein. Seit heute Morgen zehn Uhr nichtmehr.«Sie zögerte. »Ich werde heute Nachmittagentlassen, und ich … möchte möglichst raschzurück in meine Wohnung.«D’Agosta verstand sie. »Ich habe bereits alles… für Ihre Rückkehr veranlasst. Es gibt da eineFirma, die solche Aufträge kurzfristigübernimmt.«Nora nickte und wandte sich ab.Das war der Hinweis, dass er sie allein lassensollte. D’Agosta erhob sich. »Vielen Dank, Nora.

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Ich halte Sie über unsere Fortschritte auf demLaufenden. Wenn Ihnen noch irgendetwaseinfällt – könnten Sie es mich wissen lassen?«Wieder nickte sie, ohne ihn dabei anzusehen.»Und vergessen Sie nicht, was ich gesagt habe.Wir werden Fearing finden. Ich gebe Ihnenmein Wort darauf.«

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Schweigend schritt Special Agent Pendergastdurch den langen, schwach beleuchtetenzentralen Flur in seiner Wohnung in der 72.Straße. Er ging durch eine elegante Bibliothek,ein Zimmer mit Ölgemälden aus Renaissanceund Barock, einen temperaturreguliertenLagerraum, der vom Boden bis zur Decke mitalten Weinen in Teakholz-Regalen angefülltwar, und einen Salon mit Ledersesseln,kostbaren Seidenteppichen undComputerterminals, die mit den Datenbankeneines halben DutzendsStrafverfolgungsbehörden verkabelt waren.Dies waren die öffentlich zugänglichen Räumein Pendergasts Wohnung, auch wenn wohlkaum mehr als ein Dutzend Personen sie je zuGesicht bekommen hatten. Pendergast begabsich jetzt in Richtung seiner Privaträume, die

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nur ihm und Kyoko Ishimura bekannt waren,der taubstummen Haushälterin, die hierwohnte und sich um alles im Apartmentkümmerte.Im Laufe mehrerer Jahre hatte Pendergastdiskret zwei angrenzende Wohnungen, sobalddiese zum Verkauf standen, hinzu erworbenund in seine eigene integriert. Nun erstrecktesich seine Residenz im Dakota-Gebäude übereinen großen Teil der Front zur 72. Straße undsogar über einen Teil der Front zum CentralPark. Ein riesiges, weitläufiges, doch ungemeinprivates Refugium.Als er das Ende des Flurs erreicht hatte,öffnete er die Tür zu einem – wie es schien –Wandschrank. Tatsächlich war der kleinedahinterliegende Raum leer, bis auf eineweitere Tür in der gegenüberliegenden Wand.Pendergast löste die Sicherheitsvorkehrung derTür, öffnete sie und betrat seinePrivatgemächer. Rasch durchschritt er auchdiese und nickte dabei Miss Ishimura zu, die inder geräumigen Küche stand und auf einem

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riesigen Restaurant-Herd eine Suppe ausFischinnereien zubereitete. Wie alle Räume imDakota-Gebäude verfügte auch die Küche überungewöhnlich hohe Decken. Schließlichgelangte Pendergast an das Ende einesweiteren Flurs, an eine weitere unauffälligaussehende Tür. Dahinter lag sein Ziel: diedritte Wohnung, das Allerheiligste, das selbstMiss Ishimura kaum einmal betrat.Er öffnete die Tür, die in einen zweitenwandschrankgroßen Raum führte. Dieses Malbefand sich am anderen Ende nicht eineweitere Tür, sondern vielmehr ein shoji, eineleichte Schiebetür aus Holz mitReispapierbespannung. Pendergast schloss dieTür hinter sich, dann machte er ein paarSchritte und schob die shoji sanft zur Seite.Dahinter lag ein beschaulicher Garten. DieKlänge von sanft tröpfelndem Wasser undVogelgesang erfüllten die Luft, die bereits nachFichtennadeln und Eukalyptus duftete. Dasschwache, indirekte Licht ließ an einen spätenNachmittag oder frühen Abend denken.

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Irgendwo in der grünen Weite gurrte eineTaube.Vor Pendergast lag ein schmaler Weg ausflachen Steinen, der von Steinlaternen gesäumtwar und sich zwischen immergrünenGewächsen hindurchschlängelte. Pendergastzog die shoji zu, überquerte das Kieselbankettund schritt den Weg hinunter. Es handelte sichum den uchi-roji, den inneren Garten einesTeehauses. Der ausgesprochen private,geradezu geheime Ort verströmte eine großeRuhe und regte den Geist zur Kontemplationan. Pendergast lebte inzwischen schon so langedamit, dass er beinahe seine Wertschätzung fürdiese Seltsamkeit eingebüßt hatte: einvollständiger, in sich abgeschlossener Gartentief in einem riesigen Apartmenthaus inManhattan.Vor ihm kam, durch die Sträucher undBonsaibäume hindurch, ein niedriges Bauwerkaus Holz in Sicht, schlicht und schmucklos.Pendergast begab sich am zeremoniellenWaschbecken vorbei zum Eingang des

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Teehauses und schob die dortige shoji langsamzur Seite.Dahinter lag der eigentliche Teeraum, elegantund sparsam eingerichtet. Pendergast bliebeinen Moment im Eingang stehen und ließ denBlick schweifen, über die hängende Schriftrolleim Alkoven, die strengen Ikebana-Blumenarrangements, die Regale mit denpenibel sauberen Bambusbesen und -löffeln,Teeschalen und anderen Gegenständen. Dannzog er die Schiebetür hinter sich zu, setzte sichnach Geisha-Art auf die Tatami-Matte undbegann die anspruchsvollen Rituale dereigentlichen Zeremonie auszuführen.Eine Teezeremonie ist im Kern ein Ritual derAnmut und Vollkommenheit, bei dem es darumgeht, einer Gruppe von Gästen Tee zuservieren. Pendergast war allein, führte dieZeremonie aber dennoch aus, und zwar füreinen Gast, der nicht anwesend sein konnte.Sorgfältig füllte er die Kanne, maß dengemahlenen Tee ab, quirlte ihn so lange, bis ergenau die richtige Konsistenz hatte, dann goss

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er den Tee in zwei erlesene Teeschalen ausdem 17. Jahrhundert. Die eine stellte er vor sichab, die andere auf die gegenüberliegende Seiteder Matte. So saß er einen Augenblick da undblickte in den Dampf, der in hauchzartenKringeln aus seiner Schale emporstieg. Dannhob er – langsam, meditativ – die Schale an denMund.Während er den Tee in kleinen Schlucken trank,ließ er zu, dass in seinem Geist gewisseErinnerungen emporstiegen, eine nach deranderen, wobei er bei jeder einzelnen verweilte,bevor er zur nächsten überging. DerGegenstand jeder Erinnerung war ein undderselbe. William Smithback jr., wie er ihm ineinem Rennen gegen die Zeit dabei geholfenhatte, die Türen des Grabs des Senefaufzusprengen und die darin gefangenenMenschen zu befreien. Smithback, wie er zuTode erschrocken auf dem Rücksitz einesentwendeten Taxis lag, während Pendergastdurch den Stadtverkehr raste, um seinemBruder Diogenes zu entkommen. Jetzt weiter

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zurück in der Zeit: Smithback sieht empört undentsetzt zu, wie Pendergast am Grab von MaryGreene das Rezept für das Arkanum verbrennt.Und noch weiter zurück abermals Smithback,wie er während des schrecklichen Kampfes mitden seltsamen Bewohnern des »Dachbodensdes Teufels«, dem Tunnelsystem tief unter denStraßen von New York, neben ihm steht.Als die Teeschale geleert war, gab es keineweiteren Dinge mehr, über die esnachzudenken galt. Pendergast stellte dieSchale zurück auf die Matte und schloss einenAugenblick die Augen. Dann schlug er siewieder auf und blickte auf die immer noch volleandere Schale, die ihm gegenüberstand. Erseufzte leise, dann sagte er: »Waga tomoyasurakani.«Lebe wohl, mein Freund.

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Zwölf Uhr mittags. D’Agosta drückte den Knopfdes Aufzugs zum wiederholten Mal und fluchteleise. Er sah auf die Uhr. »Neun Minuten.Echt – jetzt warten wir hier schon neunbeschissene Minuten.«»Sie müssen lernen, Ihre freie Zeit gut zunutzen, Vincent«, sagte Pendergast leise.»Ach ja? Ich habe den Eindruck, dass auch Siesich hier die Füße in den Bauch gestandenhaben.«»Im Gegenteil. In den vergangenen neunMinuten habe ich mit großem Vergnügen überMiltons Anrufung der Götter im dritten Buchvom Verlorenen Paradies nachgedacht. Ich binnoch einmal die zweite Deklination derlateinischen Substantive durchgegangen – dasStudium bestimmter lateinischer Deklinationenkann geradezu eine Vollzeitbeschäftigung

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sein –, und ich habe in Gedanken einenausgesucht höflichen Brief entworfen, den ichden Ingenieuren zuzuschicken gedenke, diediesen Fahrstuhl entwickelt haben.«Ein quietschendes Rumpeln verkündete dasEintreffen des Fahrstuhls. Die Türen öffnetensich knarrend, der engen Kabine entströmtenÄrzte, Schwestern und schließlich ein Leichnamauf einer Rollbahre. Sie stiegen ein, undD’Agosta drückte den Knopf mit derBezeichnung b2.Langes Warten, dann schlossen sich rumpelnddie Türen. Der Fahrstuhl glitt so langsam nachunten, dass man kaum eine Bewegungwahrnahm. Nach einer erneuten, scheinbarendlosen Wartezeit öffneten sich die Türenquietschend, worauf ein gekachelter Kellergangzum Vorschein kam, der in grünlichesfluoreszierendes Licht getaucht war unddessen Luft nach Formaldehyd und Tod roch.Ein Pförtner hinter einer Glasschiebetürbewachte eine verschlossene Stahltür.D’Agosta trat näher und zeigte seinen

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Dienstausweis. »Lieutenant D’Agosta, PolizeiNew York, Mordkommission, Special AgentPendergast, FBI. Wir sind hier, um mitDr. Wayne Heffler zu sprechen.«»Ausweise ins Tablett«, lautete die lakonischeAntwort.Sie legten ihre Dienstausweise auf einenkleinen Ablagekasten. Kurz darauf wurde er mitden Ausweisen zurückgeschoben. Die Stahltürsprang metallisch klickend auf. »Den Flurentlang, nach der T-Gabelung den zweitenGang links. Melden Sie sich bei der Sekretärin.«Die Sekretärin war beschäftigt, und danndauerte es noch einmal zwanzig Minuten, bissie zum Arzt vorgelassen wurden. Als die Türsich schließlich öffnete und sie in das eleganteBüro geführt wurden, war D’Agosta so weit,Streit zu suchen. Und kaum erblickte er diearrogante, gelangweilte Miene desRechtsmediziners, wusste er, dass sein Wunschin Erfüllung gehen würde.Der Mediziner erhob sich hinter demSchreibtisch und bot ihnen ganz bewusst

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keinen Stuhl an. Es handelte sich bei ihm umeinen gutaussehenden, älteren Mann, rank undschlank, der eine Strickjacke mit einer Fliegeund ein gestärktes weißes Hemd trug. Über derLehne seines Stuhls hing ein Tweedsakko. Dasschüttere schlohweiße Haar war aus der hohenStirn gekämmt. Bei den Augen, die hinter derHornbrille so blau und kalt wie Eis blickten,hörte der gutmütig-professorale Eindruckallerdings auf. An den holzvertäfelten Wändenhingen Drucke mit Jagdszenen, in einer großenGlasvitrine war eine Sammlung vonSegelregatten-Wimpeln ausgestellt. Auch dasnoch, ein Gutsherr und Segler, dachte D’Agostasäuerlich.»Was kann ich für Sie tun?«, fragte derRechtsmediziner, ohne zu lächeln, und legte dieHände auf den Schreibtisch.D’Agosta schnappte sich demonstrativ einenStuhl, stellte ihn mal hierhin und mal dorthin,ließ sich jede Menge Zeit, bevor er Platz nahm.Pendergast nahm gelassen auf einem Stuhl inder Nähe Platz. D’Agosta zog aus seiner

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Aktentasche ein Schriftstück hervor und schobes über den fußballfeldgroßen Schreibtisch.Der Mann warf nicht einmal einen Blick darauf.»Lieutenant – äh, D’Agosta –, wenn Sie michbitte mit den Einzelheiten bekannt machenwürden. Mir fehlt im Moment die Zeit zumAktenstudium.«»Es geht um die Autopsie von Colin Fearing. Siewaren verantwortlich. Erinnern Sie sich noch?«»Selbstverständlich. Die Leiche, die im HarlemRiver gefunden wurde. Selbstmord.«»Genau«, sagte D’Agosta. »Und ich habe fünfZeugen, die schwören, dass es sich bei Fearingum den Mann handelt, der gestern Abend denMord in der West End Avenue begangen hat.«»Das ist völlig ausgeschlossen.«»Wer hat die Leiche identifiziert?«»Die Schwester.« Heffler blätterte ungeduldigin einer Akte, die aufgeschlagen auf seinemSchreibtisch lag. »Camela Fearing.«»Keine weiteren Angehörigen?«Wieder ungeduldiges Blättern in denUnterlagen. »Nur eine Mutter. Non compos

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mentis, lebt in einem Pflegeheim im Staat NewYork.«D’Agosta warf Pendergast einen kurzen Blickzu, der aber mit sichtlichem Abscheu dieDrucke mit den Jagdszenen betrachtete undder Befragung offenbar gar nicht folgte.»Körpermerkmale, mit denen man ihnidentifizieren konnte?«, fuhr D’Agosta fort.»Fearing hatte eine sehr ungewöhnlicheTätowierung, einen Hobbit, auf dem linkenDeltamuskel und ein Muttermal am linkenFußknöchel. Erstere haben wir in demTätowierladen verifiziert – die Tätowierungwurde erst kürzlich vorgenommen. Letztereswurde durch die Geburtsurkunde bestätigt.«»Aufzeichnungen zum Gebiss?«»Wir konnten keine finden.«»Warum nicht?«»Colin Fearing ist in England aufgewachsen.Danach hat er – vor seinem Umzug nach NewYork – in San Antonio in Texas gelebt. SeineSchwester hat ausgesagt, dass er sämtlichezahnärztliche Behandlungen in Mexiko

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durchführen ließ.«»Dann haben Sie also die Kliniken in Mexikound London nicht angerufen? Wie lange dauertes, ein paar Röntgenaufnahmen zu scannenund per E-Mail zu verschicken?«Der Rechtsmediziner stieß einen langen,verärgerten Seufzer aus. »Muttermal,Tätowierung, unter Eid abgegebene undnotariell beglaubigte Augenzeugen-Identifikation durch glaubwürdige Angehörige –wir haben mehr als dem Recht Genüge getan,Lieutenant. Wenn wir jedes Mal, wenn sich inNew York City ein Ausländer umbringt, aufzwischenstaatlichem Wege Gebiss-Aufzeichnungen anforderten, dann würde ichmeine Arbeit niemals bewältigen.«»Haben Sie irgendwelche Gewebe- oderBlutproben von Fearing aufbewahrt?«»Wir machen nur dann Röntgenaufnahmen undbewahren Gewebe- und Blutproben auf, wennes im Zusammenhang mit dem Todesfall offeneFragen gibt. Hierbei handelte es sich jedoch umeinen glasklaren Fall von Selbstmord.«

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»Was macht Sie da so sicher?«»Fearing ist von der Schwenkbrücke gegenübervon Spuyten Duyvil in den Harlem Rivergesprungen. Ein Polizeiboot hat die Leiche imSpuyten Duyvil gefunden. Bei dem Sprung hatsich Fearing einen Lungenriss und einenSchädelbruch zugezogen. Außerdem fand sichauf den Gleisen ein Abschiedsbrief. Aber dasalles wissen Sie ja, Lieutenant.«»Ich habe es in der Akte gelesen. Das ist nichtdas Gleiche wie es zu wissen.«Der Arzt war stehen geblieben, jetzt klappte erdemonstrativ die Akte auf seinem Schreibtischzu. »Vielen Dank, meine Herren, ist das alles?«Er sah auf die Uhr.Da erhob sich Pendergast schließlich. »An wenhaben Sie die Leiche überführen lassen?«,fragte er langsam, fast schläfrig.»An die Schwester natürlich.«»Wie haben Sie die Identität der Schwesterüberprüft? Anhand des Passes?«»Wenn ich mich recht entsinne, anhand desFührerscheins.«

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»Haben Sie eine Kopie davon angefertigt?«»Nein.«Pendergast seufzte leise. »Gibt es Zeugen fürden Selbstmord?«»Meines Wissens nicht.«»Wurde der Abschiedsbrief einer forensischenUntersuchung unterzogen, um sicherzustellen,dass es sich tatsächlich um Colin FearingsHandschrift handelt?«Ein Zögern. Die Akte wurde erneutaufgeschlagen. Der Rechtsmediziner warf einenBlick darauf.»Offenbar nicht.«D’Agosta nahm den Gesprächsfaden auf. »Werhat den Brief gefunden?«»Die Polizisten, die die Leiche gefundenhaben.«»Und die Schwester – haben Sie sie befragt?«»Nein.« Heffler wandte sich von D’Agosta ab,zweifellos, weil er hoffte, ihn dadurch zumSchweigen zu bringen. »Mr. Pendergast, darfich fragen, wieso sich das FBI für diesen Fallinteressiert?«

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interessiert?«»Das dürfen Sie nicht, Dr. Heffler.«D’Agosta setzte die Befragung fort. »Hören Sie,Dr. Heffler. Die Leiche von Bill Smithbackbefindet sich in Ihrem Leichenschauhaus, undzur Fortsetzung unserer Ermittlungenbenötigen wir eine Autopsie, und zwar schnell.Außerdem brauchen wir DNA-Tests der Blut-und Haarproben, genauso rasch. Und drittensbrauchen wir zum Vergleich eine Untersuchungder DNA von Fearings Mutter, weil Sie esversäumt haben, nach der Autopsie Probenaufzubewahren.«»Und wie schnell wollen Sie das alles haben?«»In vier Tagen, höchstens.«Ein leises Lächeln, verächtlich undtriumphierend, umspielte Hefflers Lippen. »Tutmir sehr leid, Lieutenant, das istausgeschlossen. Wir sind hier mit der Arbeitziemlich im Rückstand, und selbst wenn wir esnicht wären, in vier Tagen – das istschlechterdings nicht möglich. DieUntersuchungen werden wegen der Autopsie

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mindestens zehn Tage in Anspruch nehmen,vielleicht sogar drei Wochen. Was die DNA-Untersuchungen angeht, so fallen diese nicht inmeinen Zuständigkeitsbereich. Sie müssen einegerichtliche Verfügung erwirken, um Blut vonder Mutter zu bekommen, was Monate dauernkönnte. Und bei dem Rückstand im DNA-Laborkönnen Sie von Glück reden, wenn Sie dieendgültigen Ergebnisse in weniger als einemhalben Jahr bekommen.«Pendergast meldete sich erneut zu Wort. »Dasist sehr ärgerlich.« Er wandte sich zu D’Agostaum. »Dann werden wir wohl warten müssen. Essei denn, Dr. Heffler kann eine – wie haben Siees ausgedrückt? – Blitz-Autopsiehinbekommen.«»Wenn ich eine Blitz-Autopsie für jeden FBI-Agenten oder Detective der Mordkommission,der darum bittet – und sie bitten alle darum –,durchführte, dann würde ich nie irgendetwasanderes fertigbringen.« Er schob dasDokument zurück über den Schreibtisch. »Estut mir leid, meine Herren. Wenn Sie mich nun

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bitte entschuldigen wollen?«»Selbstverständlich«, sagte Pendergast.»Entschuldigen Sie bitte, dass wir Ihre kostbareZeit in Anspruch genommen haben.«D’Agosta sah Pendergast ungläubig an, deraufstand und sich zum Gehen wandte. Siesollten sich diesen Quatsch einfach bietenlassen und wieder gehen?Pendergast drehte sich um und ging zur Tür,dann zögerte er. »Seltsam, dass es Ihnengelungen ist, die Autopsie von Fearings Leichein so kurzer Zeit durchzuführen. Wie viele Tagehaben Sie dafür gebraucht?«»Vier. Aber dabei handelte es sich um eineneindeutigen Fall von Selbstmord. Wir habenhier ein Lagerungsproblem.«»Aber das ist doch prima! Angesichts Ihres›Lagerungsproblems‹ hätten wir die Autopsievon Smithbacks Leiche gern in vier Tagenbeendet.«Kurzes Lachen. »Mr. Pendergast, Sie haben mirnicht zugehört. Ich lasse Sie wissen, wann wirdie Autopsie einplanen können. Wenn Sie mich

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nun bitte …«»Dann nehmen Sie die Autopsie doch bitte indrei Tagen vor.«Der Arzt starrte ihn an. »Wie bitte?«Pendergast drehte sich zu ihm um. »Ich sagte,in drei Tagen.«Heffler kniff die Augen zusammen: »Sie sindunverschämt, Sir.«»Und Sie leiden unter einem ungeheuerlichenMangel an Moral.«»Wovon zum Teufel reden Sie?«»Davon, dass es doch schade wäre, wennöffentlich bekannt würde, dass Ihr Institut dieGehirne von mittellosen Toten verkauft.«Ein langes Schweigen folgte. Schließlich sagteHeffler in eisigem Ton: »Mr. Pendergast,drohen Sie mir?«Pendergast lächelte. »Wie schlau von Ihnen,Dr. Heffler.«»Worauf Sie, wie ich vermute, anspielen, ist einabsolut zulässiges und rechtmäßigesVerfahren. Es dient einer hochangesehenenSache – der medizinischen Forschung. Wir

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entnehmen den nicht abgeholten Leichnamendie verschiedensten Organe, nicht nur dasGehirn. Diese Leichname rettenMenschenleben und sind für die medizinischeForschung von größter Bedeutung.«»Das entscheidende Wort hier ist verkaufen.Zehntausend Dollar für ein Gehirn – ist das deraktuelle Preis? Wer hätte gedacht, dass einGehirn so wertvoll ist?«»Um Himmels willen, wir verkaufen die Gehirnedoch nicht, Mr. Pendergast. Wir bitten um dieErstattung unserer Auslagen. Es kostet unsGeld, die Organe zu entnehmen und zubearbeiten.«»Eine Unterscheidung, die die Leser der NewYork Post womöglich nicht zu schätzen wissen.«Heffler wurde aschfahl. »Die Post? Dieschreiben doch nicht darüber?«»Noch nicht. Aber können Sie sich nicht dieSchlagzeile vorstellen?«Heffler wurde zornesrot, seine Fliege zittertevor Wut. »Sie wissen ganz genau, dass diesesVorgehen niemandem schadet. Das Geld wird

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genauestens verbucht und unterstützt unsereArbeit hier. Mein Vorgänger, wie auch dessenVorgänger, hat es genauso gehalten. Wirhalten uns nur deshalb bedeckt, weil denMenschen sonst unbehaglich zumute wäre.Wirklich, Mr. Pendergast, diese Drohung isteine Frechheit. Eine Frechheitsondergleichen.«»In der Tat. Also dann in drei Tagen?«Der Rechtsmediziner starrte ihn aus harten,glitzernden Augen an. Ein kurzes Nicken. »Inzwei Tagen.«»Vielen Dank, Dr. Heffler. Ich bin Ihnen sehrverbunden.« Und damit wandte sichPendergast zu D’Agosta um. »Aber jetzt dürfenwir wirklich nicht mehr von Dr. Hefflerskostbarer Zeit in Anspruch nehmen.« Während sie das Gebäude verließen, auf dieFirst Avenue hinaustraten und in Richtung desRolls schritten, der im Leerlauf auf sie wartete,konnte D’Agosta nicht umhin zu kichern. »Wiehaben Sie denn dieses Kaninchen aus dem Hut

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gezaubert?«»Ich weiß auch nicht, warum mir das so geht,Vincent, aber es gibt in einflussreichenPositionen gewisse Leute, die andereMenschen in ihrer Arbeit behindern. Ichfürchte, es bereitet mir ein ebensoniederträchtiges Vergnügen, mich gegenüberdiesen Personen unhöflich zu zeigen. Eineschlechte Angewohnheit, ich weiß, aber inmeinem Alter ist es sehr schwierig, die kleinenLaster abzulegen.«»Heffler hat Sie als verdammt ›unhöflich‹empfunden.«»Ich fürchte jedoch, dass er recht hatte, was dieErgebnisse der DNA-Untersuchung betrifft. Essteht nicht in seiner Macht, nicht einmal inmeiner, die Angelegenheit zu beschleunigen,vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass einegerichtliche Verfügung erforderlich ist. Darumist ein anderes Vorgehen nötig. Und deshalbwerden wir heute Nachmittag WilloughbyManor in Kerhonkson einen Besuch abstattenund einer gewissen Gladys Fearing unser

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Beileid aussprechen.«»Wieso? Sie ist doch non compos mentis.«»Und doch, mein lieber Vincent, habe ich dasGefühl, dass sich Mrs. Fearing womöglich alsüberraschend auskunftsfreudig erweist.«

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Leise schloss Nora Kelly die Tür zu ihrem Laborin der Abteilung für Anthropologie imKellergeschoss des Museums, lehnte sichdagegen und schloss die Augen. Sie hattepochende Kopfschmerzen, und ihr Hals fühltesich rauh und trocken an.Es war viel schlimmer gewesen, als sie es sichvorgestellt hatte, dieses Spießrutenlaufenzwischen den Kollegen mit ihren gutgemeintenBeileidsbezeugungen, ihren tragischen Mienen,den Angeboten, zu helfen, den Vorschlägen,sich doch ein paar Tage freizunehmen. Ein paarTage freinehmen? Um was zu tun? In dieWohnung zurückzukehren, in der ihr Mannermordet worden war, und dort herumzusitzen,allein mit ihren Gedanken? Tatsache war, dasssie vom Krankenhaus auf direktem Weg insMuseum gefahren war. Ungeachtet dessen,

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was sie D’Agosta gesagt hatte, sie ertrug eseinfach nicht, in die Wohnung zurückzukehren –zumindest nicht sofort.Sie öffnete die Augen wieder. Das Labor war so,wie sie es vor zwei Tagen zurückgelassen hatte.Und dennoch sah es so anders aus. Alles seitdem Mord schien anders zu sein. Es war, alshabe sich die ganze Welt verändert – durch unddurch.Verärgert versuchte sie, ihre fruchtlosenGedanken zu verdrängen. Sie sah auf die Uhr.Jetzt konnte sie nur eines retten: dasEintauchen in ihre Arbeit. Das vollständige,totale Eintauchen.Sie schloss die Tür zum Labor, dann schaltetesie den Mac an. Sobald er hochgefahren war,öffnete sie die Datenbank mit ihrenTonscherben. Sie schloss eine Schublade mitAblagekästen auf und zog einen davon heraus,so dass Dutzende von Plastikbeuteln mitnummerierten Tonscherben zum Vorscheinkamen. Sie öffnete den ersten Beutel, legte dieScherben auf den Filzstoff auf der Tischplatte

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und fing an, sie nach Typus, Datum undFundort zu klassifizieren. Eine langweilige,stupide Arbeit, aber genau das brauchte siejetzt. Stupide Arbeit, um zu vergessen.Nach einer halben Stunde unterbrach sie sich.Es war grabesstill in ihrem Kellergeschoss-Labor, nur die Luftumwälzungsanlage zischteleise wie ein stetes Flüstern in der Dunkelheit.Der Albtraum im Krankenhaus hatte Noraverängstigt – der Traum war so real gewesen.Die meisten Träume verblassten mit der Zeit,aber dieser schien, sofern das möglich war, nurnoch klarer zu werden.Sie schüttelte den Kopf, verärgert darüber,dass ihre Gedanken immer wieder um diegleichen abscheulichen Dinge kreisten. Siedrückte kräftiger als erforderlich auf dieTasten, beendete die Eingabe der Daten dervorliegenden Charge und speicherte alles ab.Dann machte sie sich daran, die Scherbeneinzupacken und den Tisch für die nächstenBeutel voll Scherben freizuräumen.Sie hörte ein leises Klopfen an der Tür.

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Bitte nicht noch ein Kondolenzbesuch. Norablickte hinüber zu dem kleinen Glasfenster inder Tür, aber der dahinterliegende Flur war soschummrig, dass sie nichts erkennen konnte.Nach einem Augenblick stand sie auf, ging zurTür und legte die Hand auf den Türknauf. Dannhielt sie inne.»Wer ist da?«»Primus Hornby.«Etwas erschrocken schloss Nora die Tür auf.Vor ihr stand der kleine, kugelrunde Kuratorder Anthropologischen Abteilung, eineMorgenzeitung unter den dicken kurzen Armgeklemmt, und strich sich mit der anderenHand nervös über die Glatze. »Ich bin froh, dassich Sie gefunden habe. Darf ich?«Widerstrebend machte Nora einen Schritt zurSeite, um Hornby hereinzulassen. Der ein wenigungepflegte, kleine Hornby trat ein und drehtesich um. »Nora, es tut mir ja so furchtbar leid.«Wieder strich er sich über die Glatze. Sie gabihm keine Antwort – sie konnte es einfach nicht.Weder wusste sie, was sie sagen, noch, wie sie

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es sagen sollte.»Ich freue mich, dass Sie an Ihren Arbeitsplatzzurückgekehrt sind. Die Arbeit heilt alleWunden, finde ich.«»Vielen Dank für Ihre Anteilnahme.« Vielleichtwürde er ja jetzt abhauen. Aber er schien etwasauf dem Herzen zu haben.»Vor einigen Jahren, ich war aufForschungsreise in Haiti, habe ich meine Frauverloren. Sie kam bei einem Autounfall inKalifornien ums Leben, während meinerAbwesenheit. Ich weiß, wie Sie sich fühlenmüssen.«»Vielen Dank, Primus.«Er ging weiter ins Labor hinein. »Tonscherben,wie ich sehe. Wie wunderschön sie sind. EinBeispiel für das Streben des Menschen, auchdie alltäglichsten Gegenstände zuverschönern.«»Ja, das stimmt.« Wann haut er endlich ab? Imnächsten Augenblick hatte Nora ein schlechtesGewissen, weil sie so abweisend auf ihnreagierte. Auf seine Weise versuchte er doch

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nur freundlich zu sein. Aber es war einfachnicht die Art, wie sie trauerte, all diesesGerede, dieses Mitleid, dieseBeileidsbezeugungen.»Verzeihen Sie mir, Nora«, er zögerte, »aber ichmuss das fragen. Haben Sie vor, Ihren Mannbeerdigen oder verbrennen zu lassen?«Die Frage war so bizarr, dass Nora einenMoment lang ganz verdattert war. Exakt dieserFrage war sie bisher ganz bewusstausgewichen, auch wenn ihr klar war, dass siesich ihr bald stellen musste.»Ich weiß es nicht«, antwortete sie sehr vielknapper, als sie beabsichtigt hatte.»Verstehe.« Unerklärlicherweise machteHornby ein sorgenvolles Gesicht. Was er siewohl als Nächstes fragen würde? »Wie gesagt,ich war auf einer Forschungsreise in Haiti.«»Ja.«Hornby wurde aufgeregt. »In Dessalines, wo ichdamals lebte, wird manchmal Formalazen alsEinbalsamierungsflüssigkeit anstatt derüblichen Mischung aus Formalin, Ethanol und

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Methanol verwendet.«Das Gespräch nahm eine Wendung insSurreale. »Formalazen?«, wiederholte Nora.»Ja. Es ist weitaus giftiger und schwieriger inder Handhabung, aber die Leute dort ziehen esvor … na ja, aus gewissen Gründen. Manchmalerhöhen sie noch die toxische Wirkung, indemsie Rattengift hinzugeben. In bestimmtenungewöhnlichen Fällen – bei bestimmtenTodesarten – bitten sie auch denBestattungsunternehmer, den Mund des Totenzuzunähen.« Wieder zögerte er. »Und insolchen Fällen beerdigen sie ihn mit dem Kopfnach unten, Mund zur Erde, mit einem langenMesser in der Hand. Mitunter schießen sie derLeiche auch eine Kugel ins Herz und stoßen einEisenspitze hinein, um … na ja, sie noch einmalzu töten.«Nora starrte den merkwürdigen kleinen Kuratorungläubig an. Sie hatte zwar schon immergewusst, dass er ein Exzentriker war und dassseine seltsamen Studien ihn etwas zu tiefberührten, aber das hier war so irrsinnig fehl

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am Platze, dass sie es kaum fassen konnte.»Wie interessant«, brachte sie hervor.»Die Leute in Dessalines sind manchmal sehrvorsichtig, wenn es darum geht, ihre Totenbeizusetzen. Sie folgen strengen Regeln,scheuen weder Kosten noch Mühe. Einangemessenes Begräbnis kann bis zum Zwei-oder Dreifachen eines Jahresgehalts kosten.«»Verstehe.«»Noch einmal, es tut mir furchtbar leid.« Unddamit faltete er die Zeitung auseinander, die erunterm Arm getragen hatte, und legte sie aufden Tisch. Es handelte sich um eine Ausgabedes West Sider vom selben Morgen.Nora warf einen Blick auf die Schlagzeile.

REPORTER DER TIMES VON ZOMBIERMORDET?

Hornby tippte mit seinem Stummelfinger auf dieSchlagzeile. »Auf genau diesem Gebiet habe ichgearbeitet. Voodoo. Obeah. Zombies – korrektnatürlich mit ie buchstabiert, nicht wie die dashier geschrieben haben. Aber der West Sider

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kriegt ja nie etwas richtig hin.« Er schnaubteverächtlich.»Was …?« Nora war sprachlos, starrte nur aufdie Schlagzeile.»Wenn Sie sich also entschließen, Ihren Mannzu begraben, dann hoffe ich, dass Sie an meineWorte denken. Sollten Sie irgendwelche Fragenhaben, Nora, ich bin immer für Sie da.«Und dann, nach einem letzten, traurigenLächeln, war der kleine Kurator verschwunden,aber die Zeitung hatte er auf dem Tisch liegengelassen.

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Lautlos schnurrte der Rolls-Royce durch dieheruntergekommene Kleinstadt Kerhonkson,glitt dahin auf einer Straße mit rissigerAsphaltdecke, vorbei an einer verlassenenFeriensiedlung und fuhr dann eine gewundeneStraße hinab in ein düsteres, von tropfnassenBäumen beherrschtes Flusstal. Noch eineletzte, enge Kurve, dann kam eine verwitterteviktorianische Villa in Sicht, daneben einKomplex niedriger Backsteingebäude, die voneinem Maschendrahtzaun umgeben waren. Einin spätnachmittägliche Schatten getauchtesSchild verkündete, dass das Gebiet zum»Pflegeheim Willoughby Manor« gehörte.»Mamma mia«, sagte D’Agosta. »Sieht aus wieein Gefängnis.«»Es handelt sich hier um einen derberüchtigteren Abschiebebahnhöfe für die

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Gebrechlichen und Alten im Staate New York«,erklärte Pendergast. »Die Akte, die dasGesundheitsamt über das Pflegeheim führt,quillt über von Berichten über Verstöße gegendie gesetzlichen Bestimmungen.«Sie fuhren durch das offene Tor, vorbei aneinem unbemannten Unterstand, dann übereinen großen, leeren Besucherparkplatz, aufdem das Unkraut durch ein Netz von Rissenspross. Proctor brachte den Rolls vor demHaupteingang zum Stehen. D’Agosta stieg ausund bereute schon jetzt, den angenehmweichen Sitz verlassen zu haben. Pendergaststieg ebenfalls aus. Nachdem sie das Gebäudedurch eine Tür aus blindem Plexiglas betretenhatten, standen sie in einer Eingangshalle, inder es nach schimmeligen Teppichen und altemKartoffelbrei roch. Auf einemhandgeschriebenen, an einem Holzständerangebrachten Schild in der Mitte der Lobbystand:

Alle Besucher MÜSSEN sich am Empfang

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melden!

Ein gekritzelter Pfeil zeigte in eine Ecke, in derein Schreibtisch stand, dahinter eine Frau, diein einer Cosmopolitan las. Die Frau brachtewohl mindestens zweieinhalb Zentner auf dieWaage.D’Agosta zückte seinen Dienstausweis.»Lieutenant D’Agosta, Special Agent –«»Besuchszeit ist von zehn bis zwei«, sagte sie,ohne von der Zeitschrift aufzublicken.»Entschuldigen Sie. Wir sind Polizeibeamte.« Erhatte keine Lust mehr, sich diesen Scheißbieten zu lassen, von niemandem, nicht beidiesen Ermittlungen.Schließlich legte die Frau die Zeitschrift aus derHand und schaute sie an.D’Agosta ließ sie einen Moment auf seinenAusweis starren, dann steckte er ihn in dieJackentasche zurück. »Wir möchten mitMrs. Gladys Fearing sprechen.«»Na gut.« Die Frau betätigte den Knopf an derGegensprechanlage und brüllte hinein. »Cops

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hier, die Fearing besuchen wollen.« Danndrehte sie sich wieder zu ihnen um – mit einerMiene, die plötzlich nicht mehr gelangweilt,sondern unerwartet interessiert wirkte. »Wasist denn passiert? Geht es um ein Verbrechen?«Pendergast beugte sich vor und befleißigte sicheines vertraulichen Tonfalls. »Um ganz ehrlichzu sein, ja.«Die Frau riss die Augen auf.»Einen Mord«, flüsterte er.Sie schlug die Hand vor den Mund. »Wo? Hier?«»In New York.«»War es Mrs. Fearings Sohn?«»Sie meinen Colin Fearing?«D’Agosta sah ihn an. Worauf zum Teufel wollteer hinaus?Pendergast richtete sich auf und rückte seineKrawatte zurecht. »Kennen Sie Colin gut?«»Eigentlich nicht.«»Aber er hat seine Mutter regelmäßig besucht,oder? Vergangene Woche zum Beispiel?«»Ich glaube nicht.« Die Frau zog einBesucherbuch zu sich heran und blätterte darin

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herum. »Nein.«»Dann müsste es eine Woche davor gewesensein.« Pendergast beugte sich vor, um einenBlick in das Besucherbuch werfen zu können.Sie blätterte weiter; aufmerksam verfolgte ermit dem Blick die Seiten. »Nein. Das letzte Malhat er sie … im Februar besucht. Vor achtMonaten.«»Ach, tatsächlich!«»Sehen Sie selbst.« Sie drehte das Buch um,damit Pendergast den Eintrag lesen konnte. Erbetrachtete die hingekritzelte Unterschrift,dann blätterte er zum Anfang des Buchszurück, wobei er sich jede Seite genau ansah.Er richtete sich auf. »Wie es scheint, hat erseine Mutter nicht sehr häufig besucht.«»Niemand besucht hier seine Angehörigen oft.«»Und Mrs. Fearings Tochter?«»Ich wusste gar nicht, dass sie eine Tochterhat. Ist jedenfalls nie hier gewesen.«Pendergast legte freundlich seine Hand aufihre überaus kräftige Schulter. »InBeantwortung Ihrer Frage, ja, Colin Fearing ist

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tot.«Sie hielt inne und riss die Augen weit auf.»Ermordet?«»Wir kennen die Ursache seines Todes nochnicht. Es hat also noch niemand der Mutterdavon erzählt?«»Niemand. Keiner hier hat etwas davongewusst, glaube ich. Aber …« Sie zögerte. »Siesind doch nicht gekommen, um es ihr zu sagen,oder?«»Streng genommen nicht.«»Ich finde, Sie sollten das auch nicht. Warumihr die letzten Monate ihres Lebens vermiesen?Ich meine, er hat sie kaum einmal besucht undist auch nie lange geblieben. Er wird ihr schonnicht fehlen.«»Wie war er denn so?«Sie verzog das Gesicht. »Ich würde einen Sohnwie ihn nicht wollen.«»Ah ja? Könnten Sie uns das etwas nähererläutern?«»Er war unhöflich. Gemein. Er hat mich DickeBertha genannt.« Sie wurde rot.

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»Das ist empörend. Und wie heißen Sie, meineLiebe?«»Jo-Ann.« Sie zögerte. »Sie werdenMrs. Fearing doch nichts von seinem Toderzählen, oder?«»Das ist sehr mitfühlend von Ihnen, Jo-Ann.Dürften wir nun Mrs. Fearing besuchen?«»Wo steckt denn dieser Pfleger?« Sie wolltegerade wieder den Knopf an derGegensprechanlage drücken, da besann siesich eines Besseren. »Ich bringe Sie selbst zuihr. Aber ich muss Sie warnen: Mrs. Fearing istziemlich plemplem.«»Plemplem«, wiederholte Pendergast.»Verstehe.«Die Frau erhob sich mühsam aus ihrem Stuhl,höchst beflissen, ihnen zu helfen. Sie folgten ihrüber einen langen, schwach beleuchteten Flurmit Linoleumboden und wurden erneut vonunangenehmen Gerüchen attackiert,menschliche Ausdünstungen, gekochteSpeisen, Erbrochenes. Hinter den Türen, andenen sie vorbeikamen, ertönte Murmeln,

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Stöhnen, verrückt klingendes lautes Reden,Schnarchen.Die Frau blieb an einer offenen Tür stehen undklopfte an. »Mrs. Fearing?«»Verschwinden Sie«, lautete die kraftloseAntwort.»Hier sind zwei Herren, die Sie besuchenmöchten, Mrs. Fearing!« Jo-Ann bemühte sich,gute Laune in ihre Stimme zu legen.»Ich will niemanden sehen«, ließ sich dieStimme aus dem Zimmer vernehmen.»Vielen Dank, Jo-Ann«, sagte Pendergast inseinem charmantesten Tonfall. »Ab jetztschaffen wir das allein. Sie sind ein Schatz.«Sie betraten das Zimmer. Es war klein, darinein Minimum an Möbeln und persönlichenDingen. Beherrscht wurde es von einemKrankenhausbett, das mitten auf demLinoleumboden stand. Elegant ließ sichPendergast auf einem Stuhl neben dem Bettnieder.»Verschwinden Sie«, wiederholte die Frau. IhreStimme klang schwach und ohne Überzeugung.

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Sie lag im Bett, ihr schlohweißes Haar warunfrisiert, die einst blauen Augen fast weiß, dieHaut so zart und durchscheinend wiePergament. D’Agosta sah die schimmerndeRundung ihrer Kopfhaut unter dem strähnigenHaar. Auf einem Krankenhaustisch mit Rollenstanden schmutzige Teller. Das Mittagessen,das Stunden zurücklag.»Hallo, Gladys«, sagte Pendergast und fassteihre Hand. »Wie geht es Ihnen?«»Lausig.«»Darf ich Ihnen eine persönliche Fragestellen?«»Nein.«Pendergast drückte ihre Hand. »Erinnern Siesich an Ihren ersten Teddybären?«Sie starrte ihn aus ihren trüben Augen an,erschöpft, verständnislos.»Ihr erster Teddybär. Erinnern Sie sich noch anihn?«Langsames, verwundertes Nicken.»Und wie hieß er?«Langes Schweigen. Dann sagte sie: »Molly.«

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»Ein schöner Name. Was ist denn mit Mollypassiert?«Noch eine lange Pause. »Ich weiß es nicht.«»Und wer hat Ihnen Molly geschenkt?«»Daddy. Zu Weihnachten.«D’Agosta sah, dass ein wenig Lebendigkeit inihren Augen aufflackerte. Nicht zum ersten Malfragte er sich, was Pendergast mit dieserbizarren Art von Befragung bezweckte.»Was für ein wundervolles Geschenk Mollygewesen sein muss«, sagte Pendergast.»Erzählen Sie mir von ihr.«»Sie war aus Socken zusammengenäht und mitLumpen ausgestopft. Sie hatte eine Fliegeaufgemalt bekommen. Ich habe diesen Teddygeliebt. Ich habe ihn jede Nacht mit ins Bettgenommen. Wenn ich Molly bei mir hatte, habeich mich geborgen gefühlt. Niemand konnte mirwehtun.« Ein strahlendes Lächeln zeigte sichauf dem Gesicht der alten Dame; in dem einenAuge stieg eine Träne auf und lief ihr dieWange hinunter.Rasch bot Pendergast ihr ein

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Papiertaschentuch aus einem Päckchen an, daser aus der Hosentasche hervorgeholt hatte. Sienahm es, betupfte sich die Augen undschneuzte sich. »Molly«, wiederholte sie mitabwesender Stimme. »Was würde ich dafürgeben, diesen albernen alten ausgestopftenBären wieder im Arm halten zu können.« Zumersten Mal schien sie den Blick auf Pendergastzu richten. »Wer sind Sie?«»Ein Freund. Ich bin nur gekommen, um einwenig mit Ihnen zu plaudern.« Er erhob sichvon seinem Stuhl.»Müssen Sie schon gehen?«»Ich fürchte, ja.«»Kommen Sie doch mal wieder. Sie gefallen mir.Sie sind ein feiner junger Mann.«»Vielen Dank. Ich will es versuchen.«Kurz bevor sie das Pflegeheim verließen, reichtePendergast Jo-Ann seine Visitenkarte. »Wennjemand wegen Mrs. Fearing anruft, wären Siedann so freundlich, es mich wissen zu lassen?«»Selbstverständlich!« Sie nahm die Visitenkartegeradezu ehrfürchtig entgegen.

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Kurz darauf standen sie vor dem Eingang desHeims, auf dem schäbigen, leeren Parkplatz,der Rolls glitt heran, um sie abzuholen.Pendergast hielt D’Agosta die Tür auf. EineViertelstunde später rollten sie auf derInterstate 87 nach New York zurück.»Ist Ihnen das alte Gemälde auf dem Flur vorMrs. Fearings Zimmer aufgefallen?«, fragtePendergast. »Ich glaube, es handelt sich umeinen echten Bierstadt, der unbedingtrestauriert werden müsste.«D’Agosta schüttelte den Kopf. »Wollen Sie mirnun endlich verraten, worum es da eben ging,oder bereitet es Ihnen Vergnügen, mich imDunkeln tappen zu lassen?«Mit einem belustigten Funkeln im Blick holtePendergast eine Reagenzflasche aus seinerManteltasche. In dem Gefäß steckte einfeuchtes Papiertaschentuch.D’Agosta starrte darauf. Er hatte nicht malmitbekommen, dass Pendergast das benutztePapiertaschentuch an sich genommen hatte.»Um DNA-Spuren zu bekommen?«

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»Um DNA-Spuren zu bekommen?«»Selbstverständlich.«»Und die Sache mit dem Teddybären?«»Jeder hatte als Kind einen Teddybären. Zweckder Übung war, dass sich die alte Dameschneuzt.«D’Agosta war entsetzt. »Das war gemein.«»Im Gegenteil.« Pendergast steckte dasReagenzglas wieder ein. »Mrs. Fearing hatTränen des Glücks vergossen. Wir haben ihrden Tag versüßt, und im Gegenzug hat sie unseinen Gefallen erwiesen.«»Hoffentlich bekommen wir die DNA-Analysevor dem Sankt- Nimmerleins-Tag.«»Noch einmal: Wir werden nicht nurungewöhnliche Wege beschreiten müssen, wirmüssen diese Wege auch noch verlassen.«»Soll heißen?«Doch Pendergast lächelte nur geheimnisvoll.

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»Nora, es tut mir sehr leid!« Der Doormanöffnete ihr schwungvoll die Tür, fasste ihreHand und hüllte sie dabei mit seinem Duft nachHaarwasser und Aftershave ein. »In IhrerWohnung ist alles bereit. Schlösserausgewechselt. Alles fix und fertig. Ich habeneuen Schlüssel. Ich spreche Ihnen meinaufrichtiges Beileid aus. Aufrichtiges.«Nora spürte, wie ihr der kalte flache Schlüsselin die Hand gedrückt wurde.»Wenn Sie meine Hilfe brauchen, lassen Siemich wissen.« Er schaute sie mit ehrlicherSorge in seinen feuchten braunen Augen an.Nora schluckte. »Vielen Dank, Enrico, für IhreAnteilnahme.« Sie sagte diesen Satz inzwischenfast schon automatisch.»Alles. Alles. Rufen Sie Enrico und ichkommen.«

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»Vielen Dank.« Sie ging zum Fahrstuhl, zögerteund ging weiter. Sie musste das hier tun, ohneallzu viel zu überlegen.Die Fahrstuhltüren schlossen sich klackend,leise glitt die Kabine hinauf in den sechstenStock. Als die Türen sich öffneten, rührte sichNora nicht vom Fleck. Dann, gerade als sich dieTüren wieder zu schließen begannen, trat sierasch in den Flur.Alles war still. Hinter einer Tür ertönte leise einStreichquartett von Beethoven, hinter eineranderen eine gedämpfte Unterhaltung. Siemachte einen Schritt, zögerte dann abererneut. Vor ihr, kurz vor der Biegung desKorridors, erblickte sie die Tür zu ihrer beider –zu ihrer – Wohnung. Die aufgeschraubtenZiffern aus Messing: 612.Langsam ging sie den Flur hinunter, bis sie vorder Tür stand. Der Spion war dunkel, kein Lichtin der Wohnung. Der Schlosszylinder und derBeschlag waren brandneu. Sie öffnete die Handund starrte auf den Schlüssel, glänzend, frischgefräst. Er wirkte irreal. Nichts schien wirklich

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zu sein. Jamais vu – der Gegensatz von déjà vu.Es war, als sähe sie alles zum ersten Mal.Langsam schob sie den Schlüssel ins Schlossund drehte ihn. Das Schloss klickte, dannmerkte sie, wie sich die Tür im Rahmenbewegte. Sie drückte gegen die Tür, die sich inden frisch geölten Angeln mühelos öffnete. DieWohnung lag im Dunkel. Nora streckte dieHand nach dem Lichtschalter aus, tastetedanach, konnte ihn nicht finden. Wo ist er? Sietrat in die Dunkelheit, tastete an der leerenWand entlang, und plötzlich bekam sieHerzklopfen. Ein Geruch – nach Putzmitteln,Möbelpolitur … und noch etwas anderemumhüllte sie.Die Tür fiel hinter ihr zu und sperrte das Lichtvom Flur aus. Mit einem erstickten Schrei griffsie hinter sich, ergriff den Türknauf, trat zurückin den Flur und schloss die Tür. NorasSchultern bebten, sie lehnte den Kopf an dieTür und versuchte die Schluchzer, die ihrenKörper erbeben ließen, zu unterdrücken.Nach einigen Minuten hatte sie sich mehr oder

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weniger im Griff. Sie blickte den Flur hinaufund hinunter, dankbar, dass niemandvorbeigegangen war. Halb genierte sie sichwegen des Ansturms der Gefühle, die sich in ihrangestaut hatten, halb fürchtete sie sich vorihnen. Es war töricht zu glauben, sie könnteeinfach so in die Wohnung zurückkehren, in derihr Mann erst 48 Stunden zuvor ermordetworden war. Sie würde sich bei Margo Greeneinquartieren und ein paar Tage bei ihrbleiben, aber dann fiel ihr ein, dass Margo jabis Januar im Forschungsurlaub war.Sie musste raus hier. Sie fuhr im Fahrstuhlwieder hinunter ins Erdgeschoss und ging aufetwas wackligen Beinen durch die Lobby. DerDoorman öffnete ihr die Tür. »Wenn Sie etwasbrauchen, rufen Sie Enrico«, sagte er, als sie,jetzt schon im Laufschritt, an ihm vorbeiging.Auf der 82. Straße ging sie nach Osten, inRichtung Broadway. Es war ein kühler, aberimmer noch angenehmer Oktobertag, dieBürgersteige belebt, die Leute waren auf demWeg in Restaurants, führten ihre Hunde Gassi

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oder wollten einfach nur nach Hause. Noraschritt schneller aus; an der frischen Luftwürde sie bestimmt einen klareren Kopfbekommen. Sie ging raschen Schritts RichtungInnenstadt und wich den Leuten aus. Hierdraußen auf der Straße, unter anderenMenschen, wollte sie ihre Gedanken allmählichunter Kontrolle bringen und das, was ebenpassiert war, mit etwas mehr Distanzbetrachten. Es war töricht gewesen, so panischzu reagieren – irgendwann musste sie ja in ihreWohnung zurückkehren, und zwar je eher,desto besser. All ihre Bücher, ihreArbeitsunterlagen, ihr Computer, seineSachen – alles war dort.Einen Augenblick lang wünschte sie, dass ihreEltern noch lebten, dass sie sich in ihre Armeflüchten könnte. Aber das war ein nochtörichteres, sinnloseres Gedankenspiel.Sie schritt langsamer aus. Vielleicht sollte siewieder umkehren. Sie zeigte doch nur jene Artvon Gefühlsreaktion, von der sie gehofft hatte,sie vermeiden zu können.

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Sie blieb stehen und blickte sich um. Neben ihrstanden Leute Schlange, um in die WaterworksBar eingelassen zu werden. In einemTüreingang knutschte ein Pärchen. EineGruppe von Wall-Street-Typen ging nach Hause,alle trugen dunkle Anzüge und Aktentaschen.Noras Blick fiel auf einen Obdachlosen, der anden Häuserwänden entlangschlurfte, imgleichen Tempo wie sie. Auch er blieb jetztstehen, drehte sich abrupt um und ging in dieentgegengesetzte Richtung weiter.Etwas an der Verstohlenheit dieser Bewegung,an der Art, wie der Mann sein Gesicht vor denBlicken verbarg, weckte sofort NorasGroßstadt-Instinkte.Sie beobachtete, wie der in schmutzige Lumpengekleidete Obdachlose dahinschlurfte unddabei exakt so wirkte, als versuche er zuverschwinden. Hatte er gerade jemandenberaubt? Als sie ihm hinterherging, erreichteder Mann die Ecke 88. Straße, blieb stehen,schlich dann um die Ecke und blickte nocheinmal nach hinten, ehe er verschwand.

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Nora blieb beinahe das Herz stehen. Es warFearing. Sie war sich da fast sicher; dasselbehagere Gesicht, dieselbe schlaksige Figur,dieselben dünnen Lippen, dasselbeungebändigte Haar und anzügliche Grinsen.Eine lähmende Angst packte sie – die ebensorasch blanker Wut wich.»Hey!«, schrie sie und fiel in Laufschritt. »Hey,Sie da!« Sie drängte sich durch die Leute aufdem überfüllten Bürgersteig, behindert durchdie Menschentraube vor dem Waterworks. Siedrängelte sich einfach durch.»Wow, Lady!«»Entschuldigen Sie!«Sie löste sich aus der Menschenansammlungund rannte los, strauchelte, fing sich wieder,dann setzte sie die Verfolgung fort undsprintete um die Ecke. Die 88. Straße, lang undschwach beleuchtet, gesäumt von Ginkgo-Bäumen und dunklen Brownstone-Häusern,verlief nach Osten und mündete in die hellenLichter der Amsterdam Avenue mit ihrenEdelbars und -restaurants. Eine dunkle Gestalt

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bog gerade in die Amsterdam ein und strebtezurück in die Innenstadt.Nora lief die Straße entlang, rannte, so schnellsie konnte, und verfluchte, dass sie nach derGehirnerschütterung und der Bettruhe soschwach und hinfällig war. Sie umrundete dieEcke und blickte die Amsterdam hinunter, aufder sich genauso viele Leute tummelten.Da war er. Er schritt jetzt schnell undentschlossen aus, einen halben Häuserblockvor ihr.Sie stieß einen jungen Mann zur Seite undrannte wieder los, um die Gestalt einzuholen.»Hey! Sie da!«Die Gestalt ging weiter.Nora spurtete zwischen den Fußgängernhindurch und streckte den Arm aus. »Halt!«Kurz vor der 87. Straße holte sie den Mann ein.Sie packte den schmutzigen Stoff an seinerSchulter und riss ihn herum. Er starrte Noraaus ängstlich geweiteten Augen an. Sie ließ ihnlos und trat einen Schritt zurück.»Was ist dein Problem?« Ganz klar, das war

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nicht Fearing. Nur irgendein Junkie.»Entschuldigung«, murmelte sie. »Ich habe Siefür jemand anderen gehalten.«»Lass mich in Ruhe.« Er wandte sich ab,murmelte »Miststück« und ging weiterunsicheren Schritts die Amsterdam hinunter.Nora sah sich hektisch um, aber der wirklicheFearing – wenn er denn überhaupt hiergewesen war – war verschwunden. Mit zittrigenBeinen stand sie inmitten dervorüberhastenden Menschen. Nur mit größterMühe bekam sie ihre Atmung unter Kontrolle.Schließlich fiel ihr Blick auf die nächstgelegeneBar, den Neptune Room, ein lautes, teuresFischrestaurant, in dem sie noch nie gewesenwar. Sie hatte das auch noch nie gewollt. Undnie damit gerechnet, dass sie es doch mal tunwürde.Sie ging hinein und nahm auf einem BarhockerPlatz. Der Barkeeper kam sofort zu ihr. »Wasmöchten Sie?«»Einen Beefeater-Martini, extra dry, ohne Eis.«»Kommt sofort.«

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»Kommt sofort.«Während sie an dem übergroßen, eiskaltenDrink nippte, schalt sie sich, dass sie sich wieeine Irre benommen hatte. Der Traum war nurein Traum, und der Obdachlose war nichtFearing. Sie war innerlich aufgewühlt; siemusste sich zusammenreißen, sich beruhigenund wieder Ordnung in ihr Leben bringen, sogut es eben ging.Sie trank aus. »Wie viel macht das?«»Das geht aufs Haus. Und ich hoffe«, sagte derBarkeeper zwinkernd, »dass das Gespenst, dasSie da eben gesehen haben, inzwischenverschwunden ist.«Sie dankte ihm, erhob sich und spürte dabei dieberuhigende Wirkung des Alkohols. Gespenst,hatte der Barkeeper gesagt. Ja, sie musste sichihren Dämonen stellen, und zwar sofort. Sie warkurz davor, durchzudrehen und Gespenster zusehen, und das war inakzeptabel. Das wareinfach nicht sie.Nachdem sie einige Minuten zu Fuß gegangenwar, stand sie vor ihrem Mietshaus. Rasch

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schritt sie durch die Eingangstür, ließ eineweitere Salve wohlmeinender Bemerkungen desDoorman über sich ergehen und betrat denFahrstuhl. Kurz darauf stand sie vor ihrerWohnungstür. Sie steckte den Schlüssel insSchloss, schloss auf und tastete nach demLichtschalter, den sie auf Anhieb fand.Sie schloss zweimal hinter sich ab, schob denneu angebrachten Riegel vor und blickte sichum. Alles war aufgeräumt, sauber, gewischt,frisch gestrichen. Rasch, aber methodischdurchsuchte sie die gesamte Wohnung, blicktein die Schränke und unter das Bett.Dann zog sie die Vorhänge im Wohn- undSchlafzimmer zurück und schaltete alle Lampenwieder aus. Das Licht der Stadt fiel in dieWohnung, warf Schatten und tauchte alleOberflächen in einen weichen Schein.Es würde ihr nichts ausmachen, heute Nachthier zu bleiben, da war sie jetzt sicher; sie warin der Lage, ihre Dämonen zu bekämpfen.Aber nur so lange, wie sie in der Wohnungnichts anschauen musste.

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Die Kellnerin brachte ihre Bestellungen:Pastrami auf Roggentoast mit russischemDressing für D’Agosta, ein Bacon- Lettuce-and-Tomato-Sandwich für Laura Hayward.»Möchten Sie noch Kaffee?«»Ja, bitte.« D’Agosta sah der gestresstaussehenden Kellnerin dabei zu, wie sie seinenBecher vollschenkte. Dann drehte er sich zuHayward um. »Und das ist ungefähr der Standder Dinge«, schloss er.Er hatte Captain Hayward zum Luncheingeladen, um sie bezüglich der bisherigenErmittlungen auf den neuesten Stand zubringen. Laura Hayward gehörte nicht mehrder Mordkommission an – sie war versetztworden, arbeitete inzwischen im Büro desPolizeipräsidenten und war kurz davor, nocheine Stufe auf der Erfolgsleiter

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emporzusteigen. Wenn jemand eineBeförderung verdiente, dachte er reumütig,dann Laura.»Also«, sagte er, »hast du es gelesen?«Sie warf einen kurzen Blick auf die Zeitung, dieer mitgebracht hatte. »Ja.«Er schüttelte den Kopf. »Unfassbar, dass siesolches Zeug drucken, nicht wahr? Jetzt habenwir es mit allen möglichen Spinnern zu tun, diesich bei uns melden und behaupten, sie hättenetwas gesehen, und anonyme Briefe, denennachgegangen werden muss, Anrufe vonHellsehern und Tarotkartenlegern … Aber duweißt ja, wie diese Stadt reagiert, wenn einederart verrückte Geschichte publik wird. Dasist genau der Mist, den ich im Moment nichtbrauchen kann.«Ein leises Lächeln umspielte Haywards Lippen.»Ich verstehe dich.«»Und die Leute glauben diesen Quatsch auchnoch.« Er schob die Zeitung beiseite und tranknoch einen Schluck Kaffee. »Also … was hältstdu davon?«

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»Du hast vier Augenzeugen, die schwören, dassFearing der Mörder ist?«»Fünf, wenn man die Frau des Opfersmitrechnet.«»Du kennst sie, nicht wahr?«»Ja. Ich habe auch Bill Smithback gekannt. Einbisschen unorthodox in seinen Methoden, aberein guter Reporter. Was für eine Tragödie.«D’Agosta biss von seinem Sandwich ab. DiePastrami war mager, das Dressing warm –genau so, wie er es mochte. Allerdings hatte erimmer das Gefühl, zu viel zu essen, wenn ihnein Fall nervte.»Tja, entweder es ist Fearing oder jemand, dersich als Fearing ausgibt«, fuhr sie fort.»Entweder er ist tot oder nicht. Ganz einfach.Gibt’s schon DNA-Ergebnisse?«»Am Tatort wurde Blut von zwei Personengefunden – Smithbacks und welches vonjemandem, der noch nicht identifiziert ist. Wirhaben Proben von Fearings Mutter erhalten,die wir jetzt mit dem unbekannten Blutvergleichen.«

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Er hielt kurz inne und fragte sich, ob erHayward davon erzählen sollte, auf welchungewöhnliche Weise die DNA-Probengenommen worden waren, entschied sich aberdagegen. Es war möglicherweise illegal, und erwusste, wie genau sie sich an diesprichwörtlichen Regeln hielt. »Die Sache istdie: Wenn es nicht Fearing war, warum solltesich jemand die Mühe machen, wie Fearingauszusehen?«Hayward trank einen Schluck Wasser. »GuteFrage. Was denkt Pendergast?«»Seit wann weiß denn irgendjemand, was derKerl denkt? Aber ich verrate dir etwas: Erinteressiert sich mehr für diesen Voodoo-Krempel, der am Tatort gefunden wurde, als erzugeben will. Er beschäftigt sich verdammtintensiv damit.«»Mit dem Zeug, das in dem Zeitungsartikelerwähnt wird?«»Genau. Pailletten, ein Haufen Federn,zusammengebunden, ein kleinerBackpapierbeutel voller Staub.«

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»Gris-Gris«, sagte Hayward leise.»Wie bitte?«»Voodoozauber, zur Abwehr des Bösen.Manchmal auch, um jemandem Böseszuzufügen.«»Bitte verschone mich damit. Wir haben es hiermit einem Psychopathen zu tun. Der Mord hättenicht desorganisierter und schlechter geplantsein können. Auf dem Überwachungsvideosieht der Typ aus, als stünde er unter Drogen.«»Willst du meine Meinung hören, Vinnie?«»Das weißt du doch.«»Lass Fearings Leiche exhumieren.«»Wir arbeiten daran.«»Außerdem würde ich mir ansehen, obSmithbacks Zeitungsartikel irgendjemanden inletzter Zeit wütend gemacht haben.«»Ist ebenfalls in Arbeit. Anscheinend haben alleArtikel von Smithback irgendwelche Leutewütend gemacht. Ich habe von seinemRedakteur bei der Times eine Liste mit seinenletzten Aufträgen bekommen; meine Leutegehen die gerade durch.«

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»Das ist genau richtig, Vinnie. Das machst dugut. Lass mich nur hinzufügen, dass der Mordmöglicherweise nicht so ›desorganisiert‹ war,wie du glaubst. Unter Umständen wurde ersehr umsichtig geplant und ausgeführt.«»Das glaube ich nicht.«»Hey – keine vorschnellen Urteile.«»Entschuldige.«»Etwas anderes.« Hayward zögerte. »Duerinnerst dich vielleicht an meine Bemerkung,dass ich, bevor ich die Stelle bei derVerkehrspolizei antrat, anderthalb Jahre beider Polizei in New Orleans gearbeitet habe?«»Natürlich.«»Pendergast stammt aus New Orleans.«»Und?«Hayward trank noch einen Schluck. »Eben habeich gesagt, dass Fearing entweder tot ist odernicht. Na ja, bei der Polizei in New Orleans gibtes Leute, die das bestreiten würden. Die sagenwürden, dass es da noch eine dritte Möglichkeitgibt.«»Laura, sag mir bitte nicht, dass du auf diesen

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Zombie-Mist reinfällst.«Hayward aß die Hälfte ihres Sandwichs undschob den Teller zur Seite. »Ich bin satt.Möchtest du etwas davon?«»Ich hab keinen Hunger mehr, danke. Du hastmeine Frage nicht beantwortet.«»Ich falle auf gar nichts rein. Sprich doch malmit Pendergast darüber. Er weiß sehr viel mehrüber dieses … spezielle Thema, als du oder ichje wissen werden. Ich will damit nur einessagen: Urteile nicht vorschnell. Das ist einerdeiner Fehler, Vinnie. Und das weißt du.«D’Agosta seufzte. Sie hatte recht, wie immer. Ersah sich in dem kleinen Esslokal um, schauteauf die umhereilenden Kellnerinnen, dieanderen Gäste, die Zeitung lasen, in Handyssprachen oder mit ihren Lunch-Partnernplauderten. Ihm fielen frühere Mahlzeiten mitLaura ein, in anderen Restaurants. Vor allemerinnerte er sich an ihren ersten gemeinsamenDrink. Das war zu einer Zeit, in der es ihmbesonders schlecht ging – trotzdem war esauch der Augenblick gewesen, als ihm klar

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wurde, wie sehr er sich zu ihr hingezogenfühlte. Sie hatten gut zusammengearbeitet. Siehatte ihn herausgefordert – auf eine gute Art.Die Ironie der Situation war schmerzlich; erhatte zwar sein Disziplinarverfahren gewonnenund seinen Job behalten, aber Laura hatte er,so schien es, verloren.Er räusperte sich. »Erzähl doch mal von derBeförderung, die du bekommen hast.«»Ich habe sie noch nicht bekommen.«»Ach, hör auf, ich hab das Gerede dochmitbekommen. Das ist doch nur nochFormsache.«Sie trank einen Schluck Wasser. »Es handeltsich um eine Sonderkommission, die eingesetztwerden soll. Probezeit ein Jahr. Ein paarMitarbeiter aus dem Stab des Chefs werdenernannt, eine Art Schnittstelle zumBürgermeister in Fragen der Terrorabwehr, derLebensqualität in der Stadt, solche Sachen. Dievon öffentlichem Interesse sind.«»Und werdet ihr öffentlich sichtbar sein?«»Ja, reichlich.«

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»Wow. Noch eine Feder an deiner Kappe. Wartenur, in ein paar Jahren bist du die Chefin derNew Yorker Polizei.«Laura lächelte. »Eher unwahrscheinlich.«D’Agosta zögerte. »Laura. Du fehlst mirwirklich.«Ihr Lächeln verblasste. »Du mir auch.«Er blickte sie über den Tisch hinweg an. Siewar so hübsch: helle Haut, Haar so dunkel, dasses fast blau wirkte. »Warum versuchen wir esnicht noch einmal? Fangen noch mal von vornean?«Sie hielt inne und schüttelte dann den Kopf.»Ich bin einfach noch nicht so weit.«»Warum nicht?«»Vinnie, ich vertraue nicht vielen Menschen.Aber ich habe dir vertraut. Und du hast michverletzt.«»Das weiß ich, und es tut mir leid. Wirklich sehrleid. Aber ich habe dir das doch alles erklärt.Ich hatte keine Wahl, sicher verstehst du dasjetzt.«»Natürlich hattest du eine Wahl. Du hättest mir

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»Natürlich hattest du eine Wahl. Du hättest mirdie Wahrheit sagen können. Du hättest mirvertrauen können. So wie ich dir vertrauthabe.«D’Agosta seufzte. »Versteh doch – es tut mirleid.«Ein lautes Piepen ertönte, sein Handy klingelte.Als es weiter läutete, sagte Laura: »Du solltestabnehmen.«»Aber …«»Mach schon. Geh ran.«D’Agosta griff in seine Tasche und klappte dasHandy auf. »Ja?«»Vincent«, hörte er die weiche Südstaaten-Stimme. »Rufe ich Sie zu einer ungünstigen Zeitan?«Er schluckte. »Nein, eigentlich nicht.«»Ausgezeichnet. Wir haben nämlich einenTermin mit einem gewissen Mr. Kline.«»Bin schon unterwegs.«»Gut. Ach, noch etwas – hätten Sie Lust,morgen früh einen kleinen Ausflug zuunternehmen?«

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»Wohin?«»Zum Whispering Oaks Mausoleum. DerAnordnung zur Exhumierung wurdestattgegeben. Morgen Mittag öffnen wirFearings Grab.«

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Die Räume von Digital Veracity Inc. befandensich in einem jener riesigen Bürotürme mitGlasfassade, die die Avenue of the Americas imBereich der unteren Fünfziger säumten.D’Agosta traf Pendergast in der zentralenLobby, und nach einem kurzen Check an derSicherheitsstation fuhren sie in den 36. Stockhinauf.»Haben Sie eine Kopie des Briefs dabei?«,fragte Pendergast.D’Agosta klopfte auf seine Jacketttasche.»Haben Sie irgendetwas über KlinesBackground erfahren, was ich wissen sollte?«»Das habe ich in der Tat. Unser Mr. Lucas Klinewuchs in ärmlichen Verhältnissen auf, in derAvenue J in Brooklyn, Kindheit unauffällig,Schulnoten exzellent, immer der Letzte, der indie Mannschaft gewählt wurde, ein ›netter

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Junge‹. Machte seinen Abschluss an derUniversity of New York, begann als Journalist zuarbeiten – was allen Berichten zufolge das war,was ihm am Herzen lag. Aber es nahm einschlechtes Ende: Er wurde bei einer wichtigenStory ausgebootet – unfairerweise, wie esscheint, aber seit wann geht’s im Journalismusfair zu? – und infolgedessen entlassen. Ermachte mal dies und mal das und wurdeschließlich Computerprogrammierer für eineWall-Street-Bank. Offenbar hatte er Talentdafür. Ein paar Jahre später gründete er seineeigene Firma und scheint es ziemlich weitgebracht zu haben.« Er sah D’Agosta an.»Überlegen Sie, einenDurchsuchungsbeschluss zu beantragen?«»Ich glaube, ich warte erst einmal ab, wie dieBefragung verläuft.«Die Fahrstuhltüren öffneten sich, und vor ihnenerstreckte sich eine elegant eingerichteteLobby. Mehrere schwarze Ledersofas standenauf antiken Serapi-Teppichen. Die Einrichtungbestand aus einem halben Dutzend großer

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afrikanischer Skulpturen – Krieger mitimposantem Kopfschmuck, große Masken mitschwindelerregend komplizierten Mustern.»Wie es scheint, hat es unser Mr. Kline sehrweit gebracht«, sagte D’Agosta, während ersich umsah.Sie nannten der Empfangsdame ihre Namenund setzten sich. D’Agosta suchte unter denStapeln von Computerworld und DatabaseJournal vergeblich nach einem Exemplar vonPeople oder Entertainment Weekly. FünfMinuten vergingen, dann zehn. Gerade alsD’Agosta aufstehen und Ärger machen wollte,ertönte auf dem Schreibtisch derEmpfangsdame ein Summer.»Mr. Kline kann Sie jetzt empfangen.« Sie standauf und ging ihnen voraus durch eine nichtgekennzeichnete Tür.Sie schritten über einen langen, von sanftemLicht beleuchteten Flur, der an einer weiterenTür endete. Die Empfangsdame geleitete siedurch ein Vorzimmer, in dem eine sehrattraktive Sekretärin an einem Computer

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tippte. Sie warf ihnen einen verstohlenen Blickzu, dann kehrte sie an ihre Arbeit zurück. Siezeigte das angespannte, eingeschüchterteGebaren eines geprügelten Hundes.Hinter ihr öffnete sich eine weitere Doppeltür,dahinter sahen sie ein großes Eckbüro. Diebeiden Fensterfronten botenschwindelerregende Ausblicke auf die SixthAvenue. Ein ungefähr vierzigjähriger Mannstand hinter einem Schreibtisch mit vierComputern darauf. Mit dem Rücken zuD’Agosta und Pendergast sprach er im Stehenin ein drahtloses Headset und blickte dabei ausdem Fenster.D’Agosta nahm das Büro in Augenschein: nochmehr schwarze Ledersofas, noch mehrStammeskunst an den Wänden. Mr. Kline warallem Anschein nach Sammler. Eine Glasvitrineenthielt mehrere staubige Artefakte, Tonpfeifenund gebogene Eisengegenstände, die derBeschriftung zufolge aus New Amsterdam, derKeimzelle des heutigen New York, stammten. Ineinigen der in die Wand eingelassenen Regale

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standen Bücher zu Themen wie Finanzwesenund Computerprogrammiersprachen, die einenscharfen Kontrast zu den grinsenden, ein wenigbeängstigenden Masken bildeten.Kline beendete sein Telefonat und wandte sichzu ihnen um. Er hatte ein schmales, erstaunlichjugendliches Gesicht, das noch Spuren seinesKampfes gegen Jugendakne aufwies. D’Agostafiel auf, dass der Mann relativ klein war,höchstens einen Meter fünfundsechzig. SeinHaar hatte einen Seitenscheitel, wie bei einemKind. Nur seine Augen wirkten alt – und sehrkühl.Er blickte von Pendergast zu D’Agosta undwieder zurück zu Pendergast. »Ja?«, fragte erleise»Ich setze mich, vielen Dank«, sagtePendergast, nahm Platz und schlug die Beineübereinander. D’Agosta folgte seinem Beispiel.»Mr. Lucas Kline?«, sagte D’Agosta. »Ich binLieutenant D’Agosta von der Polizei New York.«»Ich wusste, dass Sie der Polizist sind.« Klineblickte Pendergast an. »Und Sie müssen der

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Special Agent sein. Sie wissen ja bereits, werich bin. Also, was wollen Sie? Ich binbeschäftigt.«»Ach ja?«, sagte D’Agosta und lehnte sich soauf dem Ledersofa zurück, dass es auf einehöchst befriedigende Art knarrte. »Und mit wassind Sie gerade beschäftigt, Mr. Kline?«»Ich bin der Vorstandschef von DVI.«»Das sagt mir gar nichts.«»Wenn Sie meine Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Lebensgeschichte kennenlernenwollen, dann lesen Sie das hier.« Kline deuteteauf ein halbes Dutzend identischer Bücher, dieauf einem der Bücherborde standen. »Wie ichvon einem schlecht bezahlten DBA zum Chefmeiner eigenen Firma aufgestiegen bin. Das istPflichtlektüre für alle meine Angestellten, einBuch voll mit brillanten Ideen und Einsichten,das Sie zum Vorzugspreis von fünfundvierzigDollar käuflich erwerben können.« Er lächeltesie herablassend an. »Meine Sekretärinakzeptiert Bargeld und Schecks.«»Ein DBA?«, fragte D’Agosta. »Was ist das?«

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»Datenbank-Administrator. Vor langer Zeithabe ich Datenbanken gepflegt. Und nebenbeiein Programm geschrieben, mit dem sich großeFinanzdatenbanken automatisch normalisierenlassen.«»Normalisieren?«, wiederholte D’Agosta.Kline winkte abfällig ab. »Sparen Sie sich dieFrage. Wie auch immer: Mein Programm hatsehr, sehr gut funktioniert. Wie sichherausstellte, gab es für die Normalisierungvon Datenbanken einen großen Markt. Ich habeeine Menge DBAs arbeitslos gemacht. Und alldas hier geschaffen.« Er reckte ein wenig dasKinn, wobei das selbstgewisse Lächeln nochimmer seine rosafarbenen, mädchenhaftenLippen umspielte.Klines hochnäsige, intellektuelle Art brachteD’Agosta in Fahrt. Das hier würde ihm Spaßmachen. Er lehnte sich lässig im Sofa zurück,dessen teures Leder erneut laut knarrte.»Ehrlich gesagt, interessieren wir uns mehr fürIhre außerunternehmerischen Aktivitäten.«Kline musterte ihn genauer. »Als da wären?«

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»Zum Beispiel Ihre Neigung, hübscheSekretärinnen einzustellen und zum Sex zunötigen, sie anschließend zu belästigen unddafür zu bezahlen, dass sie den Mund halten.«Klines Miene blieb unverändert. »Ah, Sie sindalso wegen des Mords an Smithbackgekommen.«»Sie haben Ihre Machtposition missbraucht, umdiese Frauen sexuell zu belästigen und zudominieren. Die Frauen hatten so große Angstvor Ihnen, so große Angst, ihre Stelle zuverlieren, dass sie sich nicht zur Wehr gesetzthaben. Aber Smithback hatte keine Angst. Erhat Ihr Treiben enthüllt.«»Er hat gar nichts enthüllt«, sagte Kline.»Beschuldigungen wurden vorgebracht, nichtswurde bewiesen, und die außergerichtlichenVergleiche, wenn sie denn existieren, haben füralle Zeiten Bestand. Bedauerlicherweise für Sieund Smithback hat niemand vor Gerichtausgesagt.«D’Agosta zuckte mit den Achseln, als wollte ersagen: Spielt keine Rolle, die Katze ist trotzdem

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aus dem Sack.Pendergast bewegte sich auf seinem Stuhl. »Esmuss für Sie doch sehr unangenehm gewesensein, dass nach der Veröffentlichung vonSmithbacks Artikel die Börsenkapitalisierungvon DVI um fünfzig Prozent abstürzte.«Klines Miene blieb gelassen. »Sie wissen, wiedie Märkte sind. Ewig schwankend. Die Aktievon DVI steht heute fast wieder da, wo sieeinmal war.«Pendergast faltete die Hände. »Sie sind jetztder Vorstandschef, und niemand wird Ihnen jewieder Sand ins Gesicht werfen oder in dieSuppe spucken. Niemand wird Ihnenheutzutage den Respekt verweigern und damitdurchkommen – habe ich recht, Mr. Kline?«Pendergast lächelte milde und blickte zuD’Agosta. »Der Brief?«D’Agosta holte den Brief aus seiner Tasche undzitierte daraus: »Ich verspreche Ihnen, dass Siees, egal, wie lange es dauert oder wie viel eskostet, bereuen werden, diesen Artikelgeschrieben zu haben. Sie können zwar nicht

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geschrieben zu haben. Sie können zwar nichtwissen, wie ich handeln werde oder wann, aberseien Sie versichert: Ich werde handeln.« Ersah hoch. »Haben Sie das geschrieben,Mr. Kline?«»Ja.« Dabei hielt er seine Gesichtszüge völligunter Kontrolle.»Und haben Sie den Brief an William Smithbackgeschickt?«»Ja.«»Haben Sie –«Kline unterbrach ihn. »Lieutenant, Sie sind ja soein Langweiler. Lassen Sie mich die Fragenstellen, damit wir alle etwas Zeit sparen. Habeich das Geschriebene ernst gemeint? Absolut.War ich für Smithbacks Tod verantwortlich?Könnte sein. Bin ich froh, dass er tot ist? Ich binentzückt, danke.« Er zwinkerte nervös.»Sie –«, begann D’Agosta.»Die Sache ist die«, fiel ihm Kline wieder insWort, »dass Sie es niemals erfahren werden.Für mich arbeiten die besten Anwälte derStadt. Ich weiß genau, was ich sagen darf und

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was nicht. Sie können mir nichts anhaben.«»Wir könnten Sie aufs Präsidium mitnehmen«,sagte D’Agosta. »Und zwar sofort.«»Natürlich können Sie das. Und ich werdeschweigend dasitzen, bis mein Anwalt eintrifft,und dann gehen.«»Wir könnten Sie wegen begründetemAnfangsverdacht einsperren.«»Sie bluffen, Lieutenant.«»Der Brief ist eine eindeutige Drohung.«»Alle meine Bewegungen zur Zeit des Mordeslassen sich nachweisen. Die besten juristischenKöpfe des Landes haben den Brief geprüft. Essteht nichts darin, das Ihnen eine rechtlicheHandhabe gegen mich gäbe.«D’Agosta grinste. »Irrtum, Kline, wir könntenein bisschen Spaß haben und Sie da unten inHandschellen aus der Lobby abführen –nachdem wir der Presse einen Tipp gegebenhaben.«»Das wäre, ehrlich gesagt, eine ausgezeichnetePublicity. Binnen einer Stunde wäre ich zurückin meinem Büro, Sie wären bloßgestellt, und

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meine Feinde hätten gesehen, dass ichunangreifbar bin.« Wieder lächelte Kline.»Vergessen Sie nicht, Lieutenant: Ich habe eineProgrammierer-Ausbildung durchlaufen. Es warmein Job, lange, komplizierte Programme zuschreiben, in denen fehlerfreie Logik vongrößter Wichtigkeit ist. Das ist nämliche dasErste, was man als Programmierer lernt, das Aund O: Denke alles durch, von vorne bis hinten.Vergewissere dich, dass du für jedenunerwarteten Output Vorkehrungen getroffenhast. Und lass keine Schlupflöcher übrig. Keineinziges.«D’Agosta kochte innerlich. Schweigen senktesich über das große Büro. Kline saß da, dieArme gefaltet, und erwiderte D’Agostas Blick.»Gestört«, sagte D’Agosta. Zumindest wollte erdas selbstgefällige Lächeln aus dem Gesichtdes kleinen Mistkerls wischen.»Wie bitte?«, fragte Kline.»Wenn ich nicht so angewidert wäre, könntenSie mir fast leidtun. Sie kriegen eine Frau dochnur dann ins Bett, wenn Sie Geld zücken und

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Macht ausüben, sie belästigen und nötigen.Hört sich das für Sie nicht gestört an. Nein? Wiewär’s dann mit einem anderen Wort:erbärmlich. Die Sekretärin im Vorzimmer –wann haben Sie denn vor, sie gegen das Modeldieses Jahres auszutauschen?«»Sie können mich mal«, lautete die Antwort.D’Agosta erhob sich. »Das ist eine Beleidigung,Kline. Ausgestoßen gegen einenPolizeibeamten.« Er legte die Hände auf dieHandschellen. »Sie halten sich wohl für sehrschlau, aber da haben Sie eben die Grenzeüberschritten.«»Ach, Sie können mich mal kreuzweise,D’Agosta«, ließ sich die Stimme erneutvernehmen.D’Agosta wurde klar, dass nicht Kline dasgesagt hatte. Die Stimme klang ein weniganders. Und sie ertönte auch nicht von hinterdem Schreibtisch, sondern hinter einer Tür inder gegenüberliegenden Wand.»Wer war das?«, sagte D’Agosta. Er war sowütend geworden, dass er selbst merkte, wie

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er zitterte.»Das?«, antwortete Kline. »Oh, das istChauncy.«»Holen Sie ihn da raus. Sofort.«»Das kann ich nicht.«»Was?«, zischte D’Agosta.»Er ist beschäftigt.«»Sie können mich mal kreuzweise«, ließ sichChauncys Stimme vernehmen.»Beschäftigt?«»Ja. Er nimmt sein Mittagessen ein.«Wortlos ging D’Agosta mit langen Schritten zurTür und riss sie auf.Dahinter lag ein kleiner Raum, kaum größer alsein begehbarer Kleiderschrank. Darin befandsich nichts als ein hölzerner, ungefährbrusthoher T-Ständer – und darauf hockte eingroßer, lachsfarbener Papagei. Mit einerParanuss in der einen Klaue. Er betrachteteD’Agosta milde, den kräftigen Schnabelschüchtern hinter den Wangenfedernverborgen, den Kamm auf dem Kopf ein wenigfragend aufgestellt.

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»Lieutenant D’Agosta, darf ich Sie mit Chauncybekannt machen?«, sagte Kline.»Sie können mich mal kreuzweise, D’Agosta«,sagte der Papagei.D’Agosta trat einen Schritt vor. Der Papageistieß einen ohrenbetäubenden Schrei aus undließ die Nuss fallen, flatterte mit seinen breitenFlügeln und überschüttete D’Agosta mit Federnund Federnstaub, während sein Kamm wieverrückt schwoll.»Nun schauen Sie mal, was Sie da angerichtethaben«, sagte Kline in milde vorwurfsvollemTon. »Sie haben ihn beim Lunch gestört.«D’Agosta trat wieder einen Schritt zurück,schwer atmend. Plötzlich ging ihm auf, dass ernichts, absolut nichts dagegen unternehmenkonnte. Kline hatte kein Gesetz gebrochen. Wassollte er denn machen – einem MolukkenkakaduHandschellen anlegen und ihn ins Präsidiumschleppen? Man würde ihn auslachen. Derkleine Arsch hatte tatsächlich alles durchdacht.D’Agosta packte den Brief fester und zerknüllteihn. Sein Frust war die reine Qual.

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»Woher kennt der meinen Namen?«, murmelteer und schnippte eine Feder von seinemJackett.»Ach so«, sagte Kline. »Sehen Sie, Chauncy undich, wir hatten gerade, äh, über Siegesprochen, als Sie reinkamen.« Während sie den Fahrstuhl betraten, umwieder nach unten in die Lobby zu fahren, warfD’Agosta einen Blick auf Pendergast. Derschmunzelte, vor klammheimlicher Freude, wiees schien. D’Agosta blickte beiseite undrunzelte die Stirn. Schließlich beruhigte sichPendergast und räusperte sich.»Ich glaube, mein lieber Vincent, Sie sollten denDurchsuchungsbeschluss mit aller gebotenenEile beantragen.«

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Caitlyn Kidd steuerte ihren Wagen auf dieBusspur gegenüber vom New York Museum ofNatural History. Ehe sie ausstieg, legte sie einExemplar des West Sider vom Vortag – großaufgemacht mit einer dicken Schlagzeile undihrem Text darunter – aufs Armaturenbrett.Das, zusammen mit ihrem Presseausweis an derWindschutzscheibe, könnte vielleichtverhindern, dass sie den zweiten Strafzettelwegen Falschparkens in ebenso vielen Tagenkassierte.Flotten Schritts ging sie über den MuseumDrive und atmete dabei die frostige Herbstluftein. Es war Viertel vor fünf, und wie sievermutet hatte, traten gerade mehrerePersonen zielstrebig aus einer nichtgekennzeichneten Tür im Erdgeschoss desriesigen Gebäudes. Sie trugen Taschen und

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Aktentaschen – Angestellte, keine Besucher.Sie bahnte sich einen Weg zur Tür.Hinter der Tür lag ein schmaler Korridor, der zueiner Sicherheitsstation führte. EinigePersonen zeigten ihre Museums-Ausweise undwurden von zwei gelangweilt wirkendenWachleuten durchgewunken. Caitlyn kramte inihrer Handtasche und holte ihrenPresseausweis hervor.Dann trat sie einen Schritt auf den Wachmannzu und zeigte ihm den Ausweis. »Nur Personal«,sagte er.»Ich arbeite für den West Sider. Ich schreibe aneiner Geschichte über das Museum.«»Haben Sie einen Termin?«»Ich habe ein Interview mit …« Sie blickte aufden Dienstausweis eines Kurators, der geradean der kleinen Wachstation vorbeiging. Esdauerte sicher ein paar Minuten, bevor der inseinem Büro ankam. »Dr. Prine.«»Einen Moment.« Der Wachmann blätterte ineinem Telefonbuch, hob den Hörer ab, wählteeine Nummer und ließ es ein paarmal klingeln.

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Dann hob er die schläfrigen Augen. »Er istnicht da. Sie müssen hier warten.«»Darf ich mich setzen?« Sie zeigte auf eineBank, die ungefähr zehn Meter entfernt stand.Der Wachmann zögerte.»Ich bin schwanger. Ich soll nicht langestehen.«»Machen Sie nur.«Sie setzte sich, schlug die Beine übereinander,blätterte ein Buch auf und behielt dabei dieWachstation im Auge. Eine Gruppe Angestelltertraf ein und drängte sich am Eingang, demAussehen nach Wach- und Schließpersonal, daszur Nachtschicht eintraf. Während dieWachleute sich darauf zu konzentrierenbegannen, Ausweise zu überprüfen und Namenabzuhaken, stand Caitlyn rasch auf und schlosssich dem Strom der Mitarbeiter an, die dieSicherheitsstation bereits passiert hatten.Das Zimmer, nach dem sie suchte, befand sichim Kellergeschoss. Nach einer fünfminütigenSuche im Internet hatte sie einMitarbeiterverzeichnis und einen Grundriss des

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Museums gefunden, aber der Schuppen war einwahrer Kaninchenbau aus Quergängen undendlosen, nicht gekennzeichneten Korridoren.Niemand hatte sie am Zutritt gehindert, ja nichtmal bemerkt; und schließlich führten ein paargut plazierte Fragen Caitlyn zu einem langen,schwach beleuchteten Gang, in dessen Wändenalle sieben Meter Türen mit Milchglasfensterneingelassen waren. Langsam ging sie über denFlur und las dabei die Namen an den Türen. Esroch hier leicht unangenehm, aber sie konnteden Geruch nicht identifizieren. Einige Türenstanden offen, in den Räumen dahinter warenLaboreinrichtungen zu sehen, unaufgeräumteBüros und – ein bizarrer Anblick – Gefäße mit inAlkohol konservierten Tieren und gefährlichaussehende wilde Bestien, ausgestopft und aufkleinen Ständern befestigt.Caitlyn blieb vor einer Tür mit dem Schild Kelly,N. stehen. Die Tür stand einen Spaltbreit offen,aus dem Raum drangen Stimmen. Die eineStimme erkannte sie wieder: Nora Kelly; sietelefonierte.

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Sie trat einen Schritt vor und lauschte.»Skip. Das geht nicht. Ich kann jetzt einfachnicht nach Hause kommen.«Eine Pause. »Nein, daran liegt es nicht. Wennich jetzt nach Santa Fé zurückgehe, kehre ichvielleicht nie wieder nach New York zurück.Verstehst du das denn nicht? Außerdem mussich unbedingt dahinterkommen, was wirklichpassiert ist, Bills Mörder aufspüren. Nur dashält mich im Moment davon ab, von hierwegzugehen.«Das war zu persönlich. Caitlyn schob die Türetwas weiter auf und räusperte sich. Das Laborwar eng und voll, aber ordentlich. Auf einemArbeitstisch neben einem Laptop lag ein halbesDutzend Tonscherben. Eine Frau, die in einerEcke stand und telefonierte, blickte zu ihrherüber. Sie war schlank, attraktiv, hattebronzefarbene, schulterlange Haare und einenruhelosen Blick in den haselnussbraunenAugen.»Skip, ich muss dich zurückrufen. Ja. Okay,heute Abend.« Sie legte auf und erhob sich vom

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Schreibtisch. »Kann ich Ihnen helfen?«Caitlyn holte tief Luft. »Nora Kelly?«»Ja.«Caitlyn zog den Presseausweis aus ihrerHandtasche und klappte ihn auf. »Ich binCaitlyn Kidd vom West Sider.«Nora Kelly wurde sofort rot. »Die Autorin diesesSchundartikels?« Ihre Stimme klang schroff vorWut und Trauer.»Mrs. Kelly –«»Das war ein starkes Stück. Noch so ein Artikel,und Sie könnten ein Angebot von der WeeklyWorld News bekommen. Ich schlage vor, Sieverlassen den Raum, bevor ich den Wachdienstrufe.«»Haben Sie meinen Artikel tatsächlichgelesen?«, platzte Caitlyn hastig heraus.Ein Ausdruck der Unsicherheit huschte überNoras Züge. Caitlyn hatte richtig geraten: DieFrau hatte ihn nicht gelesen.»Es war eine gute Geschichte, sachlich undunvoreingenommen. Ich schreibe dieSchlagzeilen nicht, ich überbringe nur die

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Nachricht.«Nora trat einen Schritt vor. Instinktiv wichCaitlyn zurück. Einen Moment lang sah Nora sieunverwandt an, ihre Augen blitzten. Danndrehte sie sich wieder zum Schreibtisch um undgriff zum Telefonhörer.»Was machen Sie da?«»Ich rufe den Wachdienst an.«»Mrs. Kelly, bitte tun Sie es nicht.«Sie war mit dem Wählen fertig und wartete,während es klingelte.»Sie schaden sich damit nur selbst. Ich kannIhnen dabei helfen, den Mörder Ihres Manneszu finden.«»Ja?«, sagte Nora ins Telefon. »Hier ist NoraKelly aus dem Anthro-Labor.«»Wir beide wollen das Gleiche«, zischte Caitlyn.»Bitte lassen Sie mich Ihnen zeigen, wie ichIhnen helfen kann. Bitte.«Stille. Nora starrte sie an, und dann sagte sie inden Hörer: »Entschuldigen Sie, ich habe michverwählt.« Langsam legte sie den Hörer auf dieGabel zurück.

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»Zwei Minuten.«»Okay, Nora – ich darf Sie doch Nora nennen?Ich kannte Ihren Mann. Hat er das Ihnengegenüber nicht erwähnt? Wir haben unsgelegentlich bei journalistischenVeranstaltungen getroffen, aufPressekonferenzen, an Tatorten. Manchmalwaren wir an der gleichen Story dran, aber, naja … es war ziemlich schwierig für mich, alsjunge Reporterin bei einem Boulevardblatt wiedem West Sider mit der Times zukonkurrieren.«Nora sagte nichts.»Bill war ein guter Kerl. Es ist so, wie ichgesagt habe: Sie und ich haben eingemeinsames Ziel – seinen Mörder zu finden.Uns beiden stehen einzigartige Ressourcen zurVerfügung, und wir sollten sie einsetzen. Siekennen Ihren Mann besser als irgendjemand.Und ich schreibe für eine Zeitung. Wir könntenunsere Talente zusammenlegen, unsgegenseitig helfen.«»Ich warte noch immer darauf, von Ihnen zu

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hören, wie das funktionieren soll.«»Sie kennen doch sicher die Geschichte, an derBill gearbeitet hat, die über den Tierschutz? Erhat sie mir gegenüber vor ein paar Wochenerwähnt.«Nora nickte. »Ich habe der Polizei schon davonerzählt.« Sie zögerte. »Sie glauben, die Dingehängen zusammen?«»Das sagt mir jedenfalls mein Bauchgefühl.Aber ich verfüge noch nicht über genugInformationen. Erzählen Sie mir mehr davon.«»Es ging um diese Tieropferungen oben inInwood. Es gab da eine Vielzahl von Gerüchten,und dann wurde die Sache fallengelassen. AberBill hat sich weiterhin dafür interessiert. Er hatdie Geschichte auf Eis gelegt, hat nach neuenBlickwinkeln gesucht.«»Hat er Ihnen viel davon erzählt?«»Ich hatte das Gefühl, dass manche Leute nichtgerade begeistert waren von seinem Interessean dem Thema, aber das ist ja nichts Neues. Erist nie glücklicher gewesen, als wenn er Leutenauf die Zehen treten konnte. Vor allem

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auf die Zehen treten konnte. Vor allemunangenehmen Menschen. Und es gab kaumLeute, die er mehr hasste als Tierquäler.« Norasah auf die Uhr. »Noch dreißig Sekunden. Siehaben mir immer noch nicht gesagt, wie Sie mirhelfen wollen.«»Ich recherchiere unermüdlich. Fragen Sieirgendeinen meiner Kollegen. Ich weiß, wie ichan die Polizei, die Krankenhäuser, dieBibliotheken, die Archive und dieLeichenschauhäuser herankomme. Mit meinemPresseausweis habe ich Zutritt zu Orten, dieIhnen verschlossen sind. Ich kann mich derSache Tag und Nacht widmen, vierundzwanzigStunden, sieben Tage die Woche. Es stimmt, ichwill eine Story rausbringen. Aber ich möchteauch Bill Gerechtigkeit widerfahren lassen.«»Ihre zwei Minuten sind um.«»Na gut, ich gehe jetzt. Ich möchte, dass Sieetwas tun – für sich selbst ebenso wie für mich.Suchen Sie seine Notizen zu dem Artikel heraus.Dem Artikel über den Tierschutz. Sagen Sie mir,was drinsteht. Vergessen Sie nicht: Wir

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Reporter passen aufeinander auf. Ich möchtedieser Sache auf den Grund gehen, fast so sehrwie Sie. Helfen Sie mir dabei, Nora.«Und dann lächelte Caitlyn kurz, reichte Noraihre Karte, drehte sich um und verließ dasLabor.

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Der Rolls fuhr durch ein Tor in einer Mauer ausBacksteinimitat, die an der Vorderseite ziemlichgeschmacklos mit Plastikefeu dekoriert war.Ein Schild mitten im Efeu informierte dieBesucher, dass sie auf dem Friedhof»Whispering Oaks« – Wispernde Eichen –eingetroffen waren. Hinter der Mauererstreckte sich eine weite Rasenfläche,gesäumt von neu gepflanzten Eichen, die vonstraffen schmalen Drahtseilen aufrechtgehalten wurden. Alles wirkte neu und steril.Der Friedhof selbst war so gut wie leer.D’Agosta konnte noch die Nahtkanten sehen,an denen der Rasen ausgerollt worden war. Ineiner Ecke standen dicht beieinander einhalbes Dutzend riesiger Grabsteine auspoliertem Granit. Vor ihm, mitten auf derRasenfläche, erhob sich ein Mausoleum,

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knochenweiß, karg und ohne jeden Reiz.Proctor steuerte den Rolls die asphaltierteZufahrt hinauf und brachte den Wagen vor demMausoleum zum Stehen. Ein schmales Beetdavor barst vor Blumen, obwohl es Herbst war.D’Agosta stieg aus und stieß eine leicht mitdem Fuß an.Plastik.Sie standen auf dem Parkplatz und sahen sichum. »Wo bleibt der Kerl denn?« D’Agostaschaute auf die Uhr. »Er sollte doch um zwölfhier sein.«»Meine Herren?« Aus dem rückwärtigen Teildes Mausoleums erschien ein Mann wie einGeist. Sein Aussehen verblüffte D’Agosta: Erwar schlank, trug einen gut geschnittenenschwarzen Anzug und hatte eine unnatürlichhelle Gesichtsfarbe. Die Hände unterwürfig vordem Bauch verschränkt, eilte er herbei undsteuerte geradewegs auf Pendergast zu. »Wiekann ich Ihnen helfen, Sir?«»Wir sind wegen der sterblichen Überreste vonColin Fearing gekommen.«

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»Ach ja, der arme Bursche, den wir vor … fastzwei Wochen beigesetzt haben.« Der Mannmusterte Pendergast von oben bis unten undstrahlte. »Ah, wir arbeiten in der gleichenBranche. Ich erkenne immer, wenn jemand ausder Branche ist!«Pendergast schob langsam eine Hand in dieHosentasche.»Ja, ja«, fuhr der Mann fort, »ich erinnere michnoch gut an die Beisetzung. Der arme Kerl, nurseine Schwester und der Priester waren da.Das hat mich gewundert – bei jungen Leutenkommen meistens mehr. Nun ja! Von welchemBestattungsunternehmen kommen die Herrendenn, und womit kann ich Ihnen dienen?«Pendergast hatte ein kleines ledernes Etuihervorgeholt, das er jetzt hochhielt undaufklappen ließ.Der Mann warf einen Blick darauf. »Was … wasist das?«»Leider bin ich nicht ›aus der Branche‹, wie Siees so charmant ausgedrückt haben.«Der Mann wurde noch blasser, sagte aber

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nichts.D’Agosta trat einen Schritt vor und reichte ihmeinen Briefumschlag. »Wir sind hier wegen dergerichtlich angeordneten Exhumierung vonColin Fearing. Die Papiere sind alle da drin.«»Exhumierung? Davon weiß ich nichts.«»Ich habe gestern Abend mit einemMr. Radcliffe darüber gesprochen«, sagteD’Agosta.»Mr. Radcliffe hat mir nichts davon erzählt.Aber er informiert mich ja nie«, sagte der Mannnörgelnd und mit ein wenig erhobener Stimme.»Schade eigentlich«, sagte D’Agosta, in dem dieschlechte Laune, die er seit dem Mord hatte,wieder hochkam. »Bringen wir’s hinter uns.«Der Mann war sichtlich verängstigt. »Bei uns …bei uns ist so etwas noch nie passiert.«»Es gibt immer ein erstes Mal, Mr. …?«»Lille. Maurice Lille.«Jetzt bog der reichlich demolierteLeichenwagen der Gerichtsmedizin klapperndauf die Einfahrt, eine Wolke blauen Qualmshinter sich herziehend. Dabei ging er zu schnell

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in die Kurve – warum fuhren die eigentlichimmer wie die Henker?, fragte sich D’Agosta –und kam unter leichtem Quietschen und wegender defekten Radaufhängung ein wenigschaukelnd zum Stehen. Zwei Mitarbeiter derRechtsmedizin in weißen Overalls gingen zurHeckklappe, öffneten sie und zogen eineRollbahre heraus, auf der ein leererLeichensack lag. Dann näherten sie sich demParkplatz, die Trage vor sich herschiebend.»Wo ist der Abgang?«, grölte der Dünnere, einjunger Mann mit karottenroten Haaren undSommersprossen.Schweigen.»Mr. Lille?«, fragte D’Agosta nach einemAugenblick.»Der … Abgang?«»Sie wissen schon«, sagte der Mitarbeiter. »DerVerblichene. Wir haben nicht den ganzen TagZeit.«Lille löste sich aus seinem Schockzustand. »Achja. Ja, natürlich. Bitte folgen Sie mir insMausoleum.«

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Er ging zum vorderen Eingang und tippte in einkleines Tastenfeld eine Kennnummer ein. DieTür aus Bronzeimitat öffnete sich klickend undgab den Blick frei auf einen hohen, weißgestrichenen Raum mit Sargfächern vom Bodenbis zur Decke an allen vier Wänden. Zweiriesige Kunstblumensträuße ergossen sich auszwei gigantischen pseudoitalienischenGipsurnen. Nur wenige Sargfächer waren mitNamen und Lebensdaten Verstorbenerversehen. D’Agosta konnte nicht anders, als dieLuft nach dem Geruch zu überprüfen, den er sogut kannte, aber sie war sauber, frisch,parfümiert. Definitiv parfümiert. So ein Raum,dachte er, muss ein verdammt gutesEntlüftungssystem haben.»Es tut mir leid. Sagten Sie Colin Fearing?«Lille schwitzte, dabei war die Klimaanlagehochgedreht.»Ganz recht.« D’Agosta blickte verärgert zuPendergast, der, die Hände hinterm Rückenverschränkt und die Lippen geschürzt, im Raumumherwanderte und sich umsah. Wenn es

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wichtig wurde, schien er nie greifbar zu sein.»Einen Moment bitte.« Lille öffnete eineGlastür, ging in sein Büro, kam mit einemPacken zurück, blickte die extrem hohe Wandmit den Sargfächern hinauf und bewegte dieLippen, als zähle er. Nach einem Moment hielter inne.»Ah, da haben wir ihn ja. Colin Fearing.« Erzeigte auf eines der beschrifteten Sargfächer,das niedrig lag, dann trat er, die Grimasseeines Lächelns im Gesicht, einen Schritt zurück.»Mr. Lille?«, sagte D’Agosta. »Der Schlüssel?«»Schlüssel?« Ein panischer Ausdruck trat inLilles Gesichtszüge. »Sie wollen, dass ich dasGrabfach öffne?«»Darum geht es doch bei einer Exhumierung,oder?«»Aber so verstehen Sie doch, dazu bin ich nichtbefugt. Ich bin hier nur derVerkaufsrepräsentant.«D’Agosta atmete aus. »Die Dokumente befindensich in dem Kuvert. Sie müssen nur die ersteSeite unterschreiben – und uns den Schlüssel

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aushändigen.«Lille senkte den Blick und betrachtete denbraunen Umschlag, den er in Händen hielt, alssähe er ihn zum ersten Mal.»Aber dazu bin ich nicht befugt. Ich werdeMr. Radcliffe anrufen müssen.«D’Agosta verdrehte die Augen.Lille ging in sein Büro zurück, ließ die Türjedoch offen. D’Agosta lauschte. Das Gesprächbegann leise, aber bald hallte Lilles schrilleStimme durch das Mausoleum. Mr. Radcliffeerwies sich offenbar als nicht besonderskooperativ.Lille kam wieder heraus. »Mr. Radcliffe kommthierher.«»Wie lange wird das dauern?«»Eine Stunde.«»Vergessen Sie’s. Ich habe Radcliffe dieAngelegenheit bereits erklärt. Öffnen Sie dasSargfach. Sofort.«Lille wrang die Hände, seine Gesichtszügeverzerrten sich. »Oje, ich … darf das einfachnicht.«

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»Das da in Ihrer Hand ist ein richterlicherBefehl, mein Freund, nicht irgendein Antrag aufGenehmigung. Wenn Sie das Sargfach nichtöffnen, zeige ich Sie wegen Behinderung einesStaatsbeamten bei der Durchführung seinerPflichten an.«»Aber dann wirft mich Mr. Radcliffe raus!«,jammerte Lille.Pendergast drehte sich um. Er hatte seinekleine Entdeckungstour beendet undschlenderte gemächlich auf D’Agosta und Lillezu. Er stellte sich vor Fearings Sargfach und laslaut vor: »Colin Fearing, Alter 38. Traurig, sojung zu sterben, finden Sie nicht, Mr. Lille?«Lille hatte ihn offenbar nicht gehört.Pendergast legte die Hand auf den Marmor, alswollte er ihn streicheln. »Sie sagten, niemandsei zur Beisetzung gekommen?«»Nur die Schwester.«»Wie traurig. Und wer hat die Beisetzungbezahlt?«»Ich … ich bin mir nicht sicher. Die Schwesterhat die Rechnung beglichen, aus dem

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hat die Rechnung beglichen, aus demVermögen der Mutter, glaube ich.«»Aber die Mutter ist non compos mentis.«Pendergast wandte sich zu D’Agosta um. »Ichfrage mich, ob die Schwester wohl eineVollmacht besaß. Es lohnt, das mal zuüberprüfen.«»Gute Idee.«Wieder strich Pendergast über den Marmorund schob eine kleine Abdeckplatte zur Seite,wodurch ein Schloss zum Vorschein kam. Mitder anderen Hand griff er in seine Brusttascheund zog einen kleinen Gegenstand hervor, dereinem Kamm mit nur wenigen kurzen Zinken aneinem Ende glich. Er schob den Gegenstand insSchloss und wackelte ein wenig damit.»Entschuldigen Sie, was machen Sie denn da…?«, begann Lille, der jedoch verstummte, alsdie Tür des Sargfachs lautlos in den geöltenAngeln aufschwang. »Nein, warten Sie, dasdürfen Sie nicht …«Die Mitarbeiter der Rechtsmedizin schoben dieRollbahre nach vorn und hoben sie mit einem

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kleinen Ruck auf die Ebene des Sargfachs. InPendergasts Hand erschien eine kleineTaschenlampe, mit der er in das dunkle Innereleuchtete.Kurzes Schweigen. Dann sagte Pendergast:»Ich glaube, wir werden die Trage nichtbrauchen.«Die beiden Mitarbeiter hielten inne, unsicher.Pendergast richtete sich auf und drehte sich zuLille um. »Können Sie mir bitte sagen, wer dieSchlüssel zu diesen Sargfächern verwahrt?«»Die Schlüssel?« Der Mann zitterte wieEspenlaub. »Ich.«»Und wo?«»Ich bewahre sie verschlossen in meinem Büroauf.«»Und der zweite Satz?«»Den verwahrt Mr. Radcliffe außerhalb desFriedhofs. Wo, weiß ich nicht.«»Vincent?« Pendergast trat einen Schrittzurück und deutete auf das offene Sargfach.D’Agosta trat vor, spähte hinein und folgte mitdem Blick dem schmalen Lichtstrahl der

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Taschenlampe.»Das verdammte Ding ist leer!«»Das kann nicht sein«, sagte Lille mit zittrigerStimme. »Ich habe doch mit eigenen Augengesehen, wie die Leiche da hineingeschobenwurde …« Er stockte und griff sich an dieKrawatte.Der Mitarbeiter der Rechtsmedizin mit denkarottenroten Haaren spähte hinein, um selbstnachzuschauen. »Ich glaub, mich laust derAffe.«»Nicht ganz leer, Vincent.« Pendergast streifteeinen Latexhandschuh über, griff in dasSargfach, zog behutsam einen Gegenstandheraus und zeigte ihn, auf der Handflächeliegend, den anderen. Es handelte sich umeinen winzigen, grob gefertigten Sarg ausPappmaché und Stoffresten, der Sargdeckel ausgefaltetem Papier stand offen. Im Sarg lag eingrinsendes Skelett, das aus kleinen, weißangemalten Zahnstochern gebastelt wordenwar.»Es hat eine Beisetzung stattgefunden – in

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gewisser Weise«, sagte Pendergast in seinemmelodiösen Tonfall.Ein Seufzen, gefolgt von einem leisen Geräusch,wie wenn etwas zu Boden fällt. D’Agosta drehtesich um. Maurice Lille war in Ohnmachtgefallen.

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Mitternacht. Nora Kelly schritt eilig durch dasfinstere Herz des Kellergeschosses desMuseums. Leise klapperten ihre Absätze aufdem Fußboden aus poliertem Naturstein. Aufden Gängen herrschte das trübe Licht, dasnach Dienstschluss eingeschaltet wurde, sodass es in den offenen Türrahmen dunkel war.Niemand war in der Nähe. Selbst diearbeitswütigsten Kuratoren waren schon vorStunden nach Hause gegangen, und dieRunden der meisten Wachleute führten nurdurch jene Räume, die dem Publikumzugänglich waren.Vor einer Tür aus Edelstahl mit der AufschriftPCR-Labor blieb sie stehen. Wie sie gehoffthatte, war das kleine, mit Draht verstärkteFenster in der Tür dunkel. Nora drehte sich zudem Tastaturschloss um und tippte eine

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Nummernfolge ein. Ein kleines LED-Lämpchenin der Tastatur wechselte von Rot auf Grün.Sie schob die Tür auf, schaltete das Licht ein,blieb stehen und sah sich um. Sie war erst einpaarmal in dem Labor gewesen, dann, wenn sieProben zum Testen abgegeben hatte. DerThermozyklierapparat für die Polymerase-Kettenreaktion stand, geschützt unter einerPlastikhaube, auf einem blitzblanken Tisch ausNirostastahl. Nora trat einen Schritt vor, nahmdie Plastikhaube ab, faltete sie zusammen undlegte sie zur Seite. Das Gerät – ein EppendorfMastercycler 5330 – war zwar aus weißemPlastik gefertigt, das hässliche Low-Tech-Äußere strafte das höchst moderne Innenlebenjedoch Lügen. Sie kramte in ihrer Handtascheund zog mehrere DIN-A4-Seiten heraus: dieBedienungsanleitung des Thermocyclers, diesie aus dem Internet heruntergeladen hatte.Die Tür hatte sich automatisch hinter Norageschlossen. Sie holte tief Luft, dann tastete siehinter dem Gerät herum, fand schließlich denEin-Schalter und drückte darauf. In der

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Bedienungsanleitung stand, dass das Gerätfünfzehn Minuten zum Aufwärmen brauchte.Sie legte die Handtasche auf den Tisch, holteeinen Styropor-Behälter hervor, nahm denDeckel ab und begann, die bleistiftdünnenReagenzröhrchen behutsam herauszuziehenund in ein Rack zu stellen. EinReagenzröhrchen enthielt ein Stückchen Haar,ein anderes eine Faser, ein drittes einFitzelchen Papiertaschentuch, noch ein anderesgefriergetrocknete Blutpartikel. Pendergasthatte ihr das alles gegeben.Sie strich sich über die Stirn und merkte, dassihre Hand leicht zitterte. Sie versuchte, annichts anderes als an die Arbeit zu denken. Siemusste weit vor Morgengrauen fertig sein undden Raum verlassen haben. Ihr Herz klopfte; siewar todmüde. Sie hatte nicht geschlafen, seitsie vor zwei Tagen nach Hause zurückgekehrtwar. Aber ihre Wut und ihre Trauer gaben ihrKraft und Energie, hielten sie in Schwung.Pendergast brauchte die Ergebnisse des DNA-Tests möglichst bald. Sie war dankbar für die

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Gelegenheit, nützlich zu sein – auf irgendeineWeise, wenn es denn half, Bills Mörder zufinden.Aus dem Labor-Kühlschrank holte sie einenStreifen mit acht PCR-Reaktionsgefäßen,winzige, kugelförmige, verschlossenePlastikbehälter, die bereits mit Pufferlösung,Taq-Polymerase, dNTPs und anderenReagenzien gefüllt waren. Mit äußersterVorsicht übertrug sie mittels einer sterilisiertenPinzette winzige Proben des biologischenMaterials aus ihren Reagenzröhrchen in diePCR-Reaktionsgefäße und verschloss dieserasch wieder. Als das Gerät durch ein kurzesPiepen anzeigte, dass es betriebsbereit war,hatte Nora 32 Reaktionsgefäße pipettiert: dieHöchstmenge, die der PCR-Zyklierapparat ineinem Durchlauf analysieren konnte.Sie legte einige zusätzliche Reagenzröhrchenzur späteren Verwendung in ihre Tasche undlas die Bedienungsanleitung ein drittes Maldurch. Sie öffnete den Zyklierer, stellte dieReaktionsgefäße hinein und verschloss das

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Gerät sorgfältig. Schließlich stellte sie dieRegler ein und drückte sachte den Startknopf.Vierzig Thermozyklen waren erforderlich, jederDurchgang dauerte drei Minuten, um diePolymerase-Kettenreaktion zu vervollständigen.Zwei Stunden also. Dann musste sie dieErgebnisse einer Gel-Elektrophoreseunterziehen, um so die DNA zu bestimmen.Wieder klingelte das Gerät leise, ein Displayzeigte an, dass nun der erste Thermozyklusdurchgeführt wurde. Nora setzte sich zurückund wartete. Erst jetzt fiel ihr auf, dass esgrabesstill im Labor war. Nicht einmal dasübliche Rauschen des Entlüftungssystems warzu hören. Der Raum roch nach Staub, Schimmelund dem leicht süßlichen Paradichlorobenzen,das in Räumen in der Nähe lagerte.Sie blickte zur Wanduhr; fünf vor halb eins. Siehätte ein Buch mitnehmen sollen. Plötzlich warsie in dem stillen Labor mit ihrenfurchteinflößenden Gedanken allein.Nora ging im Raum auf und ab, kehrte zurückzum Tisch, stand wieder auf. Sie suchte in den

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Regalen nach etwas zu lesen, fand aber nurHandbücher. Sie überlegte, ob sie in ihr Bürohinaufgehen sollte, aber es bestand immer dieGefahr, jemandem zu begegnen und erklären zumüssen, warum sie sich zu so später Stundenoch im Museum aufhielt. Sie besaß keineZutrittserlaubnis für das PCR-Labor. Sie hattesich auch nicht in die Anwesenheitslisteeingetragen. Und selbst wenn sie es getanhätte, sie war nicht befugt, das Gerät zubedienen …Plötzlich hielt sie inne und lauschte. Sie hatteetwas gehört, glaubte sie zumindest. Vor derTür.Sie blickte hinüber zu dem kleinen Fenster,darin war aber nichts zu erkennen außer demschummrigen Flur dahinter, der von einerGlühbirne in einem Metallhalter erhellt wurde.Und die LED-Anzeige der Tastatur an der Türleuchtete rot. Sie war also nach wie vorverschlossen.Nora stöhnte auf und ballte die Hände zuFäusten. Sie konnte nichts dagegen tun: Immer

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wieder stiegen die grauenerregenden Bilder inihr auf, ungebeten und ohne Vorwarnungüberschwemmten sie ihr Bewusstsein. Sieschloss die Augen, ballte die Hände noch fester,versuchte an etwas anderes zu denken als anjenen ersten Anblick … irgendetwas …Sie schlug die Augen auf. Da war es wieder,dieses Geräusch, und diesmal erkannte sie es:ein leises Kratzen an der Tür zum Labor. Als sieaufblickte, sah sie ganz kurz eine Gestalt, diesich hinter dem Fenster bewegte. Sie hatte dasdeutliche Gefühl, dass da soeben jemand in denLaborraum geschaut hatte.Einer der Wachleute der Nachtschicht? Konntesein. Angst durchfuhr sie, und sie fragte sich,ob er wohl ihre unbefugte Anwesenheit imLabor melden würde. Dann schüttelte sie denKopf. Wenn der Wachmann etwas vermutethätte, wäre er hereingekommen und hätte siezur Rede gestellt. Woher sollte er wissen, dasssie nicht hier sein durfte? Schließlich hatte sieihren Ausweis dabei, und sie war zweifelsfreiKuratorin. Es waren ihre Gedanken, die ihr

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abermals einen Streich spielten. Das machtensie nun schon seit … Sie wandte den Blick vondem kleinen Fenster ab. Vielleicht wurde sie jawirklich verrückt.Wieder ertönte das Geräusch, so dass sieerneut Richtung Fenster blickte. Diesmal sahsie im Korridor den dunklen Umriss eines Kopfs;er schwang ein wenig hin und her, von hintenbeleuchtet und verschwommen. Und danndrückte er sich an die Glasscheibe, und dieGesichtszüge waren im Licht aus dem Laborklar und deutlich zu erkennen.Nora hielt den Atem an, zwinkerte und sah nocheinmal hin.Das war Colin Fearing.

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Mit einem Aufschrei wich Nora zurück. DasGesicht verschwand.Sie spürte, wie ihr Herz schneller schlug undlaut in ihrer Brust pochte. Diesmal war es ganzklar: Das ist kein Traum.Sie taumelte nach hinten, sah sich fieberhaftnach einem Versteck um und duckte sich, nachLuft ringend, hinter einen Labortisch.Kein Laut war zu hören. Im Labor und im Gangdavor war es mucksmäuschenstill. Sie dachte:Stell dich nicht so an. Die Tür ist verschlossen.Er kann nicht reinkommen. Eine Minuteverging. Und während Nora dort hockte undschnell atmete, geschah etwas Merkwürdiges.Die Furcht, welche sie instinktiv gepackt hatte,verschwand. Stattdessen empfand sie Wut.Langsam stand sie auf. Das Fenster war leer.Sie schnappte sich einen Messzylinder aus

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Pyrexglas, der auf dem Tisch stand, und hobihn aus dem Gestell. Dann schlug sie das Glasso gegen den Rand des Gestells, dass dasobere Ende des Zylinders zersplitterte. Sie gingzur Tür und versuchte, mit zitternden Fingerndie Codenummer einzutippen. Beim drittenVersuch klappte es, sie stieß die Tür auf undbetrat den Gang.Von dessen Ende her, hinter der Biegung, kamein Geräusch – als würde eine Tür geschlossen.»Fearing!«, schrie sie.Sie fiel in Laufschritt und rannte, so schnell siekonnte, den Flur hinunter und um die Ecke. DerGang war von Türen gesäumt, aber nur einebefand sich in der Nähe der Kreuzung. Siepackte den Griff, die Tür war unverschlossen,sie riss sie auf.Sie tastete sich an der Wand entlang, fand dieLichtschalter und legte alle mit zwei Wischernder Hand um.Vor ihr lag ein Raum, von dem sie zwar gehört,den sie aber noch nie gesehen hatte. Einer dersagenumwobensten Lagerräume des Museums.

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Einst hatte er als Heizungsraum gedient; heuteenthielt er die Sammlung der Wal-Skelette. Dieriesigen Knochen und Schädel, manche so großwie Stadtbusse, hingen an Ketten von derDecke. Hätten sie auf dem Boden gestanden,wären sie unter der Last des Eigengewichtseingeknickt und zerbrochen. Jedes deraufgehängten Skelette umhüllten fast bis zumBoden reichende Plastikplanen, ein wahresMeer aus drapierten Skeletten. Die an derDecke angebrachten Reihen von Neonröhrenreichten nicht aus für einen so großen Raum, sodass das Licht etwas Verschwommenes, fastUnterseeisches hatte.Nora sah sich um, die provisorische Waffegezückt. Linker Hand schwangen einigePlastikplanen hin und her, als seien sie kurzzuvor berührt worden.»Fearing!«Ihre Stimme erzeugte in dem hohen,höhlenartigen Raum einen unheimlichen Hall.Nora lief auf die nächstgelegenen Planen zuund schlüpfte dazwischen. Die großen Skelette

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warfen in dem Schummerlicht merkwürdigeSchatten, und die schmutzigen, steifenPlastikplanen bildeten ein derartirrgartenähnliches Gebilde aus Vorhängen,dass Nora in jeder Richtung nicht mehr als ein,zwei Meter weit sehen konnte. Vor lauterAnspannung und Wut stockte ihr fast der Atem.Sie streckte den Arm aus und riss einen derPlastikvorhänge zur Seite. Nichts.Sie trat einen Schritt vor, schob noch einenbeiseite, dann noch einen. Jetzt wogten diePlastikplanen, die sie umgaben, wie verrückt,als wären die riesigen Skelette darin zu einemruhelosen Leben erwacht.»Dreckskerl! Zeig dich!«Ein Rascheln – und dann sah sie, wie hinter derPlastikplane ein Schemen vorbeihuschte. Norastach mit ihrem scharfkantigen Messzylinderdanach.Nichts.Plötzlich hielt sie das alles nicht mehr aus undlief mit einem Aufschrei nach vorn. Vorhang umVorhang schlug sie zur Seite und schwenkte

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den zerbrochenen, scharfkantigen Messzylinderso lange in wilden Bögen vor sich her, bis siesich in dem schweren Plastik verhedderte undsich mühselig daraus befreien musste.Nachdem ihr Anfall vorbei war, ging sie einigeSchritte weiter und lauschte. Zunächst nahmsie nur die eigenen Atemzüge wahr. Aber dannhörte sie rechts von sich ganz deutlich einschlurfendes Geräusch. Sie stürzte darauf zu,mit wüsten Hieben und Schwingern danachstechend, und wollte gerade wieder laut nachFearing rufen.Da blieb sie abrupt stehen. Langsam drang dieStimme der Vernunft durch den roten Nebelihrer Wut. Sie war dumm – sehr dumm. Siehatte zugelassen, dass Wut ihre Urteilskrafttrübte.Nora blieb stehen und horchte noch einmal. EinKratzen, ein huschender Schemen, wiederwogende Planen. Blitzartig drehte sie sichdanach um. Dann hielt sie inne und fuhr sichmit der Zunge über die Lippen, die plötzlichtrocken geworden waren. In dem schummrigen

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Licht, umgeben von zahllosenschwergewichtigen, verhüllten Skeletten,fragte sie sich: Wer ist hier eigentlich der Jäger… und wer das Wild?Ihre Wut ließ abrupt nach und wich einerzunehmenden Angst, als ihr bewusst wurde,was passiert war. Fearing hatte nicht in dasverschlossene Labor gelangen können. Darumhatte er sie herausgelockt. Und jetzt hatte siesich auch noch in diesen Irrgarten lockenlassen.Plötzlich schnitt ein Messer durch einePlastikplane in der Nähe, ein langer Rissentstand. Eine Gestalt trat durch den Riss.Blitzartig drehte Nora sich um, stach mit demgezackten Ende des Messzylinders auf sie einund streifte sie. Aber die Gestalt schlug ihr dieprovisorische Waffe mit dem Messer aus derHand, so dass der Messzylinder zu Boden fiel.Nora wich zurück und starrte den Mann an.Fearings Kleidung war zerlumpt, stank, warsteif vor altem Blut. Das eine dunkelvioletteAuge glotzte sie an, das andere war weißlich

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und wirkte blind. Der Mund war weitaufgerissen und ließ den Blick frei aufschwarze, kariöse Zähne. Das Haar war vollerSchmutz und Blätter. Die Haut war fahl undroch nach Grab. Einen feuchten, schnaubendenLaut ausstoßend, trat er einen Schritt vor undstach auf sie ein, wobei das Messer – einMesser, das sie nur zu gut kannte – einenglitzernden Bogen beschrieb.Nora wich zur Seite aus, das Messer sauste anihr vorbei, und sie verlor das Gleichgewicht undfiel hin. Die Gestalt rückte vor, Nora schnappteeine große Glasscherbe und krabbelte auf allenvieren rückwärts.Das weit aufgerissene Maul stieß einenfurchterregenden, gurgelnden Laut aus.»Hau ab!«, schrie sie, zückte die Glasscherbeund rappelte sich auf.Die Gestalt watschelte vorwärts und hiebungeschickt nach Nora. Sie wich zurück, danndrehte sie sich um und lief los, schlug sichdurch die Plastikvorhänge und versuchte, sichzur Rückseite des Raums durchzukämpfen.

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Bestimmt fand sie dort einen Hinterausgang.Sie hörte, wie die Gestalt hinter ihr dieVorhänge durchschnitt, laut klirrten dieherabhängenden Skelette, wenn das Messereines davon streifte.Shhchroooggggnnn. Die Gestalt stießfurchterregende Laute aus, wenn sie stoßweisedurch die schleimige Luftröhre atmete. Noraschrie auf vor Furcht und Entsetzen, was einenirre klingenden Hall in der höhlenartigenDunkelheit erzeugte.Inzwischen hatte sie jede Orientierung verlorenund war sich unsicher, ob sie in die richtigeRichtung lief. Sie kämpfte mit denPlastikvorhängen, rang nach Luft, verheddertesich erneut, warf sich schließlich auf den Bodenund kroch hektisch unter die raschelnden,wogenden Planen. Sie hatte sich völlig verirrt.Sssshrooogggnnn, ertönte hinter ihr dasfurchtbare, saugende Geräusch.Aus Verzweiflung stand Nora unter demPlastiküberwurf eines tief hängenden Skelettsauf, langte nach oben und packte den

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Rippenknochen eines Wals, dann schwang siesich hinauf und kroch in den Brustkorb, alshandelte es sich um irgendein monströsesGerät auf einem Spielplatz. Hektisch klettertesie weiter, so dass die ausgedörrten Knochenschaukelten und klackend aneinanderstießen,bis sie die Oberseite des Brustkorbs erreichthatte. Hier sah sie eine Öffnung zwischen zweiRippen, groß genug, dass sie sich dadurchzwängen konnte. Mit der Glasscherbeschlitzte sie ein Loch in die Plane, dann zog siesich zwischen den Knochen und durch dasPlastik hinauf und kletterte auf den Rücken desSkeletts. Dort hielt sie, trotz allem, kurz inne –und erstarrte fast ob des bizarren Anblicks.Unter ihr, in allen Richtungen, hing eineVielzahl von Wal-Skeletten, große und kleine, sonahe nebeneinander, dass sie einanderberührten.Das Skelett unter ihren Füßen begann erneutzu schwingen. Sie blickte hinunter. Fearing wardirekt unter ihr und kletterte gerade denDschungel aus Skeletten herauf.

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Dschungel aus Skeletten herauf.Nora stöhnte auf vor Angst. So schnell sie sichtraute, lief sie gebückt auf dem Skelett entlang,dann sprang sie auf das nächste und packtefest zu, während es unter ihr wie verrückt hinund her schaukelte. Sie lief den zweitenRückenknochen entlang, sprang auf ein drittesSkelett. Von hier konnte sie am anderen Endedes Saals so gerade eben eine Tür erkennen.Bitte lass sie unverschlossen sein.Die grässliche Gestalt erschien oben auf demSkelett, sie erhob sich aus dem Riss in demPlastikvorhang, und als sie auf allen vierenvorwärtshuschte und von einem Skelett zumnächsten sprang, wurde Nora klar, dass dieGestalt trotz ihrer watschelnden Bewegungenbehender war, als sie geglaubt hatte. Dadurch,dass sie auf die Skelette geklettert war, hattesie dem Gegner einen Vorteil eingeräumt.Nora schlitzte ein weiteres Loch in diePlastikplane unter ihr und kletterte nach unten,dann sprang sie auf den Boden und kroch, soschnell sie konnte, auf den hinteren Teil des

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Saals zu. Hinter sich hörte sie, wie Fearing dieVerfolgung aufnahm; die schreckenerregendensaugenden Geräusche wurden immer lauter.Plötzlich riss sie sich los aus demDurcheinander der Wal-Knochen. Dort, nur dreiMeter vor ihr, war die Tür: schwer undaltmodisch, ohne Sicherheits-Tastatur. Sierannte darauf zu und packte den Griff.Abgeschlossen.Nora schluchzte vor Entsetzen; sie drehte sichum, lehnte sich mit dem Rücken an die Tür undpackte ihre Waffe, die scharfkantigeGlasscherbe, bereit, Widerstand zu leisten.Die Skelette schwangen hin und her undknarrten an den Ketten, unablässig schleiftendie wehenden Plastikvorhänge über den Boden.Nora wartete und rüstete sich, so gut es ging,für den letzten Kampf.Eine Minute verging, dann noch eine. Fearingtauchte nicht auf. Allmählich ließ das Raschelnund Schwingen der Skelette nach. In demLagerraum kehrte wieder Stille ein.Nora atmete mehrmals tief durch. Hatte er die

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Jagd abgebrochen? War er weg?Von der anderen Seite des Saals her hörte siedas Knarren einer Tür, schlurfende Schritte,dann war alles still.Nein, nein. Er war nicht gegangen.»Wer ist hier drin?«, ließ sich eine Stimmevernehmen, die vor kaum verhohlener Angstleicht zitterte. »Zeigen Sie sich.«Ein Wachmann der Nachtschicht. Nora hättevor Erleichterung fast geschluchzt. Fearingmusste die Schritte des Wachmanns gehörthaben, sie hatten ihn verscheucht. Trotzdemhielt sie den Atem an. Sie durfte sich jetzt aufkeinen Fall zu erkennen geben; nicht währendihre DNA-Analyse lief.»Ist da jemand?«, rief der Wachmann, dem eshörbar widerstrebte, in diesen Wald aus Wal-Skeletten einzudringen. Der schwacheLichtschein seiner Taschenlampe huschte indem schummrigen Saal umher.»Letzter Aufruf. Ich schließe jetzt ab.«Nora war es egal. Sie war Kuratorin und kanntedeshalb den Sicherheitscode für die

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Eingangstür.»Also gut, Sie haben es so gewollt.«Ein Schlurfen, das Licht erlosch, dann dasZuknallen einer Tür.Langsam bekam Nora ihre Atmung wieder inden Griff. Sie sank auf die Knie und spähte indas schummrige Licht, das durch das kleineFenster in der Tür in den Saal fiel.War er, so wie sie, noch hier drin? Wartete er,bereit, sie aus dem Hinterhalt zu überfallen?Was wollte er – zu Ende bringen, was er in derWohnung nicht vermocht hatte?Sie ließ sich auf Hände und Knie nieder undkroch unter die inzwischen ruhigenPlastikplanen, bewegte sich langsam undmöglichst leise in Richtung Vordertür. Alle paarMinuten hielt sie inne, um sich umzusehen undzu lauschen. Aber es war nichts zu hören, keineSchemen zu sehen – nur die mächtigenhängenden Walknochen in ihren Plastikplanen.Als sie die Mitte der Skelette erreicht hatte,machte sie eine Pause. Sie konnte denschwachen Schimmer von Glasscherben

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ausmachen: der Rest ihrer provisorischenWaffe, in Stücke zerbrochen. In dem düsterenLicht sah sie am glitzernden Rand einer großenScherbe einen undeutlichen dunklen Streifen.Also hatte sie Fearing mit der Glasscherbeverletzt – und seine Haut geritzt. Das war Blut… sein Blut.Sie holte zweimal Luft und versuchte, möglichstklar zu denken. Dann zog sie, mit zittrigenFingern, eines der übriggebliebenenReaktionsgefäße hervor, die sie eingesteckthatte. Vorsichtig zerbrach sie das sterile Siegel,nahm die Glasscherbe, tauchte sie in dieFlüssigkeit und versiegelte das Testgefäß.Pendergast hatte ihr bereits DNA-Proben vonFearings Mutter gegeben, und mitochondrialeDNA von Mutter und Sohn war immer identisch.Jetzt konnte sie Fearings DNA testen und dieseunmittelbar mit der unbekannten DNAvergleichen, die am Tatort gefunden wordenwar.Nora steckte das Teströhrchen ein und machtesich – leise und vorsichtig – auf den Weg zur

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Tür. Sie reagierte auf den Code und öffnetesich. Rasch verschloss sie die Tür hinter sich,dann ging sie auf wackligen Beinen den Ganghinunter zurück ins PCR-Labor. Von Fearingwar nichts zu sehen. Sie gab den Code in dieTastatur ein, betrat das Labor, schloss die Türhinter sich und schaltete das Deckenlicht aus.Sie würde ihre Arbeit im Schein derInstrumente beenden.Der Thermozyklierapparat war mit demDurchlauf zur Hälfte fertig. Mit immer nochpochendem Herzen stellte Nora dasReaktionsgefäß mit dem Blut ihres Angreifersneben die anderen, damit es für den nächstenDurchlauf bereit war.Morgen Abend würde sie mit Sicherheit wissen,ob es wirklich Fearing gewesen war, der ihrenMann ermordet und sie zweimal zu tötenversucht hatte.

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D’Agosta betrat den Warteraum im Anbau desLeichenschauhauses, wobei er darauf achtete,durch den Mund zu atmen. Pendergast ginghinter ihm, nahm den Raum mit einem raschenBlick in Augenschein und glitt katzenhaft aufeinen der hässlichen Plastikstühle an derWand, zwischen denen ein Tisch miteselsohrigen Zeitschriften stand. Er nahm einemit eher geringen Gebrauchsspuren zur Hand,blätterte darin und begann zu lesen.D’Agosta ging einmal im Kreis herum, dannnoch einmal. Das Leichenschauhaus von NewYork war für ihn ein Ort voller fürchterlicherErinnerungen, und bestimmt machte er gleicheine Erfahrung, die eine weitere Erinnerungfest in seinen Gedanken verankern würde –vielleicht die schlimmste von allen. Pendergastsgeradezu übernatürliche Abgeklärtheit

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irritierte ihn. Wie konnte er nur derart coolbleiben? Er blickte hinüber zu seinem Begleiterund sah, dass er sichtlich interessiert in einerMademoiselle las.»Wieso lesen Sie denn so was?«, fragteD’Agosta gereizt.»Hier steht ein lehrreicher Artikel überunglücklich verlaufene erste Dates. Daserinnert mich an einen Fall, in dem ich einmalermittelt habe. Das Date endete in einem Mordin Kombination mit einem Selbstmord.« Erschüttelte den Kopf und setzte seine Lektürefort.D’Agosta verschränkte die Arme vor der Brustund ging wieder unruhig im Raum herum.»Vincent, nun setzen Sie sich doch. Nutzen SieIhre Zeit auf konstruktive Weise.«»Ich hasse diesen Ort. Der Geruch ekelt michan. Ich hasse es, wie es hier aussieht.«»Ich kann es Ihnen nachfühlen. Die Hinweiseauf unsere Sterblichkeit sind hier – sollen wirsagen – schwer zu ignorieren? Gedanken, oft sotief, dass nicht mal Tränen sie erreichen.«

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Die Seiten raschelten; Pendergast las weiter.Mehrere furchtbare Minuten verstrichen, bevorsich die Tür zum Leichenschauhaus endlichöffnete. Darin stand einer der Pathologen,Beckstein.Gott sei Dank, dachte D’Agosta, Beckstein führtdie Autopsie durch. Er war einer der bestenund – Überraschung! – ein fast normalerMensch.Beckstein streifte Handschuhe und Maske abund ließ sie in einen Abfalleimer fallen.»Lieutenant. Agent Pendergast.« Er nickte nur,bot ihnen nicht die Hand. Händeschütteln – soetwas tat man in einem Leichenschauhauseinfach nicht. »Ich stehe zu Ihrer Verfügung.«»Dr. Beckstein.« D’Agosta übernahm dieGesprächsführung. »Vielen Dank, dass Sie sichZeit für ein Treffen mit uns genommen haben.«»Keine Ursache.«»Geben Sie uns bitte einen kurzen Überblick,mit möglichst wenigen Fachausdrücken.«»Gewiss. Möchten Sie sich die Leiche einmalanschauen? Der Prosektor arbeitet gerade

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noch daran. Manchmal hilft es, wenn man sich…«»Nein danke«, sagte D’Agosta entschieden.Er spürte, dass Pendergast ihn ansah. Scheißdrauf, dachte er entschlossen.»Wie Sie wünschen. Die Leiche weist vierzehnvollständige oder partielle Prämortem-Messerstiche auf, einige an Händen und Armen,mehrere im unteren Rückenbereich und einenfinalen, gleichfalls mit einem hinteren Eintritt,der das Herz durchbohrt hat. Ich würde Ihnendas gern mal auf einem Schaubild verdeutlichen…«»Nicht nötig. Irgendwelche Postmortem-Wunden?«»Keine. Der Tod trat fast unmittelbar nach demletzten, tödlichen Stoß ins Herz ein. Das Messerdrang zwischen der zweiten und drittenhinteren Rippe ein, in einem nach untenweisenden Winkel von achtzig Grad. Dabei hates den linken Vorhof und die Lungenarteriedurchstoßen und den Conus arteriosis amÜbergang zur rechten Herzkammer

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durchtrennt, was zu einer massiven Ausblutunggeführt hat.«»Hab schon verstanden.«»Gut.«»Würden Sie sagen, dass der Mörder getan hat,was er tun musste, um das Opfer zu töten, undnicht mehr?«»Diese Aussage stimmt mit den Fakten überein,ja.«»Die Tatwaffe?«»Eine fünfundzwanzig Zentimeter lange, fünfZentimeter breite Klinge, sehr steif, vermutlichein qualitativ hochwertiges Küchen- oderTauchermesser.«D’Agosta nickte. »Sonst noch was?«»Die Blutuntersuchung hat einenBlutalkoholspiegel in den rechtlich zulässigenGrenzen ergeben. Keine Drogen oder anderefremde Substanzen. Der Mageninhalt …«»Das muss ich nicht wissen.«Beckstein zögerte. D’Agosta las irgendetwas inseinem Blick. Unsicherheit, Unbehagen.»Ja?«, drängte er. »Sonst noch was?«

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»Ja. Ich habe den Bericht zwar noch nichtgeschrieben, aber da war eine ziemlichmerkwürdige Sache, die dasSpurensicherungsteam übersehen hat.«»Reden Sie weiter.«Wieder zögerte Beckstein. »Ich würde Ihnendas gern einmal zeigen. Wir haben es nichtentsorgt – noch nicht.«D’Agosta schluckte. »Worum handelt es sich?«»Bitte, lassen Sie es mich Ihnen einfach malzeigen. Ich kann nicht … na ja, kann es nichtsehr gut beschreiben.«»Selbstverständlich«, sagte Pendergast undtrat vor. »Vincent, wenn Sie lieber hier wartenmöchten …?«D’Agosta straffte das Kinn. »Ich komme mit.«Sie folgten Beckstein durch die zweiflügeligeEdelstahltür ins grünliche Licht eines großengekachelten Raums. Sie legtenGesichtsmasken, Handschuhe und Kittel an,dann gingen sie weiter, bis sie in einen derSektionssäle gelangten.Sofort sah D’Agosta den Prosektor, der sich

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über den Leichnam beugte, das Gewinsel derStrykersäge in seinen Händen klang wie einewütende Stechmücke. In der Nähe lümmelte einAssistent herum, der einen Bagel mitRäucherlachs aß. Auf einem zweitenObduktionstisch lagen verschiedene, mitZettelchen versehene Organe. Wiederschluckte D’Agosta, fester diesmal.»Hey«, sagte der Sektionsgehilfe zu Beckstein.»Sie kommen gerade recht. Wir wollten uns denDarm vornehmen.«Ein strenger Blick von Beckstein brachte denMann zum Schweigen. »’tschuldigung. Wussteja nicht, dass Sie Besuch mitbringen.« Ergrinste und biss herzhaft in den Bagel. DerRaum roch nach Formalin, Fisch und Fäkalien.Beckstein wandte sich zum Prosektor um.»John, ich möchte Lieutenant D’Agosta undSpecial Agent Pendergast mal das, äh, Objektzeigen, das wir gefunden haben.«»Kein Problem.« Der Prosektor schaltete dieSäge aus und glitt einen Schritt zur Seite.Äußerst widerwillig trat D’Agosta langsam vor,

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dann warf er einen Blick auf den Leichnam.Es war übler, als er sich vorstellt hatte.Schlimmer noch als in seinen schlimmstenAlbträumen. Bill Smithback, nackt, tot,aufgemacht. Die Kopfhaut zurückgezogen, dasbraune Haar an der Schädelbasis gefältet, dieblutige Kopfhaut entblößt, frische Sägespurenverliefen im Halbkreis um den Schädel. DieKörperhöhlung weit geöffnet, die Rippengespreizt, die Organe entfernt.Er senkte den Kopf und schloss die Augen.»John, könnten Sie mal einen Spreizer im Mundfixieren?«»Gern.«D’Agosta hielt die Augen weiterhingeschlossen.»Fertig.«Er schlug die Augen auf. Der Mund war miteinem Edelstahlgerät aufgesperrt worden.Beckstein rückte die Stirnlampe zurecht, umdas Mundinnere auszuleuchten. In der Zungesteckte ein Angelhaken mit Federn, ähnlicheiner Forellenfliege. Gegen seinen Willen

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beugte sich D’Agosta vor, um sich die Sachegenauer anzusehen. An dem Haken war einKnoten aus hellfarbenem Bindfaden befestigt,daran hing ein winziger, grinsender Totenkopf.Am Hals des Hakens war ein Miniaturbeutel, sogroß wie eine Pillendose, angebracht.D’Agosta warf Pendergast einen kurzen Blickzu. Pendergast blickte in den offenen Mund, miteiner Intensität, wie sie seine Augen nur seltenzeigten. D’Agosta kam es sogar vor, als läge indiesem Blick mehr als Intensität. VielmehrBedauern, Unglauben, Trauer – undUnsicherheit. Es war, als habe Pendergastwider besseres Wissen gehofft, dass er sich inirgendetwas geirrt hätte … nur um, ungeheuerentsetzt, zu erkennen, dass er nur allzu rechtgehabt hatte.Die Stille zog sich hin. Schließlich wandte sichD’Agosta zu Beckstein um. Er fühlte sichplötzlich sehr alt und müde. »Ich möchte, dassdas hier fotografiert und untersucht wird.Entfernen Sie den Haken mitsamt der Zunge –lassen Sie ihn drin. Ich möchte, dass die

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lassen Sie ihn drin. Ich möchte, dass dieForensiker dieses Ding analysieren, denwinzigen Beutel öffnen und mir von seinemInhalt berichten.«Der Sektionsgehilfe blickte D’Agosta über dieSchulter und kaute dabei seinen Bagel. »Siehtso aus, als würde ein echter Psychopath frei inder Gegend rumlaufen. Man stelle sich mal vor,was die Post aus der Geschichte machenwürde!« Lautes Knirschen, gefolgt vonKaugeräuschen.D’Agosta drehte sich zu dem Mann um. »Wenndie Post das hier herausfindet«, knurrte er,»sorge ich persönlich dafür, dass Sie den RestIhres Lebens Bagels toasten, anstatt sie zuessen.«»Ey, ’tschuldigung, Mann. Warum gleich soempfindlich?« Der Sektionsgehilfe trat einenSchritt zurück.Pendergast blickte zu D’Agosta, richtete sichauf und trat von der Leiche zurück. »Vincent,mir fällt gerade ein, dass ich meiner liebenTante Cornelia schon seit Jahren keinen Besuch

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mehr abgestattet habe. Hätten Sie Lust, michzu begleiten?«

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Nora drehte den Schlüssel im Riegelschloss undschob die Tür zu ihrer Wohnung auf. Es warzwei Uhr nachmittags, deshalb fiel dasSonnenlicht in flachem Winkel durch dieJalousien und erhellte erbarmungslos jedeseinzelne Fragment ihres Zusammenlebens mitBill. Bücher, Gemälde, Kunstgegenstände,selbst achtlos abgelegte Zeitschriften, jedesbrachte eine Flut von unerwünschten,schmerzlichen Erinnerungen mit sich. Nachdemsie zweimal abgeschlossen hatte, ging sie mitgesenktem Blick durch das Wohnzimmer insSchlafzimmer.Sie hatte ihre Arbeit am PCR-Gerät beendet.Die DNA-Proben, die Pendergast ihr zurVerfügung gestellt hatte, waren inzwischen allemillionenfach vermehrt worden, und sie hattedie Reaktionsgefäße ganz hinten im

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Laborkühlschrank verstaut, wo sie niemandemauffallen würden. Anschließend hatte sie biszur Mittagszeit im Anthropologie-Laborreguläre, unauffällige Arbeiten erledigt.Niemand hatte etwas dagegen eingewandt,dass sie früh ging. Heute Nacht um eins wolltesie zurückkehren, um die zweite und letztePhase der DNA-Analyse abzuschließen: den Gel-Elektrophorese-Test. Bis dahin brauchte sieunbedingt Schlaf.Sie ließ ihre Handtasche kurzerhand auf denBoden fallen, warf sich aufs Bett und legte sichmehrere Kissen auf den Kopf. Aber obwohl sieregungslos dalag, konnte sie nicht einschlafen.Eine Stunde verstrich, dann zwei, schließlichgab sie’s auf. Da hätte sie genauso gut imMuseum bleiben können. Vielleicht sollte siesofort dahin zurückgehen.Nora sah zum Anrufbeantworter hinüber. 22Nachrichten. Weitere Bezeugungen desMitgefühls, kein Zweifel. Aber sie ertrug eseinfach nicht, noch mehr davon zu hören. Miteinem Seufzen drückte sie den Abspiel-Knopf

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und löschte jede Nachricht, sobald sie in derStimme des Anrufers einen besorgten Tonfallhörte.Die siebte Nachricht klang anders. DieAnruferin war die Reporterin des West Sider.»Dr. Kelly? Caitlyn Kidd. Hören Sie, ich habemich gerade eben gefragt, ob Sie etwas mehrüber diese Tieropfer-Geschichtenherausgefunden haben, an denen Bill dran war.Ich habe die Artikel gelesen, die erveröffentlicht hat. Die sind extrem kritisch. Ichbin neugierig, ob er etwas Neuesherausbekommen hat, das er aus Zeitgründennicht publizieren konnte – oder ob jemand nichtwollte, dass er es publiziert. Rufen Sie mich an,sobald Sie Zeit haben.«Als die nächste Nachricht vom Band kam,drückte Nora den Stopp-Knopf. Einen Momentlang starrte sie nachdenklich auf denAnrufbeantworter. Dann erhob sie sich vomBett, ging zurück ins Wohnzimmer und fuhrihren Laptop hoch. Sie kannte Caitlyn Kiddnicht, traute ihr nicht. Aber sie würde mit dem

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Teufel selbst zusammenarbeiten, wenn er ihrhelfen könnte, die Leute hinter Bills Tod zurStrecke zu bringen.Nora starrte auf den Bildschirm und holte tiefLuft. Dann loggte sie sich – rasch, ehe sie essich anders überlegte – in den privaten Accountihres Mannes bei der New York Times ein. DasPasswort wurde akzeptiert, der Account waralso noch nicht deaktiviert. Kurz darauf blicktesie auf das Verzeichnis der Artikel, die er imvergangenen Jahr geschrieben hatte. Erst gingsie die Artikel in rückläufiger Folge übermehrere Monate durch, dann scrollte siewieder nach oben und sah sich die Titelgenauer an. Erstaunlich, wie viele ihrunbekannt vorkamen, und auf einmal bereutesie bitter, sich nicht mehr mit Bills Arbeitbeschäftigt zu haben.Den ersten Artikel zum Thema hatte Bill vordrei Monaten veröffentlicht; es handelte sich imWesentlichen um einen Hintergrundartikel,darüber, dass Tieropferungen, weit davonentfernt, der fernen Vergangenheit

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anzugehören, noch immer in der Stadt – wennauch im Geheimen – praktiziert wurden. Sieging die Liste weiter nach oben durch. Dawaren weitere Artikel: ein Interview mit einemMann namens Alexander Esteban, Sprecher derOrganisation »Menschen helfen Tieren«, eineReportage über Hahnenkämpfe in Brooklyn.Dann stieß sie auf den neuesten Artikel, Billhatte ihn vor zwei Wochen veröffentlicht,betitelt: »Für die Einwohner Manhattansrücken Tieropfer immer näher«.Sie lud den Text und überflog ihn rasch, dabeiblieb ihr Blick insbesondere an einem Absatzhaften.

Die hartnäckigsten Berichte über Tieropfer kommenaus Inwood, dem nördlichsten Viertel vonManhattan. Von Anwohnern der Indian Road undder West 214. Straße gingen zahlreicheBeschwerden, denen zufolge man Laute von Tierenin Not gehört habe, bei der Polizei undTierschutzorganisationen ein. Die Tierschreie – vonZiegen, Hühnern und Schafen – stammen angeblich

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aus einer aufgelassenen Kirche in einerzurückgezogen lebenden Gemeinde im Inwood HillPark, im Volksmund unter dem Namen »Ville«bekannt. Bemühungen, mit den Bewohnern des Villeund dem Anführer der Gemeinde, Eugene Bossong,zu sprechen, blieben erfolglos.

Mit dieser Entdeckung hatte sich Bill, wie esschien, die Unterstützung der Chefredaktionfür weitere Recherchen gesichert, denn derArtikel schloss mit dem Satz:

Dies ist ein Artikel aus einer Fortsetzungsreihe überTieropfer in der Stadt New York.

Nora setzte sich zurück. Jetzt, da sie darübernachdachte, fiel ihr wieder ein, dass Bill vorungefähr einer Woche eines Abends nachHause gekommen war und wegen eines kleinenCoups gejubelt hatte, den er bei seinenlaufenden Recherchen über die Tieropfergelandet habe.Vielleicht war der Coup ja doch gar nicht soklein gewesen.

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Nora sah stirnrunzelnd auf den Laptop-Bildschirm. Ungefähr zur gleichen Zeit warenauch zum ersten Mal diese merkwürdigenkleinen Gegenstände im Briefkasten und diegruseligen Zeichnungen im Straßenstaub vorder Tür des Apartmenthauses aufgetaucht.Nachdem sie das Artikelverzeichnisgeschlossen hatte, öffnete sie BillsInformationsmanagement-Software und suchtenach den Notizen, die er sich immer füranstehende Artikel machte. Wichtig für siewaren dabei die neuesten Einträge.

Konzentrier dich auf das Ville – Follow-up imnächsten Artikel. SIND DAS WIRKLICHTIEROPFERUNGEN? Das muss BEWIESENWERDEN – keine Anspielungen. Polizeiakten nochmal einsehen. Mit eigenen Augen SEHEN. Transkribier das Interview mit Pizzetti. AndereNachbarn, die sich beschwert haben?Zweites Interview mit Esteban, dem Tierschützer,vereinbaren? Kapitel über das lokale Büro der

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Tierrechtsorganisation PETA, usw. Woher bekommt man die Tiere? Wie sieht die Geschichte des Ville aus? Wer sinddiese Leute? Die Times morgen auf dieVorgeschichte/Geschichte hin überprüfen. VielFarbe brächten in den Artikel rein: Gerüchte umZombies/Kulte/etc. Möglicher Titel: »Ville d’Evil?« Nein, die Times würdedas streichen. *Erster Hochzeitstag – Reservierung fürs Café desArtistes & Karten für Der Mann, der zumAbendessen kam fürs Wochenende nichtvergessen!!!

Der letzte Eintrag kam so unerwartet, fiel sosehr aus dem Rahmen, dass Nora einenschutzlosen Moment lang spürte, wie sie heißeTränen vergoss. Sie schloss sofort dasProgramm und stand vom Schreibtisch auf.

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Sie ging im Wohnzimmer auf und ab, dann sahsie auf die Uhr: Viertel nach vier.Wenn sie dieU-Bahn Ecke 96. und Central Park West nahm,konnte sie in vierzig Minuten in Inwood sein.Sie lud ein neues Programm, tippte kurz etwasein, betrachtete den Bildschirm und schicktedas Dokument an den Drucker. Sie ging mitlangen Schritten ins Schlafzimmer, hob ihreHandtasche vom Fußboden auf, schaute sichnoch mal rasch um, dann schritt sie zur Tür.Eine Viertelstunde vorher hatte sie sich nochorientierungslos und ohne Ziel gefühlt. Jetztaber war sie plötzlich von einem übermächtigenWillen beseelt.

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D’Agosta hatte eine kompletteKommandoeinheit mitgebracht – zwölfbewaffnete und uniformierte Beamte –, darumwar der Fahrstuhl brechend voll. Er drückteden Knopf für Stockwerk 37, dann wandte erden Blick auf das erleuchtete Display über denFahrstuhltüren. Er war ruhig und gelassen,cool. Nein, das stimmte nicht: Er war kalt.Eiskalt.Er war im Grunde ein fairer Mensch, fand er.Wenn man ihn mit einem Mindestmaß anRespekt behandelte, dann tat er das umgekehrtauch. Aber wenn sich jemand wie ein Arschaufführte, dann war das eine andereGeschichte. Und Lucas Kline hatte sich wie einausgesuchter Arsch der Güteklasse Aaufgeführt. Aber jetzt würde er mal erleben,was für eine schlechte Idee es war, einen Cop

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so richtig zu ärgern.Er wandte sich zu der Einsatzgruppe um.»Denkt an das Briefing. Ich will eine gründlicheDurchsuchung. Gründlich und schmutzig.Arbeitet in Zweier-Teams – ich will keineProbleme mit der Beweiskette erleben. Undwenn euch jemand in die Quere kommt,irgendeine Art von Verschleppungstaktik läuft,irgendwas, unterbindet das schnell undentschlossen.«Ein Murmeln ging durch die Gruppe, gefolgtvon einer Welle schnappender und klickenderGeräusche; Stabtaschenlampen wurdenüberprüft, Batterien in elektrischeSchraubenzieher geschoben.Die Fahrstuhltüren öffneten sich, und dieBeamten erblickten die weitläufige Lobby vonDigital Veracity. Es war Spätnachmittag – halbfünf –, aber auf den Ledersofas saßen nocheinige Kunden und warteten auf Termine.Gut.Er trat aus dem Fahrstuhl und ging bis in dieMitte der Lobby, während das Team hinter ihm

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ausschwärmte. »Ich bin Lieutenant D’Agostavon der Polizei New York«, sagte er laut undvernehmlich. »Ich habe einenDurchsuchungsbeschluss für diese Räume.« Erblickte hinüber zu den wartenden Kunden. »Ichschlage vor, Sie kommen ein andermal wieder.«Die Leute wurden ganz bleich im Gesicht,erhoben sich schnell, schnappten sich ihreJacken und Aktentaschen und eilten, fastdankbar, zu den Fahrstühlen. »Fahren Sie nachunten und besorgen Sie sich einen Kaffee.«In fünfzehn Sekunden war die Lobby leer bisauf D’Agosta und sein Team. »Wir nutzendiesen Vorraum als Sammelpunkt. Lasst dieKisten für die Beweismittel hier. Also, losgeht’s.« Er zeigte auf drei der Beamten. »Ihrkommt mit mir.«Nach sechzig Sekunden standen sie imVorzimmer von Klines Büro. D’Agosta sah dieverängstigt wirkende Sekretärin an. »Heuteläuft hier nichts mehr«, sagte er ruhig undlächelte ihr zu. »Sie können früher Feierabendmachen.«

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Er wartete, bis sie gegangen war. Dann öffneteer die Tür zum Büro. Kline telefonierte malwieder, hatte die Füße auf den breitenSchreibtisch gelegt. Als er D’Agosta und dieuniformierten Beamten sah, nickte er nur, ohneÜberraschung zu zeigen.»Ich muss Sie zurückrufen«, sagte er in denHörer.»Nehmt alle Computer mit«, forderte D’Agostadie Beamten auf, dann drehte er sich zu demSoftwareentwickler um. »Ich habe hier einenDurchsuchungsbeschluss.« Er hielt ihn Klineunter die Nase, dann ließ er ihn zu Bodenfallen. »Oops. Da ist er mir doch aus der Handgeglitten. Sie können ihn lesen, wenn Sie dieZeit dazu haben.«»Ich habe mir schon gedacht, dass Siewiederkommen, D’Agosta«, sagte Kline. »Ichhabe bereits mit meinen Anwälten gesprochen.Der Durchsuchungsbeschluss muss detailliertaufführen, wonach Sie suchen.«»Oh, das tut er. Wir suchen nach Hinweisen,dass der Mord an Bill Smithback von Ihnen

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geplant, begangen oder vielleicht auchfinanziert wurde.«»Und warum genau sollte ich eine solche Tatplanen, begehen oder finanzieren?«»Wegen Ihrer psychotischen Wut auf einenprofilierten und prominenten Journalisten – wiezum Beispiel denjenigen, der Sie aus Ihrerersten Stelle bei einer Zeitung rausgeworfenhat.«Kline verengte die Augen ein ganz klein wenig.»Diese Information könnte in irgendeinemdieser Räume versteckt sein«, fuhr D’Agostafort. »Wir müssen das gesamte Bürodurchsuchen.«»Die könnte überall sein«, antwortete Kline.»Zum Beispiel bei mir zu Hause.«»Da gehen wir als Nächstes hin.« D’Agostasetzte sich. »Aber Sie haben recht – sie könntesich überall befinden. Und genau deshalb mussich sämtliche CDs, DVDs, Festplatten, PDAsbeschlagnahmen, alles in diesen Räumen, wasInformationen speichern kann. Besitzen Sieeinen Blackberry?«

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»Ja.«»Jetzt ist er ein Beweismittel. Händigen Sie ihnmir bitte aus.«Kline holte seinen Blackberry hervor und legteihn auf den Schreibtisch.D’Agosta sah sich um. Einer der Beamten nahmgerade Gemälde von den Kirschholzwänden,untersuchte sorgfältig die Rückseiten und legtesie dann auf den Boden. Ein anderer zogBücher aus den Regalen, hielt sie amBuchrücken fest, schüttelte sie und ließ siedann auf bereits vorhandene Stapel fallen. Derdritte hob die teuren Teppiche an, suchtedarunter und stellte sie dann zusammengerolltin eine Ecke. Beim Zuschauen dachte D’Agosta,wie günstig es doch war, dass keine gesetzlicheVorschrift besagte, nach einerHausdurchsuchung aufzuräumen.Aus anderen Büroräumen weiter hinten amGang hörte er das Knallen von Schubläden,Schleifgeräusche, Rufe, lautstarken Protest.Der Beamte war mit den Teppichen fertig undnahm sich die Aktenschränke vor; er öffnete

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sie, zog Akten heraus, blätterte darin und warfsie auf den Boden. Der Beamte, der dieÖlgemälde inspiziert hatte, baute derweil diePCs auf dem Schreibtisch ab. »Die brauche ichfürs Geschäft«, sagte Kline.»Die gehören jetzt mir. Hoffentlich haben Siealle Daten gespeichert.« Da fiel D’Agosta etwasein – Pendergast hatte es ihm empfohlen.»Würde es Ihnen etwas ausmachen, dieKrawatte zu lösen?«Kline runzelte die Stirn. »Wie bitte?«»Bitte tun Sie, was ich Ihnen sage.«Kline zögerte. Schließlich hob er langsam denArm und löste die Krawatte.»Jetzt den obersten Hemdknopf und denKragen öffnen.«»Was haben Sie vor, D’Agosta?«, fragte Klineund tat wie geheißen.D’Agosta betrachtete Klines dürren Hals. »DieSchnur – holen Sie sie bitte heraus.«Noch langsamer griff Kline in denHemdausschnitt und zog die Schnur heraus.Und tatsächlich: Am Ende baumelte ein kleiner

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Speicher-Stick.»Bitte geben Sie ihn mir.«»Die Daten sind verschlüsselt«, sagte Kline.»Ich nehme ihn trotzdem.«Kline sah ihn böse an »Das werden Sie nochbüßen, Lieutenant.«»Sie bekommen ihn zurück.« D’Agosta strecktedie Hand aus. Kline zog die Schnur über denKopf und legte sie auf den Tisch neben denBlackberry. Sein Gesichtsausdruck und seinGebaren verrieten nichts. Es gab nur eineneinzigen Hinweis darauf, was ihmmöglicherweise durch den Kopf ging. Die vonAkne entstellten Wangen überzogen sich miteinem leichten pinkfarbenen Hauch.D’Agosta schaute sich um. »Wir werden auchein paar von diesen afrikanischen Masken undStatuen mitnehmen müssen.«»Warum?«»Möglicherweise stehen sie im Zusammenhangmit gewissen, äh, exotischen Elementen desFalls.«Kline wollte etwas darauf erwidern, hielt kurz

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inne und setzte wieder an. »Das sind äußerstwertvolle Kunstgegenstände, Lieutenant.«»Wir werden schon nichts zerbrechen.«Der Beamte war mit den Büchern fertig undschraubte jetzt mit einem Akkubohrer an derDecke Kabelschächte auf. D’Agosta stand auf,ging zum Wandschrank und öffnete die Tür.Heute war Chauncy nicht da. Er warf Klineeinen Blick über die Schulter zu. »Besitzen Sieeinen Safe?«»Im hinteren Büro.«»Gehen wir mal hin.«Beim Gang über den Flur boten sich ihnenmehrere Szenen der Verwüstung. D’AgostasTeam hatte Monitore auseinandergeschraubt,Schränke mit Taschenlampen durchsucht,Schubladen aus Schreibtischen herausgezogen.Klines Angestellte hatten sich im Vorraumversammelt, wo sich ein wahrer Berg ausPapieren neben den Kisten mit denBeweismitteln aufgetürmt hatte. Kline blickteverstohlen nach rechts und links. Das Rosaseiner Gesichtsfarbe war ein wenig

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seiner Gesichtsfarbe war ein wenignachgedunkelt. »Vincent D’Agosta«, sagte er,während sie gingen. »Ihre Freunde nennen Siedoch Vinnie, oder?«»Ein paar.«»Vinnie, wir haben gemeinsame Bekannte,glaube ich.«»Das bezweifle ich.«»Na, mit der Person, an die ich da denke, binich zwar noch nicht richtig bekannt. Aber ichhabe das Gefühl, als würde ich sie kennen.Laura Hayward.«D’Agosta musste sich enorm zusammenreißen,damit er seine Schritte nicht verlangsamte.»Sehen Sie, ich habe mich mit Ihrer Freundin –Ex-Freundin, wie ich wohl sagen sollte – rechtintensiv beschäftigt. Was ist denn los, klappt’sauch mit Viagra nicht mehr?«D’Agosta richtete den Blick stur geradeaus.»Wie auch immer, meine Quellen sagen mir,dass Sie beide sich nahestehen. Junge, Junge,die hat vielleicht Karriere gemacht. Wenn sieihre Karten richtig ausspielt, könnte sie es

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eines Tages bis zur Polizeipräsidentin bringen…«Schließlich blieb D’Agosta stehen. »Ich willIhnen mal eines sagen, Mr. Kline. Wenn Siemeinen, Sie könnten Captain Hayward drohenoder einschüchtern, dann irren Sie sichgewaltig. Sie könnte Sie zerdrücken wie eineKakerlake. Und wenn sie in ihrer unendlichenGnade beschließt, Sie zu verschonen – dannseien Sie versichert: Ich werde Sie nichtverschonen. Also, würden Sie mir nun den Safezeigen?«

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Nora trat aus der U-Bahn-Station an der 207.Straße. Sie ging zum Nordende des Bahnsteigsund stieg die Treppe zur Straßenebene hinauf,wo drei Straßen zusammenflossen, derBroadway, die Isham und die 211. West. Indiesem Viertel war sie noch nie gewesen, eshandelte sich um den nördlichsten ZipfelManhattans. Neugierig sah sie sich um. DieGebäude erinnerten sie an Harlem:Mietshäuser aus der Vorkriegszeit, schönanzusehen und solide gebaut. Daneben einpaar Brownstone-Gebäude oder Stadthäuser.Billigläden, Kneipen und Maniküresalons Seitean Seite mit superschicken Restaurants undBio-Bäckereien. Ganz in der Nähe lag, wie siewusste, Dyckman House, das letzte verbliebeneniederländische Bauernhaus aus derKolonialzeit in Manhattan. Eine

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Sehenswürdigkeit, die sie an einem sonnigenWochenendnachmittag zusammen mit Bill hattebesuchen wollen.Sie schob den Gedanken beiseite und warfeinen Blick auf das Dokument, das sie sichausgedruckt hatte – ein Satellitenbild desViertels mitsamt den Straßennamen –,orientierte sich und machte sich auf den Weg innordwestlicher Richtung, die Isham entlang, einStück hinauf in Richtung Seaman Avenue unduntergehende Sonne.Sie überquerte die breite, belebte SeamanAvenue und folgte einem asphaltierten Fußweg,links von ihr Tennisplätze, rechts ein großerBaseballplatz. Sie blieb stehen. Vor ihr, jenseitsder Felder, lag eine Art Urwald. DieStraßenkarte verzeichnete eine Verlängerungder Indian Road, die durch das Nordende desInwood Hill Parks führte, der wiederum an eindichtes, kleines und nicht bezeichnetes Viertelgrenzte. Das musste wohl das Ville sein. DerFußweg war der direktere und, wie sie fand,vielleicht auch sicherere Weg dorthin. Er

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durchquerte die Felder und verschwand ineiner dunklen Gruppe aus Roteichen undTulpenbäumen, deren lange Schatten auf demfelsigen Untergrund zusammenfielen. Dasherbstlich erstrahlende Laub, rostfarben undgelb, mit Tupfern von Blutrot, bildete einenahezu undurchdringliche Wand. Nora hatteeinmal gelesen, es handele sich um das letztenoch bestehende ursprüngliche Waldgebiet inManhattan, und es sah auch so aus.Sie schaute auf die Uhr: halb sechs. Es warschnell dunkel geworden, die Luft fast frostigkalt. Sie trat einen Schritt vor, blieb wiederstehen und blickte unsicher in den düsterenWald. Sie war noch nie im Inwood Hill Parkgewesen – offen gestanden, kannte sieniemanden, der es gewesen war – und hattekeine Ahnung, wie sicher er nach Einbruch derDunkelheit war. War nicht vor einigen Jahrenein Jogger hier ermordet worden …?Sie reckte das Kinn. Sie war doch nicht so weithinausgefahren, nur um jetzt umzukehren. Eswar noch hell genug. Sie schüttelte ungeduldig

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den Kopf und ging los, stemmte sich der Wandaus Bäumen förmlich entgegen, als wollte siesie warnen, sie nur ja nicht aufzuhalten.Der asphaltierte Weg bog leicht nach rechtsund führte an einer kleinen Wiese vorbei, bevorer zwischen den ersten mächtigenBaumstämmen verschwand. Nora ging flottenSchritts weiter, während die schweren Ästeimmer tiefere Schatten auf sie warfen. Der Weggabelte sich einmal, dann noch einmal; derAsphalt war durchzogen von Rissen vollerGrasbüschel und gepflastert mitherabgefallenem Laub, die Büsche zu beidenSeiten machten den Fußweg immer schmaler.Hin und wieder kam sie an einer Gaslaternevorbei, die früher einmal bestimmt sehr schönausgesehen hatten, jetzt aber rostig waren undschon lange nicht mehr genutzt wurden.Zwischen den Tulpenbäumen und Eichen –einige Stämme maßen sicher anderthalb Meterim Durchmesser – standen Hartriegel- undGinkgosträucher. Hier und da ragte eineFelsklause aus dem Waldboden wie eine

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Messerklinge.Nach kurzer Strecke ging der asphaltierte Wegin einen schmalen sandigen Saumpfad über,der zwischen den Baumstämmenhindurchführte und dabei ständig anstieg.Durch eine Lücke zwischen den Bäumen sahNora einen steilen Hang, der zu einemschlammigen und von Seevögeln bevölkertenGezeitenbecken abfiel. Während sie weiter dengewundenen Pfad hinaufstieg und mit denSchuhen kleine Wehen aus herabgefallenemLaub zur Seite stieß, folgten ihr leise dieSchreie von Vögeln.Nach ungefähr einer Viertelstunde blieb Noravor einer sehr alten zerfallenenBöschungsmauer stehen. Das DröhnenManhattans war dem Rauschen des Windes inden Bäumen gewichen. Die Sonne war hinterden Anhöhen verschwunden, und einbedrohlicher orangefarbener Schein erhellteden Oktoberhimmel. Die abendliche Kühle warnun deutlich spürbar. Nora blickte auf dieHartholzbäume, die sie umdrängten, auf die

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tückischen Gletscherbrocken und kleinenSenken, die hier und da den Boden durchzogen.Es kam ihr fast unmöglich vor, dass es hier, aufder urbansten aller Inseln, 80 Hektar einessolch wilden Waldes geben sollte. Ganz in derNähe befanden sich, wie sie wusste, dieÜberreste der alten Straus-Villa. Isodor Strauswar Kongressmitglied und Miteigentümer desKaufhauses Macy’s gewesen. Nachdem er undseine Frau beim Untergang der Titanicumgekommen waren, war ihr Landhaus imInwood Hill Park nach und nach zerfallen.Vielleicht hatte die Böschungsmauer ja frühereinmal zu dem Anwesen gehört.Der Saumpfad schlängelte sich weiter nachWesten, fort von der Richtung, in die sie gehenmusste. Sie blickte im schwindenden Licht aufdie Satellitenkarte aus dem Internet undbeschloss, sich nach Norden zu wenden. Sieverließ den Trampelpfad und schlug sich durchdas spärliche Unterholz, fort vom Pfad.Das Gelände stieg hier steil an, vereinzelt ragteblanker Gneis aus dem Boden. Sie kraxelte den

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Hohlweg hinauf und hielt sich dabei anBüschen und kleinen Baumstämmen fest. IhreFinger waren inzwischen ganz kalt, und siebereute es, keine Handschuhe mitgenommen zuhaben. Sie glitt auf einem glitschigenFelsbrocken aus. Fluchend rappelte sie sichauf, wischte die Blätter von der Kleidung,schlang die Handtasche wieder über dieSchulter und horchte. Kein Zwitschern vonVögeln, kein Rascheln von Eichhörnchen, nurdas leise Wispern des Windes. Die Luft rochnach modrigem Laub und feuchter Erde. Nacheinem Augenblick kletterte sie weiter. In derStille des Waldes fühlte sie sich zunehmendallein.Es war verrückt. Es wurde viel schnellerdunkel, als sie gedacht hatte. Die LichterManhattans überstrahlten bereits das letzteLicht der Dämmerung und warfen einenunheimlichen Schein an den Himmel, dieschwarzen Umrisse der halb entlaubten Bäumedavor verliehen der Szenerie das Surreale einesMagritte-Gemäldes: oben hell, unten dunkel.

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Vor sich, ganz oben an dem Hohlweg, sah Noradie Gratlinie, dicht besetzt mit gespenstischwirkenden Bäumen. Halb laufend, halbkletternd bewegte sie sich schnell darauf zu.Oben angekommen, blieb sie kurz stehen, umzu verschnaufen. Von Ost nach West verlief einalter, rostiger Maschendrahtzaun, aber weil eraufgrund von Vernachlässigung schief undkrumm war, fand sie schon bald einen losenAbschnitt und duckte sich mühelos darunterhindurch. Sie trat einige Schritte vor, bahntesich einen Weg um eine Gruppe gewaltigerFelsbrocken herum – und blieb dann wiederabrupt stehen.Der Blick, der sich ihr darbot, waratemberaubend. Direkt vor ihren Füßen führteein steiler Felshang in die Tiefe, bis hinunter zudem Gezeitenbecken. Sie hatte die äußersteSpitze Manhattans erreicht. Ganz weit untensah sie das dunkle Wasser des Harlem River,der westlich um Spuyten Duyvil herum in diebreite Mündung des Hudson River floss. DerHudson hatte in dem schwindenden Licht die

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Farbe von dunklem Stahl, eine riesigeWasserfläche, die unter einem zunehmendenDreiviertelmond schimmerte. Jenseits desHudson ragten hohe Klippen, die JerseyPalisades, dunkel vor dem letzten Licht desSonnenuntergangs auf; in der mittleren Weitewölbte sich eine Schnellstraße, der HenryHudson Parkway, auf einer elegantgeschwungenen Brücke über den Harlem Riverund wies pfeilgerade Richtung Norden in dieBronx. Ein durchgehender Strom gelblicherLichter floss über die Brücke: Pendler, die ausder Innenstadt nach Hause fuhren. Direktgegenüber, am anderen Ufer lag Riverdale, dashier fast ebenso dicht bewaldet war wie derInwood Hill Park selbst. Und in Richtung Osten,jenseits des Harlem River, lagen die dunstigenRänder der Bronx, durchschnitten von einemDutzend Brücken, hell erleuchtet von einerMillion von Lichtern. Die Landschaft bildete einverwirrendes, bizarres und großartigesSchauspiel geologischer Erhabenheit, einPanorama des Urzeitlichen und des

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Panorama des Urzeitlichen und desKosmopolitischen, zusammengefügt mitäußerster Launenhaftigkeit im Laufe desjahrhundertealten Wachstums der Stadt.Aber Nora bewunderte den Ausblick nur kurz.Denn als sie wieder hinunterschaute, sah sierund 400 Meter entfernt und 30 Meter untersich – halb versteckt in einem dichten Gehölz –eine Gruppe ungepflegter Backsteingebäude,aus deren Fenstern hier und da ein schwachergelblicher Lichtschein drang. Die Gebäudestanden auf ebenem Gelände, auf halbem Wegzwischen einem mit Müll übersätenKieselstrand entlang des Harlem River undihrem eigenen Aussichtspunkt oben auf demGrat. Von der Klippe, auf der sie stand, warendie Häuser nicht zu erreichen – ja, sie war sichnicht mal ganz sicher, wie die Häuserüberhaupt zu erreichen waren; allerdingskonnte sie zwischen den Bäumen einAsphaltband erkennen, das vermutlich zurIndian Road führte. Und während sie diesesBild betrachtete, wurde ihr klar, dass das

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Gehölz um sie herum die Gebäude des Ville ausfast jeder Richtung unsichtbar machte, vomParkway aus, vom Flussufer, von den Klippenauf dem gegenüberliegenden Ufer. Mitten ausder Gruppe der Bauten erhob sich ein deutlichgrößeres Gebäude, offensichtlich eine Kirche,an die immer wieder unpassende Anbautenvorgenommen worden waren, bis das Ganzejeden architektonischen Zusammenhaltverloren hatte. Dieses Gebäude war von einerdichtgedrängten Gruppe kleiner, alterFachwerkhäuser umgeben, die nur durchschmale Gassen voneinander getrennt waren.Das war das Ville, der Gegenstand von Billsletztem Artikel. Der Ort, dem seiner Ansichtnach die Tieropfer in der Stadt im Wesentlichenentsprangen. Nora starrte zugleich ängstlichund fasziniert dorthin. Der riesige Bau imZentrum wirkte fast so alt, als stamme er ausder Zeit des Kaufs Manhattans durch dieHolländer. Auffällig verfallen, teils aus Ziegeln,teils aus schokoladenbraunen Holzbalkenerrichtet, mit einem gedrungenen, groben

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Kirchturm, der hinter einer Vielzahl vonMansardendächern emporragte. Die unterenFenster waren zugemauert, hinter denzersprungenen Fensterscheiben der oberenStockwerke flackerte jedoch blassgelber Schein,bei dem es sich Noras Einschätzung zufolge nurum Kerzenlicht handeln konnte. Wie schlafendlagen die Gebäude im silbrigen Mondlicht daund wurden hin und wieder, wenn eine Wolkevorbeihuschte, in ein noch größeres Dunkelgetaucht.Während Nora dastand und auf die flackerndenLichter schaute, ging ihr auf, was für eineVerrücktheit sie begangen hatte. War siedeshalb hierhergekommen – um auf einenHaufen Häuser zu starren? Was hatte siegehofft, ganz auf sich gestellt, hier zuerreichen? Wieso war sie sich so sicher, dassdas Geheimnis des Mordes an ihrem Mann indiesen Häusern verborgen lag?Das Ville hüllte sich weiter in Schweigen.Raschelnd fuhr ein kühler Nachtwind in dieBlätter um Nora herum.

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Sie fröstelte. Dann schlang sie den Mantelfester um sich, wandte sich ab und ging, soschell sie konnte, durch den dunklen Waldzurück in Richtung der einladenden Straßender Stadt.

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»Merkwürdig, dass es hier draußen immerneblig ist«, sagte D’Agosta, als der Rolls dieeinspurige Straße entlangsurrte, die LittleGovernors Island durchquerte.»Das muss an der Marsch liegen«, murmeltePendergast.D’Agosta sah aus dem Fenster. DasMarschgebiet erstreckte sich in der Tat bis weitins Dunkel. Nebelschwaden stiegen daraushervor, die um die Binsen und Rohrkolbenwaberten, während sich im Hintergrund aufunpassende Weise die nächtliche SkylineManhattans erhob. Nachdem sie an einer Reiheabgestorbener Bäume vorbeigefahren waren,gelangten sie vor ein Eisentor mit einemBronzeschild.

Mount Mercy Hospital

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Hochsicherheitsbereich

Vor dem kleinen Wachhaus verlangsamte derRolls die Geschwindigkeit. Ein uniformierterMann trat aus dem Häuschen. »Guten Abend,Mr. Pendergast«, sagte der Wachmann, den esoffenbar gar nicht verwunderte, dass so spätam Abend noch Besucher kamen. »Wollen Siewieder einmal Miss Cornelia besuchen?«»Guten Abend, Mr. Gott. Ja, danke derNachfrage. Wir sind angemeldet.«Ein Rumpeln, dann öffnete sich das Tor, undder Wachmann sagte: »Schönen Abend noch.«Proctor steuerte den Rolls durch das Tor, sienäherten sich dem Haupthaus. Wie eingrimmiger Wächter stand das riesengroße, ausbraunem Backstein im neugotischen Stilerrichtete Gebäude zwischen den düsteren undmächtigen Tannen, deren uralte Äste sich tiefnach unten bogen.Proctor fuhr auf den Besucherparkplatz.Binnen Minuten ging D’Agosta hinter einemArzt über die langen, gekachelten Flure des

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Krankenhauses. Einst war das Mount Mercydas größte Sanatorium für Tuberkulosekrankein der Stadt New York gewesen. Mittlerweilewar es in ein streng bewachtes psychiatrischesKrankenhaus für Mörder und andereGewalttäter umgewandelt geworden, die wegengeistiger Unzurechnungsfähigkeit für dennormalen Strafvollzug ungeeignet waren.»Wie geht’s ihr?«, fragte Pendergast.»Wie immer«, lautete die knappe Antwort.Zwei Wachmänner gesellten sich zu ihnen;gemeinsam gingen sie weiter über diehallenden Flure, bis sie schließlich vor einerStahltür mit vergittertem Fenster stehenblieben. Nachdem der eine Wachmann die Türaufgeschlossen hatte, betraten sie den kleinen,dahinterliegenden »Raum der Stille«. D’Agostaerinnerte sich noch an den Raum von seinemersten Besuch, damals, im vergangenen Januar,war er zusammen mit Laura Hayward hiergewesen. Es kam ihm vor, als läge der BesuchJahre zurück, doch der Raum mit den im Bodenfestgeschraubten Plastikmöbeln und den grün

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gestrichenen Wänden ohne Bilder oderirgendeinen Schmuck hatte sich kein bisschenverändert.Die beiden Wärter verließen den Raum durcheine schwere Metalltür im rückwärtigen Teil.Kurz darauf hörte D’Agosta ein leisesQuietschen, das näher kam, und dann schobeiner der Wachleute einen Rollstuhl herein. Diealte Dame war mit viktorianischer Strengegekleidet, als trage sie tiefe Trauer, dasschwarze Taftkleid mit dem schwarzenSpitzenschleier raschelte bei jeder Bewegung,aber D’Agosta sah darunter dennoch denFünfpunktgurt aus weißem Leinen.»Heben Sie meinen Schleier«, verlangte sie innörgeligem, herrischem Tonfall. Einer derWärter tat, wie ihm geheißen. Ein erstaunlichfaltenloses Gesicht, lebendig und boshaft, kamzum Vorschein. Ein Paar kleiner schwarzerAugen, die D’Agosta irgendwie an dieKnopfaugen einer Schlange erinnerten,musterte ihn. Die alte Dame lächelte ein kleinesLächeln sardonischen Wiedererkennens. Dann

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blickte sie mit ihren funkelnden AugenPendergast an.Der trat einen Schritt vor.»Mr. Pendergast«, begann der Arzt in leichtnervösem Tonfall. »Ich muss Sie doch sichernicht daran erinnern, eine gewisse Distanz zuwahren.«Als sie den Namen hörte, schrak die alte Damezusammen und rief plötzlich mit kräftigerStimme: »Oh, wie geht es dir denn, lieberDiogenes? Das ist ja eine reizendeÜberraschung!« Dann wandte sie sich demnächsten stehenden Wärter zu und rief inschrillem Tonfall: »Holen Sie den bestenAmontillado, Diogenes ist zu Besuchgekommen.« Schließlich drehte sie sich wiederbreit lächelnd Pendergast zu, wobei sich dasGesicht grotesk verzog. »Oder würdest du Teevorziehen, liebster Diogenes?«»Nichts, danke«, erwiderte Pendergast kühl.»Ich bin’s, Aloysius, Tante Cornelia, nichtDiogenes.«»Unsinn! Diogenes, du Schlimmer, versuche nur

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nicht, eine alte Frau zu necken. Ich werde dochwohl noch meinen eigenen Neffen erkennen!«Pendergast zögerte kurz. »Ich würde dichniemals beschwindeln, Tante. Wir waren hier inder Gegend und dachten, wir könnten mal kurzbei dir vorbeischauen.«»Wie lieb von dir. Und wie ich sehe, hast duauch meinen Bruder Ambergris mitgebracht.«Pendergast warf D’Agosta einen kurzen Blickzu, ehe er nickte.»Ich habe einige Minuten Zeit, dann muss ichmich langsam für die Dinnerparty feinmachen.Aber du weißt ja, wie die Bedienstetenheutzutage so sind. Ich sollte allerausschmeißen und alles selbst tun.«»Gewiss.«Pendergast zog seine Tante nun in ein, wie esD’Agosta vorkam, endloses Gespräch. Langsamaber lenkte er das Gespräch wieder zurück aufseine Kindheit in New Orleans.»Sag mal, erinnerst du dich noch an, äh, dieseUnannehmlichkeit mit Marie LeBon, einer vonden niederen Bediensteten?«, fragte er

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schließlich. »Wir Kinder haben sie damals MissMarie genannt.«»Die, die wie ein Besenstiel aussah? Ich konntesie nie leiden. Mich hat es immer vor ihrgegruselt.« Tante Cornelia schauderte, wennauch wohlig.»Sie wurde eines Tages tot aufgefunden, nichtwahr?«»Es ist höchst unangenehm, wenn das PersonalSkandale ins Haus bringt. Und Marie war dieSchlimmste von dem ganzen Haufen. Außernatürlich diesem fürchterlichen, fürchterlichenMonsieur Bertin.« Tante Cornelia schüttelteangewidert den Kopf und murmelteirgendetwas.»Kannst du mir sagen, was mit Miss Mariegeschehen ist? Ich war damals ja noch einKind.«»Marie stammte aus dem Bayou, sie war einloses Weib, wie so viele Leute aus den Sümpfen.Eine Mischung aus akadischer Französin undMicmac-Indianerin und wer weiß, was sonstnoch. Sie hatte sich an diesen verheirateten

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Stallburschen herangemacht – du weißt doch,Diogenes, dieser Stallbursche mit der Haartolle,der sich für einen feinen Herrn hielt? Dabei warer ein richtiger Prolet.« Sie blickte sich um.»Wo bleibt denn mein Drink? Gaston!«Einer der Wärter hob einen Pappbecher mitDeckel an ihre Lippen. Elegant und mitgeschürzten Lippen sog sie an dem Strohhalm.»Ich ziehe Gin vor, wie Sie wissen«, sagte sie.»Ja, Ma’am«, antwortete der Wärter und grinsteseinem Kollegen zu.»Was ist denn damals passiert?«, fragtePendergast.»Die Frau des Stallburschen – Gott segne sie –scherte es sehr wohl, dass Marie LeBonVerkehr mit ihrem Mann hatte. Und sie sannauf Rache.« Sie kicherte. »Hat den Ehekrachmit einem Fleischerbeil beigelegt. Ich hatte ihrdas gar nicht zugetraut.«»Die eifersüchtige Ehefrau hießMrs. Ducharme?«»Ja, Mrs. Ducharme! Ein stattliches Weib, mitArmen so mächtig wie französische Schinken.

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Die wusste, wie man ein Hackebeilchenschwingt!«»Mr. Pendergast?«, sagte der Arzt. »Ich habeSie schon einmal eindrücklich vor dieser Art vonBefragung gewarnt.«Pendergast überhörte die Bemerkung. »War danicht etwas Seltsames an der … Leiche?«»Seltsames? Wovon sprichst du?«»Von den … Voodoo-Aspekten.«»Voodoo? Diogenes! Das war doch nichtVoodoo, sondern Obeah. Das ist einUnterschied, wie du weißt. Aber natürlich weißtdu das. Sicherlich eher als dein Bruder, nichtwahr? Obwohl, er kennt sich auch ganz gutdamit aus – nicht wahr?« Tante Cornelia stießein unangenehmes Kichern aus.»Wir sprachen gerade über die Leiche …?«,sagte Pendergast, um der alten Dame auf dieSprünge zu helfen.»Da war tatsächlich etwas Seltsames, jetzt, wodu es erwähnst. An ihrer Zunge war ein kleinesGris-gris befestigt – ein oanga.«»Oanga? Du scheinst ja viel über Obeah zu

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wissen, Tante Cornelia.«Plötzlich war Tante Cornelia auf der Hut. »Manhört, was die Dienerschaft so redet. Außerdem,es ist schon merkwürdig, dass gerade du soetwas sagst. Glaubst du denn, ich hätte deinkleines, wie soll ich sagen, Experimentvergessen und die unglückselige Reaktion, diees unter dem Plebs … ausgelöst hat?«»Erzähl mir etwas über den oanga«, unterbrachPendergast und warf D’Agosta einen äußerstkurzen Blick zu.»Nun gut. Der oanga, hieß es, sei ein Fetischaus einem Skelett oder einer Leiche, hergestelltaus einer Brühe aus der Asche vomFastnachtsdienstag, der Galle einer Sau, demWasser aus einer Schmiede, mit dem Eisengehärtet wurde, dem Blut einer Maus, die nochnicht geworfen hat, sowie Alligatorenfleisch.«»Und wozu diente dieser oanga?«»Dazu, die Seele des Toten zu gewinnen, ihn ineinen Sklaven zu verwandeln. In einen Zombie.Das weißt du doch am besten, Diogenes!«»Aber ich freue mich, es aus deinem Munde zu

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hören, Tante Cornelia.«»Nach seiner Beerdigung kehrt der Toteangeblich als Sklave zu jener Person zurück, dieden oanga plaziert hat. Und weißt du was?Sechs Monate später ist der junge Burschedrüben in der Iberville Street gestorben – erwurde erstickt in einem zugebundenen Sackgefunden. Außerdem hat es geheißen, er seider Zombie von Miss Marie gewesen, weil erMrs. Ducharmes Wäsche von der Leine gezogenhat. Und dann hat man in Miss Maries Sargnachgesehen und entdeckt, dass er leer war, sosagt man jedenfalls. Ich muss wohl kaumhinzufügen, dass das Ehepaar Ducharmeentlassen wurde. Man kann doch kein Personalhalten, das ein vornehmes Haus in Verrufbringt.«»Die Zeit ist um, Mr. Pendergast.« Der Arzterhob sich, das Gespräch war beendet. DieWärter sprangen auf und nahmen ihre Postenrechts und links vom Rollstuhl ein. Der Arztnickte, die Wärter drehten die Patientin um undsteuerten auf den Hinterausgang zu.

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steuerten auf den Hinterausgang zu.Plötzlich wandte Tante Cornelia den Kopf undfixierte D’Agosta. »Dir hat es wohl die Spracheverschlagen, was, Ambergris? Beim nächstenMal bereite ich dir einige von meinen köstlichenWasserkresse-Sandwiches zu. Deine Liebenhaben ja immer so dafür geschwärmt.«D’Agosta nickte bloß. Die Tür öffnete sich, derRollstuhl wurde hindurchgeschoben.»Und es war sehr schön, dich einmalwiederzusehen, Diogenes«, sagte TanteCornelia über die Schulter. »Du bist immermein Liebling gewesen, weißt du? Und es freutmich ja so, dass du endlich etwas gegen deingruseliges Auge unternommen hast.« Als sie schließlich durch das Tor desKrankenhauses fuhren und die Scheinwerferdes Rolls-Royce in die dahinziehendenNebelschwaden stachen, hielt D’Agosta es nichtlänger aus.»Entschuldigen Sie, Pendergast, aber ich mussSie das einfach fragen: Sie glauben doch nicht

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wirklich an dieses Gerede über oanga undZombies?«»Mein lieber Vincent, ich glaube gar nichts. Ichbin kein Priester. Mich interessieren einzig undallein Beweise und Wahrscheinlichkeiten, nichtGlaubensüberzeugungen.«»Das ist mir schon klar. Aber ich bitte Sie, DieNacht der lebenden Toten. Das ist doch blankerUnsinn.«»Das ist eine recht kategorische Feststellung.«»Aber …«»Aber was?«»Für mich ist klar, dass wir es mit jemandem zutun haben, der uns mit diesem Voodoo-Quatschin die Irre führen will.«»Klar?« Pendergast hob leicht die rechteAugenbraue.Verärgert entgegnete D’Agosta: »Hören Sie, ichwill doch nur wissen, ob Sie es vielleicht auchnur für entfernt möglich halten, dass wir eshier mit einem echten Zombie zu tun haben.Mehr nicht.«»Ich möchte mich dazu lieber nicht äußern. Es

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gibt da allerdings eine Zeile in Hamlet, die Siesich möglicherweise einprägen sollten.«»Und die wäre?«»Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel undErde, Horatio … Muss ich fortfahren?«»Nein.« D’Agosta lehnte sich in dem weichenLeder des Rolls zurück und dachte, dass esmanchmal besser war, Pendergast seinenunbekannten Gedanken zu überlassen, als zuversuchen, ein Thema zu forcieren.

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Um neun Uhr am darauffolgenden Morgenschritt Nora rasch und mit gesenktem Blicküber den langen Flur im 4. Stock des Museums,vorbei an den Türen ihrer Kollegen. Es war wieein Spießrutenlaufen, aber wenigstens kamensie nicht alle aus ihren Büros, so wie in denvergangenen Tagen.Sie kam vor ihrem Büro an, drehte denSchlüssel, trat schnell ein und schloss hintersich ab.Sie drehte sich um, und da stand Special AgentPendergast. Er hob sich vor dem Fenster wieeine Silhouette ab und blätterte lässig in einemFachbuch. D’Agosta saß auf einem dickgepolsterten Stuhl in der Ecke, mit dunklenRingen unter den Augen.Pendergast blickte auf. »Verzeihen Sie, dasswir in Ihr Büro eingedrungen sind, aber ich

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möchte auf den Fluren dieses Museums nichtgern gesehen werden. Angesichts meinerfrüheren Aktivitäten in dieser Einrichtungkönnten einige Mitarbeiter an meinerAnwesenheit Anstoß nehmen.«Nora ließ ihren Rucksack auf den Schreibtischfallen. »Ich habe die Ergebnisse der DNA-Tests.«Pendergast legte das Buch langsam aus derHand. »Sie sehen sehr müde aus.«»Und wennschon.« Nach ihrer Erkundungstournach Inwood hatte Nora zwar einige Stundenschlafen können, wenn auch unruhig, mussteaber trotzdem mitten in der Nacht aufstehen,um die Gel-Elektrophorese des DNA-Materialsabzuschließen.»Darf ich?« Pendergast zeigte auf den zweitenfreien Stuhl.»Bitte.«Er nahm Platz. »Erzählen Sie doch mal, was Sieherausgefunden haben.«Nora zog eine Aktenmappe aus dem Rucksackund legte sie auf den Tisch. »Bevor ich Ihnen

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das hier gebe, muss ich Ihnen etwas sagen.Etwas Wichtiges.«Pendergast neigte den Kopf.»Vorletzte Nacht, während ich die ersten PCR-Arbeiten durchführte, hat Fearing imLaborfenster sein Gesicht gezeigt. Ich bin ihmüber den Flur hinterhergelaufen, bis in einender Lagerräume.«Pendergast musterte sie aufmerksam. »Sind Sieganz sicher, dass es Fearing war?«»Ich habe Beweise.«»Es war nicht ratsam, ihm zu folgen«, sagte erschroff. »Was ist denn passiert?«»Sicher, es war unglaublich dumm. Ich habe,anstatt zu überlegen, instinktiv reagiert. Er hatmich aus dem PCR-Labor gelockt. Er hatte einMesser bei sich und hat mich durch denLagerraum verfolgt. Wenn nicht zufällig einWachmann vorbeigekommen wäre …« Siesprach den Satz nicht zu Ende.D’Agosta war von seinem Stuhl aufgesprungenwie eine gespannte Feder, die plötzlich gelöstwurde. »Dieser Dreckskerl!«, sagte er finster

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dreinblickend.»Und Ihre Beweise?«, fragte Pendergast.Nora lächelte grimmig. »Ich habe ihn mit einerGlasscherbe verletzt und eine Blutprobegenommen. Es ist Fearing, mit absoluterSicherheit.« Sie klappte die Mappe auf, zog dieDiagramme der Elektrophorese hervor undhielt sie Pendergast hin. »Sehen Sie selbst.«Er nahm die Unterlagen und blätterte darin.»Fassen wir zusammen«, sagte Nora. »In denProben, die Sie in … meiner Wohnung gefundenhaben, war das Blut zweier Personennachzuweisen. Die eine Probe stammte vonmeinem Mann. Die andere Probe nenne ich X.Die Blutprobe X stimmt mit der mitochondrialenDNA von Fearings Mutter hundertprozentigüberein. Zudem ist die Probe X identisch mitder Probe jener Person, die mich bis in denLagerraum verfolgt hat. Quod eratdemonstrandum: X ist Fearing.«Pendergast nickte bedächtig.»Genau, was ich schon die ganze Zeit sage«,meinte D’Agosta. »Dieser Dreckskerl ist immer

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noch am Leben. Entweder hat sich dieSchwester geirrt, oder sie hat, waswahrscheinlicher ist, bei der Identifizierung derLeiche gelogen – kein Wunder, dass die Frauverschwunden ist. Und der Pathologe hat dieSache vermasselt.«Pendergast betrachtete schweigend dieDiagramme.»Die können Sie behalten«, sagte Nora. »Ichhabe noch eine Kopie. Außerdem habe ich dieProben hinten im Kühlschrank des PCR-Laborsversteckt, falls Sie noch etwas benötigen.Natürlich mit gefälschten Etiketten.«Pendergast legte die Diagramme in die Mappezurück. »Nora, was Sie da getan haben, ist unseine sehr große Hilfe. Dennoch muss ich mirsehr große Vorwürfe machen, weil ich Sie in sogroße Gefahr gebracht habe. Ich habe denAngriff auf Sie nicht vorhergesehen, vor allemnicht im Museum, was mir außerordentlichleidtut. Von nun an haben Sie mit dem Fallnichts mehr zu tun. Wir werden uns alleindarum kümmern. Bis der Mörder gefasst ist,

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müssen Sie vor dieser Person außerordentlichauf der Hut sein. Sie dürfen nachts auf keinenFall mehr das Museum betreten.«Nora sah ihm in die silbergrauen Augen. »Ichhabe noch mehr Informationen für Sie.«Er hob fragend eine Braue.»Ich habe mir Bills letzte Artikel angesehen. Erschrieb an einer Artikelserie überTiermisshandlungen in New York –Hahnenkämpfe, Hundekämpfe … undTieropferungen.«»Tatsächlich?«»Oben in Inwood gibt es eine kleine Gemeinde,sie nennt sich ›das Ville‹. Die Gebäude liegentief im Inwood Hill Park, abgeschnitten vomRest der Stadt. Offenbar haben sich etlicheAnwohner oben an der Indian Road beschwert,die gehört haben, dass im Ville Tieremisshandelt werden. EineTierschutzorganisation ist Sturm dagegengelaufen – ihr Sprecher, ein Mann namensEsteban, hat mehr als einmal dagegenprotestiert. Die Polizei hat die Gegend flüchtig

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untersucht, konnte aber nichts beweisen. Wieauch immer, Bill hat in der Sache recherchiert.Er hat einen Artikel geschrieben und anweiteren gearbeitet. Wie’s aussieht, hat er …na ja, sein letztes Interview mit einemEinwohner von Inwood geführt, einem derLeute, die sich beschwert haben. Jemand mitNamen Pizzetti.«D’Agosta machte sich Notizen.Dem geradezu begierigen Funkeln inPendergasts Augen war zu entnehmen, dass erdie Information mit großem Interesseaufgenommen hatte. »Das Ville«, wiederholteer.»Klingt ganz so, als sollten wir uns noch einenDurchsuchungsbeschluss ausstellen lassen«,murmelte D’Agosta.»Ich bin gestern Abend da hingefahren«, sagteNora.»Himmel noch mal, Nora!«, sagte D’Agosta. »Soetwas können Sie doch nicht auf eigene Faustmachen. Lassen Sie uns das regeln.«Nora sprach weiter, als habe sie ihn gar nicht

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gehört. »Ich bin nicht bis in das eigentlicheDorf gegangen, das offenbar nur über eineZufahrtsstraße zu erreichen ist. Ich habe michvon Süden her genähert und bin eine Anhöheim Park hinaufgekraxelt, von der aus man einenBlick hinunter bis ins Dorf hat.«»Und was haben Sie da gesehen?«»Nichts als eine Ansammlung verwahrlosterGebäude. Kein Anzeichen von Leben – bis aufein paar schummrige Lichter hinter denFenstern. Ein gruseliger Ort.«»Ich kümmere mich darum und rede mal mitdiesem oder dieser Pizzetti«, sagte D’Agosta.»Wie dem auch sei, ich habe zurückgedacht,und da ist mir aufgegangen, dass diesesverrückte Zeugs, das vor unserer Wohnungerschien – die kleinen Fetische, dieZeichnungen im Straßenschmutz – ungefähr zurselben Zeit aufgetaucht ist, als Bill seinenArtikel über das Ville veröffentlichte. Ich kennezwar weder die genauen Umstände noch dieGründe, glaube aber, dass diese Leute mit derSache zu tun haben.«

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»Fearings angeblicher Selbstmord hat ganz inder Nähe des Ville stattgefunden.« Pendergasterwiderte Noras Blick sehr aufmerksam. »Undnun hören Sie mir bitte gut zu. Ich flehe Sie an,keine weiteren Ermittlungen durchzuführen.Sie haben schon mehr als genug getan. Ichhabe einen furchtbaren Fehler begangen, alsich Sie um Ihre Mithilfe bei der DNA-Analysebat – wie es scheint, hat der Tod Ihres Mannesmein Urteilsvermögen beeinträchtigt.«Nora erwiderte seinen Blick. »Verzeihen Sie,aber es ist viel zu spät, um mich jetzt nochaufhalten zu können.«Pendergast zögerte. »Wir können nichtgleichzeitig Sie schützen und den Mord anIhrem Mann aufklären.«»Ich kann auf mich selbst aufpassen.«»Ich bitte Sie dringend, meinen Rat zu befolgen.Ich habe mit Bill bereits einen Freundverloren – ich möchte nicht noch einenverlieren.«Er blickte sie noch einen Augenblick an. Danndankte er ihr für die Ergebnisse der DNA-

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dankte er ihr für die Ergebnisse der DNA-Analyse, verabschiedete sich mit einem Nickenund ging hinter D’Agosta zur Tür hinaus. Nora blieb an ihrem Schreibtisch stehen, bisPendergasts und D’Agostas Schritteverklangen. Eine Zeitlang tat sie gar nichts undtippte nur gedankenverloren mit ihrem Bleistiftauf die Schreibtischplatte. Schließlich nahm siedas schnurlose Telefon zur Hand und wähltedie Nummer von Caitlyn Kidd. »Nora Kelly hier«,sagte sie, als die Reporterin sich meldete. »Ichhabe ein paar Informationen für Sie. Treffen Siesich heute Abend mit mir an der Ecke IndianRoad und West 214. Straße.«»214?«, kam die Antwort. »Wieso sollte ichdenn da hinauffahren?«»Weil ich Ihnen dort etwas zeigen möchte,woraus Sie eine Geschichte machen können –eine große Geschichte.«

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D’Agosta ließ sich in den tiefen Ledersitz desRolls fallen, während Proctor vom MuseumDrive abbog und auf der Central Park West inRichtung Norden weiterfuhr. Als er sah, dassPendergast etwas aus seinem schwarzenMantel hervorholte, stellte er mit Erstaunenfest, dass es sich um ein iPhone handelte.»Verdammt, Sie besitzen auch so ein Ding?«Pendergast tippte rasch etwas ein. »Ich findees erstaunlich nützlich.«»Und was unternehmen wir nun in Bezug aufNora?«, fragte D’Agosta. »Es ist offensichtlich,dass sie sich keinesfalls an Ihren Ratschlaghalten wird.«»Darüber bin ich mir im Klaren. Sie ist eine sehrentschlossene junge Dame.«»Ich begreife einfach nicht, warum dieser Typ –ob nun Fearing oder nicht – hinter Nora her ist.

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Ich meine, er hat Smithback ermordet und istnoch mal davongekommen. Warum sollte er dasRisiko ein zweites Mal eingehen?«»Fearing hatte zweifellos die Absicht, beide zutöten. Meiner Ansicht nach hat er seineBotschaft ganz bewusst gewählt: Wenn du dichin unsere Angelegenheiten einmischst, bringenwir nicht nur dich, sondern auch deineAngehörigen um.« Pendergast beugte sich vor.»Proctor? Bitte zur 244. East Ecke 127. Straße.«»Das liegt in Spanish Harlem. Was wollen wirda?«, fragte D’Agosta.»Wir werden etwas in Bezug auf Noraunternehmen.«»Wir haben gerade angefangen, dieBeweismittel in Sachen Klinezusammenzustellen«, antwortete D’Agostamissmutig.»Und was heißt das?«, fragte Pendergast.»Dass ich in Sachen Kline gut vorangekommenbin. Wie sich herausgestellt hat, handelt es sichbei diesem afrikanischen Krempel, den wir ausseinem Büro rausgeholt haben, um Skulpturen

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der Yoruba aus dem achtzehnten undneunzehnten Jahrhundert; die Sachen sind einVermögen wert. Und nun passen Sie mal auf:Alle Kunstwerke stehen im Zusammenhang miteiner ausgestorbenen Religion, die unter demNamen Sevi Lwa bekannt ist – eine unmittelbareVorläuferin jenes Voodoo-Kults, der mit denafrikanischen Sklaven in die Karibik kam.«Pendergast schwieg. Ein Ausdruck derVerblüffung huschte über seine Züge, dannspiegelten sie wieder seinen üblichenostentativen Gleichmut.»Und das ist noch nicht alles. UnserPolizeipräsident interessiert sich neuerdingsfür unsere Ermittlungen. Er will heuteNachmittag mit mir sprechen.«»Ah.«»Was soll das heißen, ah? Unsere Ermittlungenzeigen, dass sich Kline mit Voodoo auskennt,und zwar so gut, dass er Millionen für Voodoo-Kunst ausgibt. Da besteht derZusammenhang!«»In der Tat«, antwortete Pendergast vage.

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D’Agosta lehnte sich im Sitz zurück, verärgert.Zehn Minuten später bog der Rolls von derLennox Avenue ab und fuhr auf der 127. Straßeweiter Richtung East River. Schließlich kam ervor der sehr kleinen Auslage eines Geschäftsmit einem handgemalten Schild influoreszierenden Leuchtfarben zum Stehen, aufdem oben die Abbildung eines starrendenAuges zu erkennen war.

BLANCHE DE GRIMOIRE LA MAGIE

Unter diesem Schild hingen mehrere kleine, anHaken befestigte Holzschildchen.

Les Poupées VaudouMagie NoirMagie Zwarte, Magie RougeSorcellerie, Hexerei, MagieRituel de Prospérité et Potions Magiques

Das schmutzige Schaufenster durchzog eingroßer Riss, der mit Klebeband ausgebessertworden war. Die übrige Auslage wurde fastvollständig von bizarren hängenden

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Gegenständen eingenommen – kleinenGebinden aus Haaren, Haut, Federn, Leinwand,Stroh sowie noch obskurer und übleraussehenden Materialien.D’Agosta betrachtete die Ladenfront. »Das istdoch nicht Ihr Ernst, oder?«»Nach Ihnen, mein lieber Vincent.«D’Agosta stieg aus, Pendergast desgleichen.Die Ladentür öffnete sich knarrend in rostigenAngeln, eine Türglocke schellte. Sofort schlugD’Agosta der süßliche Geruch nach Patschuli,Sandelholz, Kräutern und ranzigem Fleischentgegen. Ein sehr alter Afroamerikaner standhinter dem Tresen und blickte auf. Als erPendergast in seinem schwarzen Mantelerblickte, verschloss sich seine Miene, wiewenn man eine Tür zuschlägt. Er hatte kurzegraue Haare, und das pockennarbige Gesichtwar bemerkenswert faltig.»Kann ich Ihnen helfen?« Der ausdrucksloseTon und der leere Gesichtsausdruckvermittelten allerdings alles andere alsHilfsbereitschaft.

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»Sind Sie Monsieur Ravel, der Obeah-Mann?«Der Mann gab ihm keine Antwort.»Ich bin Aloysius Pendergast«, Pendergastbefleißigte sich seiner feinsten New-Orleans-Ausdrucksweise, »aus der Familie derPendergasts aus New Orleans. Es freut michaußerordentlich, Ihre Bekanntschaft zumachen.« Er trat vor und streckte die Handaus. Der Mann blickte sichtlich unbeeindrucktauf die ausgestreckte Hand.»Ich stamme aus dem Maison de la Rochenoirein der Dauphine Street«, fuhr Pendergast fort,der seine Hand nach wie vor demAfroamerikaner entgegenstreckte. D’Agostawar verblüfft, wie schnell sich Pendergast einevöllig andere Persönlichkeit zulegen konnte.Jetzt spielte er offenbar den exzentrischen,leutseligen New-Orleans-Aristokraten.»Maison de la Rochenoire?« Ein Hauch vonErkennen regte sich in den blutunterlaufenenAugen. »Das Haus, das damals im Jahreinundsiebzig niedergebrannt wurde?«Pendergast beugte sich vor und sagte mit leiser

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Stimme: »Oi chusoi Dios aei enpiptousi.«Langes Schweigen, dann hob Ravel seineriesengroße Hand. Pendergast schlug ein.»Herzlich willkommen.«»Das ist mein Partner, Mr. D’Agosta.«Der Mann neigte den Kopf.»Die anderen – das sind Gauner«, sagtePendergast. »Diebe und Schmarotzer. Aber Sie… sind anders. Ich weiß, dass ich Ihremesoterischen Sachverstand und Ihrer Warevertrauen kann.«Der Mann neigte abermals den Kopf undschwieg, aber D’Agosta merkte, dass er sich,wenn auch widerwillig, über das Komplimentfreute.»Darf ich?« Pendergast zeigte mitausgestrecktem Arm in den Laden.»Schauen Sie sich nur um, aber bitte nichtsanfassen.«»Naturellement.«Während Pendergast, die Hände hintermRücken verschränkt, einen seiner lässigenRundgänge begann und alles genau in

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Augenschein nahm, sah D’Agosta sich in demLaden um: randvoll mit hängenden kleinenGebinden, deckenhohen Schränken mitHunderten kleiner Schubfächer, Behältnissenmit Duftstoffen, Dosen und kleinen Schachteln,Regalen mit Glasgefäßen, die Kräuter, gefärbteErde, Flüssigkeiten, knorrige Wurzeln undgetrocknete Insekten enthielten. Alles war mitwinzigen Etiketten versehen und penibel perHand beschriftet, auf Französisch.Pendergast kehrte zum Ladenbesitzer zurück.»Höchst eindrucksvoll. Und nun, MonsieurRavel, muss ich einen Einkauf tätigen. Einenrecht unglückseligen Einkauf. Denn allemAnschein nach ist ein Freund von mirZielscheibe eines Angriffs mit magie noirgeworden. Ich muss ein Präparat herstellen, einarrêt.«»Sagen Sie mir, welche Ingredienzien Siebenötigen, dann hole ich sie Ihnen.« Ravelstellte einen Flechtkorb auf den Tresen.»Ein Bois-caca-Blatt.«Ravel trat um den Tresen, holte blitzschnell aus

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einem der kleinen Schubfächer ein runzligesBlatt und legte es in den Korb. Das Blatt stankfürchterlich.»Knochen eines weißen Hähnchens sowie dasFleisch eines Hahns, mitsamt den Federnzermahlen.«Wieder wurde in Windeseile etwas aus einemdunklen Winkel des Ladens herbeigeschafft.D’Agosta sah dem Treiben mit wachsenderSkepsis zu. Pendergast benahm sich etwasmerkwürdig. Ob das wohl mit seinerausgedehnten Reise nach Tibet im letztenSommer zu tun hatte? Oder vielleicht mit deranstrengenden Atlantiküberquerung, die hinterihm lag? Vielleicht zeigte sich jetzt aber auchnur eine verborgene Facette seinerPersönlichkeit, die ihm bislang noch nichtaufgefallen war.»Alligatorzahn und champagne verte.«Ravel legte ein kleines Fläschchen mitFlüssigkeit auf den schon beträchtlichenStapel.»Pulverisierte Menschenknochen.«

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Hier zögerte Ravel, begab sich in denrückwärtigen Teil des Ladens, kam mit einerkleinen Trittleiter zurück und holte von obenauf einem der Schränke ein durchsichtigesPäckchen, wie Drogendealer sie oftverwendeten. Es war gefüllt mit einemelfenbeinfarbenen Puder. Den Blick aufPendergast gerichtet, legte er es in den Korb.»Wasser, mit dem ein Leichnam gewaschenwurde.«Diesmal zögerte Ravel noch länger, bevor er mitder verlangten Ware zurückkehrte.»Weihwasser.«Ravel hielt inne und blickte Pendergastentgeistert an. Dann aber ging er noch malnach hinten und kam mit einer winzigen Phiolezurück. »Das reicht jetzt wohl hoffentlich.«»Noch eine Sache.«Ravel wartete.»Eine geweihte Hostie.«Ein langer, fester Blick. »Monsieur Pendergast,wie es scheint, sieht sich Ihr Freund … mitetwas Gefährlicherem konfrontiert als bloßer

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schwarzer Magie.«»Stimmt.«»Vielleicht spielt das außerhalb meiner Liga.«»Ich hatte sehr gehofft, Sie könnten mir helfen.Mein Freund schwebt in Lebensgefahr – inhöchster Lebensgefahr.«Ravel schaute Pendergast betrübt an.»Monsieur, Sie sind sich sicher im Klaren überdie Konsequenzen, wenn Sie den envoi mortsarrêt einsetzen?«»Durchaus.«»Dieser Freund muss Ihnen sehr am Herzenliegen.«»Das tut sie.«»Sie. Ah, jetzt verstehe ich. Dieses … Gebinde,um das Sie mich gebeten haben – es ist nichtganz billig.«»Die Kosten spielen keine Rolle.«Ravel senkte den Blick und schien lange zuüberlegen. Dann seufzte er tief, wandte sich umund verließ den Laden durch eine Seitentür.Nach mehreren Minuten kehrte er mit einerkleinen, flachen Glasscheibe bestehend aus

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zwei großen Uhrengläsern zurück,zusammengefügt und versiegelt durch einenSilberreif, in der sich eine einzelne Oblatebefand. Er legte die Glasscheibe in den Korb.»Das macht zwölfhundertzwanzig Dollar,Monsieur.«D’Agosta sah ungläubig zu, wie Pendergast insein Jackett griff, einen dicken StapelGeldscheine hervorholte und die Scheineabzählte.Kaum saßen sie wieder im Rolls, Pendergast mitdem Korb mit den Einkäufen in den Armen, dakonnte sich D’Agosta einfach nicht mehrbeherrschen: »Was zum Kuckuck hat das alleszu bedeuten?«»Obacht, Vincent, passen Sie bitte auf meineEinkäufe auf.«»Ich fasse es nicht, dass Sie da gerade ebentausend Dollar für diesen beknacktenHokuspokus hingeblättert haben.«»Dafür gibt es mehrere Gründe, und wenn SieIhre Gefühle in den Griff bekämen, würden Siediese Gründe auch verstehen. Erstens haben

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wir das Vertrauen des Monsieur gewonnen, dersich künftig als ein Informant von nichtgeringer Bedeutung erweisen könnte. Zweitenskann es durchaus sein, dass die Person, dieNora verfolgt, an Obeah glaubt, worauswiederum folgt, dass der arrêt, den wirherstellen werden, abschreckend wirkenkönnte. Und drittens«, Pendergast senkte dieStimme, »könnte unser arrêt funktionieren.«»Funktionieren? Soll das etwa heißen, Sieglauben, dass ein echter Zombie hinter Noraher ist?« D’Agosta schüttelte ungläubig denKopf.»Ich würde hier eher den Begriff envoi mortverwenden.«»Was auch immer. Die Idee ist lächerlich.« Ersah Pendergast fest in die Augen. »Sie habendiesem Kerl gesagt, Ihr Haus in New Orleans seivon einem Mob angesteckt worden. Ihre TanteCornelia hat ebenfalls darauf angespielt. HabenSie dort diesen Voodoo- und Obeah-Kultkennengelernt? Hatten Sie in Ihrer Jugend mitdiesem Quatsch zu tun?«

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diesem Quatsch zu tun?«»Das beantworte ich lieber nicht. Lassen Siemich Ihnen stattdessen eine Frage stellen:Haben Sie schon einmal etwas von PascalsWette gehört?«»Nein.«»Ein lebenslanger Atheist liegt auf demSterbebett. Plötzlich ruft er nach einemPriester, damit er beichten und die Absolutionerhalten kann. Benimmt er sich logisch?«»Nein.«»Im Gegenteil, es spielt keine Rolle, was erglaubt. Der Atheist erkennt: Wenn diegeringste Chance besteht, dass er sich irrt,sollte er so handeln, als gäbe es einen Gott.Wenn Gott existiert, kommt er in den Himmelanstatt in die Hölle. Wenn Gott nicht existiert,verliert er nichts.«»Hört sich in meinen Ohren ziemlichberechnend an.«»Es handelt sich um eine Wette mit einerunendlichen guten Seite und keiner schlechtenSeite. Und es ist eine Wette, so könnte ich

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hinzusetzen, die jeder Mensch eingehen muss.Sie ist nicht fakultativ. Die Pascals Wettezugrunde liegende Logik ist makellos.«»Und was hat das mit Nora und den Zombies zutun?«»Ich bin mir sicher, dass, wenn Sie die Fragenur lange genug betrachten, Sie den logischenZusammenhang erkennen.«D’Agosta verzog das Gesicht, überlegte undsagte schließlich mürrisch: »Ich verstehe schon,was Sie meinen.«»Ausgezeichnet. Ich neige normalerweise nichtdazu, mich zu erklären, aber für Sie habe ichdiesmal eine Ausnahme gemacht.«D’Agosta blickte aus dem Fenster, hinter demSpanish Harlem vorbeizog.Dann wandte er sich wieder zu Pendergast um.»Was haben Sie da eben gesagt?«»Wie bitte?«»Zu dem Ladenbesitzer. Sie haben irgendetwasin einer Fremdsprache zu ihm gesagt.«»Ach ja. Oi chusoi Dios aei enpiptousi – dieWürfel Gottes sind immer gezinkt.« Und damit

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setzte sich Pendergast leise lächelnd im Sitzzurück.

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Rocker empfing D’Agosta sofort, weniger alseine Minute nachdem er im Vorzimmer desPolizeipräsidenten im obersten Stock desPolizeihochhauses angekommen war. D’Agostadeutete das als gutes Zeichen. Der MordfallSmithback erregte große, sehr großeAufmerksamkeit in der Öffentlichkeit, und erhegte keinen Zweifel, dass Rocker dieFortschritte in den Ermittlungen mit Interesseverfolgte. Er schenkte Rockers Sekretärin Alice,einer großmütterlichen Frau mit einerHochsteckfrisur aus grauem Haar, ein Zwinkernund ein Lächeln. Doch sie verzog keine Miene.Er schritt in das große, holzvertäfelte Büro mitall den Insignien der Macht: dem riesigenMahagonischreibtisch mit der Platte ausgrünem Leder, der Eichenvertäfelung, demPerserteppich – alles solide und der Tradition

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verpflichtet. So wie Rocker.Rocker stand bereits am Fenster, wandte sichaber nicht zu D’Agosta um, als er den Raumbetrat. Untypischerweise bat er ihn auch nicht,auf einem der Polsterstühle vor demSchreibtisch Platz zu nehmen.D’Agosta wartete kurz, dann wagte er ein leises»Commissioner«.Rocker drehte sich um, die Hände hintermRücken verschränkt. Als er Rockersdunkelrotes Gesicht erblickte, wurde D’Agostaplötzlich ganz mulmig zumute.»Also worum geht’s bei dieser Kline-Sache?«,fragte der Chef der New Yorker Polizei abrupt.D’Agosta ruderte in Gedanken schnell wiederzurück. »Nun ja, Sir, sie steht inZusammenhang mit dem Mordfall Smithback …«»Das ist mir klar«, fiel ihm Rocker ins Wort. »Ichmeine etwas anderes. Warum diese plumpeHausdurchsuchung? Sie haben die Büroräumedieses Mannes förmlich in Trümmer gelegt.«D’Agosta holte tief Luft. »Sir, Mr. Kline hatSmithback kurz vor dessen Tod direkt und

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verifizierbar bedroht. Er ist derHaupttatverdächtige.«»Und wieso haben Sie dann nicht wegen derDrohung gegenüber dem VerstorbenenAnklage gegen Mr. Kline erhoben?«»Die Drohungen wurden sehr vorsichtigvorgebracht, sie bewegten sich so gerade ebenim Rahmen des Gesetzes.«Rocker blickte ihmmitten ins Gesicht. »Und mehr haben Sie gegenKline nicht in der Hand? Vage Drohungengegen einen Journalisten?«»Ganz recht, Sir.«Rocker wartete, die Arme vor der Brustverschränkt.»Bei der Hausdurchsuchung haben wir KlinesSammlung westafrikanischer Kunstbeschlagnahmt – wir können die Kunstwerke indirekten Zusammenhang mit einer Voodoo-Religion bringen. Sie ähneln denGegenständen, die wir am Tatort und bei derLeiche des Opfers gefunden haben.«»Ähneln? Ich dachte, es handelt sich umMasken.«

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»Masken, ja, aber aus der gleichen Tradition.Ein Experte des New York Museum ofAnthropology ist gerade dabei, sie zuuntersuchen.«Rocker schaute ihn aus müden, rotgerändertenAugen an. Diese brüske Art sah ihm gar nichtähnlich. Mein Gott, dachte D’Agosta. Kline hatRocker in der Tasche. Irgendwie hat KlineRocker in der Hand.Schließlich sagte Rocker: »Ich frage Sie nocheinmal: Das ist alles, was Sie haben?«»Der Mann hat Drohungen ausgestoßen, und ersammelt Voodoo-Objekte – ich finde, das ist einsolider Anfang.«»Solide? Lieutenant, ich sage Ihnen, was Sie inder Hand haben. Gar nichts.«»Sir, bei allem Respekt, ich bin da andererMeinung.« D’Agosta dachte nicht daran, kleinbeizugeben. Sein ganzes Team stand in dieserSache hinter ihm.»Begreifen Sie denn nicht, dass wir es hier miteinem der reichsten Männer Manhattans zu tunhaben, einem Freund des Bürgermeisters,

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einem Mäzen der Stadt, der im Aufsichtsrat voneinem Dutzend Fortune Five Hundred-Unternehmen sitzt? Da können Sie doch nichtohne guten Grund seine Büroräume derartauseinandernehmen.«»Sir, das ist nur der Beginn. Ich glaube, dasswir genug in der Hand haben, um dieErmittlungen fortzusetzen, und genau das habeich auch vor.« D’Agosta bemühte sich, seinerStimme einen milden, neutralen, aber auchentschlossenen Ton zu verleihen.Rocker schaute ihm in die Augen. »Lassen Siemich Ihnen nur eines sagen: Sollten Sie bei demMann keinen rauchenden Colt finden – und ichmeine rauchenden –, dann stoppen Sie dieErmittlungen. Die Hausdurchsuchung warunangemessen. Das war Schikane. Ich war aucheinmal Detective bei der Mordkommission, sowie Sie. Ich weiß, warum Sie das Büro zerlegthaben, und ich heiße diese Methoden nicht gut.Man zieht bei einem weithin bekannten,angesehenen Angehörigen der Elite dieserStadt keine derartige Nummer ab, so, als wäre

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er ein Drogendealer.«»Kline ist ein Drecksack.«»Das ist genau die schlimme Einstellung, vonder ich rede, D’Agosta. Ich werde Ihnen zwarnicht vorschreiben, wie Sie in einem Mordfall zuermitteln haben, aber ich warne Sie: ÜberlegenSie es sich gut, bevor Sie das nächste Mal einederartige Nummer abziehen.« Er blickteD’Agosta lange und fest in die Augen.»Ich habe Sie verstanden, Sir.« D’Agosta hattegesagt, was er zu sagen hatte. Es hatte keinenSinn, den Commissioner weiter zu provozieren.»Ich ziehe Sie nicht vom Mordfall Smithback ab.Noch nicht. Aber ich behalte Sie im Auge,D’Agosta. Und werden Sie nicht noch einmalwidersetzlich.«»Ja, Sir.«Und damit wedelte Rocker abfällig mit der Handund drehte sich wieder zum Fenster um. »Siekönnen gehen.«

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Die Öffentliche Bibliothek der Stadt New Yorkhatte zwar schon seit anderthalb Stundengeschlossen, aber Special Agent Pendergastgenoss ungewöhnliche Privilegien als Besucher,und außerdem hatte er sich von offiziellenÖffnungszeiten noch nie inkommodieren lassen.Er blickte wohlgefällig auf die Reihen leererTische in dem weitläufigen Hauptlesesaal mitden hohen Decken, nickte dem Wachmann ander Tür zu, der sich in Mont Saint Michel andChartres vertieft hatte, dann schlich er in denBereich der Buchrücknahme und benutzte diesteile Metalltreppe. Nachdem er vierStockwerke hinuntergestiegen war, betrat ereinen Kellerraum mit niedriger Decke, der sichendlos vor ihm zu erstrecken schien und vomBoden bis zur Decke mit Reihen über Reihenvon Büchern auf gusseisernen Regalen

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vollgestellt war.Pendergast ging einen Quergang entlang undöffnete eine schäbige, nicht gekennzeichnetegraue Tür. Dahinter führte eine weitereTreppe – schmal und noch steiler – weiter nachunten.Nach weiteren drei Stockwerken betrat er einebizarre und halb verfallene Welt aus Büchern.In dem schummrigen Licht standen Regale mitsehr alten, angeschimmelten Büchern, dieaneinanderlehnten und sich gegenseitigstützten. Überall Tische voll mit Signaturen, dienoch nicht an den Büchern angebracht waren,Rasierklingen, Krügen mit Druckerleim undanderen Utensilien der Buchrestauration. DieDruckerzeugnisse, die sich zu allen Seiten bis inunauslotbare Ferne erstreckten, bildeten einwahres Labyrinth der Literatur. Es herrschteabsolute Stille. Die stickige Luft roch nachStaub und Moder.Pendergast legte das Bündel, das ermitgebracht hatte, auf einen Stapel in der Näheund räusperte sich.

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Für einen Moment blieb alles still. Dann hörteman – aus großer, unbestimmbarerEntfernung – ein leises Huschen. Langsamwurde es lauter. Und dann erschien zwischenzwei Büchersäulen ein alter Mann – sehr kleinund beängstigend mager. Ein Bergwerkshelmsaß auf seinem Schopf wüst abstehenderweißer Haare.Der Mann griff nach oben und schaltete dieStirnlampe aus. »Hypocrite lecteur«, sagte ermit einer Stimme so dünn und trocken wieBirkenrinde. »Ich habe Sie schon erwartet.«Pendergast verneigte sich kurz. »InteressantesMode-Statement, Wren.« Er zeigte auf denSchutzhelm. »Ist in West Virginia der letzteSchrei, wie ich gehört habe.«Der alte Mann lachte leise. »Ich habe, wie sollich sagen, Höhlenforschung betrieben. Undhier unten bei den Antipoden kommt man sehrschwer an heile Glühbirnen.«Ob Wren tatsächlich von der ÖffentlichenBibliothek eingestellt worden war oder ob erschlicht beschlossen hatte, sich hier im tiefsten

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Kellergeschoss häuslich niederzulassen, konnteniemand sagen. Unstrittig war jedoch seineinzigartiges Talent für Nachforschungen aufesoterischen Wissensgebieten.Erwartungsvoll fiel sein Blick auf das Bündel.»Und was für schöne Dinge haben Sie mir heutemitgebracht?«Pendergast nahm das Bündel und hielt es Wrenhin, der begierig danach griff und dieVerpackung aufriss. Drei Bücher kamen zumVorschein.»Frühe Titel von Arkham House«, meinte erverächtlich. »Ich fürchte allerdings, noch nieein Liebhaber der phantastischen Literaturgewesen zu sein.«»Sehen Sie sich die Bücher doch einmalgenauer an. Es handelt sich um sehr selteneAusgaben mit extrem hohem Sammlerwert.«Wren sah sich die Bücher an, eines nach demanderen. »Hm, Outsider als Vorveröffentlichungmit dem grünen Versuchs-Einband. AlwaysComes Evening«, er nahm den Schutzumschlagab und untersuchte den Buchrücken, »mit der

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abweichenden Bindung. Und eineledergebundene Ausgabe von Shunned House… mit Barlows Unterschrift auf demBuchaufkleber. Datiert Mexico City, nicht langevor seinem Selbstmord. Eine bemerkenswerteBuchclub-Ausgabe.« Wren hob die Brauen undlegte die Bücher behutsam auf den Tischzurück. »Ich habe vorschnell geurteilt. Das isttatsächlich ein schönes Geschenk.«Pendergast nickte. »Ich freue mich, dass sieIhnen gefallen.«»Seit Ihrem Anruf konnte ich einigevorbereitende Recherchen anstellen.«»Und?«Wren rieb sich die Hände. »Ich hatte keineAhnung, dass Inwood Hill Park eine sointeressante Geschichte hat. Wussten Sie, dassdas Gelände seit der amerikanischenRevolution im Wesentlichen ein Urwaldgeblieben ist? Oder dass einst dort dieSommerresidenz von Isidor Straus stand – bisStraus und seine Frau bei dem Untergang derTitanic ums Leben kamen?«

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»Ich habe davon gehört.«»Eine verrückte Geschichte. Der alte Herr hatsich geweigert, vor den Frauen und Kindern insRettungsboot zu steigen, und Mrs. Strausweigerte sich, ihren Ehemann zurückzulassen.Stattdessen hat sie das Dienstmädchen insRettungsboot gesetzt, worauf das Ehepaargemeinsam in den Fluten versank. Nach demTod der Straus ist ihr ›Häuschen‹ in Inwoodzerfallen. Aber meine Recherchen deutendarauf hin, dass in den Jahren zuvor einHausmeister ermordet wurde; und es gab auchnoch andere unglückselige Geschehnisse,derentwegen die Straus ihrem Anwesenfernblieben …«»Und das Ville?«, warf Pendergast vorsichtigein.»Sie meinen das Ville des Zirondelles.« Wrenverzog das Gesicht. »Ein dubioserer,geheimniskrämerischerer Haufen ist kaumvorstellbar. Ich fürchte, meine Untersuchungenüber diese community stecken noch in denAnfängen – und so wie die Dinge liegen, bin ich

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mir nicht einmal sicher, ob ich jemals sehr vielüber diese Leute herausfinden werde.«Pendergast winkte ab. »Sagen Sie mir einfach,was Sie bislang herausgefunden haben, bitte.«»Gern.« Wren legte seine knochigenZeigefinger aneinander, als wollte er diewichtigen Punkte aufzählen. »Wie es scheint,wurde das erste Gebäude des Ville – wie es sichheute nennt – in den frühen vierziger Jahrendes achtzehnten Jahrhunderts erbaut, und zwarvon einer religiösen Sekte, die aus Englandfloh, um der dortigen Verfolgung zu entgehen.Schließlich landeten die Pilger am Nordendevon Manhattan, dort, wo sich heute derfragliche Park befindet. Wie es so oft der Fallist, zeichneten sich auch diese Pilger eherdurch Idealismus als durch Pragmatismus aus.Es waren Städter – Autoren, Lehrer, einBankier –, die an die Frage, wie man mitLandwirtschaft seinen Lebensunterhaltverdienen kann, überaus naiv herangingen.Allem Anschein nach hegten diese Leutemerkwürdige Vorstellungen, was das Leben als

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Gemeinschaft betraf. Weil sie der Auffassungwaren, dass die gesamte Gemeinde als Einheitleben und arbeiten solle, ließen sie sich vomSchiffszimmerer ein riesengroßes Gebäude auslokalem Naturstein und Schiffsplanken bauen.Das Gebäude diente als Wohnhaus,Arbeitsplatz, Kapelle und Festung in einem.«Wren hob den nächsten Finger. »Doch dieSpitze der Insel, welche diese Leute für dieAnsiedlung ausgesucht hatten, war felsig undweder für Ackerbau noch Viehzucht besondersgeeignet – daran konnten auch diejenigennichts ändern, die sich in solchen Dingenauskannten. Zudem lebten in der Nähe keineIndianer, die ihnen hätten Rat erteilen können –die Weckquaesgeck und die Lenape warenschon längst fortgezogen. Und dienächstgelegene Siedlung von Europäernbefand sich am anderen Ende von Manhattan,eine Zweitagesreise entfernt. Die neuen Siedlererwiesen sich als mittelmäßige Fischer. Esbefanden sich auch ein paar Bauern unterihnen, die sich bereits die besten Anbauflächen

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ausgesucht hatten. Diese erklärten sich zwarbereit, eine gewisse Menge Feldfrüchte gegenBares zu verkaufen, weigerten sich aber, fürden kostenlosen Lebensunterhalt der gesamtenGemeinde zu sorgen.«»Die Torheit des Vorhabens wurde also baldoffensichtlich«, murmelte Pendergast.»Ganz genau. Schon bald folgtenEnttäuschungen und interne Streitereien. Nachrund zehn Jahren löste sich die Gemeinde auf,ihre Mitglieder zogen an andere Orte in Neu-England oder kehrten nach Europa zurück, unddas Gebäude wurde aufgegeben, ein Zeugnisfehlgeleiteter Hoffnungen. Der Anführer –seinen Namen habe ich nicht feststellenkönnen, aber es war derjenige, der das Schiffbeschafft und das Land gekauft hatte – siedeltenach Süd-Manhattan um, wo er zumGroßgrundbesitzer aufstieg.«»Reden Sie weiter«, sagte Pendergast.»Springen wir hundert Jahre vor. Im Jahre 1858oder 1859 erreichte eine zusammengewürfelteGruppe von Süden her New York. Laut

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Gruppe von Süden her New York. Lautzeitgenössischen Darstellungen war es einbunter Haufen. Im Zentrum stand eincharismatischer Prediger aus Baton Rouge,Reverend Misham Walker, der eine kleineGruppe französisch-kreolischer Handwerker umsich geschart hatte, die aus irgendeinemGrund, den ich nicht herausgefunden habe, ausihrer Gemeinde ausgeschlossen worden waren,außerdem mehrere westindische Sklaven.Unterwegs schlossen sich ihnen weitere Leutean. Cajun, ein paar portugiesische Häretikerund einige Bayou-Bewohner, die aus derBretagne fliehen mussten, weil sie angeblichHeidentum, Druidentum und Hexereipraktizierten. Sie übten jedoch weder Voodoonoch Obeah im herkömmlichen Sinne aus.Vielmehr scheint es sich um ein völlig neuesGlaubenssystem gehandelt zu haben, das ausunterschiedlichen Versatzstücken vorherigerPraktiken und Religionen bestand. Auf ihrerReise aus dem tiefen Süden nach New York kames immer wieder zu Schwierigkeiten. Wo immer

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sich die Gruppe anzusiedeln versuchte,opponierten die Einheimischen gegen diereligiösen Rituale; deshalb sah sie sich jedesMal gezwungen, weiterzuziehen. HässlicheGerüchte kursierten: dass die GruppeSäuglinge stehle, Tiere opfere, Menschen vonden Toten auferstehen lasse. Die Gruppe warvon Natur aus geheimniskrämerisch. DieBehandlung, die die Mitglieder erfuhren,scheint sie regelrecht einsiedlerisch gemachtzu haben. Letztlich entdeckten Walker undseine Gruppe das abgelegene Gebäude, das diePilger an der Nordspitze von Manhattan einJahrhundert zuvor aufgegeben hatten, undnahmen es in Besitz, worauf sie sofort dieFenster zumauerten und die Mauernverstärkten. Es hieß, sie seien vom Pöbelattackiert worden, aber die Sache verlief imSande, allerdings kam es zu mehrerenabsonderlichen Auseinandersetzungen, die inden örtlichen Zeitungen auf verwirrende Artgeschildert wurden. Im Laufe der Jahreschottete sich das Ville dann immer mehr ab.«

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Pendergast nickte langsam. »Und in jüngererZeit?«»Mit den Jahren hat es immer wiederBeschwerden wegen Tieropferungengegeben.« Wren hielt inne, ein ironischesLächeln umspielte seine Mundwinkel. »Wie esscheint, handelte es sich um eine zölibatäreGemeinde. Vergleichbar mit den Shakern.«Pendergast hob überrascht die Brauen.»Zölibatär? Dennoch ist die Gemeinde nichtausgestorben.«»Nicht nur nicht ausgestorben, vielmehr hat sieoffenbar stets die gleiche Anzahl aufgewiesen:einhundertvierundvierzig. Alle männlich, alle imErwachsenenalter. Man glaubt, dass dieGemeinde neue Mitglieder rekrutierte. Ziemlichnachdrücklich, wenn nötig, und immer nachts.Es heißt, dass sie sich die Unzufriedenen, diepsychisch Instabilen, die Menschen am Randder Gesellschaft als Opfer aussuchte, idealeKandidaten für Zwangsrekrutierungen. Wennein Mitglied starb, musste ein neues gefundenwerden. Und dann gab es da noch die

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Gerüchte.« Wrens dunkle Augen funkelten.»Worum drehten die sich?«»Um eine mörderische Gestalt, die nachtsumhergeht. Einen Zombie, wie manchebehaupteten«, antwortete er leicht amüsiert.»Und was ist aus dem Grund und Boden undden Gebäuden geworden?«»Das umgebende Land wurde im Jahr 1916 vonder Behörde für Öffentliche Parks der StadtNew York erworben. Einige andere verfalleneGebäude im Park wurden abgerissen, aber dasVille wurde übergangen. Allem Anschein nachwollte die Parkbehörde keine Entscheidungerzwingen.«»Verstehe.« Pendergast blickte Wren mitseltsamer Miene an. »Vielen Dank, das war einausgezeichneter Beginn. Bleiben Sie dran,wenn ich bitten darf.«Wren erwiderte den Blick, seine dunklen Augenblitzten vor Neugier. »Worum geht es genau,hypocrite lecteur? Warum interessiert Sie dasalles?«Pendergast antwortete ihm nicht sofort. Einen

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Augenblick lang schien es, als schweiften seineGedanken in die Ferne. Dann erhob er sich.»Es wäre voreilig, darüber zu sprechen.«»Verraten Sie mir zumindest eines: Ist IhrInteresse … an dieser Sache nicht ganz legal?«,wiederholte Wren.Pendergast verneigte sich abermals knapp.»Bitte lassen Sie es mich wissen, wenn Sie mehrherausgefunden haben.« Und damit drehte ersich um und begab sich auf den langen Aufstiegzurück in die Oberwelt.

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Nora nahm einen letzten Eintrag in dieDatenbank mit ihren Arbeitsproben vor, dannbeendete sie das Computerprogramm,verschloss den Beutel mit Tonscherben undlegte ihn beiseite. Sie streckte sich und sah aufdie Uhr. Es war fast zehn Uhr abends, in denBüros des Museums war alles still.Sie sah sich in ihrem Labor um, schaute auf dieRegale mit den Artefakten, Akten undAufsätzen, die verschlossene Tür. Heute warder erste Tag, an dem sie sich ein wenigkonzentrieren und einige Arbeiten zu Endebringen konnte. Teilweise lag das daran, dassder Strom der Kondolierenden, die an ihre Türklopften, endlich abgeebbt war. Doch das warnicht der einzige Grund. Es lag an etwasanderem, daran, dass sie in Bezug auf Bills Todetwas unternahm – etwas Konkretes. Das

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Sequenzieren der DNA für Pendergast war einAnfang gewesen. Aber jetzt, am heutigenAbend, würde sie die Auseinandersetzung insTerritorium des Gegners tragen.Sie holte tief Luft und atmete langsam aus.Merkwürdig, dass sie keine Angst hatte. Sieempfand nichts als grimmige Entschlossenheit.Sie wollte Bills Tod auf den Grund gehen undein Minimum an Ordnung und Frieden in ihrerzerbrochenen Welt wiederherstellen.Sie nahm den Beutel mit den Tonscherben undlegte ihn auf sein Lagergestell zurück. Früheram Nachmittag hatte sie ihrem neuen Chef,Andrew Getz, Leiter der Abteilung fürAnthropologie, einen Besuch abgestattet. Siehatte ihn um eine schriftliche Garantie für dieFinanzierung ihrer Forschungsexpedition nachUtah im kommenden Sommer gebeten – und siebekommen. Sie wollte ihr langfristigesForschungsprojekt gesichert sehen, etwashaben, das sie in der Zeit, die ein langer,dunkler Winter zu werden versprach, inSchwung hielt.

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Sehr leise vernahm sie etwas, das wie einSchrei-Echo eines Kindes durch die Flure hallte.Das Museum hatte in letzter Zeit Gruppen vonSchulkindern erlaubt, an Wochenenden inbestimmten Sälen unter Aufsicht mehrererErwachsener zu übernachten. Sie schüttelteden Kopf. Alles nur, um ein bisschen Bares zuerwirtschaften, wie es schien.Während das Echo erstarb, hörte sie einenanderen Laut, ein kurzes Klopfen an ihrer Tür.Nora erschrak und wandte sich dem Geräuschzu. Erstaunlich, wie ihr Herz anfing, sehrschnell zu schlagen. Doch genauso rascherinnerte sie sich: Fearing hätte nichtangeklopft.Wieder hörte sie das Klopfen. Sie räuspertesich. »Wer ist da?«»Agent Pendergast.«Das war seine Stimme, definitiv. Sie eilte zurTür und schloss sie auf. Pendergast stand imFlur, lehnte am Türpfosten, trug einenschwarzen Kaschmirmantel über dem üblichenschwarzen Anzug. »Darf ich eintreten?«

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Sie nickte und machte einen Schritt beiseite.Pendergast betrat das Labor und nahm esrasch in Augenschein, dann sah er wieder Noraan. »Ich wollte Ihnen für Ihre Hilfe danken.«»Sie müssen mir nicht danken. Ich will alles tun,um mitzuhelfen, den Mörder vor Gericht zubringen.«»Gewiss. Und genau deshalb möchte ich mitIhnen sprechen.« Er schloss die Tür undwandte sich wieder zu Nora um. »Ich nehme an,dass nichts, was ich sage, Sie davon abhaltenwird, Ihre Ermittlungen fortzusetzen.«»So ist es.«»Eindringliche Bitten, die Angelegenheit denExperten zu überlassen – die Erinnerung, dassSie Ihr Leben großer Gefahr aussetzen –,werden auf taube Ohren stoßen.«»Ja.«Er fixierte sie. »In diesem Fall möchte ich Siebitten, etwas für mich zu tun.«»Und das wäre?«Pendergast griff in die Innentasche seinesMantels, holte etwas daraus hervor und

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drückte es ihr in die Hand. »Tragen Sie das hierTag und Nacht um den Hals.«Sie senkte den Kopf. Es war eine Art Amulett,hergestellt aus Federn und einem kleinen StückWildleder, das zu einer kleinen Kugel genähtund an einem dünnen Goldkettchen befestigtwar. Sie drückte das Leder ein wenig; es schienetwas Pulveriges zu enthalten.»Was ist das?«, fragte sie.»Ein arrêt.«»Ein was?«»Umgangssprachlich würde man es wohl Feind-weiche-von-mir-Amulett nennen.«Sie sah ihn an. »Das ist nicht Ihr Ernst.«»Hochgradig nützlich gegen alle bis auf dieunmittelbaren Angehörigen. Ich habe da nochetwas.« Er griff in eine andere Tasche und zogeinen Beutel aus rotem Flanell hervor, der miteinem Kordelzug aus verschiedenfarbigenFäden verschlossen war. »Tragen Sie das hierimmer bei sich, in einer Tasche oderHandtasche.«Sie runzelte die Stirn. »Agent Pendergast …«

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Sie schüttelte den Kopf. Was sollte sie dazusagen? Von allen Menschen, die sie kannte, warPendergast immer der rationalste gewesen, einunverrückbarer Fels der Logik und desPragmatismus. Und jetzt stand er vor ihr undschenkte ihr ein Amulett?Als er sie ansah, blitzte es kurz in seinen Augenauf, als lese er ihre Gedanken. »Sie sind dochAnthropologin. Haben Sie The Forest ofSymbols von Victor Turner gelesen.«»Nein.«»Und was ist mit Emile Durkheims Dieelementaren Formen des religiösen Lebens?«Sie nickte.»Dann wissen Sie, dass gewisse Dingeanalysiert und festgeschrieben werdenkönnen – und bestimmte Dinge nicht. Und alsjemand, der Anthropologie studiert hat, sagtIhnen doch sicher der Begriff Phänomenologieetwas?«»Ja, aber …« Sie verstummte.»Weil der menschliche Geist im Körpergefangen ist, können wir die letzte Wahrheit –

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oder Unwahrheit – nicht erkennen. Bestenfallskönnen wir beschreiben, was wir sehen.«»Ich kann Ihnen nicht ganz folgen …«»Es gibt eine Weisheit auf dieser Erde, Nora,die geheimnisvoll und sehr alt ist und mit derwir nicht streiten dürfen. Ist sie wahr? Unwahr?Wir können es nicht wissen. Werden Sie dahertun, worum ich Sie gebeten habe? Diese Dingeimmer am Körper tragen?«Sie blickte auf die Gegenstände in ihrer Hand.»Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.«»Sagen Sie bitte ja. Denn es ist die einzigeAntwort, die ich zulasse.«Sie nickte, langsam.»Sehr gut.« Er wandte sich zum Gehen, dannblieb er stehen und blickte sich nach ihr um.»Und, Dr. Kelly?«»Ja?«»Es genügt nicht, diese Dinge einfach nur zubesitzen. Man muss auch daran glauben.«»Woran glauben?«»Daran, dass sie wirken. Denn diejenigen, dieIhnen Böses wollen, glauben mit absoluter

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Gewissheit daran.«Und damit verließ er ihr Büro und schloss leisedie Tür hinter sich.

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Mitternacht. Nora blieb an der Ecke IndianRoad und 214. Straße stehen, um einen Blickauf die Karte zu werfen. Die Luft war kühl undroch herbstlich. Hinter den niedrigenMietshäusern ragten die Baumwipfel desInwood Hill Park dunkel vor dem leuchtendenAbendhimmel empor. Wegen ihresSchlafmangels war ihr leicht schwindlig, fast so,als habe sie ein starkes Getränk zu sichgenommen.Während sie die Karte gründlich studierte,blickte Caitlyn Kidd ihr neugierig über dieSchulter.Nora steckte die Karte wieder ein. »Noch einenHäuserblock hoch.«Sie gingen weiter die Indian Road entlang, eineruhige, in gelbes Sodiumlicht getauchteWohnstraße, deren Backsteingebäude auf

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beiden Seiten düster und unscheinbar wirkten.Ein Auto fuhr langsam vorbei, bog in die 214.Straße, die Scheinwerfer durchstachen dieNacht. Dort, wo die Indian in die 214. einbog,zweigte eine nicht gekennzeichnete Straße ab –kaum mehr als ein verwaister Zufahrtsweg –und führte zwischen Mietshäusern und einermit Rollläden verschlossenen Reinigung nachWesten. Vor der Straße hing eine rostige, analten Eisenpfosten angebrachte Eisenkette.Nora blickte die schmale Straße hinunter, diean irgendwelchen Baseballplätzen vorbeiführteund im Dunkel verschwand. Der Asphalt waraufgesprungen, wölbte sich in Placken.Grasbüschel, hier und da sogar ein kleinerBaumsetzling sprossen aus den Rissen. Einmalmehr überprüfte sie die frisch ausgedruckteKarte. Ja, auf ihrem früheren Ausflug hatte sieganz eindeutig die beste Route genommen.»Hier sind wir richtig.«Sie duckten sich unter der Kette hindurch.Direkt vor ihnen, hinter den Baseballplätzen,führte die alte Straße mitten durch eine

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größere Brache und verschwand dann in dembewaldeten Inwood Hill Park. Nur ein paargusseiserne Laternenmasten waren zu sehen,aber die Laternen waren dunkel; als siehochsah, meinte Nora, in den GlaskuppelnEinschusslöcher zu erkennen.Irgendwo in der Dunkelheit vor ihnen lag dasVille.Sie marschierte los. Caitlyn beeilte sich, sieeinzuholen. Die gepflasterte Straße wurdeschmaler, die Bäume rückten näher. DerGeruch nach feuchtem Laub hing in der Luft.»Sie haben eine Taschenlampe dabei, oder?«,fragte Caitlyn.»Ja, aber ich würde sie lieber ausgeschaltetlassen.«Der Weg stieg an, erst sanft, dann steil, bis zueiner Anhöhe, die Ausblicke auf den HenryHudson Parkway und das Baker Field, dieSportanlage der Columbia University, bot. Diebeiden Frauen blieben stehen und orientiertensich. Direkt vor ihnen führte der schmale Wegnach unten, auf eine Bucht im Harlem River zu.

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Während sie weitergingen, sah Nora durch dieBäume hindurch hier und da gelbe Lichter,ungefähr vierhundert Meter entfernt.Caitlyn versetzte ihr einen Rippenstoß. »Ist dasdas Ville?«»Ich glaube, ja. Finden wir’s heraus.«Nach kurzem Zögern gingen sie weiter bergab.Sie folgten dem schmalen Weg, der, dietopographischen Gegebenheiten ausnutzend,in Serpentinen verlief. Hier standen die Bäumenoch dichter und sperrten den mattenLichtschein der Stadt aus. Das ferne Dröhnendes Verkehrs auf dem Parkway wurde leiser.Wieder beschrieb der schmale Weg eineBiegung, dann ragte vor ihnen etwas Dunklesempor: ein uralter, mehrmalsniedergetrampelter Maschendrahtzaun, derihnen den Weg versperrte. Ein großes Loch imZaun war mit Stacheldraht geflickt worden. Indie Mitte war ein Tor eingehängt, an dem einschmucklos beschriftetes Schild befestigt war:

Privateigentum

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Kein DurchgangZutritt verboten

»Das hier ist eine öffentliche Straße«, sagteNora. »Das ist nicht legal. Sie müssen dasunbedingt in Ihrem Artikel erwähnen.«»Von einer Straße kann hier wohl kaum dieRede sein«, entgegnete Caitlyn. »Aber egal,streng genommen ist das ganze Ville illegal.Diese Leute sind Hausbesetzer.«Nora inspizierte das Tor. Gusseisen, derschwarze Schutzanstrich blätterte ab, dasMetall darunter war rostig und warf Blasen. Amoberen Rand verlief eine Reihe von Zinken, aberdie Hälfte davon war zerbrochen oderabgefallen. Das Tor wirkte zwar uralt, aberNora bemerkte, dass die Angeln gut geölt undKette und Vorhängeschloss ziemlich neu waren.Kein Laut drang durch die Bäume.»Ist leichter, über den Zaun zu klettern als überdas Tor«, sagte Nora.»Ja.«Keine von ihnen rührte sich.

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»Halten Sie das hier wirklich für eine guteIdee?«, fragte Caitlyn.Bevor sie die Gelegenheit hatte, es sich anderszu überlegen, übernahm Nora die Initiative. Siepackte den verrosteten Maschendrahtzaun,rammte ihre Schuhe in die Lücken und zog sichhinauf, so schnell sie konnte. Der Zaun warungefähr drei Meter hoch. Halterungen amoberen Rand deuteten darauf hin, dass erfrüher mit Strängen aus Stacheldraht versehenwar, die allerdings schon längst verschwundenwaren.Innerhalb einer halben Minute war sie drüben.Sie ließ sich auf das weiche Laub auf deranderen Seite fallen. »Jetzt Sie.«Caitlyn griff in den Zaun. Sie war längst nichtso gut in Form wie Nora, schaffte es abertrotzdem, rüberzukommen, und glitt unterleisem Rasseln des Metalls an der anderenSeite hinunter. »Puh.« Sie wischte sich dieBlätter und den Rost von der Kleidung.Nora spähte in die vor ihnen liegendeDüsternis. »Ist wahrscheinlich besser, durch

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den Wald zu gehen, als der Straße zu folgen«,flüsterte sie.»Nichts dagegen zu sagen.«Sich behutsam bewegend, damit das Laub nichtraschelte, verließ sie die Straße nach rechts,dort führte ein dunkler Hohlweg durch Eichenbergab zum Rand einer Lichtung. Sie hörteCaitlyn hinter sich, die sich ebenfalls vorsichtigbewegte. Schon bald wurde der Hohlweg steil,und hin und wieder blieb Nora stehen, um nachvorn zu schauen. Es war dunkel im Wald, aberihr war klar, dass sie die Taschenlampe nichteinschalten durfte. Sie hatte allen Grund zu derAnnahme, dass die Leute im Ville nachEindringlingen Ausschau hielten undNachforschungen anstellen würden, wenn sieeinen Lichtschein im Wald sahen.Allmählich flachte der Hohlweg ab, und sienäherten sich dem ebenen Gelände rings umdas eigentliche Ville. Abrupt endete der Wald.Vor Nora und Caitlyn erstreckte sich dieBrache, die bis an die Rückseite der wuchtigen,sehr alten Kirche führte. Die Kirche war mit

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einer wahllosen Ansammlung von Anbautenversehen – von denen sie möglicherweise sogarabgestützt wurde. Ein kühler Wind blies überdas Feld, Nora hörte das Rascheln trockenerGräser.»Großer Gott«, hörte sie Caitlyn neben sichsagen.Diesmal hatte sich Nora dem Ville von deranderen Seite genähert. Jetzt, aus größererNähe, sah sie, dass das bizarre Gebäude nochgröber gebaut war, als sie gedacht hatte. Imfahlen Licht, das der Abendhimmel spendete,konnte man fast noch die Spuren derAxtschläge auf den dicken Fachwerkbalkenerkennen. Offenbar war die Kirche in Schichtenerrichtet worden; jede Schicht war ein wenigbreiter als die darunterliegende, dadurch wareine Art auf dem Kopf stehender Zikkuratentstanden, der irgendwie finster undbedrohlich wirkte. Die große Mehrzahl derFenster befand sich weit oben an denSeitenwänden. Jene Fenster, die nichtzugemauert waren, waren mit hellgrünem

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Schiffsglas versehen, einige allerdings auch mitÖltuch oder Wachspapier. Aus dieser nahenEntfernung war der Schein von Kerzenlichtdeutlich auszumachen. In Augenhöhe, wie fürsie geschaffen, befand sich ein einzelnesFenster – klein und rechteckig.»Unglaublich, dass es in Manhattan immer nocheinen Ort wie diesen gibt«, sagte Nora.»Unglaublich, dass er überhaupt überdauernkonnte. Und was machen wir jetzt?«»Warten. Mal sehen, ob jemand da ist.«»Wie lange?«»Zehn, fünfzehn Minuten. Genug Zeit, dass einWachmann, wenn es einen gibt, seine Rundegedreht hat. Dann könnten wir uns vielleichtetwas näher heranschleichen. Vergessen Sienicht, sich alles zu notieren. Die Leserschaftdes West Sider soll einen richtig gutenEindruck von dem hier bekommen.«»Na klar.« Caitlyns Stimme bebte, ihre Handhielt das Notizbuch fest umklammert.Nora setzte sich auf den Boden und wartete.Dabei spürte sie, wie das rauhe Amulett am

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Hals kratzte. Sie zog es hervor und betrachtetees. Es sah genauso seltsam aus wie dieFetische, die vor ihrer Wohnungzurückgelassen worden waren: Federbüschel,der Wildlederbeutel. Pendergast hatte es ihraufgedrängt, sie hatte ihm versprechenmüssen, den Chamoisbeutel jederzeit amKörper zu tragen. Zwar war er wohl in NewOrleans aufgewachsen, aber eigentlich kam erihr nicht vor wie einer, der an Voodoo glaubte –oder doch? Sie ließ das Amulett wieder los,wobei sie sich etwas albern vorkam. Sie warfroh, dass Caitlyn es nicht bemerkt hatte.Ein leises Geräusch, und sofort war siehellwach. Es hatte soeben in der Dunkelheitangefangen, ein leises Summen, ähnlich demZirpen monströser Zikaden, und es dauerteeinen Moment, bis sie erkannte, dass es ausder Kirche kam. Es wurde lauter und klarer; derKlang von tiefem Gesang. Nein, das war keinherkömmlicher Gesang – eher einSprechgesang.»Haben Sie das gehört?«, fragte Caitlyn mit

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deutlich gepresster Stimme.Nora nickte.Der Sprechgesang schwoll an, gleichzeitigwurde die Klangfarbe tiefer. Er tremolierte,stieg und fiel in einen komplizierten Rhythmus.Caitlyn fröstelte und zog sich die Jacke festerum die Schultern.Während sie warteten und angestrengtlauschten, wurde der Sprechgesang schnellerund intensiver. Jetzt wurde er langsam lauter,nach und nach.»Scheiße, mir gefällt das gar nicht«, sagteCaitlyn.Nora legte ihr einen Arm um die Schultern.»Bleiben Sie einfach still sitzen. Niemand weiß,dass wir hier sind. Im Dunkeln sind wirunsichtbar.«»Ich hätte nicht mitkommen sollen. Das warkeine gute Idee.«Nora merkte, dass Caitlyn bibberte. Komisch,dass sie selber keine Angst empfand. Das hattesie Bills Tod zu verdanken. Im Grunde handeltees sich nicht um Furchtlosigkeit, sondern

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völlige Gefühllosigkeit. Jetzt, wo er tot war –was konnte da noch Schlimmeres kommen?Selbst zu sterben wäre eine Art Erlösung.Der Sprechgesang wurde drängender,schneller und schneller. Und dann ertönte einneuer Laut – das Blöken eines Schafs.»O nein«, murmelte Nora. Der Brummton klangjetzt hoch und schnell, fast wie eine Maschine,ähnlich dem Brummen eines riesengroßenTransformators. Das Tier blökte noch zweimal,untermalt von dem Brummton, höher undverängstigt. Nora war klar, was kommen würde;sie wollte sich die Ohren zuhalten, wusste aber,dass sie es nicht können würde.»Das hier braucht einen Zeugen.« Sie erhobsich.Caitlyn packte sie am Arm. »Nein. Warten Sie,bitte.«Nora schüttelte sie ab. »Das ist genau das,weswegen wir hergekommen sind.«»Bitte. Die werden uns sehen.«»Niemand wird mich sehen.«»Warten Sie –!«

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Aber Nora war schon aufgesprungen und liefgeduckt mitten über das Feld. Das Gras unterihren Füßen war feucht und glitschig. Sielehnte sich flach an die rückwärtige Mauer deralten Kirche, schlich daran entlang auf daskleine gelbe Fenster zu, blieb stehen, dannblickte sie mit klopfendem Herzen hinein.Ein Urinal, altersbraun; zerbrochener Nachttopfaus Porzellan; Nachtstuhl, dessen Holzgesplittert war. Ein uralter, leerer Abort.Verdammt. Sie glitt nach unten, das Gesicht amkalten, rauhen Holz. Dem alten Gemäuerentströmte ein ungewöhnlicher Geruch,moschusartig und rauchig. Weil sie jetzt näherdran war, waren die Geräusche drinnen sehrviel lauter. Sie drückte das Ohr an die Mauerund lauschte.Die einzelnen Wörter waren nicht zu verstehen,und sie konnte nicht einmal die Spracheidentifizieren, aber Englisch war es ganzbestimmt nicht. Französisch? Kreolisch?Außer dem Sprechgesang hörte Nora etwas,das sich wie das sanfte Aufstampfen nackter

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Füße anhörte, schnell und rhythmisch. EineSolostimme erhob sich über das eindringlicheOstinato, wabernd, schrill, unmelodiös, aberzweifellos Teil des Rituals.Noch ein langes, furchterregendes Blöken,hoch, furchtbar erschrocken. Dann plötzlichabsolute Stille.Und dann ertönte der Schrei, durchschnitt dieStille, der reine Ausdruck des Erstaunens unddes Schmerzes eines Tiers. Fast augenblicklichwurde der Laut von einem starken Röchelnerstickt, gefolgt von einem langen, rasselndenHusten, dann wieder Stille.Nora musste nichts sehen, um genau zu wissen,was passiert war.Plötzlich setzte der Sprechgesang wieder ein,schnell, jubelnd, wobei die Stimme desjenigen,bei dem es sich wohl um eine Art Priesterhandelte, emporstieg und freudig klagte.Vermischt hiermit ertönten die Laute von etwasanderem, etwas Grunzendem, Hauchigem undFeuchtem.Nora schnappte nach Luft; plötzlich war ihr

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Nora schnappte nach Luft; plötzlich war ihrspeiübel. Das Geräusch war ihr durch unddurch gegangen und hatte jenen schrecklichenAugenblick wiederbelebt, als sie ihrenEhemann sah, reglos in einer sichausbreitenden Blutlache in ihrem Wohnzimmerauf dem Boden liegend. Sie war wie gelähmt. Inihrem Kopf drehte sich alles, vor ihren Augentanzten kleine Punkte. Caitlyn hatte recht: Dashier war keine gute Idee. Diese Leute, werimmer sie waren, würden Eindringlingekeinesfalls freundlich empfangen. Ein, zweiMinuten lang lehnte sie an der Backsteinmauer,bis das Gefühl vorüber war, und dann war ihrklar, dass sie von hier weg musste – sofort.Im Umdrehen erhaschte sie noch den Blick aufetwas, das sich im Dunkel bewegte, an der Eckedes am weitesten entfernten Gebäudes. Eineschlurfende, taumelnde Bewegung, einHuschen bleicher Haut im gespenstischenMondlicht, und dann war es verschwunden.Furcht packte sie; sie schloss kurz die Augen,öffnete sie wieder. Alles war still und dunkel.

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Hatte sie da wirklich etwas gesehen? Geradeals sie sich sagte, dass da nichts gewesen war,erschien die Gestalt wieder. Bartlos, seltsamaufgedunsen, in Lumpen. Sie näherte sich Noramit Bewegungen, die irgendwie willkürlich unddoch furchtbar zielstrebig wirkten.Während sie dort hinstarrte, wurde Noraunwiderstehlich an jene Gestalt erinnert,welche sie zwei Tage zuvor durch den Saal mitden Wal-Skeletten gejagt hatte. Erschrockensprang sie auf und rannte mitten über dasFeld.»Caitlyn!«, rief sie außer Atem, stieß mit derReporterin zusammen und packte sie an derJacke. »Wir müssen von hier abhauen!«»Was ist passiert?« Sofort war sie von NorasAngst angesteckt und kauerte sich auf denBoden.»Los!« Nora packte sie am Hemd und riss siehoch. Caitlyn strauchelte, als sie aufzustehenversuchte, und Nora fing sie auf.»O mein Gott«, sagte Caitlyn, die Nora plötzlichwie paralysiert anstarrte. »Du lieber Gott.«

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Nora blickte nach hinten. Die Gestalt – dasaufgedunsene, verzerrte Gesicht war in demschummrigen Licht nicht klar zu erkennen –kam mit fürchterlich ungelenken Bewegungenauf sie zu.»Caitlyn!«, schrie Nora und zog sie herum.»Los!«»Was –?«Aber Nora rannte schon den dunklen Hohlweghinauf und zog die Reporterin am Arm mit sich.Caitlyn schien vor Angst wie benebelt zu sein,sie glitt aus und stürzte auf das Laub, drehtesich um und blickte immer wieder nach hinten.Jetzt bewegte sich das Wesen etwas schneller,kam mit langen, springenden Bewegungennäher, die düster und bedrohlich wirkten. Norahörte ihr geiferndes, begieriges Atmen.»Es kommt näher«, sagte Caitlyn. »Es kommthinter uns her.«»Halten Sie die Klappe und rennen Sie!«O Gott, dachte Nora im Laufen. O mein Gott.Das kann doch nicht Fearing sein – oder?Aber sie war sich da nur allzu sicher.

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Sie erreichten den oberen Abschnitt desHohlwegs. Das Tor und der Zaun lagen direktvor ihnen»Hoch mit dem Hintern!«, rief Nora, als Caitlynwieder ausrutschte und fast gestürzt wäre.Caitlyn schluchzte und rang nach Luft. Hinterihnen, aus dem Dunkel, kam das Geräusch vonetwas, das auf den Boden stampfte, raschnäher. Nora zog Caitlyn wieder hoch.»O verdammt …«Nora kam am Zaun an; sie zog Caitlyn hintersich her, schleuderte sie gegen den Zaun undstemmte sie mit aller Kraft hinauf. Caitlynscharrte an dem Maschendrahtzaun, fand Haltund zog sich hoch. Nora folgte. Sie ließen sichauf den mit Laub bedeckten Boden fallen undliefen wieder los.Hinter ihnen krachte etwas gegen den Zaun.Nora blieb stehen und drehte sich um. Obwohlihr das Herz bis zum Hals schlug, musste sie eswissen. Sie musste es.»Was machen Sie denn?«, rief Caitlyn, dieimmer noch rannte, als ob der Teufel hinter ihr

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her wäre.Nora griff in ihre Schultertasche, riss dieTaschenlampe heraus, schaltete sie an, richtetesie auf den Zaun …… nichts – bis auf eine konvexe Wölbung in demrostigen Stahl, dort, wo die Gestaltdagegengekracht war, und die schwacheRestbewegung des Zauns nach dem Aufprall.Quietschend schwang der Zaun hin und her, bisStille herrschte.Das Wesen war verschwunden.Sie hörte Caitlyn rennen, deren Schritte aufdem alten Weg immer ferner klangen.Nora folgte im Laufschritt, schon bald hatte siedie schnaufende, erschöpfte Reporterineingeholt. Caitlyn stand vornübergebeugt da,fasste sich an den Bauch und übergab sich.Nora hielt sie an den Schultern fest.»Wer … was war das?«, stieß sie schließlichhervor.Nora schwieg und half Caitlyn auf die Beine.Zehn Minuten später gingen sie über die IndianRoad und waren zurück im vertrauten

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Manhattan, aber Nora – die unbewusst dasAmulett an ihrem Hals befingerte – konnte dasGefühl des Grauens einfach nicht abschütteln,die Erinnerung an das Wesen, das sie verfolgthatte, an das Röcheln des todgeweihten Schafs.Gleichzeitig ging ihr immer wieder einfurchtbarer Gedanke durch den Kopf, einirrationaler, nutzloser, widerwärtiger Gedanke.Hatte es sich so angehört, als Bill starb?

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Lieutenant D’Agosta saß in seinemkabuffgroßen Büro im Polizeipräsidium undstarrte auf den eingeschaltetenComputerbildschirm. Er war Autor, er hattezwei Romane veröffentlicht. Die Bücher hattengroßartige Besprechungen bekommen. Warumalso fiel es ihm dann so verdammt schwer,einen simplen Zwischenbericht zu schreiben?Er war immer noch wütend nach derStandpauke, die der Commissioner ihm gesternNachmittag gehalten hatte. Kein Zweifel, Klinehatte Rocker in der Hand.Er drehte sich vom Bildschirm weg und riebsich die Augen. Durch das einzige Fenster,durch das er einen schmalen Ausschnitt desHimmels sehen konnte, fiel fahles Morgenlichtin den Raum. Er trank einen Schluck von seinerdritten Tasse Kaffee und versuchte, seine

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Gedanken zu ordnen. Aber ab einembestimmten Punkt machte Kaffee ihn nochmüder.War der Mord an Smithback wirklich erst eineWoche her? Er schüttelte den Kopf. Eigentlichhätte er im Moment in Kanada sein, seinenSohn besuchen und die Papiere für seinebevorstehende Scheidung unterschreibensollen. Stattdessen war er in New York und aneinen Fall gefesselt, der mit jedem Tag bizarrerwurde.Das Telefon auf dem Schreibtisch läutete. Dashatte ihm gerade noch gefehlt. Er nahm denHörer von der Gabel und seufzte innerlich.»Mordkommission, D’Agosta am Apparat.«»Vincent? Fred Stolfutz.«Stolfutz war der stellvertretende US-Staatsanwalt, der D’Agosta dabei half, denDurchsuchungsbeschluss für das Ville zuentwerfen. »Hallo, Fred. Also, was denken Sie?«»Wenn Sie versuchen, da reinzugehen, um nachHinweisen für einen Mord zu suchen, dannwerden Sie kein Glück haben. Die Beweislage

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ist zu dürftig, kein Richter wird einerDurchsuchung zustimmen. Erst recht nichtnach der Nummer, die Sie gestern bei Klineabgezogen haben.«»Wie haben Sie denn davon erfahren?«»Vinnie, alle reden darüber. Ganz zu schweigendavon, dass der Commissioner …«D’Agosta unterbrach ihn ungeduldig. »WelcheOptionen bleiben mir also?«»Na, Sie haben doch gesagt, dass das Ville tiefim Wald versteckt liegt, richtig?«»Stimmt.«»Dann können Sie nicht nach Lehrbuchverfahren. Sie können nicht nahe genugrankommen, um, sagen wir, ein Verbrechen inflagranti zu sehen oder Marihuanaqualm zuschnuppern. Und es wird auch keine Gefahr imVerzug sein, jemand, der um Hilfe schreit oderso etwas.«»Es wurden aber jede Menge Schreie gehört –von Tieren.«»Sehen Sie, genau daran habe ich auchgedacht. Mit einem Beschluss wegen

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Mordverdachts kommen Sie da nie rein, abervielleicht könnte ich was in RichtungTierquälerei entwerfen. Damit hätten wir einenklaren Rechtsbruch. Wenn Sie da mit einemMitarbeiter vom Tierschutzamt reingehen,können Sie nach den anderen IndizienAusschau halten, nach denen Sie suchen.«»Interessant. Glauben Sie, wir kommen damitdurch?«»Ja, bestimmt.«»Fred, Sie sind ein Genie. Rufen Sie michwieder an, wenn Sie mehr wissen.« D’Agostalegte auf und widmete sich wieder demvorliegenden Problem.Oberflächlich betrachtet, war das alles garnicht kompliziert. Gute Zeugen, ausgezeichneteZeugen hatten gesehen, wie Fearing dasGebäude betreten und verlassen hatte. Undobwohl die Tests nicht offiziell durchgeführtworden waren und daher vor Gericht nichtverwendet werden konnten, hatte man die DNAdes Mannes am Tatort gefunden, etwas, wasdas amtliche Ergebnis am Ende bestätigen

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würde. Fearing verfolgte Nora, und dafür gabes den Beweis: seine DNA. Sein Grabfach warleer – keine Leiche. Das war auch ein Beweis,einerseits.Und andererseits? Da gab es diesenüberarbeiteten, nachlässigen Arsch vonRechtsmediziner, der nicht zugeben konnte,dass er einen Fehler gemacht hatte. EineTätowierung und ein Muttermal, beides konnteallerdings gefälscht oder falsch gedeutetworden sein, wenn man bedachte, wie lange dieLeiche im Wasser gelegen hatte. DieIdentifizierung durch eine Schwester, aberfalsche Identifizierungen konnten schon malpassieren, wenn ein Angehöriger allzuverzweifelt oder die Leiche allzu stark entstelltwar. Vielleicht handelte es sich ja um einenVersicherungsbetrug, bei dem die Schwestermit drinsteckte. Dass sie hinterherverschwunden war, machte die Sache nur nochverdächtiger.Nein. Colin Fearing war am Leben, da war sichD’Agosta sicher. Und Fearing war auch kein

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Scheißzombie. Steckte Kline dahinter oder dasVille? Er würde den Druck auf beideaufrechterhalten.Er nahm seinen Kaffeebecher, starrte kurzdarauf, dann schüttete er den restlichen Inhaltin den Papierkorb, gefolgt vom Becher. Genugvon dieser Plörre. Er dachte an das Verbrechenselbst. Für ihn sah das einfach nicht nach einerschiefgegangenen Vergewaltigung aus. Undder Typ hatte beim Betreten des Gebäudes indie Überwachungskamera gestarrt. Der hattegewusst, dass er gefilmt wurde, und es war ihmegal gewesen.Pendergast hatte recht. Es handelte sich hiernicht um einen chaotischen Mord. Es hatteeinen Plan gegeben. Aber was für einen? Erfluchte leise.Wieder klingelte das Telefon.»D’Agosta.«»Vinnie? Ich bin’s, Laura. Hast du heuteMorgen schon den West Sider gelesen?«»Nein.«»Dann besorg dir mal eine Ausgabe.«

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»Was steht drin?«»Besorg dir einfach ein Exemplar. Und …«»Und was?«»… rechne mit einem Anruf vom Commissioner.Sag ihm nicht, dass ich dich gewarnt habe, seieinfach nur bereit.«»Scheiße, nicht schon wieder.« D’Agosta legteauf. Dann erhob er sich und ging zumnächstgelegenen Fahrstuhl. Vermutlich könnteer ein Exemplar auf dem Stockwerkorganisieren, aber wenn Laura recht hatte,dann brauchte er vor dem Anruf des Chefsbestimmt etwas Zeit, um die Lektüre zuverdauen.Die Fahrstuhlklingel ertönte, die Türenöffneten sich. Ein paar Minuten später nähertesich D’Agosta dem Zeitungsstand in der Lobby.Wie üblich steckte der West Sider ganz obenlinks im Zeitungsständer. Er ließ das Kleingeldauf den Tresen fallen, nahm ein Exemplar undklemmte es sich unter den Arm. Dann betrat erdas Starbucks-Café auf der anderen Seite derHalle, bestellte einen einfachen Espresso, ging

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damit an einen der Tische und schlug dieZeitung auf. Der Leitartikel sprang ihm sofortins Auge.

Tieropfer! Ritualmorde im »Ville«Möglicherweise Zusammenhang mit Voodoo- undSmithback-Mord Von Caitlyn Kidd

D’Agosta blickte auf den Espresso, der kaumden Boden des Pappbechers bedeckte. Was warbloß mit den vorgewärmten kleinen Tassenpassiert, in denen sie früher den Espressoservierten? Er kippte ihn hinunter, schmeckteihn aber kaum, drückte die Pappe flach undbegann zu lesen.Das musste er zugeben – als billig undreißerisch aufgemachte Story funktionierte derArtikel ganz gut. Nora Kelly und die Reporterinhatten sich abends zum Ville aufgemacht,waren über den Zaun gesprungen und hatten

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die ganze Sache gehört. Dann waren siedavongejagt worden, von wem oder was wurdezwar im Unklaren gelassen, aber die Reporterindeutete an, dass das Wesen wie ein Zombieausgesehen hatte. Zudem stellte sie die Frage,warum die Stadt es zugelassen habe, dass eineöffentliche Straße geschlossen wurde, und obTierschutzgesetze gebrochen worden seien. Dawaren Zitate aus Smithbacks Artikel über dasVille, Beschreibungen des vévé, das vor demMord vor seiner Wohnungstür deponiertworden war, wie auch des verrückten Zeugs,das am Tatort selbst aufgefunden worden war.Des Weiteren zitierte die Reporterin den Leitereiner Tierschutzorganisation, der deutlicheWorte gegen das Ville fand. Zwar behauptetesie nicht direkt, dass ein Zusammenhangzwischen dem Ville und dem Mord an Smithbackbestand, doch die Stoßrichtung des Artikelswar unverkennbar: Smithback hatteangefangen, über Tieropfer zu schreiben, unddie Absicht, weiter darüber zu schreiben. Unddann war da eine Zeile, die ihn besonders

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ärgerte und die typisch war für diese Art vonBerichterstattung. »Wiederholte Versuche,Lieutenant Detective Vincent D’Agosta, denleitenden Ermittlungsbeamten im MordfallSmithback, zu erreichen, blieben erfolglos.«Wiederholte Versuche. Eine Unverschämtheit.Sein Handy war Tag und Nacht eingeschaltet,und nach Feierabend hatte er die Büronummeraufs Handy umgeleitet. Jetzt, wo er darübernachdachte, hatte ihn diese Kidd ein-, vielleichtzweimal angerufen, aber wer hatte die Zeit,jeden Anruf zu beantworten? WiederholteVersuche, von wegen. Zweimal, das kam schoneher hin. Na, okay, vielleicht dreimal.Jetzt wusste er genau, warum Laura Haywardihn angerufen hatte.Der vorhergehende Artikel über Voodoo warein Scherz gewesen. Aber der hier enthielt einpaar harte Fakten, und die herzzerreißendeSchilderung des blökenden Tiers, dasgeschlachtet wurde, war ziemlich gelungen undwürde ihr Ziel erreichen. Tierschützer konnten,wie er wusste, ziemlich fanatisch sein.

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Die Titelmelodie von Spiel mir das Lied vom Todtönte durch den Coffeeshop. D’Agosta griff eilignach seinem Handy, klappte es auf und ginghinaus in die Eingangshalle.Der Commissioner.»Wir sprechen uns schon wieder«, sagteRocker.»Ja, Sir.«»Ich nehme an, Sie haben den Artikel im WestSider gelesen?«»Ja, Sir, habe ich.« Er versuchte, einenrespektvollen Ton anzuschlagen – als hätte dasGespräch am Vortag gar nicht stattgefunden.»Wie es scheint, bellen Sie bei Kline denfalschen Baum an, was, Lieutenant?« RockersStimme klang schroff und kühl.»Wir ermitteln in alle Richtungen.«»Und was ist Ihre Meinung? Ville oder Kline?«»Wie gesagt, wir verfolgen beide Spuren.«»Die Sache ist wirklich eingeschlagen wie eineBombe. Der Bürgermeister macht sich Sorgen.Ich bin gerade eben von der News und der Postangerufen worden. Ihre Bemerkung, dass Sie

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angerufen worden. Ihre Bemerkung, dass Siesich zum Stand der Ermittlungen nicht äußernwollen … Sie müssen da rausgehen, die Leuteberuhigen, Antworten geben.«»Ich werde eine Pressekonferenz abhalten.«»Tun Sie das. Vierzehn Uhr wäre eine gute Zeit.Konzentrieren Sie sich auf das Ville – und lassenSie Kline außen vor.« Ein Knacken, dann wardie Leitung unterbrochen.D’Agosta ging zurück ins Starbucks. »Geben Siemir einen vierfachen Espresso«, sagte er. »ZumMitnehmen.«

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Schon unter günstigen Umständen konnteD’Agosta Pressekonferenzen nicht ausstehen.Und jetzt waren die Umstände gar nichtgünstig. Es gab wenig zu berichten – und wases zu berichten gab, spottete jederBeschreibung. Während er durch die Tür in denPresseraum spähte – jeder Platz besetzt, dieReporter, die Kameraleute und die Offiziellenschrien alle übereinander hinweg –, tratPolizeichef Rocker neben ihn. »Sind Sie so weit,Lieutenant?«»Ja, Sir.« D’Agosta sah ihn an. Rocker trug denüblichen schwarzen Anzug und eine kleineNYPD-Anstecknadel am Revers. Als erD’Agostas Blick erwiderte, wirkte er nochmüder als üblich.»Denken Sie daran, was ich gesagt habe: KeinWort über Kline.«

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D’Agosta schluckte. Vergiss den Kaffee – erkönnte einen doppelten Bourbon gebrauchen,jetzt, sofort. Er hatte sowieso nicht vorgehabt,Kline zu erwähnen; er hatte doch keine Lust,wegen Verleumdung angeklagt zu werden.Während sie in den Presseraum gingen und dasPodium betraten, wurde der Lärm noch größer.Dutzende Blitzlichter flackerten auf. DerCommissioner trat auf das Pult zu, hob dieHände und bat um Ruhe. Es dauerte gut undgerne eine halbe Minute, bis die Reporterendlich Platz genommen hatten. Endlichräusperte er sich.»Detective Lieutenant D’Agosta, der dieErmittlungen im Mordfall Smithback leitet, wirdgleich ein paar Sätze zum aktuellen Standsagen. Anschließend können Sie Ihre Fragenstellen. Bevor Lieutenant D’Agosta das Wortergreift, möchte ich Sie alle darum bitten, dieÖffentlichkeit in verantwortlicher Weise überdiesen Fall zu informieren. Es handelt sich umein außergewöhnlich spektakuläresVerbrechen, das in der Stadt bereits große

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Unruhe ausgelöst hat. Jede zusätzliche Unruhekann nur weiteren Schaden anrichten.Lieutenant, wenn ich Sie nun bitten darf.«»Vielen Dank.« Als D’Agosta ans Mikrofon trat,war ihm beklommen zumute. Er blickte auf dasMeer von Gesichtern und schluckte. »Wie Sie jaalle wissen«, begann er, »ist William Smithback,wohnhaft in der Upper West Side, in dervergangenen Woche einem Mord zum Opfergefallen. Angehörige der Polizeibehördenhaben, unter meiner Leitung, in dem Fallaggressiv ermittelt. Infolgedessen haben sichzahlreiche Perspektiven in den Ermittlungeneröffnet. Wir verfolgen mehrere Spuren undsind zuversichtlich, den oder die Täter zeitnahidentifizieren und festnehmen zu können. Bisdahin möchten wir Sie bitten, falls jemand vonIhnen irgendwelche Informationen hat, die fürdie Ermittlungen von Wert sein können, sichumgehend mit der New Yorker Polizei inVerbindung zu setzen.« Er hielt kurz inne.»Bitten stellen Sie jetzt Ihre Fragen.«Sofort ging der Trubel wieder los. D’Agosta hob

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die Hände, um zur Ordnung aufzurufen. »BitteRuhe«, sagte er ins Mikrofon. »Ruhe!« Er trateinen Schritt zurück und wartete, bis eszumindest wieder einigermaßen ruhig im Saalwar. »Vielen Dank. Sie, hier vorne.« Er nickteeiner Frau mittleren Alters in einer gelbenBluse zu.»Was können Sie über dieses sogenannte Villesagen? Werden dort tatsächlich Tieropferungendurchgeführt?«»Es hat mehrere Beschwerden gegeben, dassaus der Gegend immer wieder Tiergeräuschekommen. Dies ist einer jener Bereiche, dieunter aktiver Beobachtung stehen. Ich solltevielleicht hinzufügen, dass wir keinenunmittelbaren Zusammenhang zwischen demVille und dem Mordfall Smithback herstellenkonnten.«»Apropos Mordfall Smithback«, fuhr die Fraufort, »liegen die Ergebnisse der Autopsiebereits vor? Was war die Todesursache?«»Ursächlich für den Tod war ein Messerstichins Herz.«

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Er blickte auf die versammelten Journalisten,die in die Luft gereckten Hände, die Lichterund Kameras und digitalen Aufnahmegeräte. Eswar ein seltsames Gefühl, zwischen den eifrigenMienen nicht Smithback zu sehen, rufend undgestikulierend, mit wippender Haartolle.»Ja.« Er zeigte auf einen Mann in der drittenReihe, der eine große, knallbunte Fliege trug.»Haben Sie die Identität des Mördersfestgestellt? Hat Fearing, der Nachbar,Smithback ermordet?«»Fearing war kein Nachbar. Er wohnte imselben Gebäude. Die Untersuchungen laufennoch, aber gegenwärtig deuten alle Indiziendarauf hin, dass, ja, Fearing definitiv einePerson von Interesse für unsere Ermittlungenist. Er befindet sich zurzeit auf freiem Fuß undgilt als flüchtig.« Will sagen, wenn eine Leicheals flüchtig betrachtet werden kann.»In welcher Verbindung steht Fearing mit demVille?«»Wir haben bislang noch keinenZusammenhang zwischen Fearing und dem

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Ville herstellen können.«Das Ganze lief besser, als er befürchtet hatte.Die Presseleute waren vergleichsweisezurückhaltend, fast respektvoll. Er nickte einerweiteren erhobenen Hand zu.»Was ist mit der Durchsuchung von KlinesBüro? Gilt er als tatverdächtig?«»Er gilt derzeit nicht als tatverdächtig.«D’Agosta vermied es, Rocker anzublicken. MeinGott, wieso schienen die Presseleute immeralles zu wissen?»Warum dann die Hausdurchsuchung?«»Tut mir leid. Über diesen Aspekt derErmittlungen kann ich nichts sagen.«Er deutete auf einen weiteren Reporter, aberplötzlich übertönte eine Stimme die anderen.D’Agosta wandte sich stirnrunzelnd danach um.Ziemlich weit vorn war ein Mann aufgestanden,groß gewachsen und intellektuell aussehend,mit feiner, gestreifter Seidenkrawatte, kurzem,blondem Haar und einer ungeheuerausgeprägten Kinnpartie.»Ich möchte wissen, was für echte Forschritte

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Sie gemacht haben«, sagte er mit lauter,schallender Stimme. Die Frage war so vage unddoch so aggressiv, dass D’Agosta kurz stockte.»Wie bitte?«»Bryce Harriman«, antwortete der Mann. »Vonder Times. Ein Kollege aus dem Kreise der NewYorker Journalisten – mein guter Freund BillSmithback – ist auf brutale Weise ermordetworden. Seither ist eine Woche vergangen.Lassen Sie es mich also auf andere Weiseformulieren: Warum sind so wenig Fortschrittegemacht worden?«Ein Murmeln ging durch die Menge. Ein paarLeute nickten zustimmend.»Wir haben echte Fortschritte gemacht. Aberich bin natürlich nicht befugt, Ihnen sämtlicheDetails zu erläutern.« D’Agosta merkte selbst,wie lahm seine Antwort klang, aber einebessere fiel ihm nicht ein.Allerdings nahm Harriman auch keine Notiz vonihm. »Es war eine Attacke auf einenJournalisten, der seiner Arbeit nachgegangenist«, erklärte er überschwenglich. »Ein Angriff

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auf uns, auf unseren Berufsstand.«Das zustimmende Murmeln wurde lauter.D’Agosta rief einen weiteren Journalisten auf,aber Harriman weigerte sich zu schweigen.»Was geht in diesem Ville vor?«, fragte er miterhobener Stimme.»Wie gesagt, wir haben keinerleiAnhaltspunkte, die darauf hindeuten, dass dasVille in –«Harriman schnitt ihm das Wort ab. »Warum istes diesen Leuten erlaubt, weiterhin öffentlichTiere zu quälen und zu töten – und vielleichtnicht nur Tiere? Lieutenant, sind Sie sichdarüber im Klaren, dass sich viele New Yorkerein und dieselbe Frage stellen: Warum hat diePolizei absolut nichts unternommen?«Plötzlich brach die Hölle unter den Reportenlos – sie stellten Fragen und gestikulierten, mitwütenden Mienen. Und während sich einernach dem anderen vom Stuhl erhob, nahmHarriman mit einem selbstgefälligen Ausdruckin seinem Patriziergesicht wieder Platz.

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Der Rolls fuhr durch ein großes, weißgestrichenes Tor, dann weiter auf einerkopfsteingepflasterten Zufahrt, die zwischenuralten Eichen verlief, bis unvermittelt eine ArtHerrenhaus in Sicht kam, umgeben vonNebengebäuden: Remise, Pavillon,Gewächshaus und eine große rote Scheune mitDachziegeln, ruhend auf einem uraltenNatursteinfundament. Dahinter erstreckte sicheine große, gepflegte Rasenfläche bis hinunterzur Bucht von Long Island, die im Morgenlichtglitzerte.D’Agosta pfiff durch die Zähne. »Mein Gott,geht’s nicht auch eine Nummer kleiner?«»Und dabei sind von unserem derzeitigenStandpunkt noch nicht einmal das Haus desVerwalters, der Hubschrauberlandeplatz unddie Forellenteiche zu sehen.«

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»Erinnern Sie mich noch mal daran, warum wirhier sind«, sagte D’Agosta.»Mr. Esteban zählt zu jenen Personen, die sichbesonders laut über das Ville beschwert haben.Ich bin gespannt, aus erster Hand zu erfahren,was er über das Ville denkt.«Auf ein Wort von Pendergast hin brachteProctor den Rolls vor der Scheune zum Stehen.Das Tor stand weit offen. Wortlos stiegPendergast aus und verschwand in dem hohen,weitläufigen Gebäude.»Hey, das Wohnhaus liegt da drüben …«D’Agosta sah sich nervös um. Was zum Teufelhatte Pendergast diesmal vor?Irgendwo hacktejemand Holz. Das Geräusch erstarb, und kurzdarauf kam ein Mann, eine Axt in der Hand,hinter dem Holzschuppen hervor. Gleichzeitigerschien Pendergast wieder aus dem Dunkelder Scheune.Der Mann kam herüber, die Axt noch immer inder Hand.»Sieht so aus, als hätten wir es hier mit einenechten Landmann zu tun«, murmelte D’Agosta,

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als Pendergast sich ihm wieder zugesellte.Der Mann war hoch gewachsen, trug einen kurzgeschnittenen graumelierten Bart, lange Haare,die auf den Kragen stießen, und hatte einekleine kahle Stelle auf dem Kopf. Trotz deshispanischen Nachnamens sah er soangelsächsisch aus wie nur irgendwer.Tatsächlich wirkte der Mann – bis auf dieFrisur – wie aus dem Land’s-End-Katalogentsprungen, mit seiner penibel gebügeltenFreizeithose, dem karierten Hemd und denArbeitshandschuhen; schlank und fit. Erwischte sich ein paar Holzspäne vom Hemd,legte die Axt über die Schulter und zog einenHandschuh aus, um ihnen die Hand zu geben.»Was kann ich für Sie tun?« Die melodiöseStimme hatte nicht den Hauch eines Akzents.Pendergast zückte seinen Dienstausweis.»Special Agent Pendergast, Federal Bureau ofInvestigation. Lieutenant Vincent D’Agosta,Mordkommission New York Police Department.«Esteban verengte die Augen und betrachtetemit geschürzten Lippen den Dienstausweis.

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Schließlich hob er den Kopf und blickte anihnen vorbei zum Rolls. »Netter Streifenwagen,den Sie da haben.«»Etatkürzung«, erwiderte Pendergast. »Manmuss nehmen, was man kriegt.«»Alles klar.«»Sie sind Alexander Esteban?«, fragteD’Agosta.»Korrekt.«»Wir würden Ihnen gern einige Fragen stellen,wenn Sie nichts dagegen haben.«»Haben Sie einen Durchsuchungsbeschluss?«»Wir bemühen uns um ein wenig Hilfe imZusammenhang mit dem Mord an WilliamSmithback, dem Journalisten von der Times«,sagte Pendergast. »Ich würde es als Gefallenbetrachten, wenn Sie unsere Fragenbeantworteten.«Esteban nickte und strich sich über den Bart.»Ich kannte Smithback. Ich werde alles inmeiner Macht Stehende tun, um Ihnen zuhelfen.«»Sie produzieren Filme, ist das korrekt?«,

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fragte Pendergast.»Das war einmal. Heute widme ich den größtenTeil meiner Zeit philanthropischenBestrebungen.«»Ich habe den Artikel über Sie in Mademoisellegelesen. Den, in dem Sie als der DeMille vonheute bezeichnet werden.«»Die Geschichte ist meine Leidenschaft.«Esteban lachte ein helles Lachen falscherBescheidenheit. Es funktionierte nicht.Plötzlich erinnerte sich D’Agosta: Esteban warder Typ, der diese reißerischen, kitschigenHistorienfilme produzierte. Den neuesten,Ausbruch aus Sing Sing, über den berühmtenAusbruch von 33 Häftlingen damals Anfang dersechziger Jahre, hatte er sich zusammen mitLaura Hayward angesehen. Ihnen beiden hatteder Film nicht gefallen. Und da war noch einer,an den er sich vage erinnerte: Die letzten Tageder Marie Antoinette.»Von größerem Interesse für uns ist dieOrganisation, die Sie leiten. ›Menschen helfenTieren‹, heißt sie nicht so?«

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Esteban nickte. »MHT, genau. Allerdings binich mehr das Sprachrohr, sozusagen. Einbekannter Name, der sich für eine gute Sachehergibt.« Er lächelte. »Vorsitzender ist RichPlock.«»Verstehe. Und Sie standen mit Mr. Smithbackin Kontakt wegen der Artikelserie, die er überdas Ville des Zirondelles schreiben wollte,gemeinhin bekannt unter dem Namen Ville?«»Unsere Organisation war besorgt wegen derBerichte, wonach dort Tieropfer stattfindenwürden. Diese Tieropferungen gibt es schonlange, aber es wurde ja nichts dagegenunternommen. Ich habe sämtliche Zeitungenangerufen, darunter die Times, und schließlichhat sich Mr. Smithback bei mir gemeldet.«»Wann war das?«»Mal sehen – ungefähr eine Woche bevor er denersten Artikel darüber veröffentlichte, glaubeich.«Pendergast nickte, dann verlor er offenbar dasInteresse an der Vernehmung.D’Agosta übernahm. »Erzählen Sie doch mal.«

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»Smithback rief mich an, und ich habe michdann in der Stadt mit ihm getroffen. Wir hattenein paar Informationen über das Villegesammelt – Beschwerden von Nachbarn,Augenzeugenberichte, denen zufolge lebendeTiere dort angeliefert wurden, Kaufurkundenund dergleichen –, und ich habe ihm dann dieKopien gegeben.«»Enthielten die irgendwelche Beweise?«»Jede Menge! Die Leute in Inwood hören schonseit Jahren, wie die Tiere gequält und getötetwerden. Die Stadt hat nichts, rein gar nichtsdagegen unternommen, und zwar aufgrundirgendwelcher politisch korrekterVorstellungen hinsichtlich Religionsfreiheitoder ähnlichem Blödsinn. Verstehen Sie michnicht falsch, ich bin absolut für die freieReligionsausübung – aber nicht, wenn dasbedeutet, Tiere zu quälen und zu töten.«»Hat sich Smithback Feinde gemacht, vondenen Sie wissen, als er diesen ersten Artikelüber Tieropfer veröffentlichte?«»Sicher hat er das – genauso wie ich. Diese

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Leute im Ville sind Fanatiker.«»Haben Sie irgendwelche konkretenInformationen darüber? Etwas, das man zuSmithback gesagt hat, Drohanrufe oder E-Mailsan ihn oder Sie, irgendetwas in der Art?«»Ich hatte mal etwas in der Post, einen Fetischoder so was. Ich hab das Ding weggeworfen.Keine Ahnung, ob es vom Ville kam – das Pakettrug allerdings den Poststempel von UpperManhattan. Diese Leute bleiben unter sich.Eine sehr, sehr sonderbare Gruppe.Cliquenhaft und abgeschottet, um es mildeauszudrücken. Hocken da auch schon seitEwigkeiten auf diesem Stück Land.«D’Agosta scharrte mit den Füßen auf denKopfsteinen und überlegte, was er noch fragenkonnte. Der Mann hatte nicht viel erzählt, wassie nicht schon wussten.Plötzlich meldete sich Pendergast wieder zuWort. »Ein wunderschönes Anwesen, das Siehier haben, Mr. Esteban. Halten Sie Pferde?«»Selbstverständlich nicht. Ich heiße dieVersklavung von Tieren nicht gut.«

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»Hunde?«»Tiere sind dazu da, in der freien Natur zuleben, nicht dazu, im Dienste des Menschenerniedrigt zu werden.«»Sind Sie Vegetarier, Mr. Esteban?«»Natürlich.«»Verheiratet? Kinder?«»Geschieden, keine Kinder. Aber hören Sie mal…«»Warum sind Sie Vegetarier?«»Das Töten von Tieren zur Befriedigungunserer Gelüste ist unethisch. Ganz zuschweigen davon, dass es schlecht für unserenPlaneten, Energieverschwendung und inmoralischer Hinsicht grässlich ist, wenngleichzeitig Millionen verhungern. Das istvergleichbar mit Ihrem abscheulichen Auto –verzeihen Sie, ich wollte Sie nicht beleidigen,aber es gibt keine Entschuldigung dafür, einensolchen Wagen zu fahren.« Estebans Lippenkräuselten sich missbilligend, und einenMoment lang erinnerte sein Gesicht D’Agostaan eine der Nonnen, die ihm in der Schule

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an eine der Nonnen, die ihm in der Schuleimmer eins mit dem Lineal auf die Finger gab,wenn er im Unterricht geschwatzt hatte. Erfragte sich, wie Pendergast die Antwort wohlaufnehmen würde, doch seine Miene bliebruhig und ungerührt.»Es gibt ziemlich viele Menschen in der StadtNew York, die einen Glauben praktizieren, zudem auch die Opferung von Tieren gehört«,sagte Pendergast. »Warum konzentrieren Siesich auf das Ville?«»Weil es sich um die ungeheuerlichste und amlängsten bestehende Sekte handelt. Wirmüssen irgendwo anfangen.«»Wie viele Mitglieder hat Ihre Organisation?«Esteban wirkte verlegen. »Nun, Rich ist derMann, der Ihnen die genaue Zahl nennen kann.Ich denke, wir haben ein paar hundertMitglieder.«»Sie haben die neuesten Geschichten im WestSider gelesen, Mr. Esteban?«»Das habe ich.«»Was halten Sie davon?«

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»Ich denke, dass die Reporterin da etwas aufdie Spur gekommen ist. Wie gesagt, diese Leutesind Spinner. Voodoo, Obeah … Wie ich höre,wohnen die da nicht mal legal, sondern sindirgendeine Art Hausbesetzer. Die Stadt solltediese Leute auf die Straße setzen.«»Und wo sollen sie dann hin?«Esteban lachte. »Die können sich von mir auszum Teufel scheren.«»Also halten Sie es für in Ordnung, Menschenin der Hölle zu quälen, aber nicht Tiere aufErden?«Das Lachen blieb Esteban im Halse stecken. Erbetrachtete Pendergast aufmerksam. »Das istdoch nur eine Redewendung, Mister …«»Pendergast.«»Mr. Pendergast. Sind wir hier fertig?«»Ich glaube nicht.«D’Agosta wunderte es, in Pendergasts Stimmeplötzlich eine deutliche Schärfe zu hören.»Nun, ich bin es.«»Glauben Sie an Vôdou, Mr. Esteban?«»Fragen Sie, ob ich glaube, dass Menschen

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Voodoo praktizieren, oder dass ich glaube, dassdieser Aberglaube tatsächlich wirkt?«»Beides.«»Ich denke, dass diese Eiferer im Ville Voodoopraktizieren. Glaube ich, dass sie Menschenvon den Toten auferwecken? Wer weiß. Es istmir egal. Ich möchte nur, dass sieverschwinden.«»Wer finanziert Ihre Organisation?«»Es ist nicht meine Organisation. Ich bin dortnur Mitglied. Wir erhalten viele kleine Spenden,aber um die Wahrheit zu sagen – ich bin dergrößte Geldgeber.«»Handelt es sich um eine gemeinnützigeOrganisation?«»Ja.«»Womit haben Sie Ihr Geld verdient?«»Ich habe Erfolg im Filmgeschäft gehabt – aberoffen gesagt, ich sehe nicht, dass Sie das etwasangeht.« Esteban nahm die Axt von derSchulter. »Ihre Fragen kommen mirunzusammenhängend und sinnlos vor,Mr. Pendergast, und ich bin es leid, sie zu

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beantworten. Würden Sie also bitte wieder inIhr Blechmonster steigen und sich von meinemGrundstück entfernen?«»Mit dem größten Vergnügen.« Pendergastverneigte sich halb und stieg mit leisemLächeln wieder zurück in den Rolls, D’Agostaebenso. Auf der Rückfahrt in die Stadt rutschteD’Agosta unruhig auf dem Sitz herum und zogein verdrießliches Gesicht. »Was für einselbstgerechter Arsch. Ich wette, er verputztblutige Steaks, wenn niemand in der Nähe ist.«Pendergast hatte aus dem Fenster geblickt undsich irgendwelchen persönlichen Überlegungenhingegeben. Jetzt wandte er sich um. »Nun,Vincent, das gehört wohl zu deneinsichtsvollsten Bemerkungen, die ich heutevon Ihnen gehört habe.« Er zog einStyroporbehältnis aus der Anzugtasche,entfernte den Deckel und reichte es D’Agosta.Darin befand sich ein blutiger Absorbier-Pad,zweimal gefaltet, dazu ein Etikett, das auf

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einem abgerissenen Stück Plastikfolie klebte.Das Ganze roch nach ranzigem Fleisch.D’Agosta reichte das Ding schnell zurück. »Waszum Teufel ist das?«»Ich habe es im Mülleimer gefunden, in derScheune. Laut diesem Etikett enthielt es frühereinmal einen Premium-Lammrücken, das Kilo zufünfundzwanzig neunundneunzig.«»Nein wirklich?«»Ausgezeichneter Preis für so ein Stück. Ichwar versucht, Mr. Esteban zu fragen, zuwelchem Metzger er geht.« Und damit schlossPendergast das Behältnis wieder, legte es aufden Ledersitz zwischen ihnen, lehnte sichzurück und setzte seine Betrachtung dervorbeiziehenden Landschaft fort.

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Nora Kelly bog um die Ecke der Fifth Avenueund ging die West 53. Straße hinunter; ihr warbang zumute. Vor ihr wirbelten braune undgelbe Blätter am Eingang zum Museum ofModern Art vorbei. Es dämmerte, in der kühlenLuft lag schon ein Hauch des bevorstehendenWinters. Sie hatte einen Umweg vom Museumgenommen – erst den Bus durch den CentralPark, dann die U-Bahn –, in der etwas abartigenHoffnung, der Verkehr könntezusammenbrechen oder dass es wenigstenseinen Stau gab, irgendetwas, das ihr eineAusrede liefern würde, dem Bevorstehendenaus dem Weg zu gehen. Doch der öffentlicheNahverkehr hatte deprimierend gutfunktioniert.Und jetzt war sie da, nur wenige Schritte vonihrem Ziel entfernt.

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Unwillkürlich verlangsamte sie ihre Schritteund blieb stehen. Dann griff sie in ihreHandtasche und zog das cremefarbene Kuverthervor, per Hand adressiert an WilliamSmithback jr. und Gast. Schließlich zog sie diedarin befindliche Karte heraus und las sievielleicht zum hundertsten Mal.

Sie sind herzlich eingeladen zur Verleihung des127. Journalistenpreises durch den Gotham

Press Club25 West 53. Straße, New York City

15. Oktober, 19.00 Uhr

Sie hatte mehr als genug von diesenVeranstaltungen besucht, diese für Manhattanso typischen Feiern mit reichlichAlkoholkonsum, Klatsch und dem üblichengegenseitigen Übertrumpfen unterJournalisten. Sie hatte sich nie mit diesengesellschaftlichen Veranstaltungen anfreundenkönnen. Und diese würde schlimmer als normalwerden; unendlich viel schlimmer. Diegedrückten Hände, die geflüsterten

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Beileidsbezeugungen, die Blicke derAnteilnahme … schon bei dem Gedanken daranwurde ihr flau im Magen. Sie hatte allesErdenkliche getan, um ebendiesen Dingen imMuseum aus dem Weg zu gehen.Und doch, sie hatte die Einladung annehmenmüssen. Bill war … wäre in einer derPreiskategorien nominiert. Und er hatte diesegeselligen Gelage ja immer geliebt. Sie hätteihm das Gedenken verweigert, wenn sie nichthingegangen wäre. Sie holte tief Luft, stopftedie Einladung in die Handtasche zurück undschritt weiter. Sie war noch immer innerlichganz aufgewühlt nach ihrem Besuch mit Caitlynim Ville am vorgestrigen Abend: diefurchtbaren Schreie des Schafs, das Wesen, dassie beide verfolgt hatte. War das Fearinggewesen? Weil sie unsicher war, hatte sieD’Agosta den Vorfall verschwiegen. Aber dieErinnerung daran ließ sie nicht los und machtesie schreckhaft. Vielleicht brauchte sie ja genaudas hier: ausgehen, sich unter Menschenbegeben, es hinter sich bringen.

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Der Gotham Press Club befand sich in einemschmalen Gebäude mit einer Fassade ausextravagantem Rokoko-Marmor. Nora stieg dieTreppe hinauf und trat durch die zweiflügligeTür aus Gussbronze, gab an der Garderobeihren Mantel ab und bekam dafür eineQuittung. Vor ihr, aus Richtung der HoraceGreeley Banquet Hall, hörte sie Musik,Gelächter und Gläserklirren. Das bange Gefühlwurde stärker. Sie rückte den Riemen ihrerSchultertasche zurecht, ging über den dickenroten Teppich und betrat den eichengetäfeltenSaal.Der Festakt hatte eine Stunde zuvor begonnen,und der große Raum war brechend voll. DerLärm war ohrenbetäubend, jeder redete mitjedem über einen anderen, um sicherzugehen,dass kein Bonmot ungewürdigt blieb.Mindestens ein halbes Dutzend Bars zogen sichdie Wänden entlang. JournalistischeVeranstaltungen wie diese waren berüchtigteBacchanale. An der rechten Wand war eineprovisorische Bühne errichtet worden, auf der

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ein mit Mikrofonen bestücktes Pult stand. Siebahnte sich einen Weg durch die Menge undentfernte sich von der Tür in Richtung deshinteren Bereichs. Wenn sie sich in eine Eckeverzog, könnte sie die Veranstaltung womöglichin Ruhe verfolgen, ohne allzu viele Tränen zuvergießen …Wie aufs Stichwort unterstrich ein in der Nähestehender Mann irgendeinen Punkt in seinerRede mit weit ausholender Geste und stieß ihrden Ellbogen in die Rippen. Er drehte sich umund sah sie wütend an, dann erkannte er sie.Fenton Davies, Bills Chef bei der Times.Mehrere von Bills Kollegen standen imHalbkreis um ihn herum.»Nora!«, rief er. »Wie schön, dass Siegekommen sind. Ihr Verlust tut uns allen soschrecklich, schrecklich leid. Bill war einer derBesten – ein hervorragender Reporter und einfabelhafter Mensch.«Ein Chor der Zustimmung erhob sich aus demKreis der Reporter.Nora blickte in die mitfühlenden Mienen. Am

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liebsten hätte sie Reißaus genommen. Aberdann rang sie sich ein Lächeln ab. »Danke. Dasbedeutet mir sehr viel.«»Ich habe versucht, Sie zu erreichen. Haben Siemeine Nachrichten denn nicht abgehört?«»Doch, tut mir leid. Es gab so viele Details, diegeklärt werden mussten …«»Natürlich, natürlich. Ich verstehe. Keine Eile.Es ist nur so …«, hier senkte Davies die Stimmeund legte die Lippen an ihr Ohr, »… die Polizeiist an uns herangetreten. Offenbar glaubt mandort, dass es etwas mit seiner Arbeit zu tunhaben könnte. Sollte das der Fall sein, müssenwir von der Times das wissen.«»Ich rufe Sie an, ganz bestimmt, sobald … ichein wenig besser klarkomme.«Davies richtete sich auf und fuhr in seinemnormalen Tonfall fort. »Außerdem haben wirdarüber gesprochen, dass man Bill ein Denkmalsetzen sollte. Den William-Smithback-Preis fürKompetenz oder so was in der Art. Auchdarüber würden wir uns gern mit Ihnenunterhalten, wenn Sie die Gelegenheit dazu

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haben.«»Gewiss.«»Wir sagen allen Bescheid und sammelnSpenden. Vielleicht könnte die Preisverleihungsogar im Rahmen der alljährlichenVeranstaltung hier stattfinden.«»Das wäre wirklich toll. Bill hätte sich sehrdarüber gefreut.«Davies fasste sich leicht an die Glatze undnickte erfreut.»Ich hole mir nur etwas zu trinken«, sagteNora. »Ich komme dann später wieder zu Ihnenallen zurück.«»Soll ich Sie …«, ertönten mehrere Stimmen.»Das geht schon in Ordnung, danke. Ich kommewieder.« Und während sie noch einmal lächelte,entschwand Nora in der Menge.Sie schaffte es, in den rückwärtigen Bereichdes Saals zu gelangen, ohne jemand anderemzu begegnen. Dort stellte sie sich an die Barund bemühte sich, ihre Atmung in den Griff zubekommen. Sie hätte auf keinen Fallhierherkommen dürfen. Gerade wollte sie

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etwas zu trinken bestellen, da fasste jemand sieam Arm. Sie erschrak. Und als sie sichumdrehte, sah sie – Caitlyn Kidd.»Ich war mir nicht sicher, ob Sie hier seinwürden«, sagte Caitlyn.»Haben Sie sich von der Aufregung erholt?«»Klar.« Aber so richtig erholt wirkte sie nicht –sie war blass und schien abgespannt.»Ich verleihe den ersten Preis im Namen desWest Sider«, sagte Caitlyn. »Ich muss jetzt alsoda rauf. Wir sollten uns noch mal zusammentun,bevor Sie gehen. Ich habe eine Idee für unserennächsten Schritt.«Nora nickte, worauf Caitlyn ihr zulächelte undzuwinkte und in der Menge verschwand.Nora wandte sich zum Barkeeper um undbestellte einen Drink, dann zog sie sich aneinen Ort in der Nähe zurück, unmittelbar vorden Bücherborden an der rückwärtigen Wand.Von dort, zwischen einer Büste von WashingtonIrving und einem Foto von Ring Lardner mitAutogramm sah sie der lärmendenVersammlung zu und nippte ruhig an ihrem

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Cocktail.Sie blickte zum Podium hinüber. Interessant,dass der West Sider einen der Preise spendete.Kein Zweifel, das rauflustige Boulevardblattversuchte, sich einen seriösen Anstrich zugeben. Interessant auch, dass Caitlyn diePräsentation vornahm …In dem Stimmengewirr wurde ihr Namegerufen. Stirnrunzelnd ließ Nora den Blick überdie Menge schweifen. Wer war das gewesen?Da, ein etwa vierzigjähriger Mann, der ihrzuwinkte. Einen Augenblick konnte sie ihnnicht unterbringen. Dann erinnerte sie sich andie patrizischen Gesichtszüge und die Yuppie-Garderobe: Bryce Harriman. Bills Gegenspielersowohl während seiner Zeit bei der Post alsauch bei der Times. Zwischen ihr und Harrimanstanden mindestens ein Dutzend Leute,weshalb es ein, zwei Minuten dauern würde, biser sich zu ihr durchgekämpft hatte.Sie war ja bereit, mit all den Leuten zu reden,aber mit Harriman – das war zu viel. Sie stelltedas halb leere Glas ab, duckte sich hinter einen

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dicklichen Mann, der in der Nähe stand, undmischte sich unter die Menge. Hauptsache,Harriman konnte sie nicht sehen.Im selben Moment wurde das Licht im Saalgedimmt, und ein Mann betrat die Bühne. DieMusik verklang, der Lärm der Menge verebbte.»Meine Damen und Herren!«, rief der Mannund ergriff mit beiden Händen das Rednerpult.»Herzlich willkommen zur Feier der Verleihungder alljährlichen Preise des Gotham Press Club.Mein Name ist Oddon McGeorge, und ich leitein diesem Jahr den Nominierungsausschuss. Ichfreue mich, Sie alle hier zu sehen. Wir haben fürSie einen wundervollen Abend vorbereitet.«Nora machte sich auf eine weitschweifigeEinführung gefasst, voller Insider-Anekdotenund lahmer Witze.»Ich würde liebend gern hier stehen, schlechteWitze reißen und über mich sprechen«, sagteOddon. »Aber wir haben heute Abend vielePreise zu überreichen. Fangen wir also gleichdamit an!« Er zog eine Karte aus derJacketttasche und überflog sie rasch. »Unser

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erster Preis wird in diesem Jahr zum ersten Malverliehen: der Jack-Wilson-Donohue-Preis fürinvestigativen Journalismus, gespendet vomWest Sider. Und hier ist, um die mitfünftausend Dollar dotierte Auszeichnung imNamen des West Sider zu präsentieren, dieIkone des Lokaljournalismus höchstselbst:Caitlyn Kidd!«Während Nora zuschaute, betrat Caitlyn unterlautem Applaus, lärmenden Hochrufen und einpaar Pfiffen die Bühne. Sie schüttelte Oddondie Hand, dann nahm sie eines der Mikrofoneaus der Halterung. »Danke, McGeorge.« Siewirkte ein wenig nervös angesichts der großenZuhörerschaft, aber ihre Stimme klang kräftigund klar. »Der West Sider ist so jung wie dieserClub alt«, begann sie. »Manche Leute sagen, zujung. Tatsache aber ist, dass ich michüberglücklich schätze, an diesem Abendteilnehmen zu dürfen. Und mit dieser neuenAuszeichnung lassen wir unseren Worten Tatenfolgen!«Eine Lawine von Jubel.

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Eine Lawine von Jubel.»Es werden jede Menge Preise fürhervorragende journalistische Leistungenverliehen«, fuhr sie fort. »Bei den meisten gehtes um die Qualität des gedruckten Worts.Vielleicht auch um Zeitlosigkeit. Oder – wageich zu sagen – politische Korrektheit.«Applaus, Hört!-Hört!-Rufe, einzelne Pfiffe.»Aber wie wär’s, einen Preis für puren Mummzu verleihen? Für die pure Hartnäckigkeit, alleszu tun, was notwendig ist, um die Story zukriegen, sie richtig hinzukriegen, soforthinzukriegen. Dafür, dass man – na, undwennschon – frech ist, cojones hat.«Diesmal erschütterten die Rufe und derApplaus die Grundfesten des Saals.»Weil es uns beim West Sider nämlich genaudarum geht. Sicher, wir sind eine jungeZeitung. Aber das macht uns alle nur umsohungriger.«Noch während die letzte Runde des Applausesverebbte, entstand an einem Ende des Saals einTumult.

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»Und darum ist es nur recht, dass der WestSider diesen neuen Preis spendet.«Ein seltsames Erschauern – halb Seufzen, halbStöhnen – ging durch den Saal. Nora blickteüber das Meer von Köpfen. Drüben, neben demEingang, wichen die Leute zurück, machteneinen Bereich frei. Sie hörte, wie Einzelne nachLuft rangen, vereinzelte Ausrufe desEntsetzens.Was zum Teufel war da los?»Abgesehen davon …« Caitlyn hielt mitten imSatz inne, denn auch sie hatte die Unruhebemerkt. Sie blickte in Richtung Eingang. »Hm,einen Moment …«Die seltsame Welle in der Menge, die einen Wegzur Bühne freimachte, wuchs an. In der Mitteder Gasse stand eine Gestalt, vor der die Leuteoffenbar zurückwichen. Schreie, noch mehrzusammenhanglose Rufe. Dann – am bizarrstenvon allem – wurde es plötzlich ganz still im Saal.In die Stille hinein sagte Caitlyn Kidd: »Bill?Smithback?«Die Gestalt war nach vorn gewankt und näherte

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sich jetzt der Bühne. Nora starrte hin – danngeriet sie fast körperlich ins Taumeln.Es war Bill. Er trug ein loses grünesKrankenhaushemd, am Rücken offen. SeineHaut war auf hässliche Weise bleich, seinGesicht und die Hände waren mit verkrustetemBlut bedeckt. Er war auf fürchterliche,grauenhafte Art verändert, eine Erscheinungirgendwo aus dem Jenseits, die auf schrecklicheArt derjenigen ähnelte, die sie aus dem Villeverfolgt hatte. Und doch gab es keinen Zweifel:die Tolle, die aus dem Schopf verfilzter Haarehervorragte, die schlaksigen Glieder.»Gott«, hörte sich Nora stöhnen. »O Gott –«»Smithback!«, rief Caitlyn mit schriller Stimme.Nora blieb wie angewurzelt stehen. Caitlynkreischte – ein Laut, der die Luft des Saalsgleich einer Rasierklinge durchschnitt. »Dubist’s!«, rief sie.Die Gestalt stieg auf die Bühne, bewegte sichschlurfend, ziellos. Die Hände baumelten losean den Seiten herunter. Eine Hand umfassteein schweres Messer, dessen Klinge unter der

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dicken Blutschicht kaum zu sehen war.Caitlyn wich zurück und kreischte jetzt vorblanker Angst.Während Nora hinstarrte, außerstande, sich zurühren, wankte die Gestalt ihres Mannes dieletzte Stufe hinauf und torkelte mitten über dieBühne.»Bill!« Caitlyn wich gegen das Rednerpultzurück, ihre Stimme ging in den lauterwerdenden Schreien der Menge fast unter. »Sowarte doch! Mein Gott, nein! Nicht ich! NEIN –«Die Hand mit dem Messer verharrte, zitterte,hoch erhoben. Dann stieß sie zu – mitten inCaitlyns Brust, hob sich wieder, stieß zu, einejähe Fontäne Blut spritzte auf den schorfigenArm, der zustieß, wieder erhoben wurde,wieder zustieß. Und dann drehte sich dieGestalt um und floh hinter die Bühne, und Noraspürte, dass sie weiche Knie bekam und eineSchwärze sie verschlang, die sie ganz und garüberwältigte und alles auslöschte.

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Im Flur roch es nach Katze. D’Agosta gingweiter, bis er das Apartment 5D gefundenhatte. Er betätigte den Summer und horchte.Von drinnen hörte er das Schlurfen vonHausschuhen, dann verdunkelte sich der Spion,ein Auge wurde dagegengedrückt.»Wer ist da?«, ließ sich eine zittrige Stimmevernehmen.»Lieutenant Vincent D’Agosta.« Er hielt seinenDienstausweis hoch.»Halten Sie ihn näher, ich kann ihn nichtlesen.«Er hielt ihn dicht an den Spion.»Treten Sie ins Blickfeld, ich möchte Sie miransehen.«D’Agosta stellte sich mitten vor den Spion.»Was wollen Sie?«»Mrs. Pizzetti, wir haben vorhin miteinander

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telefoniert. Ich ermittle im Mordfall Smithback.«»Mit Mördern habe ich nichts zu schaffen.«»Ich weiß, Mrs. Pizzetti. Aber Sie haben sichbereit erklärt, mit mir über Mr. Smithback zusprechen, der Sie für die Times interviewt hat.Erinnern Sie sich?«Langes Warten. Dann hörte er, wie zwei, dreiRiegel gelöst, eine Kette zurückgezogen undeine Querstange entfernt wurde. Die Tür, diemit einer zweiten Kette gesichert war, öffnetesich einen Spaltbreit.Wieder hielt D’Agosta seinen Dienstausweishoch, ein Paar kleiner Augen studierte denAusweis.Die letzte Kette wurde rasselnd zurückgezogen,die Tür geöffnet. Die kleine alte Dame sah soaus, wie D’Agosta sie sich vorgestellt hatte:zerbrechlich wie eine Porzellantasse, derBademantel von einer blaugeäderten Hand festumklammert, die Lippen aufeinandergepresst.Augen so schwarz und hell wie die einer Maus,die ihn von oben bis unten musterten.Um zu vermeiden, dass ihm die Tür vor der

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Nase zugeschlagen wurde, trat er hastig ein.Eine altmodische Wohnung, in der tropischeTemperaturen herrschten, groß undvollgestopft mit Ohrensesseln und geklöppeltenZierdeckchen, Fransen-Lampen, Nippes undKrimskrams. Und Katzen. Natürlich.»Darf ich?« Er wies auf einen Stuhl.»Wer hält Sie davon ab?«D’Agosta entschied sich für den am wenigstentief aussehenden Sessel – und sank trotzdemalarmierend tief ein, wie in Treibsand. Sofortsprang eine Katze auf die Lehne und begann,laut zu schnurren und einen Buckel zu machen.»Runter, Scamp, und lass den Mann in Ruhe.«Mrs. Pizzetti sprach mit ausgeprägtem Queens-Akzent.Natürlich parierte die Katze nicht. D’Agostakonnte Katzen nicht leiden. Sanft stieß er siemit dem Ellbogen an. Sie schnurrte nur lauter,weil sie glaubte, gleich gestreichelt zu werden.»Mrs. Pizzetti.« Er zog sein Notizbuch hervorund versuchte, die Katze zu ignorieren, dieüberall auf seinem brandneuen Anzug Haare

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hinterließ. »Wie ich höre, haben Sie am drittenOktober mit William Smithback«, er konsultierteseine Notizen, »über …«»Ich erinnere mich nicht, wann das war.« Sieschüttelte den Kopf. »Es wird einfach immerschlimmer.«»Können Sie mir sagen, worüber Sie sichunterhalten haben?«»Ich habe nichts mit einem Mord zu tun.«»Das weiß ich. Sie gelten natürlich nicht alstatverdächtig. Also, Sie haben sich mitMr. Smithback getroffen …?«»Er hat mir ein kleines Geschenk mitgebracht.Mal sehen …« Sie begann in der Wohnungherumzusuchen, bis ihre gichtige Handschließlich auf einer kleinen Porzellankatze zumRuhen kam. Sie kam mit der Katze hinüber zuD’Agosta und legte sie ihm auf dieOberschenkel. »Die hat er mir mitgebracht.Chinesisch. So was bekommt man unten in derCanal Street.«D’Agosta drehte den Nippes in der Hand. DieseSeite an Smithback kannte er nicht: kleinen

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alten Damen Geschenke mitzubringen, sogargriesgrämigen wie Mrs. Pizzetti. Natürlich hatteer das wohl nur getan, um das Interview zubekommen.»Sehr hübsch.« Er stellte die Porzellankatze aufeinen Beistelltisch. »Worüber haben Sie mitMr. Smithback gesprochen, Mrs. Pizzetti?«»Über diese schrecklichen Tiermörder dadrüben.« Sie zeigte in Richtung desnächstgelegenen Fensters.»Erzählen Sie mir bitte, was Sie ihm gesagthaben.«»Na! Nachts, wenn der Wind vom Flussherüberkommt, hört man doch die Schreie,schreckliche Laute, Tiere, die abgeschlachtetwerden, denen man die Kehle durchschneidet!«Sie hob die Stimme, wobei sie den letztenHalbsatz mit einem gewissen Genussaussprach. »Jemand sollte denen mal die Kehledurchschneiden.«»Ist Ihnen irgendetwas Spezielles aufgefallen,gab es irgendwelche besonderen Vorfälle?«»Ich habe Mr. Smithback von dem Lieferwagen

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erzählt.«D’Agosta spürte, wie sein Herz schnellerschlug. »Dem Lieferwagen?«»Jeden Donnerstag, man kann fast die Uhrdanach stellen. Um fünf Uhr abends kommt erraus. Und um neun fährt er wieder rein.«»Heute ist Donnerstag. Haben Sie denLieferwagen heute schon gesehen?«»Aber gewiss, genauso wie jedenDonnerstagabend.«D’Agosta stand auf und trat ans Fenster. Esging nach Westen hinaus, zur Rückseite desGebäudes. Er war dort selbst herumgegangenund hatte die Gegend vor der Befragung kurzerkundet. Unten war eine alte Straße zusehen – offenbar führte sie ins Ville –, dieentlang der Sportplätze verlief und im Waldverschwand.»Aus diesem Fenster?«, fragte er.»Sehen Sie ein anderes? Natürlich aus demFenster.«»Irgendwelche Beschriftungen auf demLieferwagen?«

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»Keine, soweit ich das erkennen konnte. Nurein weißer Lieferwagen.«»Modell, Fabrikat?«»Ich kenne mich in solchen Sachen nicht aus. Erist weiß, dreckig. Alt. Eine Schrottkarre.«»Haben Sie jemals den Fahrer gesehen?«»Wie soll ich denn von hier oben jemandensehen? Aber wenn ich nachts das Fensteraufmache, hör ich manchmal Geräusche ausdem Lieferwagen. Deshalb bin ich überhauptnur auf ihn aufmerksam geworden.«»Geräusche? Was für Geräusche?«»Blöken. Wimmern.«»Tierlaute?«»Gewiss, Tierlaute.«»Darf ich?« Er zeigte zum Fenster.»Und die kalte Luft reinlassen? Sie sollten malmeine Heizkostenrechnung sehen.«»Nur einen Moment.« Ohne die Antwort deralten Dame abzuwarten, schob er das Fensterhoch – es war leichtgängig – und beugte sichhinaus. Ein kühler, ruhiger Herbstabend. Eswar glaubhaft, dass sie Geräusche aus dem

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Lieferwagen hörte, wenn diese denn laut genugwaren.»Hören Sie, wenn Sie frische Luft schnappenwollen, dann machen Sie das gefälligst aufKosten von jemand anderem.«D’Agosta schloss das Fenster. »Wie gut hörenSie, Mrs. Pizzetti? Tragen Sie ein Hörgerät?«»Wie gut hören Sie, Officer?«, entgegnete siebarsch. »Mein Gehör ist tadellos.«»Fällt Ihnen sonst noch etwas ein, was SieMr. Smithback erzählt haben – oderirgendetwas anderes über das Ville?«Sie zögerte. »Die Leute reden davon, dass siedort irgendetwas gesehen hätten, das dadrüben, innerhalb der Umzäunung,herumwandert.«»Etwas? Ein Tier?«Sie zuckte mit den Schultern. »Und dannkommen nachts manchmal Leute aus dem Ville.In dem Lieferwagen. Sind die ganze Nacht wegund kommen morgens zurück.«»Oft?«»Zwei-, dreimal im Jahr.«

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»Haben Sie eine Idee, was die Leutevorhaben?«»O ja. Sie rekrutieren Mitglieder. Für ihreSekte.«»Woher wissen Sie das?«»Das sagen jedenfalls die Leute hier im Viertel.Die Alteingesessenen.«»Welche Leute im Besonderen, Mrs. Pizzetti?«Sie zuckte mit den Achseln.»Können Sie mir Namen nennen?«»O nein. Ich ziehe doch nicht meine Nachbarnin diese Sache hinein. Die würden michumbringen.«Allmählich ärgerte sich D’Agosta über dieschwierige alte Dame. »Was wissen Sie sonstnoch?«»Ich erinnere mich an nichts anderes. Außer anKatzen. Er mochte Katzen sehr gern.«»Wer?«»Dieser Reporter, Smithback. Wer sonst?«Mochte Katzen sehr gern. Smithbackbeherrschte seinen Beruf und wusste, wie mandas Vertrauen von Leuten gewann, eine

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das Vertrauen von Leuten gewann, eineBeziehung zu ihnen herstellte. D’Agostaerinnerte sich, dass Smithback Katzen nichtausstehen konnte. Er räusperte sich und sahauf die Uhr. »Der Lieferwagen kommt also ineiner Stunde.«»Immer, auf die Minute.«Kaum hatte er das Gebäude verlassen, atmeteer die abendliche Luft tief ein. Alles ruhig,grün. Kaum zu glauben, dass das hier nochManhattan-Island war. Er blickte auf die Uhr:kurz nach acht. Weiter unten an der Straßehatte er ein Diner gesehen; er würde einenKaffee trinken und warten. Der Lieferwagen kam pünktlich auf die Minute,ein Chevy Express, Baujahr 97, bis auf dieWindschutzscheibe waren alle Scheiben dunkelgetönt, eine Leiter verlief bis aufs Dach.Langsam fuhr der Wagen von der West 214. aufdie Indian Road, weiter am Häuserblock vorbei,und bog dann in die Stichstraße, die zum Villeführte. Vor der Kette mit dem Vorhängeschloss

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hielt er an.D’Agosta passte seine Schritte so ab, dass erhinter dem Lieferwagen die Straße überquerte,als die Fahrertür aufging. Ein Mann stieg aus,trat ans Vorhängeschloss und sperrte es auf.D’Agosta konnte es in dem schummrigen Lichtnicht klar erkennen, aber der Mann schienaußergewöhnlich groß zu sein. Er trug einenlangen Mantel, der fast antik aussah, wie auseinem Western. D’Agosta blieb stehen, stecktesich eine Zigarette an, hielt den Kopf dabeigesenkt. Als die Kette auf dem Boden lag, kamder Mann zurück, stieg in die Fahrerkabine,steuerte den Lieferwagen über die Kette undhielt wieder an.D’Agosta ließ die Zigarette fallen und ranntevor, damit der Lieferwagen zwischen ihm unddem Mann blieb. Er horchte, während derFahrer die Kette wieder anhob, dasVorhängeschloss anbrachte und zur Wagentürzurückkehrte. Dann schlich D’Agosta leichtgehockt um die Rückseite des Lieferwagens,trat auf die Stoßstange und packte die Leiter.

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Das hier war öffentlicher Grund und Boden, ergehörte der Stadt. Es gab keinen Grund,warum ein Gesetzeshüter draußen bleibensollte, solange er nicht unbefugt privateGebäude betrat.Der Lieferwagen startete, der Fahrer fuhrvorsichtig und langsam. Sie ließen die trübenLichter von Upper Manhattan hinter sich, undschon bald befanden sie sich zwischen dendunklen, stummen Bäumen des Inwood HillParks. Zwar waren die Fenster festgeschlossen, aber die Geräusche, dieMrs. Pizzetti erwähnt hatte, waren für D’Agostanur allzu klar zu identifizieren: ein Chor ausSchreien, Blöken, Miauen, Bellen, Gackernund – noch grauenhafter – dem verängstigtenWiehern eines neugeborenen Fohlens. Alleinschon beim Gedanken an diebemitleidenswerten Tiere und das Schicksal,das ihnen nur allzu deutlich bevorstand,überkam D’Agosta die blanke Wut.Der Lieferwagen erklomm eine Anhöhe, fuhrhinunter, hielt an. D’Agosta hörte den Fahrer

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aussteigen. Gleichzeitig sprang er von derRückseite des Lieferwagens, spurtete in dennahe gelegenen Wald und verschwand darin.Geschützt vom dunklen Blattwerk ging er in dieHocke und blickte in Richtung desLieferwagens. Der Fahrer schloss ein altes Torin einem Maschendrahtzaun auf, das Gesichtwar im Scheinwerferlicht ganz kurz zu sehen.Der Mann hatte eine blasse Gesichtsfarbe undauffallend fein geschnittene, fastaristokratische Züge.Der Lieferwagen fuhr durchs Tor; abermalserschien der Mann und verschloss es; dannstieg er wieder in den Lieferwagen und fuhrweiter. Als D’Agosta aufstand und sich dieBlätter abklopfte, zitterten ihm die Hände vorlauter Wut. Jetzt konnte ihn nichts mehr davonabhalten, dort reinzugehen, denn all diesenTieren drohte höchste Gefahr. Er war einGesetzeshüter in Ausübung seiner Pflichten.Als Kommissar der Mordkommission trug ermeist keine Uniform; er holte seinenDienstausweis hervor und steckte ihn ans

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Revers, kletterte über den Maschendrahtzaunund ging die Straße hinunter, dorthin, wo dieHeckleuchten des Lieferwagens verschwundenwaren.Die Straße beschrieb eine Kurve, dahinter sahD’Agosta undeutlich den Turm einer großen,grob gezimmerten Kirche, die von einerunordentlichen Ansammlung funzeliger Lichterumgeben war.Nachdem eine Minute vergangen war, blieb ermitten auf der Straße stehen, wandte sich umund spähte in die Dunkelheit. Irgendein Cop-Instinkt sagte ihm, dass er nicht allein war. Erzog seine Stablampe hervor und leuchtetedamit die Baumstämme und die Büsche mitihren trockenen, raschelnden Blättern an.»Wer ist da?«Stille.D’Agosta schaltete die große Taschenlampeaus, steckte sie wieder ein und spähte weiterins Dunkel. Der matte Schein einesViertelmondes erhellte die Nacht, so dass esschien, als schwebten die Stämme der Buchen

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wie lange schorfige Beine in der Dunkelheit. Erhorchte. Da war etwas. Er spürte es – und jetzthörte er es auch. Ein leises Rascheln feuchterBlätter, das Knacken eines Zweigs.Er griff nach seinem Revolver und rief sofort:»Ich bin Beamter der New Yorker Polizei.Treten Sie bitte auf die Straße.« DieTaschenlampe ließ er ausgeschaltet – ohne siekonnte er tiefer in das Dunkel hineinsehen.Da erblickte er, so gerade eben, eine helleGestalt, die sich mit sonderbar schlurfendenBewegungen durch die Bäume bewegte. Sieduckte sich in ein dichtes Gebüsch und warnicht mehr zu sehen. Ein merkwürdigesStöhnen drang aus dem Wald, unartikuliert unddüster, als käme es aus einem klaffendenMund: aaaaahhhhhuuuu …Er zog die Taschenlampe aus dem Holster,schaltete sie ein und leuchtete damit zwischendie Bäume. Nichts.Das hier war Bullshit. Irgendwelche Jungstrieben ihr Spielchen mit ihm.Mit langen Schritten ging er in Richtung des

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Gebüschs und leuchtete hinein. Ein großesUntergehölz aus überwachsenen Azaleen undBerglorbeer, das sich fast hundert Meter weiterstreckte – er blieb kurz stehen, dann ging errein.Plötzlich hörte er rechts das Geraschel vonZweigen. Er leuchtete mit der Taschenlampe indie Richtung, aber der helle Lichtstrahl, der indas dichte Unterholz fiel, verhinderte, dass ertiefer hineinsehen konnte. Ruhig sagte er: »Dashier ist öffentlicher Grund und Boden, ich binPolizeibeamter – kommen Sie da endlich heraus,oder ich zeige Sie an wegen Widerstands gegendie Staatsgewalt.«Das Knacken eines Zweigs, wieder von rechts.Als er sich dorthin wandte, erblickte er eineGestalt, die sich aus dem Farnkraut erhob:bleiche, kränklich grüne Haut; schlaffesGesicht, über und über mit Blut und Speichelbeschmiert, zerlumpte Kleidung über knorrigenGliedern.»He, Sie!«Die Gestalt wich zurück, als verlöre sie

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vorübergehend das Gleichgewicht, dannschlurfte sie vor und näherte sich ihm miteinem geradezu diabolischen Verlangen. Daseine Auge wandte sich ihm blitzartig zu, sahdann wieder weg. Das andere Auge lagverborgen unter einer dicken Kruste aus Blut,vielleicht auch Schlamm. Aaaaahhuuuu …»Mamma mia!«, schrie D’Agosta, machte einenSatz zurück, ließ die Taschenlampe fallen undtastete nach seiner Dienstwaffe, der Glock 19.Auf einmal stürzte das Wesen auf ihn zu,stürmte laut krachend aus dem Unterholz;D’Agosta hob die Waffe, aber da verspürte erschon einen wuchtigen Schlag auf den Kopf,hörte einen summenden Laut – und dann nichtsmehr.

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Monica Hatto riss die Augen auf, streckte sichhinter dem Schreibtisch, straffte die Schulternund versuchte, hellwach zu wirken. Nervösblickte sie sich um. Die große Uhr an dergekachelten Wand gegenüber zeigte, dass eshalb zehn war. Der vorherige Nachtwächter imLeichenschauhaus-Anbau war entlassenworden, weil er am Arbeitsplatz geschlafenhatte. Sie rückte ihre Papiere auf demSchreibtisch zurecht, blickte sich nochmals umund entspannte sich ein wenig. Die Neonröhrenwarfen das übliche Schummerlicht auf diegekachelten Böden und Decken, die Luft rochnach den üblichen Chemikalien. Alles warruhig.Aber irgendetwas hatte sie aufgeweckt.Hatto erhob sich und strich sich über dieSeiten, rückte die Uniform über den

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ausladenden Hüften zurecht und bemühte sich,ordentlich, wachsam und präsentabelauszusehen. Das hier war ein Job, den zuverlieren sie sich nicht leisten konnte. Er wargut bezahlt und bot – noch wichtiger – guteKrankenversicherungsleistungen.Von irgendwo ein Stockwerk höher hörte sie eingedämpftes Geräusch, fast wie einHandgemenge. Vielleicht war ein »Abgang« aufdem Weg. Hatto lächelte bei sich, stolz darauf,dass sie den Jargon immer besser beherrschte.Sie holte den Make-up-Spiegel aus derHandtasche und zog die Lippen nach, richtetesich die Haare mit ein paar knappenBewegungen, überprüfte die Nase aufscheußlichen Fettglanz.Wieder hörte sie ein Geräusch, das leiseSchließen einer Fahrstuhltür. Noch ein kurzerBlick, ein Spritzer Parfüm, dann kam derSpiegel in die Handtasche, die Handtaschezurück über die Armlehne, die Papiere auf demSchreibtisch wurden nochmals geordnet.Jetzt ertönten laute Schritte, aber nicht von den

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Fahrstühlen, sondern vom Treppenhaus her.Das war komisch.Rasch kamen die Schritte näher. Dann flog dieTür zum Treppenhaus auf, und eine Frau kamden Flur heruntergerannt – schwarzesCocktailkleid, hochhackige Schuhe, daskupferfarbene Haar wehend.Hatto war so überrascht, dass sie gar nichtwusste, was sie sagen sollte.Mitten im Anbau blieb die Frau stehen, ihrGesicht wirkte grau in der gespenstischenNeonbeleuchtung.»Kann ich Ihnen helfen –?«, begann Hatto.»Wo ist sie?«, kreischte die Frau. »Ich will siesehen!«Monica Hatto blickte entgeistert drein. »Sie?«»Die Leiche meines Mannes! WilliamSmithback!«Hatto wich zu Tode erschrocken zurück. DieFrau war irre. Während sie auf eine Antwortwartete und schluchzte, hörte Hatto einRumpeln: Der Fahrstuhl fuhr langsam, ganzlangsam an.

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»Smithback ist der Name! Wo ist er?«Auf dem Schreibtisch hinter ihr schrie plötzlicheine Stimme aus der Gegensprechanlage.»Sicherheitsverstoß! Wir haben hier einenSicherheitsverstoß! Hatto, hören Sie mich?«Die Stimme brach den Bann. Hatto drückte denKnopf.»Wir haben einen …«Die Stimme aus der Gegensprechanlageübertönte ihre. »Eine Verrückte ist zu Ihnenunterwegs! Könnte gewalttätig sein! KeineGewaltanwendung! Die Security ist schonunterwegs!«»Die Frau ist schon …«»Smithback!«, schrie die Frau. »Der Journalist,der ermordet wurde!«Unwillkürlich blickte Hatto in RichtungLeichenhalle 2, wo man die Leiche desberühmten Reporters präpariert hatte. GroßeSache, mit einem Anruf vom Polizeipräsidentenund Titelgeschichten in den Zeitungen.Die Frau rannte auf die Tür zur Leichenhalle 2zu, die die Putzmannschaft der Nachtschicht

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offen gelassen hatte. Zu spät erkannte Hatto,dass sie die Tür hätte abschließen müssen.»Warten Sie, Sie dürfen da nicht rein –!«Die Frau verschwand durch die Tür. Hattoerhob sich, blieb aber vor lauter Panik wieangewurzelt stehen. Im Mitarbeiterhandbuchstand nichts darüber, was in einer derartigenSituation zu tun war.Mit einem Pling! öffneten sich dieFahrstuhltüren. Zwei dickbäuchigeSicherheitsleute betraten schnaufend denAnbau. »Hey! Wo ist die Frau hin –?«Hatto drehte sich um und zeigte stumm inRichtung Leichenhalle 2.Die beiden Sicherheitsleute standen einenMoment da, um zu Atem zu kommen. Aus demLeichenschauhaus drang ein Krachen, dasKnallen von Stahl, das Quietschen einerMetallschublade, die aufgezogen wurde. Dannein reißendes Geräusch und ein Schrei. »Oh,verdammt noch mal«, sagte einer der beidenWachleute. Schwerfällig setzten sie sich wiederin Bewegung, durch den Anbau auf die offene

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Tür von Leichenhalle 2 zu. Hatto folgteschwerfällig, auf morbide Weise neugierig.Ihr bot sich ein Bild, das sie ihr Leben langnicht mehr vergessen würde. Die Frau standmitten in der Leichenhalle, das Gesicht wie daseiner Hexe, die Haare zerzaust, die Zähnegebleckt, die Augen blitzend. Hinter ihr wareines der Schubfächer aufzogen. Mit der einenHand schüttelte sie einen leeren Leichensack,blutverschmiert und ohne Inhalt; in deranderen hielt sie etwas in die Höhe, das wie einkleines Gebinde aus Federn aussah.»Wo ist seine Leiche?«, kreischte sie. »Wo istdie Leiche meines Mannes. Und wer hat dashier zurückgelassen?«

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D’Agosta parkte den Einsatzwagen auf derWagenauffahrt des Hauses 891 Riverside Drive,stieg aus und donnerte an die schwere Holztür.Dreißig Sekunden später wurde sie von Proctorgeöffnet, der ihn kurz schweigend ansah unddann zur Seite trat.»Sie finden ihn in der Bibliothek«, murmelte er.D’Agosta schritt unsicher durch den langenSpeisesaal, die Empfangshalle und in dieBibliothek, wobei er sich ununterbrochen einenLappen fest auf die Platzwunde am Kopfdrückte. Pendergast und dieser seltsame alteArchivar namens Wren saßen links und rechtsvor einem prasselnden Kaminfeuer in ledernenOhrensesseln, auf dem Tisch zwischen ihnenPapiere und eine Flasche Portwein.»Vincent!« Pendergast erhob sich hastig undkam herüber. »Was ist denn passiert? Proctor,

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der Mann braucht einen Stuhl.«»Ich kann mir selbst einen Stuhl nehmen,danke.« D’Agosta setzte sich und betupftebehutsam seinen Kopf. Endlich, die Blutungwar gestillt. »Hatte einen kleinen Unfall obenbeim Ville«, sagte er mit leiser Stimme. Erwusste gar nicht, was ihn wütender machte,der Gedanke an diese Tiere, die dortniedergemetzelt wurden, oder dass er sich vonirgendeinem Penner hatte ausknocken lassen.Zumindest hoffte er, dass es ein Pennergewesen war, verdammt noch mal. Über dieAlternative mochte er gar nicht nachdenken.Pendergast beugte sich über ihn, um diePlatzwunde zu untersuchen, aber D’Agostawedelte ihn weg. »Ist nur ein Kratzer. Am Kopfblutet man immer wie ein angestochenesSchwein.«»Darf ich Ihnen eine Erfrischung anbieten?Einen Portwein vielleicht?«»Bier. Bud-Light, wenn Sie haben.«Proctor verließ den Raum.Wren saß in seinem Fauteuil, als wäre nichts

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Ungewöhnliches geschehen. Er spitzte einenBleistift mit einem winzigen Taschenmesser,untersuchte die Spitze, blies darauf, schürztedie Lippen und spitzte noch etwas nach.Die beschlagene Dose Bud kam auf einemsilbernen Tablett, dazu ein gekühltes Glas.D’Agosta ignorierte das Glas, packte die Doseund trank einen langen Schluck. »Das habe ichgebraucht, aber wirklich.« Er genehmigte sichnoch einen Schluck.Pendergast war zu seinem Sesselzurückgekehrt. »Mein lieber Vincent, wir sindganz Ohr.«D’Agosta berichtete ihnen von seinerBefragung der alten Frau an der Indian Roadund den darauffolgenden Ereignissen. Dass erin seiner Wut fast im Alleingang das Geländedes Ville betreten hatte, ließ er dabei allerdingsunerwähnt – sonst hätte er sich noch mal analles erinnert. Pendergast hörte aufmerksamzu. Außerdem entschied Vincent, zuverschweigen, dass er bei der Attacke seinHandy und seinen Piepser verloren hatte.

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Als er zu Ende erzählt hatte, wurde es ganz stillin der Bibliothek. Das Kaminfeuer prasselte undloderte.Schließlich fragte Pendergast: »Und dieser …dieser Mann? Er hat sich unstet, ziellos bewegt,sagten Sie?«»Ja.«»Und er war über und über mit Blut bedeckt?«»So schien es mir jedenfalls in dem Mondlicht.«Pendergast hielt inne. »Ähnelte die Gestaltderjenigen, die wir auf demÜberwachungsvideo gesehen haben?«»Ja.«Wieder eine Pause, länger diesmal. »War esColin Fearing?«»Nein. Ja.« D’Agosta schüttelte den pochendenKopf. »Ich weiß es nicht. Ich konnte das Gesichtnicht besonders gut erkennen.«Pendergast schwieg einen langen Augenblickund legte die glatte Stirn leicht in Falten. »Undwann genau ist das alles passiert?«»Vor einer halben Stunde. Ich war nur einenMoment bewusstlos. Da ich sowieso schon in

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der Innenstadt war, bin ich direkthierhergefahren.«»Merkwürdig.« Aber Pendergasts Gesichtszügesprachen eine andere Sprache – er schien eherbesorgt zu sein.Nach einem Augenblick blickte Pendergast zudem verhutzelten alten Mann. »Wren wargerade dabei, die Früchte seiner jüngstenNachforschungen über ebendiesen Ort, an demSie angegriffen wurden, mit mir zu teilen. Wren,könnten Sie bitte fortfahren?«»Mit dem größten Vergnügen.« Zwei vonausgeprägten Venen durchzogene Händegriffen in den Stapel Papiere und zogengeschickt einen braunen Schnellhefter hervor.»Soll ich aus den Zeitschriften-Artikelnvorlesen –?«»Fassen Sie Ihre Erkenntnisse kurz und knappzusammen, wenn ich bitten darf.«»Selbstverständlich.« Wren räusperte sich,ordnete die Unterlagen sorgfältig auf demSchoß und blätterte. »Hmm. Mal sehen …«Blättern und Durchsicht der Papiere;

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zahlreiches Heben der Augenbrauen; Murmelnund Furchen der Stirn. »Am Abend des 11. Juni1901 …«»Kurz und knapp ist hier der entscheidendeAusdruck«, sagte Pendergast, nichtunfreundlich.»Ja, ja. Kurz und knapp.« Lautes, schleimigesRäuspern. »Allem Anschein nach ist das Villeschon seit einiger Zeit, sagen wir, umstritten.Ich habe eine Reihe von Artikeln aus der NewYork Sun gesammelt, sie datieren um dieJahrhundertwende – soll heißen, zur Wendezum 20. Jahrhundert –, in denen Beschwerdender Nachbarn geschildert werden, die durchausjenen ähneln, die heute vorgebracht werden.Sonderbare Geräusche und Gerüche,Tierkadaver ohne Kopf, die im Wald gefundenwurden, Streitereien. Es gab viele unbestätigteBerichte über einen ›wandernden Schatten‹,der im Wald von Inwood Hill sein Unwesentreibe.«Mit äußerster Sorgfalt zog die leberfleckigeHand einen vergilbten Zeitungsausschnitt

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hervor, als handelte es sich um die Seite eineruralten Handschrift. Er las vor.»Laut den Informanten, mit denen dieseZeitung gesprochen hat, lauerte dieErscheinung – Augenzeugen sprechen voneinem watschelnden, scheinbar blindwütigenWesen – der Bürgerschaft New Yorks auf, die sounklug war, sich nach Einbruch der Dunkelheitin der Nähe von Inwood Hill aufzuhalten. DieAngriffe dieses Wesens endeten oftmalstödlich. Die zurückgelassenen Leichnamewurden in furchtbaren Haltungen aufgefunden,verstümmelt auf die abscheulichste Weise, dieman sich vorstellen kann. Andere sind einfachverschwunden – auf Nimmerwiedersehen.«»Auf welche Weise genau wurden die Leichenverstümmelt?«»Ausgeweidet, wobei bestimmte Gliedmaßenabgeschnitten wurden – am häufigstenMittelfinger und Zehen; so steht es jedenfalls inder Zeitung. Die Sun, Lieutenant, war nicht fürihre Seriosität bekannt. Mit ihr begann diesogenannte ›yellow press‹. Sehen Sie, sie wurde

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auf gelblichem Papier gedruckt, weil diesesdamals am billigten war. Das Bleichen undZurechtschneiden machte in jenen Tagen gutzwanzig Prozent der Kosten des Zeitungsdrucksaus …«»Höchst interessant«, warf Pendergast ruhigein. »Bitte fahren Sie fort, Mr. Wren.«Wieder Blättern und Stirnrunzeln. »Wenn mandiesen Geschichten glauben will, wurden allemAnschein nach vier Personen von diesemsogenannten blindwütigen Wesen ermordet.«»Vier Personen? Und dann wird von ›derBürgerschaft New Yorks‹ gesprochen?«»Wie gesagt, Lieutenant, die Sun war einRevolverblatt. Übertreibungen waren ihrMarkenzeichen. Die Artikel müssen mit Vorsichtgenossen werden.«»Wer waren die getöteten Personen?«»Die erste Person, die ausgeweidet wurde,wurde nicht identifiziert. Bei der zweitenhandelt es sich um einenLandschaftsarchitekten namens Phipps Gormly.Bei der dritten um einen hochrangigen

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Mitarbeiter der Parkbehörde, ebenfalls einhochangesehener Bürger, der offenbar einenAbendspaziergang machte. Ein gewisserCornelius Sprague. Die kurzaufeinanderfolgenden Morde an zweiangesehenen Bürgern lösten einen Aufschreider Empörung in der Bevölkerung aus. Beimvierten Opfer – der Mord fand fast unmittelbarim Anschluss an den dritten statt – handelte essich um den Verwalter eines örtlichenAnwesens, des Sommerhauses der FamilieStraus in Inwood Hill. Das Seltsame an diesemletzten Mord ist, dass der Verwalter einigeMonate zuvor verschwunden war, ehe manseine Leiche fand. Aber er war gerade erstgetötet worden.«D’Agosta rutschte auf dem Stuhl herum.»Ausgeweidet? Und die Finger und Zehenabgeschnitten, sagten Sie?«»Bei den anderen Opfern, ja. Aber derVerwalter war nicht ausgeweidet worden. Erwurde blutüberströmt aufgefunden, mit einemMesser in der Brust. Laut den Zeitungen hätte

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Messer in der Brust. Laut den Zeitungen hätteer sich die Wunde auch selbst zufügenkönnen.«»Wie lautet Ihr Fazit?«, fragte D’Agosta.»Wie es scheint, stürmte die Polizei das Villeund nahm mehrere Personen fest, die späterwegen Mangels an Beweisen wieder entlassenwerden mussten. Die Hausdurchsuchungenergaben nichts, und die Fälle wurden niegelöst. Es wurde kein Zusammenhang zwischendem Ville und den Morden festgestellt, außerdass es unweit der Tatorte liegt. Langsamgerieten die Geschichten über watschelnde,blindwütige Wesen in Vergessenheit, und dieBerichte über Tieropfer wurden relativ selten –das Ville hielt sich offenbar bedeckt. Bis heutenatürlich. Aber nun das Interessanteste vonallem, etwas, das ich dadurch aufdeckenkonnte, dass ich viele andere historische Artikelals Querlektüre las. Wie es scheint, wollte dieFamilie Straus im Jahre 1901 einen großennördlichen Teil des Inglewood Hill roden lassen,damit sie einen besseren Blick auf den Hudson

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River hatte. Sie stellte einenLandschaftsarchitekten ein, der dieNeuanpflanzungen in besonders elegantem Stilentwerfen sollte. Raten Sie mal, wie der Mannhieß?«Kurzes Schweigen. »Doch nicht PhippsGormly?«, sagte Pendergast.»Derselbe. Und möchten Sie raten, wie derhochrangige Mitarbeiter der Parkbehörde hieß,der mit der Rodung des Geländes befasst war?«»Cornelius Sprague.« Pendergast setzte sich inseinen Sessel, beugte sich vor undverschränkte die Hände. »Wenn die Pläne, denPark zu roden, durchgekommen wären – wäredas Ville davon betroffen gewesen?«Wren nickte. »Das Ville stand mitten im Weg.Die Gebäude wären zweifellos abgerissenworden.«D’Agosta blickte von Pendergast zu Wren undwieder zurück. »Wollen Sie damit sagen, dassdas Ville diese Leute ermordet hat, um dieFamilie Straus davon abzuhalten, ihre Pläne zurNeugestaltung der Gartenanlagen

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weiterzuverfolgen?«»Ermordet – oder arrangiert, dass sie ermordetwurden. Die Polizei konnte nie einenZusammenhang herstellen. Die Botschaft kamallerdings an, laut und deutlich. Denn dasVorhaben, den Park neu zu gestalten, wurdeoffensichtlich fallengelassen.«»Sonst noch etwas?«Wren blätterte in seinen Unterlagen. »DieZeitungsartikel sprechen von einer ›teuflischenSekte‹ im Ville. Die Angehörigen lebtenangeblich zölibatär und hielten ihre Anzahlaufrecht, indem sie Leute von der Straße undgesellschaftliche Außenseiter anwarben oderzwangsrekrutierten.«»Die Sache wird immer merkwürdiger«,murmelte Pendergast und drehte sich zuD’Agosta um. »›Blindwütige Erscheinung‹ …Unterscheidet sich nicht sehr von dem, was Sieda angegriffen hat, was, Vincent?«D’Agosta blickte finster drein.Pendergast fiel in tiefes Schweigen. Irgendwoin den Tiefen der großen Villa ertönte das

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altmodische Läuten eines Telefons.Pendergast erhob sich. »Es wäre nützlich, diesterblichen Überreste eines der Opfer in dieFinger zu bekommen.«D’Agosta verzog das Gesicht. »Gormly undSprague wurden vermutlich in Familiengräbernbestattet. Da bekommen Sie niemals dieErlaubnis zur Exhumierung.«»Ah. Aber das vierte Opfer, der Verwalter derFamilie Straus – der vermeintlicheSelbstmörder –, es könnte doch sein, dass erseine Geheimnisse leichter preisgibt. Und wennja, dann haben wir Glück. Denn von allenLeichen ist seine von größtem Interesse füruns.«»Und warum?«Pendergast lächelte matt. »Was glauben Siedenn, mein lieber Vincent?«D’Agosta runzelte ärgerlich die Stirn.»Verdammt noch mal, Pendergast, mir brummtder Schädel. Ich bin nicht in Stimmung,Sherlock Holmes zu spielen.«Ein Ausdruck der Enttäuschung huschte über

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Pendergasts Züge. »Nun gut«, sagte er nacheinem Moment. »Hier nun diehervorstechenden Punkte. Im Gegensatz zu denanderen wurde die Leiche nicht ausgeweidet.Sie war mit Blut bedeckt, die Kleidungzerlumpt. Möglicherweise war es Selbstmord.Und die Leiche wurde als letzte gefunden. Nachihrer Entdeckung hörten die Morde auf.Außerdem könnte ich noch darauf hinweisen,dass der Verwalter mehrere Monate vor demBeginn der Mordserie verschwand – wo war er?Vielleicht wohnte er ja im Ville.« Er setzte sichim Sessel zurück.D’Agosta betastete die Beule auf seinem Kopf.»Und was wollen Sie damit sagen?«»Dass der Verwalter nicht das Opfer war –sondern der Täter.«Wider Willen spürte D’Agosta einen Kitzel derErregung. »Reden Sie weiter.«»Auf großen Anwesen wie dem, von dem wirhier sprechen, war es üblich, dass dasDienstpersonal und die Arbeiter ein eigenesFamiliengrab besaßen, in dem die

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Verstorbenen bestattet wurden. Wenn in demalten Sommerhaus der Familie Straus einesolche Grabstätte existiert, könnten wir diesterblichen Überreste des Verwalterswomöglich dort finden.«»Aber Sie beziehen sich nur auf einen Artikelaus einer Zeitung. Es besteht keinerleiZusammenhang. Niemand wird einen Antragauf Exhumierung aufgrund solch zweifelhafterIndizien genehmigen.«»Wir können das ja inoffiziell regeln.«»Bitte sagen Sie mir nicht, Sie haben vor, ihnbei Nacht auszugraben.«Eine knappe, bejahende Neigung des Kopfs.»Halten Sie sich eigentlich nie an die Regeln?«»Nur selten, fürchte ich. Eine sehr schlechteAngewohnheit, aber eine, die ich nur schwerablegen kann.«Proctor erschien in der Tür. »Sir?« Seine tiefeStimme klang betont neutral. »Einer unsererInformanten in der Stadt hat sich gemeldet. Eshat neue Entwicklungen gegeben.«»Lassen Sie uns daran teilhaben, wenn ich

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bitten darf.«»Im Gotham Press Club hat sich ein Mordereignet, eine Reporterin namens Caitlyn Kidd.Der Täter ist verschwunden, aber viele Zeugenschwören, dass es sich bei dem Mörder umWilliam Smithback handelte.«»Smithback!«, rief Pendergast und standplötzlich auf.Proctor nickte.»Wann?«»Vor anderthalb Stunden. Außerdem befindetsich Smithbacks Leiche nicht mehr imLeichenschauhaus. Seine Frau hat dortnachgeschaut und eine Szene gemacht, weil dieLeiche verschwunden war. Anscheinend fandensich an deren Stelle irgendwelche, äh, Voodoo-Andenken.«Proctor hielt kurz inne und faltete die großenHände vor der Anzugjacke.Furcht und Schrecken ergriffen D’Agosta. Dasalles war passiert – und er war ohne Pieper,ohne Handy.»Verstehe«, murmelte Pendergast, dessen

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Gesicht plötzlich leichenblass war. »Was füreine furchtbare Wendung der Ereignisse.«Geradezu im Flüsterton, an niemanden imBesonderen gerichtet, fügte er hinzu:»Vielleicht ist die Zeit gekommen, die Hilfe vonMonsieur Bertin zu erbitten.«

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D’Agosta sah, wie das graue Licht derMorgendämmerung langsam durch die mitVorhängen versehenen Fenster des GothamPress Club kroch. Er war erschöpft, sein Kopfpochte im gleichen Rhythmus wie sein Herz.Das Spurensicherungsteam hatte seine Arbeitbeendet und war gegangen; die Jungs für dieHaare und Fasern waren gekommen undgegangen; der Fotograf war gekommen undgegangen; der Rechtsmediziner hatte denLeichnam abgeholt; sämtliche Zeugen warenbefragt worden oder waren zur Befragungeinbestellt. Und jetzt stand D’Agosta allein amversiegelten Tatort.Er hörte den Verkehr auf der 53. Straße, diefrühen Lieferwagen, die ersten Müllwagen, dieTaxifahrer, die ihre Tagesschicht mit demüblichen Aufwachritual begannen: Hupen und

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Fluchen.D’Agosta blieb weiter ruhig in der Ecke desSaals stehen, sehr elegant und Alt-New-York:die Wände mit Täfelungen aus dunkler Eicheversehen, Kamin mit geschnitztem Kaminsims,Marmorfußboden mit schwarz-weißemKachelmuster, Kristalllüster an der Decke undhohe, längs unterteilte Fenster mitgolddurchwirkten Vorhängen. Der Raum rochnach altem Zigarettenqualm, faden Horsd’œuvres und verschüttetem Wein. Wegen derPanik, die während des Mordes ausgebrochenwar, lagen ziemlich viele Essensreste undGlasscherben auf dem Boden herum. Abermehr brauchte D’Agosta gar nicht zu sehen, esmangelte weder an Zeugen noch an Indizien.Der Mörder hatte die Tat vor den Augen vonüber zweihundert Personen verübt – keineinziger von den hasenherzigen Journalistenhatte ihn daran gehindert – und waranschließend durch die rückwärtige Küchegeflohen, durch mehrere Türen, die dieCatering-Leute unverschlossen gelassen

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hatten, weil ihr Lieferwagen in einer Gassegleich hinter dem Gebäude parkte.Hatte der Mörder das gewusst? Ja. Alle Zeugenhatten berichtet, dass sich der Mörder nichtschnell, aber bewusst geradewegs auf eine derhinteren Türen für den Anlieferungsservicezubewegt hatte, durch die Küche und nachdraußen. Er kannte den Grundriss desGebäudes, wusste, dass die Türenunverschlossen waren, dass das Tor, das diehintere Gasse versperrte, offen stehen würde,wusste, dass die Gasse auf die 54. Straße undin die Anonymität der Menschenmassen führte.Oder zu einem bereitstehenden Wagen. Allesdeutete darauf hin, dass es sich hier um ein gutgeplantes Verbrechen handelte.D’Agosta rieb sich die Nase und bemühte sich,langsam zu atmen, damit seine Schläfen nichtmehr so stark pochten. Er konnte kaum einenklaren Gedanken fassen. Diese Mistkerle imVille würden noch feststellen, dass sie einenschweren Fehler gemacht hatten, als sie einenPolizeibeamten angriffen. Sie hatten mit dieser

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Sache zu tun, auf die eine oder andere Art, dawar er sicher. Smithback hatte über siegeschrieben und teuer dafür bezahlt; jetzt hatteCaitlyn Kidd das gleiche Schicksal ereilt.Warum war er eigentlich noch hier? Es gabnichts Neues, was er aus dem Tatorthervorzaubern konnte, nichts, was nicht schonuntersucht, aufgezeichnet, fotografiert, in dieHand genommen, getestet, beschnüffelt,genauestens betrachtet und zu den Aktengelegt worden war. Er war unglaublicherschöpft. Und dennoch brachte er es nichtfertig, zu gehen.Smithback. Das, er wusste es, war der Grund,warum er einfach nicht gehen konnte.Die Zeugen hatten alle geschworen, es seiSmithback gewesen. Selbst Nora, als er sie – siestand zwar unter Beruhigungsmitteln, war aberhell genug im Kopf – in ihrer Wohnungvernommen hatte. Zwar hatte sie den Mördervon der anderen Seite des Saals gesehen, ihreAussage war deshalb nicht ganz verlässlich,aber andere hatten den Täter aus der Nähe

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gesehen und geschworen, es sei Smithbackgewesen. Das Mordopfer selbst, Caitlyn Kidd,hatte Smithbacks Namen gerufen, als der Tätersich ihr näherte. Und dennoch: Noch voreinigen Tagen hatte er Smithbacks Leiche miteigenen Augen auf einer Rollbahre gesehen,die Brust geöffnet, die Organe entfernt und mitkleinen Zettelchen versehen, die Schädeldeckeaufgesägt.Smithbacks Leiche war verschwunden … Wiekonnte es nur geschehen, dass irgendein Irrerins Leichenschauhaus spazierte und eineLeiche stahl? Vielleicht war das aber auch garnicht so überraschend – Nora war ja schließlichauch dort hineingestürmt, und niemand hattesie aufgehalten. Es gab nur einen Nachtportier,außerdem schienen die Leute, die so eineStellung bekleideten, fast immer am Arbeitplatzzu schlafen. Aber Nora war verfolgt und amEnde von den Sicherheitsleuten gefasstworden. Und in ein Leichenschauhaushineinzustürmen, das war etwas ganz anderes,als es mit einer Leiche zu verlassen.

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Es sei denn, die Leiche wäre einfachhinausspaziert …Was dachte er denn da? Ein Dutzend Theorienschwirrten ihm im Kopf herum. Er warüberzeugt, dass das Ville irgendwie mit derSache zu tun hatte. Aber natürlich konnte erden Software-Entwickler Kline, der Smithbackso offen gedroht hatte, nicht aus demTäterkreis ausschließen. Wie er zu Rockergesagt hatte: Bestimmte Stücke aus KlinesSammlung afrikanischer Skulpturen hattenMuseumsspezialisten als Voodoo-Kunstgegenstände mit einer besondersdüsteren Bedeutung identifiziert. Obwohl dasdie Frage aufwarf, ob Kline ein Motiv hatte,Caitlyn Kidd zu ermorden. Hatte Kidd auch überihn geschrieben? Oder erinnerte Kline etwas anKidd an den Journalisten, der vor einiger Zeitseine Karriere zerstört hatte? Es lohnte sicher,da mal nachzuforschen.Und dann gab es da noch diese andere Theorie,die Pendergast trotz all seinerTäuschungsmanöver offenbar ernst nahm:

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nämlich dass Smithback, so wie Fearing, vonden Toten auferstanden war.»Dieser Hurensohn«, murmelte D’Agosta laut,drehte sich um und ging mit langen Schrittenaus dem Saal ins Foyer. Der Beamte, der dieEingangstür bewachte, checkte ihn aus, danntrat er in den kühlen, grauen Oktobermorgen.Er sah auf die Uhr. Viertel vor sieben. Um neunsollte er sich mit Pendergast in der Stadttreffen. Er ließ seinen Einsatzwagen auf derFifth Avenue stehen, ging die 53. hinunter biszur Madison, betrat ein Café und ließ sich aufeinen Stuhl fallen.Als die Kellnerin schließlich eintraf, schlief erbereits.

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Um zehn nach neun Uhr morgens gab esD’Agosta auf, auf Pendergast zu warten, undmachte sich aus der Eingangshalle desRathauses auf den Weg zu einem anonymenBüro in einem hohen Stockwerk des Gebäudes,das er nach weiteren zehn Minuten fand.Schließlich stand er vor der geschlossenenBürotür und las die gravierte Plastikplakette.

Marty WartekStellvertretender Leiter

Wohnungsbaubehörde Stadt New YorkBezirk Manhattan

Er klopfte zweimal an.»Herein«, ließ sich eine dünne Stimmevernehmen.D’Agosta trat ein. Das Büro war überraschendgeräumig und komfortabel. Sofa und zwei

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Sessel auf der einen Seite, Schreibtisch auf deranderen, ein Alkoven mit einem alten Sekretärdarin. Das einzige Fenster ging auf den Waldvon Bürotürmen hinaus, die das Wall-Street-Viertel bildeten.»Lieutenant D’Agosta?«, fragte derBürobesitzer, erhob sich hinter demSchreibtisch und deutete auf einen der Sessel.D’Agosta setzte sich stattdessen auf das Sofa;es sah bequemer aus.Der Mann trat um den Schreibtisch herum undließ sich auf einem der Sessel nieder.D’Agosta nahm ihn rasch in Augenschein:kleinwüchsig, schlank, schlecht sitzenderbrauner Anzug, vom Rasieren gerötete Haut,Büschel dünner werdenden Haars, die ihmmitten aus der Glatze sprossen, verängstigtebraune Augen, kleine zittrige Hände,verkniffener Mund, selbstgerechteAusstrahlung.D’Agosta wollte gerade seinen Dienstausweishervorholen, aber Wartek schüttelte den Kopf.»Ist nicht nötig. Sieht doch jeder, dass Sie

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Detective sind.«»Ach ja?« D’Agosta war erstaunt, denn er hattebeinahe gehofft, beleidigt zu werden. Vinnie,Junge, entspann dich.Schweigen. »Kaffee?«»Danke. Ohne Milch und Zucker.«»Susy, zwei Kaffee ohne Milch und Zuckerbitte.«D’Agosta versuchte, Ordnung in seineGedanken zu bringen, aber ihm schwirrte derKopf. »Mr. Wartek –«»Bitte nennen Sie mich Marty.« Der Kerl gibtsich Mühe, dir freundlich gegenüberzutreten,rief sich D’Agosta in Erinnerung. Da musst dudich nicht wie ein Arsch aufführen.»Marty. Ich bin hier, um mit Ihnen über dasVille zu sprechen. Kennen Sie es?«Verhaltenes bestätigendes Nicken. »Ich habedie Zeitungsartikel gelesen.«»Ich möchte wissen, warum diese Leuteöffentlichen Grund und Boden besetzen undeine öffentliche Zufahrtsstraße blockierenkönnen und damit durchkommen.« D’Agosta

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hatte nicht so unverblümt sein wollen, aberjetzt war es raus. Er war so verdammt müde,dass es ihm egal war.»Nun ja.« Wartek beugte sich vor. »Sie müssenverstehen, Lieutenant, es gibt einenRechtsgrundsatz namens ›ächtendeGrunddienstbarkeit‹ beziehungsweise ›Rechtauf nachteilige Besitznahme‹«, er deutete dieAnführungszeichen mit nervösenFingerbewegungen an, »der besagt, dass,wenn ein Stück Land für einen bestimmtenZeitraum ohne die Genehmigung des Besitzersauf eine ›offene und allgemein bekannte‹ Weisebesetzt und genutzt wurde, die nutzende Parteibestimmte Rechte auf die Liegenschaft erwirbt.In New York beträgt dieser bestimmte Zeitraumzwanzig Jahre.«D’Agosta starrte den Mann an. Was er da ebengesagt hatte, war kaum mehr als ein Rauschenin seinen Ohren. »Entschuldigen Sie, ich kannIhnen nicht folgen.«Ein Seufzen. »Wie es aussieht, halten dieBewohner des Ville das Land mindestens seit

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dem Bürgerkrieg besetzt. Auf dem Grundstückstand eine aufgegebene Kirche mit zahlreichenNebengebäuden, glaube ich, und die Leutehaben sie einfach besetzt. In jener Zeit gab esjede Menge Hausbesetzer in der Stadt NewYork. Der Central Park war voll von ihnen.Kleine Selbstversorger-Farmen, Schweineställe,Hütten und so weiter.«»Diese Leute wohnen heute nicht mehr imCentral Park.«»Gewiss, gewiss – die Besetzer wurden aus demCentral Park vertrieben, als er als Parkausgewiesen wurde. Aber die Nordspitze vonManhattan war immer schon eine ArtNiemandsland. Der Boden ist felsig undzerklüftet, ungeeignet für die Landwirtschaftwie auch als Bauland. Der Inwood Hill Parkwurde erst in den dreißiger Jahren angelegt.Bis zu dem Zeitpunkt hatten die Bewohner desVille das Recht auf nachteilige Besitznahmeerworben.«Der belehrende Tonfall dieses Menschen gingD’Agosta allmählich auf die Nerven. »Schauen

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Sie, ich bin kein Anwalt. Ich weiß nur, dassdiese Leute keinen Rechtsanspruch auf dasLand besitzen und einen öffentlichen Weggesperrt haben. Ich warte immer noch darauf,von Ihnen zu erfahren, wie das möglich ist.«D’Agosta verschränkte die Arme und setzte sichzurück.»Lieutenant, bitte. Ich bemühe mich, es Ihnenzu erklären. Diese Leute leben dort seithundertfünfzig Jahren. Sie haben damit Rechteerworben.«»Rechte, eine öffentliche Straße zu sperren?«»Vielleicht.«»Dann meinen Sie also: Wenn ich michentschließe, die Fifth Avenue zuverbarrikadieren, dann ist das okay? Dass ichdas Recht dazu habe?«»Sie würden verhaftet werden. Die Stadt würdeEinspruch erheben. Das Recht auf nachteiligeBesitznahme würde auf keinen Fall gelten.«»Also gut. Ich breche in Ihre Wohnung ein,während Sie fort sind, wohne dort zwanzigJahre lang mietfrei, und dann gehört die

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Wohnung mir?«Die Kaffees kamen, mit Milch und lauwarm.D’Agosta trank die Hälfte in einem Schluck.Wartek nippte an seinem mit gespitzten Lippen.»Tatsächlich«, fuhr Wartek fort, »würde dieWohnung Ihnen gehören, wenn Ihre Besetzungoffen und allgemein bekannt wäre und wennich Ihnen niemals Erlaubnis erteilt hätte, dortzu sein. Sie würden schließlich das Recht aufnachteilige Besitznahme erwerben, weil –«»Was zum Teufel – sind wir hier imkommunistischen Russland oder was?«»Lieutenant, ich schreibe nicht die Gesetze,aber ich muss sagen, es ist ein absolutvernünftiges Gesetz. Es soll Sie schützen, wennSie beispielsweise aus Versehen einAbwassersystem anlegen, das teilweise überdas Grundstück eines Nachbarn führt, und derNachbar bemerkt es zwanzig Jahre lang nichtund beschwert sich auch nicht. Halten Sie fürrichtig, dass Sie Ihr Abwassersystem wiederentfernen sollen, wenn er es dann bemerkt?«»Ein ganzes Dorf in Manhattan ist kein

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Abwassersystem.«Warteks Stimme war eine Spur höhergeworden, während er sich aufregte; aufseinem Hals breitete sich ein Ausschlag aus.»Ob Abwassersystem oder ein ganzes Dorf, esist das gleiche Prinzip! Wenn der Besitzer keineEinwände erhebt, nichts bemerkt, und Siebenutzen die Immobilie offen, dann erwerbenSie tatsächlich gewisse Rechte. Es ist so, alshätten Sie die Liegenschaft aufgegeben, wassich durchaus mit Bergung von Strandgut imSeerecht vergleichen lässt.«»Dann sagen Sie mir also, dass die Stadt zukeinem Zeitpunkt Einspruch gegen dieses Villeerhoben hat?«Schweigen. »Nun, das ist mir nicht bekannt.«»Vielleicht hat die Stadt ja tatsächlichEinspruch erhoben. Möglicherweise gibt esBriefe im Archiv. Ich würde wetten –« D’Agostaverstummte, als sich eine in Schwarz gekleideteGestalt ins Zimmer stahl.»Wer sind Sie?«, fragte Wartek mit hoher,verängstigter Stimme. Pendergast war, wie

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D’Agosta zugeben musste, auf den ersten Blickeine ziemlich beunruhigende Erscheinung –schwarze Kleidung, die Gesichtshaut so bleich,dass er beinahe wie tot aussah, diesilbergrauen Augen wie neu geprägte Münzen.»Special Agent Pendergast, Federal Bureau ofInvestigation, zu Ihren Diensten, Sir.«Pendergast verneigte sich knapp. Er zog einmanilabraunes Kuvert hervor, das er auf denSchreibtisch legte und öffnete. Darin befandensich Fotokopien alter Schreiben mit demBriefkopf der Stadt New York.»Was ist das?«, fragte Wartek.»Das sind die Schreiben.« Er wandte sich anD’Agosta. »Vincent, bitte entschuldigen Siemein Zuspätkommen.«»Schreiben?«, fragte Wartek stirnrunzelnd.»Die amtlichen Schreiben, in denen die StadtRechtseinspruch gegen die Eigentümerrechtedes Ville erhoben hat. Die frühesten datierenauf das Jahr 1864.«»Woher haben Sie die?«»Ein Forscher, der für mich arbeitet, hat sie mir

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aus dem Stadtarchiv besorgt. Einausgezeichneter Bursche, ich kann ihnwärmstens empfehlen.«»Na bitte«, sagte D’Agosta. »Da haben Sie’s.Kein Recht auf nachteilige Besitznahme odervon was immer Sie zum Teufel da ebengesprochen haben.«Der Ausschlag auf Warteks Hals wurde dunkler.»Lieutenant, wir werden keineZwangsräumungsmaßnahmen gegen dieseLeute einleiten, nur weil Sie oder dieser FBI-Agent das wünschen. Ich vermute, dieserKreuzzug, den Sie da führen, könnte etwas mitgewissen religiösen Praktiken zu tun haben, dieSie verwerflich finden. Nun, es geht hier aberauch um die Frage der freienReligionsausübung.«»Die freie Religionsausübung – um Tiere zuquälen und zu töten … oder Schlimmeres?«,sagte D’Agosta. »Um Polizisten in Ausübungihrer Dienstpflichten niederzuschlagen? Umden Frieden und die Ruhe im Viertel zustören?«

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stören?«»Es muss ein ordnungsgemäßes Verfahrengeben.«»Selbstverständlich«, warf Pendergast ruhigein. »Ein ordnungsgemäßes Verfahren. Undgenau hier ist Ihre Behörde gefordert – siemuss ein ordnungsgemäßes Verfahreneinleiten. Und aus exakt diesem Grund sind wirgekommen: um Ihnen vorzuschlagen, dass Siedas ohne jede Verzögerung tun.«»Ein solcher Beschluss kann nicht über Nachterlassen werden und will sorgfältig erwogensein. Dafür sind Konsultationen mit derRechtsabteilung, Treffen mit den Mitarbeiternund Nachforschungen im Archiv erforderlich.So etwas lässt sich nicht übers Knie brechen.«»Wenn uns nur die Zeit dafür bliebe, meinlieber Mr. Wartek! Die öffentliche Meinungwendet sich gegen Sie, noch während wir hiermiteinander sprechen. Haben Sie heute Morgenschon die Zeitungen gelesen?«Der Ausschlag hatte sich fast auf Warteksganzem Gesicht ausgebreitet, und er geriet ins

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Schwitzen. Er erhob sich zu seiner vollen Größevon einem Meter achtundfünfzig. »Wie ichbereits sagte, wir werden uns mit derProblematik befassen«, wiederholte er undbrachte sie zur Tür.Auf dem Weg nach unten im Fahrstuhl, derbrechend voll mit schläfrigen grauenAnzugträgern war, wandte sich Pendergast zuD’Agosta um und sagte: »Wie schön es doch ist,mein lieber Vincent, die Bürokratie der StadtNew York einmal in all ihrer lebhaften,dynamischen Aktivität zu erleben!«

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Der Warteraum im Terminal 8 des John-F.-Kennedy-Airports lag ganz hinten an einerlangen Reihe von Fahrstühlen. Pendergast undD’Agosta standen neben einer Gruppekorpulenter Männer in dunklen Anzügen, diekleine Schilder mit Personennamen darauf indie Höhe hielten.»Sagen Sie es mir noch mal«, sagte D’Agosta.»Wer ist der Kerl? Und was will er hier?«»Monsieur Bertin. Er war unser Hauslehrer, alswir Jugendliche waren.«»Wir? Sie meinen, Sie und …«»Ja. Mein Bruder. Monsieur Bertin hat uns inZoologie und Naturgeschichte unterrichtet. Ichwar recht eingenommen von ihm – er war eincharmanter und charismatischer Bursche.Leider musste er seine Anstellung bei derFamilie aufgeben.«

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»Was ist denn passiert?«»Der Brand.«»Der Brand? Sie meinen, als Ihr Elternhausniederbrannte? Hatte er etwas damit zu tun?«Von Pendergast kam ein jähes, frostigesSchweigen.»Das Fachgebiet dieses Mannes ist also …Zoologie? Und Sie ziehen ihn in einem Mordfallhinzu? Geht hier irgendwas an mir vorbei?«»Monsieur Bertin wurde zwar eingestellt, damiter uns in Naturgeschichte unterrichtet, erkannte sich aber auch ungemein gut in derörtlichen Folklore aus: Vôdou, Obeah, Magieund Hexerei.«»Er hat sein Fachgebiet also erweitert. UndIhnen mehr beigebracht, als nur einen Froschzu sezieren.«»Ich würde es vorziehen, mich nicht mit derVergangenheit zu beschäftigen. Fest steht,dass Monsieur Bertin sehr viel mehr über dasThema weiß als jeder andere. Und deshalbhabe ich ihn gebeten, von Louisianahierherzufliegen.«

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»Glauben Sie wirklich, dass Voodoo bei demMord eine Rolle spielt?«»Sie nicht?« Pendergast sah ihn aussilbergrauen Augen an.»Ich glaube, dass irgendein Arschloch versucht,uns weiszumachen, dass Voodoo eine Rollespielt.«»Gibt es da einen Unterschied? Ah. Da ist erendlich.«D’Agosta drehte sich um, dann zuckte erzusammen. Ihnen entgegen kam ein sehrkleiner Mann im Frack. Sein Gesicht war fastgenauso weiß wie Pendergasts, und er trugeinen weichen, breitkrempigen weißen Hut.Von einer schweren Halskette baumelte etwas,das wie ein Schrumpfkopf aussah. In der einenHand hielt er ein uraltes, von vielem Reisenramponiertes BOAC-Bordcase, mit der anderenklapperte er mit einem sehr großen, aufphantastische Weise geschnitzten Spazierstockvor sich her. Nein, das ist das falsche Wort,dachte Agosta; Knüppel wäre das passendereWort. Totschläger ein noch treffenderes. Bertin

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sah aus wie ein Wunderheiler aus einerreisenden Quacksalber-Show oder wie einer vondiesen Spinnern, die im JFK herumliefen, weil eshier drinnen wärmer war als draußen. Selbst ineiner Stadt wie New York, in der die Leuteschon so gut wie alles gesehen hatten, zogdieser komische Kauz viele Blicke auf sich. Ihmfolgte ein Gepäckträger, der unter der Lasteiner beunruhigend großen Anzahl von Koffernächzte.»Aloysius!« Geschäftig trippelte er auf seinenvogelartigen Beinen heran und küsstePendergast im französischen Stil links undrechts auf die Wange. »Quelle plaisir! Du bistkeinen Tag älter geworden.«Er drehte sich um, starrte D’Agosta an undmusterte ihn rasch von oben bis unten mitdurchdringenden schwarzen Augen. »Wer istdenn dieser Mensch?«»Ich bin Lieutenant D’Agosta.« Er streckte dieHand aus, die jedoch ignoriert wurde.Der Mann wandte sich wieder Pendergast zu.»Ein Polizist?«

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»Ich bin auch Polizist, maître.« Der erregbarekleine Kerl schien Pendergast geradezu zuamüsieren.»Pah!« Bertins Hut flappte vor lauterabschätziger Missbilligung. Eine PackungZigarillos erschien in seiner Hand, er schüttelteeinen heraus und steckte ihn in eineZigarettenspitze aus Perlmutt.»Verzeihen Sie, maître, aber Rauchen ist hier imGebäude nicht gestattet.«»Barbaren.« Bertin steckte sich das Dingtrotzdem in den Mund, unangezündet.»Bringen Sie mich zum Wagen.«Sie gingen nach draußen zur Haltebucht, woProctor bereits wartete. »Was, ein Rolls-Royce?Wie vulgär!«Während der Gepäckträger das Gepäck in denKofferraum lud, sah D’Agosta zu seinemEntsetzen, dass Pendergast auf demBeifahrersitz Platz nahm, so dass er sichgemeinsam mit Bertin in den Fond setzenmusste. Kaum saß der Mann, holte er eingoldenes Feuerzeug hervor und zündete sich

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den Zigarillo an.»Entschuldigen Sie – könnten Sie das Rauchenunterlassen?«, sagte D’Agosta.Der Mann richtete seine dunklen Augen aufihn. »Wenn Sie wollen.« Dann inhalierte er tief,kurbelte das Fenster herunter, wobei er denKopf leicht abwandte, und ließ denZigarillorauch in einem dünnen Strom ausseinem Mund entweichen. Er beugte sich vor.»Also, Aloysius, ich habe über dieInformationen, die du mir gegeben hast,nachgedacht. Die Fotos der Voodoo-Zauber, diedu mir geschickt hast und die am Tatortgefunden wurden – diese Amulette sind mal,très mal! Die Puppe aus Federn undSpanischem Moos, die in schwarzen Bindfadeneingewickelten Nadeln, der auf Backpapiergeschriebene Name und dieses Puder –Salpeter, nehme ich an.«»Korrekt.«Bertin nickte. »Es kann da keinen Zweifelgeben. Es handelt sich hier um einenTodeszauber.«

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»Todeszauber?«, fragte D’Agosta entgeistert.»Auch bekannt unter dem Namen ›mordenderSchmerz‹«, antwortete Bertin in professoralemTonfall. »Das ist schlicht und ergreifendHoodoo. Das hätte man auch mit wenigerAufwand regeln können. Aber dies – dieserrevenant, dieser lebende Tote. Das ist echterVôdou. Vor allem«, er senkte die Stimme, »jetzt,da das Opfer ebenfalls zurückgekehrt ist.« Erblickte Pendergast an. »Er hat eine Frau, hastdu gesagt?«»Ja.«»Sie schwebt in Lebensgefahr.«»Ich habe Polizeischutz für sie beantragt«,sagte D’Agosta.»Pah!«, höhnte Bertin.»Ich habe ihr ein Feind-weiche-von-mir-Amulettgekauft«, sagte Pendergast.»Das mag nützlich sein, um den ersten Feindabzuwehren, aber um den mache ich mir keineSorgen. Doch solche Amulette sind nutzlos zurAbwehr von Angehörigen oder Verwandten –Ehemänner eingeschlossen.«

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»Ich habe der Frau außerdem einenZauberbeutel zusammengestellt und siegedrängt, ihn bei sich zu tragen.«Bertins Miene hellte sich auf. »Eine Mojo-Hand.Très bien. Sag mir, was enthält der Beutel?«»Kräuteröl, getrocknete Wurzelknolle vonJalape, Eisenkraut und Wermut.«D’Agosta traute seinen Ohren nicht. Er blicktevon Pendergast zu Bertin und wieder zurück.Bertin setzte sich zurück. »Diese Sache wirdweitergehen, es sei denn, wir finden denZauber-Doktor. Drehen den Spieß um.«»Wir arbeiten momentan an der Ausstellungeines Durchsuchungsbeschlusses für das Ville.Und wir haben gestern mit einem städtischenBeamten wegen einer möglichenZwangsräumung gesprochen.«Bertin murmelte etwas vor sich hin, dann stießer wieder eine Rauchfahne aus. D’Agosta hattefrüher gern Zigarren geraucht, aber das warennormale, echt große Dinger gewesen. Der Rollsfüllte sich mit einem ekelhaften, nach Haferduftenden Qualm.

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»Ich habe mal von einem Typen gehört«, sagteD’Agosta. »Der hat auch immer diese dünnenkleinen Stummel geraucht.«Bertin sah ihn von der Seite an.»Hat Krebs bekommen. Musste sich die Lippenentfernen lassen.«»Wer braucht schon Lippen?«, fragte Bertin.Er starrte D’Agosta aus seinen Knopfaugen an.D’Agosta öffnete das Fenster, verschränkte dieArme, setzte sich zurück und schloss dieAugen.Gerade als er kurz davor war, einzunicken,klingelte sein neues Handy. Er warf einen Blickdarauf und las die SMS. »Der Antrag auf denDurchsuchungsbeschluss für das Ville istsoeben genehmigt worden«, sagte er zuPendergast.»Ausgezeichnet. Was dürfen wirdurchsuchen?«»Ziemlich wenig. Die öffentlichen Bereiche derKirche selbst, den Altar und den Tabernakel –vorausgesetzt, dass es einen gibt –, aber wederdie Sakristei noch die anderen nichtöffentlichen

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die Sakristei noch die anderen nichtöffentlichenBereiche oder die Nebengebäude.«»Sehr gut. Das reicht, dass wir dorthineinkommen – und uns den Leuten dortvorstellen. Monsieur Bertin wird unsbegleiten.«»Und wie wollen wir das begründen?«»Ich habe ihn als Sonderberater des FBI fürdiesen Fall engagiert.«»Ja, klar.« D’Agosta fuhr sich durch dasschüttere Haar, lehnte sich seufzend im Sitzzurück und schloss wieder die Augen, in derHoffnung, ein kleines Nickerchen halten zukönnen. Es war unglaublich. Schlicht undergreifend unglaublich.

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Nora schaute an die Decke ihres Schlafzimmers,ihr Blick wanderte hin und her entlang einemRiss im Verputz. Hin und her, hin und her folgtesie der geschlängelten Linie, so wie man denZuflüssen eines Stroms auf einer Landkartefolgen würde. Sie erinnerte sich, dass Bill denRiss kitten und übermalen wollte, mit derBegründung, dass er ihn verrückt mache, wenner einen Mittagsschlaf halten wolle – was er ofttat, da er ja seine unregelmäßigenArbeitszeiten einhalten musste. Sie hattegeantwortet, es sei reine Verschwendung, Geldin eine Mietwohnung zu stecken, worauf er niemehr auf das Thema zu sprechen kam.Jetzt machte der Riss sie verrückt. Sie konnteeinfach den Blick nicht davon lösen.Mit einem jähen Ruck wandte sie sich ab undschaute aus dem offenen Fenster, das sich

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neben ihrem Bett befand. Durch die Sprossender Feuerleiter sah man das Mietshaus auf deranderen Seite der Gasse, Tauben stolziertenauf dem hölzernen Wassertank auf dem Dachherum. Von der angrenzenden Hauptstraßedrang Verkehrslärm – Hupen, das Tuckerneines Diesels, das Knirschen von Gängen –herauf. Ihre Glieder kamen ihr schwer vor, ihreSinneswahrnehmungen unwirklich. Alles warirreal geworden. Die letzten 48 Stunden warenbizarr gewesen, obszön, unerträglich. BillsLeiche, verschwunden; Caitlyn tot, umgebrachtvon einem … Sie presste kurz die Lideraufeinander und verdrängte den Gedanken. Siehatte es aufgegeben, zu versuchen,irgendetwas einen Sinn abzugewinnen.Sie warf einen Blick auf den Wecker auf demNachttisch, auf die rote LED-Anzeige: drei Uhrnachmittags. Es war idiotisch, mitten am Tag imBett zu liegen.Mit größtem Widerstreben setzte sie sich auf,ihr Körper fühlte sich so taub und schwer wieBlei an. Einen Moment lang drehte sich alles in

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ihrem Kopf, dann ließ der Schwindel ein wenignach. Sie schlug das Kissen auf und lehnte sichvorsichtig zurück, seufzte und ließ den Blickwiderwillig zurück zum Riss in der Deckeschweifen.Vor dem Fenster war ein metallisches Klimpernzu hören. Sie blickte dorthin, sah aber nichtsaußer dem hellen Licht desSpätsommernachmittags.Morgen hätte Bills Beerdigung stattfindensollen. Während der vergangenen Tage hattesie ihr Bestes gegeben, um sich auf dieseTortur vorzubereiten. Eine sehr schmerzlicheAngelegenheit, aber wenigstens hätte sie eineArt Ende bedeutet, ihr vielleicht erlaubt, einwenig weiterzugehen in ihrem Leben. Dochjetzt wurde ihr sogar das bisschen Abschlussverwehrt. Wie konnte es denn ein Begräbnisohne eine Leiche geben? Sie schloss die Augenund stöhnte leise.Ein anderes Stöhnen, tief und kehlig,antwortete ihrem.Sie riss die Augen auf. Auf der Feuerleiter,

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direkt vor dem Fenster, hockte eine Gestalt –eine groteske Gestalt, ein Monster, das Haarverfilzt, die blasse Haut grob zugenäht,gekleidet in ein blutverschmiertesKrankenhaushemd, klebrig vor lauterKörperflüssigkeiten und verklumptem Blut. Dieknochige Hand umklammerte einenPolizeiknüppel.Das Gesicht war aufgedunsen, deformiert undmit getrockneten Blutklümpchen übersät –dennoch erkannte sie es wieder. Ein absolutesEntsetzen schnürte Nora die Kehle zu: DasMonster war ihr Ehemann, Bill Smithback.Ein seltsames Geräusch erfüllte dasSchlafzimmer, ein leiser, hoher, gellender Laut,und es dauerte einen Augenblick, bis ihr klarwurde, dass er ihr von den Lippen kam. Sie wardurchdrungen von Abscheu – und einemkrankhaften Verlangen. Bill – am Leben. Konntedas Bill sein? Konnte das tatsächlich er sein?Die Gestalt verlagerte langsam ihre Positionund rückte in gehockter Haltung vor.Weiße Flecken tanzten Nora vor den Augen,

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gleichzeitig stieg ein Gefühl von Hitze in ihr auf,als würde sie gleich ohnmächtig oder denVerstand verlieren. Der Mann war hager, undseine Haut hatte einen kränklich blassen Ton –nicht unähnlich dem des Wesens, welches sieaußerhalb des Ville im Wald verfolgt hatte.War das Bill? War denn so etwas überhauptmöglich?Wieder taumelte die Gestalt vor, immer noch inder Hocke, hob eine Hand, klopfte mit demFinger gegen die Fensterscheibe. Klopf, klopf,klopf.Es – er – Bill starrte sie aus wässrigen,blutunterlaufenen Augen an. Der offene Mundöffnete sich noch weiter, die Zunge baumelteheraus. Vage, halb geformte Laute kamendaraus hervor.Will er mit mir sprechen? Am Leben … kann dasdenn sein?Klopf, klopf, klopf.»Bill?«, krächzte sie. Das Herz schlug in ihrerBrust wie ein Vorschlaghammer.Die hockende Gestalt zuckte zusammen, riss die

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Augen weiter auf, verdrehte sie, ehe sie Norawieder fixierte.»Kannst du mit mir reden?«Ein weiterer Laut, halb Stöhnen, halb Winseln.Die klauenartigen Hände spannten undentspannten sich, der verzweifelte Blickflehentlich auf sie gerichtet. Sie starrte ihn an,war völlig gelähmt. Er war abstoßend, tierisch,kaum menschlich. Und doch, unter demverklumpten Blut und dem verfilzten Haarerkannte sie eine aufgedunsene Karikatur derGesichtszüge ihres Mannes. Das war der Mann,den sie geliebt hatte wie niemand anderen aufder Welt, der sie ganz gemacht hatte. Das warder Mann, der direkt vor ihren Augen CaitlynKidd getötet hatte.»Sprich mit mir. Bitte.«Wieder drangen Laute aus dem ramponiertenMund, Laute einer gesteigerten Dringlichkeit.Die hockende Gestalt legte die Händeaneinander und hob sie zu einer flehendenGeste. Nora spürte, dass ihr trotz allem dasHerz brach angesichts dieser

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mitleidheischenden Geste, angesichts diesestiefen Verlangens und Kummers.»Ach, Bill«, sagte sie und gab sich zum erstenMal seit der Attacke hemmungslos den Tränenhin. »Was haben sie mit dir gemacht?«Die Gestalt auf der Feuerleiter stöhnte. Sie saßeinen Augenblick da und blickte Norakonzentriert an, reglos bis auf die spastischenBewegungen, die den Leib gelegentlichdurchzuckten. Dann, ganz langsam, strecktedie Gestalt eine der klauenartigen Hände ausund ergriff den unteren Rand desSchiebefensters.Und dann schob sie das Fenster hoch.Nora sah zu, die Schluchzer blieben ihr im Halsestecken, während – langsam, ganz langsam –sich das Fenster hob, bis es halb offen stand.Die Gestalt beugte sich vor und schob sichunter den Fensterrand. Das Krankenhaushemdverfing sich an einem vorstehenden Nagel undriss unter lautem Ratschen ein. Etwas an derunerwartet geschmeidigen Bewegungerinnerte Nora an einen Vielfraß, der in eine

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Kaninchenhöhle schleicht. Jetzt war die Gestaltmit Kopf und Schultern im Zimmer. Der Mundwar noch weiter aufgerissen, ein dünnerSpeichelfaden baumelte von der Unterlippe.Eine Hand griff nach Nora.Instinktiv – ohne einen bewussten Gedanken –wich Nora zurück.Der ausgestreckte Arm hielt inne. Smithbackblickte aus seiner Position halb innerhalb, halbaußerhalb des Fensters zu ihr auf. Noch einWinseln löste sich aus dem schmutzigen Mund.Wieder hob er den Arm, dieses Malenergischer.Da wehte ein Gestank wie aus einemSchlachthaus Nora an. Eine entsetzliche Angststieg in ihr auf, und sie wich zurück aufs Bettund zog die Knie an die Brust.Die rotgeränderten Augen verengten sich. DasWinseln wurde zu einem tiefen Knurren. Undplötzlich zwängte sich die Gestalt durch dashalb offene Fenster ins Zimmer. Man hörte Holzsplittern, Glas bersten. Mit einem Aufschrei fielNora nach hinten, verfing sich in den Bettlaken

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und stürzte auf den Boden. Schnell kämpfte siesich aus den Laken und stand auf. Bill war imZimmer, zusammen mit ihr.Er stieß einen Wutschrei aus, taumelte auf siezu und schwang den Gummiknüppel.»Nein!«, rief sie. »Ich bin’s doch, Nora –!«Es war ein ungeschickter Hieb, Nora wich ihmaus und ging rücklings durch den Durchgangins Wohnzimmer. Bill folgte ihr, beugte sich vorund schwang erneut den Knüppel. Aus derNähe wirkten seine Augen weißlich, verhangen,trocken und aufgesprungen. Wieder öffnetesich der rissige Mund weit, es entströmte ihmein furchtbarer Gestank, der mit dembeißenden Geruch von Formalin undMethylalkohol vermischt war.Nnnnngghhhhaaaah!Nora wich weiter durch das Wohnzimmerzurück. Er torkelte auf sie zu, streckte die eineHand aus, wobei die Finger krampfhaft zuckten.Nora trat noch einen Schritt zurück und spürte,wie ihre Schulterblätter die Wand berührten.Es war, als würde die Gestalt ihr drohen und

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Es war, als würde die Gestalt ihr drohen undsie gleichzeitig anflehen. Sie streckte die linkeHand aus, um Nora zu berühren, während dierechte Hand den Knüppel hob, umzuzuschlagen. Dann warf sie den Kopf in denNacken und gab den Blick frei auf den Hals mitriesigen, frischen Narben, mit Zwirn vernäht,die graue Haut wie tot.Nnnnggggghhhhhaaaah!»Nein«, wisperte sie. »Nein. Bleib, wo du bist.«Die Hand streckte sich, zitterte, berührte ihrHaar, liebkoste es. Der Geruch des Todesumfing Nora.»Nein«, krächzte sie. »Bitte.«Der Mund öffnete sich weiter, stinkender Atemströmte daraus hervor.»Hau ab!«, kreischte sie.Die zuckende Hand strich ihr mit einerobszönen Geste über die Wange bis zu denLippen, liebkoste sie. Nora drückte sich mitdem Rücken an die Wand.Nnngah … Nnngah … Nnngah … Die Gestaltbegann zu hecheln, strich Nora mit dem

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zuckenden Finger weiter über die Lippen. Dannwollte sie ihr den Finger in den Mund stecken.Nora würgte, drehte den Kopf weg. »Nein …«Es donnerte an der Tür – jemand musste aufihren Schrei hin herbeigeeilt sein.»Nora!«, ertönte eine gedämpfte Stimme.»Hallo, alles in Ordnung mit Ihnen? Nora!«Daraufhin begann die erhobene Hand, die denKnüppel hielt, zu zittern.Nnngah! Nnngah! Nnngah! Das Hecheln wurdezu einem drängenden, lasziven Grunzen.Nora war wie gelähmt, sprachlos vor Entsetzen.Und dann holte die rechte Hand aus, derKnüppel krachte auf ihren Schädel – und dieWelt endete.

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D’Agosta saß auf dem Beifahrersitz desEinsatzwagens, die düstere Stimmung, in die erversunken war, wollte einfach nicht von ihmweichen. Wenn überhaupt, dann wurde sienoch finsterer, je weiter sie sich dem Villenäherten. Aber wenigstens musste er nicht imFond sitzen, neben diesem nervigen kleinenFranzösisch-Kreolen, oder was immer zumTeufel er war. Verstohlen blickte er imRückspiegel auf den Mann und verzogmissbilligend den Mund. Der Kerl hocktekerzengerade da und sah in seinem Frack wieein Doorman an der Upper East Side aus.Der Fahrer stoppte den Streifenwagen dort, wodie Indian Road in die 214. einbog, derKleintransporter der Spurensicherung, derhinter ihnen fuhr, kam quietschend undklappernd zum Stehen. D’Agosta blickte auf die

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Uhr: halb vier. Der Fahrer klappte denKofferraum auf, D’Agosta stieg aus, holte dieBolzenschneider heraus, knackte dasVorhängeschloss und ließ die Kette auf denBoden fallen. Er warf den Bolzenschneider inden Kofferraum zurück, knallte ihn zu undsetzte sich wieder in den Wagen.»Diese Arschlöcher«, sagte er zu niemandBesonderem.Der Fahrer startete den Crown Vic, mitleichtem Reifenquietschen fuhr der Wagenruckartig an.»Fahrer«, sagte Bertin und beugte sich vor,»fahren Sie bitte etwas vorsichtiger an.«Der Fahrer, ein Detective der Mordkommissionnamens Perez, verdrehte nur die Augen.Vor dem Eisentor im Maschendrahtzaunblieben sie erneut stehen, und wieder bereitetees D’Agosta eine klammheimliche Freude, dasSchloss zu knacken und in den Wald zu werfen.Um auf Nummer sicher zu gehen, durchtrennteer noch beide Angeln, trat das Eisentor miteinem Fußtritt um und zerrte beide Teile von

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der Straße. Leicht schnaufend stieg er ins Autozurück. »Öffentlicher Weg«, sagte er zurErklärung.Wieder quietschten die Reifen, und der CrownVic machte einen kleinen Satz nach vorn, wobeidie Insassen durchgerüttelt wurden. Er fuhreine Anhöhe hinauf, dann hinunter, durcheinen dunklen, in Zwielicht getauchten Wald,bis er schließlich auf einem unbestellten Ackerhielt. Vor ihnen erhob sich das Ville, insgläserne Licht des Herbstnachmittagsgetaucht. Trotz Sonnenscheins wirkten dieGebäude dunkel und schief, in Schatten gehüllt,ein wüstes Durcheinander von Türmchen undDächern, wie irgendein Albtraumdorf vonDr. Seuss. Die gesamte Anlage gruppierte sichum eine monströse, unglaublich alteFachwerkkirche. Der vordere Bereich warumgeben von einem hohen Lattenzaun miteiner mit dicken Eisenbeschlägen verstärktenEichentür.Die Fahrzeuge fuhren zu einem unbefestigtenParkplatz neben der Eichentür. Auf der einen

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Seite parkten ein paar schäbige Autos,außerdem der Kleinlaster, den D’Agosta bereitskannte. Allein beim Anblick des Transporterspackte ihn wieder die blanke Wut.Das Ville wirkte verlassen, menschenleer.D’Agosta sah sich um, dann drehte er sich zuPerez um. »Schnappen Sie sich die Ramme unddas Brecheisen. Ich trage denBeweismittelkoffer.«»Klaro, Lieutenant.«D’Agosta stieß die Wagentür auf und stieg aus.Der Laster hatte sich dicht hinter sie gestellt,der Mitarbeiter des Tierschutzamts stieg aus.Es war ein ängstlicher Bursche mit misslichemblondem Schnurrbart, rotgesichtig, dünneArme, Bierbauch. Irrsinnig nervös, hatte nochnie einen Durchsuchungsbeschlussdurchgeführt. D’Agosta versuchte, sich an denNamen zu erinnern. Pulchinski.»Haben wir uns telefonisch angemeldet?«,fragte Pulchinski mit zittriger Stimme.»Man ruft vorher nicht an, wenn man einenDurchsuchungsbeschluss durchführt. Das

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Letzte, was man will, ist, jemandem Zeit zugeben, Beweismittel zu vernichten.« D’Agostaöffnete den Kofferraum und hob den Kofferheraus. »Haben Sie alle nötigen Papieredabei?«Pulchinski tätschelte eine geräumige Tasche.Der Mann schwitzte schon jetzt.D’Agosta wandte sich an Perez. »Detective?«Perez hob die tragbare Ramme an. »Ich bin soweit.«Unterdessen waren Pendergast und seinsonderbarer kleiner Adlatus Bertin aus demPolizeiwagen gestiegen. Pendergasts Mienewar wie immer undurchdringlich, seinesilbergrauen Augen verhangen undausdruckslos. Bertin – unglaublich genug –roch an Blümchen.»Bei Gott«, rief er aus, »das ist ja einPrachtexemplar von Falschem Fingerhut.Agalinis acuta ›Pennell‹! Eine bedrohte Art! Einganzes Feld davon!« Er nahm eine Blume in dieHand und atmete lautstark ein.Perez, der kräftig und untersetzt war, stellte

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sich vor die Tür, packte den vorderen undhinteren Griff des Mauerbrechers, balancierteihn einen Augenblick auf Hüftniveau und holteaus. Dann schwang er ihn ächzend nach vorn.Die zwanzig Kilo schwere Ramme donnertedröhnend gegen die Eichentür, dass sie imRahmen wackelte.Bertin zuckte zusammen, wie von der Tarantelgestochen. »Was machen Sie denn da?«, rief erschrill.»Wir führen einen Durchsuchungsbeschlussdurch«, antwortete D’Agosta.Bertin zog sich hastig hinter Pendergast zurückund spähte wie ein Zwerg hinter ihm hervor.»Von Gewaltanwendung hat mir keiner wasgesagt!«Krawumm! Ein zweiter Schlag, dann ein dritter.Allmählich lösten sich die Nieten aus der altenTür.»Halt.« D’Agosta nahm das Brecheisen in dieHand, schob das gegabelte Ende unter eineNiete und bog sie hoch. Mit einem Knackensprang sie aus dem Holz. D’Agosta hebelte vier

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weitere heraus, trat zurück und nickte demDetective zu.Perez schwang die Ramme immer wieder, undmit jedem Schlag splitterte die massive Türmehr. Ein Eisenbeschlag sprang ab und fielscheppernd zu Boden. In dem Eichenholzöffnete sich ein langer waagerechter Spalt, dieSplitter flogen nur so in der Gegend herum.»Noch ein paar müssten reichen«, meinteD’Agosta.Bumm! Bumm!Plötzlich bemerkte D’Agosta, dass jemandhinter ihnen stand. Er drehte sich um. EinMann sah ihnen zu, zehn Schritte entfernt. Eineauffällige Erscheinung in langem grauemMantel mit Samtkragen und einermerkwürdigen, weichen Kappe im Mittelalterstilmit zwei Ohrenkappen, das Gesicht imSchatten. Das lange, buschige weiße Haar warzu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. DerMann war sehr groß gewachsen – fast zweiMeter groß –, ungefähr fünfzig Jahre alt,schlank und muskulös, mit beunruhigend

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starrendem Blick. Die Gesichtshaut war blass,fast so blass wie Pendergasts, aber die Augenwaren kohlrabenschwarz, das Gesicht markant,die Nase scharf gebogen. D’Agosta erkannteihn sofort wieder. Das war der Fahrer desLieferwagens.Der Mann starrte D’Agosta mit marmorartigenAugen an. Woher er gekommen war, wie er sichgenähert hatte, ohne dass sie auf ihnaufmerksam wurden, war ein Rätsel. Wortlossteckte er die Hand in die Hosentasche undholte einen großen eisernen Schlüssel hervor.D’Agosta drehte sich zu Perez um. »Sieht soaus, als bräuchten wir die Ramme nicht mehr.«Der Schlüssel verschwand wieder in der Robe.»Zeigen Sie mir zuerst denDurchsuchungsbeschluss«, sagte der Mannund näherte sich mit ausdrucksloser Miene.Aber die Stimme klang honigweich, und zumersten Mal hörte D’Agosta jemanden mit einemAkzent, der zumindest entfernt demPendergasts ähnelte.»Selbstverständlich«, sagte Pulchinski hastig

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und zog einen Packen Papiere hervor, die erdurchzusehen begann. »Bitte sehr.«Der Mann nahm die Papiere mit seiner großenHand entgegen. »Durchsuchungsbeschluss«,las er laut mit seiner wohlklingenden Stimme.Der Akzent ähnelte tatsächlich demPendergasts, dennoch klang er auch ganzanders – mit einer Spur Französisch darin undetwas anderem, das D’Agosta nichtidentifizieren konnte.Der Mann blickte Pulchinski an. »Und Siesind?«»Morris Pulchinski, Mitarbeiter des Amtes fürTierschutz.« Er streckte nervös die Hand aus,und dann, als er niedergestarrt wurde, ließ ersie fallen. »Wir haben zuverlässige Berichte,wonach es hier oben zu Tierquälerei, vielleichtsogar Tieropferungen kommt, und dieserDurchsuchungsbeschluss gestattet uns, dasswir die Räumlichkeiten durchsuchen undBeweismittel sammeln.«»Nicht die Räumlichkeiten. DerDurchsuchungsbeschluss hier spricht nur von

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Durchsuchungsbeschluss hier spricht nur vonder Kirche selbst. Und diese anderen Leute?«D’Agosta zeigte seine Dienstmarke.»Mordkommission, Polizei New York City.Können Sie sich ausweisen?«»Wir tragen keine Ausweise bei uns«, sagte derMann, die Stimme kalt wie Trockeneis.»Sie müssen sich ausweisen, Mister, so oderso.«»Ich bin Etienne Bossong.«»Buchstabieren Sie mal.« D’Agosta holte seinNotizbuch hervor und schlug die Seiten um.Der Mann buchstabierte seinen Namen –ironisch, jeden Buchstaben betonend, wiegegenüber einem Kind.D’Agosta notierte sich den Namen. »Und IhrePosition hier?«»Ich bin der Leiter.«»Von was?«»Dieser Gemeinde.«»Was genau ist diese ›Gemeinde‹?«Langes Schweigen folgte, während demBossong D’Agosta scharf musterte.

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»Mordkommission New York City? Wegen einerTierschutzsache?«»Wir machen das nur so zum Spaß«, sagteD’Agosta.»Die anderen Mitglieder Ihrer Sturmtruppehaben sich noch nicht ausgewiesen.«»Detective Perez, Mordkommission, Polizei NewYork City«, sagte D’Agosta. »Special AgentPendergast, Federal Bureau of Investigation.Und Mr. Bertin, FBI-Berater.«Alle zeigten ihre Dienstmarken, außer Bertin,der Bossong nur mit zusammengekniffenenAugen anstarrte. Bossong zuckte leichtzusammen, als sei er erkannt worden, dannerwiderte er den Blick genauso fest.Irgendetwas schien zwischen den beidenvorzugehen. Etwas Unterschwelliges. D’Agostasträubten sich die Nackenhaare.»Machen Sie die Tür auf«, sagte er.Nach einem angespannten Moment brachBossong den Blickkontakt mit Bertin ab. Erholte den großen Eisenschlüssel aus derHosentasche und schob ihn ins Schloss. Er

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drehte den Schlüssel mit kräftigem Ruck, wobeider Mechanismus laut klackte, und zog diedemolierte Tür auf.»Wir sind nicht auf eine Konfrontation aus«,sagte er.»Gut.«Hinter der Tür lag eine schmale Gasse, die nachrechts abbog. Kleine Holzhäuser, deren obereStockwerke über die unteren hervorragten,säumten die Gasse. Die Gebäude waren so alt,dass sie sich entgegenneigten und die steilenGiebel der Mansarden sich fast über der Gassetrafen. Das schwache abendliche Herbstlichtfiel zwar bis in die Gasse, aber die Türen undBleiglasfenster blieben in Dunkel gehüllt.Schweigend ging Bossong der Gruppe vorausdurch die Gasse. Als sie um die Ecke bogen,erblickte D’Agosta die direkt vor ihnenaufragende Kirche. An ihren Wänden warenweitläufige, zahllose Nebengebäude angelagertwie Haftschnecken. Riesengroße, uralteHolzbalken ragten aus den Wänden, befestigtan noch stabileren Balken mit abenteuerlichen

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Schnitzereien, die wie primitive Strebepfeiler inden Boden gerammt waren. Bossong gingzwischen zweien dieser Balken hindurch,öffnete eine Tür im Mauerwerk der Kirche undtrat ein. Währenddessen rief er etwas insDunkel, in einer Sprache, die D’Agosta nichtkannte.D’Agosta zögerte, ehe er eintrat. Das Innere lagin völliger Finsternis. Er roch den saurenGeruch von Dung, verbranntem Holz,Kerzenwachs, Weihrauch, Angst undungewaschenen Menschen. Ein bedrohlichesKnarren, ausgehend von den Balken über ihm,ertönte, so, als würde die Kirche im nächstenMoment einstürzen.»Schalten Sie das Licht an«, sagte D’Agosta.»Wir haben hier keinen Strom«, entgegneteBossong aus dem Dunkel. »Wir lassen es nichtzu, dass moderne Annehmlichkeiten das innereHeiligtum beschmutzen.«D’Agosta zog seine Stablampe hervor, schaltetesie ein und richtete sie ins Kircheninnere. Einriesiger, hoher Raum. »Perez, holen Sie mal die

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tragbare Halogenlampe aus dem Wagen.«»Klaro, Lieutenant.«Er wandte sich an den Mitarbeiter desTierschutzamtes. »Pulchinski, Sie wissen,wonach Sie suchen, ja?«»Um die Wahrheit zu sagen, Lieutenant –«»Machen Sie einfach Ihre Arbeit, bitte.«D’Agosta blickte nach hinten über die Schulter,Pendergast schaute sich mit der eigenenTaschenlampe um, Bertin an seiner Seite.Perez kam mit der Halogenlampe zurück, diemittels einer geringelten Schnur mit einergroßen Batterie verbunden war, die sich ineinem Leinenbeutel befand.»Lassen Sie mich das tragen.« D’Agostaschlang sich den Batterie-Beutel über dieSchulter. »Ich gehe als Erster rein. Die anderenfolgen mir. Perez, holen Sie den Beweismittel-Koffer. Sie verstehen die Spielregeln, ja? Wirsind hier wegen einer Tierschutzsache.« Inseiner Stimme lag deutliche Ironie.Er trat ins Dunkel und schaltete die Lampe an.Beinahe wäre er zurückgesprungen. An den

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Wänden standen dicht an dicht gereihtMenschen, stumme, starrende Leute, die allegrobe dunkelbraune Roben trugen.»Was zum Teufel …?«Einer der Männer trat vor. Er war kleiner alsBossong und genauso schlank, im Unterschiedzu den anderen war seine braune Robe abermit Spiralen und komplizierten weißenSchnörkeln verziert. Seine Gesichtszüge warengrob und ungeschlacht, wie mit dem Beilgemeißelt. Er hatte einen schweren Stecken inder Hand. »Das hier ist heiliger Boden«, sagteer in bebendem Predigerton. »Vulgärausdrückewerden nicht geduldet.«»Wer sind Sie?«, fragte D’Agosta.»Charrière ist mein Name.« Der Mann spucktedie Worte geradezu aus.»Und wer sind diese Leute?«»Das hier ist ein heiliger Ort. Das hier istunsere Gemeinde.«»Ach, Ihre Gemeinde? Erinnern Sie mich daran,dass ich den Umtrunk nach dem Gottesdienstschwänze.«

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Pendergast trat lautlos hinter D’Agosta undbeugte sich vor. »Vincent?«, sagte er leise.»Mr. Charrière scheint ein hungenikon-Priesterzu sein. Ich würde es vermeiden, ihn – oderdiese Leute – mehr als nötig gegen unsaufzubringen.«D’Agosta holte tief Luft. Es ärgerte ihn, dassPendergast ihm Ratschläge erteilte. Ihm warselbst klar, dass er wütend war – was ein guterCop niemals sein sollte. Was war nur los mitihm? Manchmal kam es ihm vor, als sei er seitAnfang der Ermittlungen wütend. Besser, erlegte das ab. Er atmete noch mal tief durch,nickte, und Pendergast zog sich zurück.Selbst im Licht der Halogenlampe war derRaum so groß, dass man sich von der Düsterniswie verschlungen fühlte. Verschlimmert wurdedas Ganze noch dadurch, dass einunangenehmer Geruch in der Luft lag. Dieschweigende Versammlung der Männer, die anden Wänden standen und ihn schweigendanstarrten, war ihm nicht geheuer. Da drinmussten hundert sein, vielleicht mehr. Alles

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Erwachsene, alles Männer, Weiße, Schwarze,Asiaten, Indianer, Hispanics und was sonstnoch alles. Alle mit stumpfen, starrendenMienen. Er empfand eine Spur Angst. Er hättemit mehr Unterstützung hier reingehen sollen.Mit viel mehr.»Also gut, hört mal zu, Leute.« Er sprach lautund deutlich, damit ihn alle hörten, undversuchte, seine Stimme betont selbstbewusstklingen zu lassen. »Wir haben einenDurchsuchungsbeschluss für den Innenraumdieser Kirche, darin steht, dass wir den Bereichund alle darin befindlichen Personendurchsuchen dürfen. Wir haben das Recht,alles mitzunehmen, das wir im Sinne desDurchsuchungsbeschlusses für wichtig halten.Sie bekommen eine vollständige Auflistung, undes wird Ihnen alles ordnungsgemäßzurückgegeben. Haben Sie das alleverstanden?«Keiner rührte sich. In den Lichtkegeln derTaschenlampen funkelten die Augen derMänner rot, wie bei Tieren in der Nacht.

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»Also bitte. Niemand bewegt sich, keiner greiftein. Folgen Sie den Anweisungen der Beamten.Okay? Auf diese Weise bekommen wir die Sachehier möglichst schnell über die Bühne.«Er blickte sich erneut um. War das Einbildung,oder hatten sich die Männer tatsächlich leichtbewegt, den Kreis geschlossen? Es musste wohlseine Einbildung ein. Er hatte weder gehörtnoch gesehen, dass sich einer von ihnenbewegte. In der Stille war die Anwesenheit deruralten Balken, ihr Knarren geradezu zuspüren.Die Leute selbst machten gar keine Geräusche.Dann aber ertönte in der gegenüberliegendenEnde der Kirche ein Laut: das herzergreifendeBlöken eines Lamms.»Also gut«, sagte D’Agosta, »fangt dort hintenan und arbeitet euch bis zur Tür vor.«Sie gingen über den Mittelgang. Der Boden warmit großen, rechteckigen Quadern abgewetzterNatursteine ausgelegt, kein Gestühl, keineKirchenbänke. Die Zeremonien und Riten – undD’Agosta vermochte sich nicht einmal

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ansatzweise vorzustellen, wie die aussahen –mussten im Stehen durchgeführt werden. Oderkniend vielleicht. Er bemerkte seltsameZeichnungen an den Wänden: Schnörkel undAugen und farnähnliche Pflanzen, alleverbunden durch komplizierte Linien. Sieerinnerten ihn stark an die Kleidung desPriesters – und noch mehr an die verfluchteZeichnung, die in Smithbacks Wohnung an dieWand gemalt worden war.Er gab Perez ein Zeichen. »Machen Sie ein Fotovon der Zeichnung da.«»Kein Problem.«Das Blitzlicht ließ Pulchinski zusammenzucken.Das Lamm blökte erneut. Hunderte Augenbeobachteten D’Agosta und seine Leute, hinund wieder meinte er, das Aufblitzen vongeschliffenem Metall in den Falten derGewänder der Männer gesehen zu haben.Schließlich erreichte ihre Gruppe dasrückwärtige Ende des Gebäudes. Dort, wo sichnormalerweise der Chorraum befunden hätte,war ein Pferch zu sehen, umgeben von einem

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war ein Pferch zu sehen, umgeben von einemHolzzaun, der Boden bedeckt mit Stroh. In derMitte ein Pfahl mit einer Kette daran, an der einLamm angebunden war. Feuchtes Stroh mitdunklen Flecken. Die Wände mit getrocknetemBlut und Fäkalien bespritzt. Der Pfosten wareinst wie ein Totempfahl geschnitzt worden,inzwischen aber mit einer derart dicken Schichtvon Innereien und Kot überzogen, dass dieSchnitzereien nicht mehr zu erkennen waren.Dahinter stand ein gemauerter Altar, auf demKrüge mit Wasser, polierte Steine, Fetische undEssensgaben standen. Darauf, auf einemkleinen Podest, irgendwelche Instrumente vonvager nautischer Art, die D’Agosta nichtidentifizieren konnte: geringelte, gebogeneMetallteile mit hölzernen Griffen, fast wieüberdimensionierte Korkenzieher. Alles aufHochglanz poliert, ausgestellt wie Reliquien.Neben dem Altar stand eine Rosshaar-Truhemit Vorhängeschloss.»Hübsch«, sagte D’Agosta, während er dieSzenerie mit der Taschenlampe anleuchtete.

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»Wirklich hübsch.«»Einen solchen Vôdou habe ich noch niegesehen«, murmelte Bertin. »Mehr noch: Ichwürde das hier nicht als Vôdou bezeichnen. Oh,die Grundlagen sind da, gewiss, aber das hiergeht in eine völlig andere, gefährlichereRichtung.«»Das hier ist furchtbar«, sagte Pulchinski. Erholte eine Videokamera hervor und begann zufilmen.Da erhob sich unter den Mitgliedern derGemeinde ein Gescharre, ein kollektivesRascheln.»Dies ist ein heiliger Ort«, sagte derHohepriester, dessen Stimme in demKirchenraum laut widerhallte. »Sie entweihenihn und beschmutzen unseren Glauben!«»Nehmen Sie das alles auf, Mr. Pulchinski«,sagte D’Agosta.Geschwind wie eine Fledermaus und mitaufflatternder Robe stürzte der Hohepriestervor, holte mit seinem Stecken aus und schlugPulchinski die Videokamera aus der Hand, die

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mit lautem Knall zu Boden fiel. Pulchinskitaumelte zurück und schrie erschrocken auf.D’Agosta zog blitzschnell seine Dienstwaffe.»Mr. Charrière, Hände nach vorn undumdrehen – ich sagte, drehen Sie sich um!«Der Hohepriester tat gar nichts. Die Waffe warauf ihn gerichtet, aber der Mann war offenbarunbeeindruckt.Plötzlich tauchte Pendergast – derherumgehuscht war und Proben von diversenArtefakten und Altargegenständen genommenund in winzige Teströhrchen gesteckt hatte –vor D’Agosta auf. »Einen Moment, Lieutenant«,sagte er leise, dann wandte er sich um.»Mr. Charrière?«Der Hohepriester drehte sich blitzartig zu ihmum. »Beschmutzer!«, rief er.»Mr. Charrière.« Pendergast sprach denNamen nochmals mit höchst merkwürdigerBetonung aus, worauf der Mann verstummte.»Sie haben einen Staatsbeamten angegriffen.«Er wandte sich an den Tierschutzbeauftragten.»Alles in Ordnung mit Ihnen?«

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»Kein Problem, alles klar.« Nach außen hinzeigte sich Pulchinski tapfer. Dabei schlottertenihm sichtlich die Knie. D’Agosta sah sichunsicher um. Diesmal bildete er es sich nichtein: Die Männer waren tatsächlich nähergerückt.»Das war sehr töricht von Ihnen,Mr. Charrière«, fuhr Pendergast fort, mit zwarleiser, aber irgendwie durchdringenderStimme. »Sie haben sich damit unserer Machtunterstellt.« Er blickte über die Schulter.»Habe ich nicht recht, Mr. Bossong?«Ein Lächeln huschte über die Züge desPriesters. Bei den meisten Menschen hellte einLächeln das Gesicht auf, bei Charrière brachtees jedoch eine Narbe zum Vorschein, die vorhernicht zu sehen gewesen war. »Die einzigeMacht kommt von den Göttern dieses Ortes, derMacht der loa und ihrer hungan!« Er donnertemit dem Stab auf den Boden, als wollte erseinen Worten Nachdruck verleihen. Und dann,in der spannungsgeladenen Stille, drang vonunterhalb ihrer Füße ein gedämpfter,

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antwortender Laut herauf.Aaaaaahhuuuu …D’Agosta zuckte zusammen – das war doch derLaut, den er gestern Abend in dem Unterholzgehört hatte. »Was zum Teufel war das?«Keine Antwort. Die Männer schienenangriffsbereit, gespannt, als warteten sie.Jetzt trat Bossong, der Führer der Gemeinde,vor. Er hatte die Konfrontation von der Seiteaus mit undurchdringlicher Miene beobachtet.»Ihr Durchsuchungsbeschluss gilt nicht bishierher«, sagte er.»Es besteht Verdunklungsgefahr. Dort untenbefindet sich ein Tier oder Ähnliches.«Bossong runzelte die Stirn. »Bleiben Sie, wo Siesind.«»Den Teufel werde ich tun.«Jetzt nahm der Priester, Charrière, dieÄußerung auf. Er wandte sich um und sagte zuden Männern: »Dieses Geschlecht wird nichtvergehen!«»Dieses Geschlecht wird nicht vergehen!«,erwiderten sie wie aus einem Mund. Der jähe,

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donnernde Ruf klang nach der vorherigen Stillegeradezu furchterregend.»Wir werden unsere Arbeit zunächst hier obenbeenden«, fuhr Pendergast seelenruhig fort.»Jedes weitere Bemühen, uns daran zu hindern,wird mit Missbilligung quittiert werden.Vielleicht sogar Unhöflichkeit.«Charrière stach mit dem Finger gegenPendergasts Mantel, sein grimassierendesLächeln stand ihm starr im Gesicht. »Sie habenkeine Macht über mich.«Pendergast entzog sich der Berührung.»Lieutenant? Wollen wir weitermachen?«D’Agosta steckte seine Waffe ins Holsterzurück. Pendergast hatte ihnen auf irgendeineWeise ein, zwei Minuten Zeit verschafft.»Pulchinski, nehmen Sie das Schaf und denPfahl. Perez, knacken Sie das Schloss an derTruhe da.«Perez öffnete das Schloss an der Rosshaarkisteund hob den Deckel an. D’Agosta leuchtete mitder Taschenlampe hinein. Die Kiste war voll mitin Lederlappen eingeschlagenen Instrumenten.

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D’Agosta nahm eines davon in die Hand,wickelte es aus – ein Messer mit abwärtsgekrümmter Klinge.»Nehmen Sie die Kiste mitsamt dem Inhalt mit.«»Ja, Sir.«Jetzt kamen die Männer, vor sich hin murmelnd,näher geschlurft. Die Miene zu einer Grimasseverzerrt, sah der Hohepriester ihnen bei derArbeit zu; seine Lippen bewegten sich, alsspräche er ein stummes Gebet.D’Agosta erhaschte aus dem Augenwinkeleinen Blick auf Bertin. Den grotesken kleinenKerl hatte er beinahe vergessen. Er stöberte ineiner querhausähnlichen Ecke, in der DutzendeLederriemen mit Fetischen daran von derDecke hingen. Als Nächstes ging er zu einembizarren Gebilde aus Stöcken, Tausenden, diezu einem schiefen dreidimensionalen Fünfeckzusammengebunden waren. Seine Miene wirktebesorgt.»Nehmen Sie das hier auch mit«, sagteD’Agosta und deutete auf einen Fetisch, der aufdem Boden lag. »Und das und das.« Er

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leuchtete mit der Taschenlampe in die Ecken,suchte nach Türen oder Schränken, versuchte,hinter die Menschenmenge zu blicken.»Möge der loa Unglück über die schmutzigenbaka bringen, die das Heiligtum besudeln!«,rief der Hohepriester. Jetzt hielt er in deranderen Hand einen seltsamenZaubergegenstand – eine kleine, dunkle Rasselmit einem vertrockneten Knauf von der Größeeines Golfballs – und schüttelte ihn gegen dieEindringlinge.»Nehmen Sie die Fetische vom Altar«, sagteD’Agosta. »Und die Instrumente hier und denanderen Krempel dort drüben auch. Alles.«Rasch lud Perez die Sachen in denBeweismittelkoffer.»Dieb!«, donnerte Charrière und schüttelte denZaubergegenstand. Die Männer schlurften vor.»Entspannen Sie sich, Sie bekommen alleswieder«, sagte D’Agosta. Am besten, siebrachten die Sache hier hinter sich – schnell –und schauten dann im Keller nach.»Lieutenant, vergessen Sie nicht die Objekte

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auf dem caye-mystère.« Mit einem Nickendeutete Pendergast auf einen weiteren Schreinin einem dunklen Alkoven. Der Schrein war anden Seiten mit Palmbättern versehen, etlicheTöpfe, Fetische und Essens-Opfergabenstapelten sich darauf.»Ja, klar.«»Baka-Schwein!«Im selben Moment kam aus dem Kreis derGläubigen ein Geräusch ähnlich dem Rasselneiner Klapperschlange. Zunächst erklang es aneinem Ort, dann einem anderen und dann vonüberall her. D’Agosta leuchtete mit derTaschenlampe auf die Männer – inzwischenwaren sie noch näher gekommen. Jederschüttelte einen geschnitzten Knochen-Griff, andenen – es konnte nichts anderes sein –Rasseln von Klapperschlangen befestigt waren.»Das wär’s dann wohl«, sagte D’Agosta, derseine Lässigkeit jedoch nur vortäuschte.»Vielleicht«, murmelte Pendergast, »kann dieDurchsuchung unten warten.«D’Agosta nickte. Verflucht, sie mussten wirklich

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von hier verschwinden.»Hundefressende baka!«, kreischte derPriester.D’Agosta wandte sich zum Gehen. Inzwischenwurde ihr Exit-Korridor, der Mittelgang derKirche, von den Männern vollständig blockiert.»Hey, Leute, wir sind fertig hier. Wir gehenjetzt.« Pulchinski war sichtlich nur allzu bereitdazu, Perez desgleichen. Pendergast warerneut damit beschäftigt, Probeneinzusammeln. Aber wo zum Teufel steckteBertin?Da ertönte aus einer dunklen Ecke eingeräuschvolles Schlurfen. D’Agosta drehte sichum – und sah Bertin, der sich mit einemAufschrei auf den Hohepriester stürzte.Charrière taumelte zurück, dann rangen beideum den Zaubergegenstand, den derHohepriester umklammert hielt.»He!«, schrie D’Agosta. »Was zum Teufel …?«Die Männer drängten vor; das Gerassel wurdezu einem tiefen, zischenden Dröhnen.Die beiden Kontrahenten stürzten zu Boden,

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Die beiden Kontrahenten stürzten zu Boden,verfingen sich in Charrierès Robe. Blitzartigmischte sich Pendergast in das Handgemengeein. Einen Moment später tauchte er darauswieder auf, Bertin an den Armen festhaltend.»Lassen Sie mich an ihn ran!«, schrie Bertin.»Ich bringe ihn um! Du, du wirst sterben,masisi!«Aber Charrière rückte nur seine Robe zurecht,staubte sich ab und zeigte wieder seingrässliches, entstellendes Lächeln. »Du wirststerben«, sagte er leise. »Du und deineFreunde.«Bossong, der Führer der Gemeinde, schauteden Priester ruhig an. »Genug!«Bertin wehrte sich, aber Pendergast hielt ihnfest und flüsterte ihm eindringlich etwas zu.»Nein!«, rief Bertin. »Nein!«Die Männer rückten vor, schüttelten dieRasseln wie verrückt. Wieder erhaschteD’Agosta einen Blick auf geschliffenen Stahl inden dunklen Falten ihrer Kleidung. Bertinverstummte jäh, sein Gesicht blass und

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zitternd.Die Männer drängten vor.D’Agosta schluckte. Widerstand gegen diesenMob zu leisten – zwecklos. Sie könnten sich mitGlück höchstens den Weg freischießen,vorausgesetzt, dass keiner von denen eineSchusswaffe trug, aber dann würden er undseine Leute den Rest ihres Lebens vor Gerichtverbringen. »Wir ziehen ab«, sagte er knapp.Er wandte sich an die anderen. »Gehen wir.«Charrière trat vor ihn und versperrte ihm denWeg. Die Männer schlossen den Kreis enger.»Wir suchen keinen Streit«, sagte D’Agosta. Erließ die Hand leicht auf seiner Dienstwafferuhen.»Dafür ist es jetzt zu spät«, sagte derHohepriester mit plötzlich lauterer Stimme. »Ihrseid Beschmutzer, Dreck. Nur eine vollständigeSäuberung kann die Entweihung rückgängigmachen.«»Die Kirche säubern!«, rief eine Stimme, derandere antworteten. »Die Kirche säubern!«D’Agosta löste den Verschluss am Holster und

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überlegte schnell. Die Glock 19 verfügte überein Magazin mit fünfzehn Schuss; das würdereichen, um sich einen Weg zur Türfreizuschießen, jedenfalls durch eine normaleMenschenmenge. Aber diese Leute waren allesandere als normal. Er umklammerte den Griffseiner Pistole fester und holte tief Luft.Plötzlich trat Pendergast auf Charrière zu.»Was ist das?« Blitzartig zuckte PendergastsHand vor und riss etwas vom Ärmel desPriesters. Er hielt es in die Höhe und leuchtetemit der Taschenlampe darauf. »Sieh an! Einârret, mit einer falschen Drehung des Fadens,in einer umgekehrten Spirale. Das Falscher-Freund-Amulett! Mr. Charrière, warum tragenSie so etwas, wenn Sie doch der Hirte dieserMenschen sind? Was fürchten Sie von ihnen?«Er wandte sich an die Menge und schüttelteden kleinen büscheligen Fetisch. »Er misstrauteuch! Seht ihr?«Er drehte sich wieder zu Charrière um. »Warumtrauen Sie diesen Leuten nicht?«Aufschreiend und mit wehendem Umhang

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sprang Charrière vor, wollte mit seinem Stabzuschlagen, aber Pendergast drehte sich sogeschickt, dass Charrière ins Leere lief undherumwirbelte, dann schickte ihn ein kurzerFußtritt zu Boden. Wütendes Geschrei erhobsich unter den Männern. Bossong ging schnelldazwischen und legte seine Hand auf denPriester, worauf der, einen Ausdruck der Wutund des Hasses in seinen Gesichtszügen,aufstand.»Du Schwein!«, sagte er zu Pendergast.D’Agosta packte den vorderen Griff dersarggroßen Beweismittelkiste, Perez fasste denhinteren, dann liefen sie los, die Kiste dabei wieeinen Rammbock schwingend. Die verblüffteMenge stob auseinander. Mit der freien Handzog D’Agosta die Glock aus dem Holster undschoss in die Luft, was in dem Gewölberaum einEcho und Gegenecho hervorrief. »Gehen wir!Los!« Er steckte die Waffe ins Holster zurück,packte Bertin am Schlafittchen und zog ihn mitsich, dann liefen sie zum Ausgang, wobei sielinks und rechts die Leute aus dem Weg

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stießen. Ein Messer blitzte auf, aber mit einemjähen Hieb schickte Pendergast denMöchtegern-Angreifer zu Boden.Sie rannten durch die Tür, die Menge stürmtehinter ihnen her nach draußen. D’Agostafeuerte ein zweites Mal in die Luft. »Zurück!«Jetzt wurden Dutzende Messer gezückt undblitzten matt in dem schwindenden Licht.»In die Fahrzeuge!«, schrie D’Agosta. »Sofort!«Sie stiegen ein, warfen die Beweismittel hintenin den Kleintransporter und hoben das Lammhinein. Der Kleinlaster fuhr mit quietschendenReifen an, noch ehe sie die Gelegenheit hatten,die Türen zu schließen, gefolgt vomStreifenwagen, dessen durchdrehende Reifenden kreischenden Pöbel direkt hinter ihnen mitKieseln bespritzten. Im Davonbrausen hörteD’Agosta vom Rücksitz her ein Stöhnen. Erdrehte sich um – und sah den Franzosen,Bertin. Kreidebleich und zitternd klammerte ersich an Pendergasts Revers. Pendergast zogirgendetwas aus der Anzugjacke, eines dieserseltsamen, gekrümmten Instrumente, die auf

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dem Altar gelegen hatten. Er musste eswährend des Getümmels entwendet haben.»Sind Sie verletzt?«, fragte D’Agosta Bertin.Das Herz hämmerte ihm in der Brust, und erhatte Mühe, durchzuatmen.»Dieser hungan, Charrière …«»Was denn?«»Er hat Proben gesammelt …«»Er hat was?«»Proben von mir, von uns allen … Haare,Kleidung – haben Sie das nicht gesehen? Siehaben ihn doch gehört, haben seine Drohungengehört. Malefizia, Todeszauber. Wir werdendiese Drohungen kennenlernen, sie zu spürenbekommen. Schon bald.« Der Mann sah aus, alsläge er im Sterben.D’Agosta wandte sich brüsk ab. Dieser Scheiß,den er sich gefallen lassen musste, wenn er mitPendergast zusammenarbeitete!

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»Was soll’s denn sein?«, fragte die gestresstwirkende Kellnerin, Ellbogen auf die Hüftegestützt, Notizblock aufgeklappt, Schreibergezückt.D’Agosta schob die Speisekarte beiseite.»Kaffee, schwarz, und Haferflocken.«Die Kellnerin warf einen Blick über den Tisch.»Und Sie?«»Blaubeerpfannkuchen«, sagte Hayward. »DenSirup bitte warm machen.«»Wird erledigt«, antwortete die Kellnerin,klappte den Notizblock zu und wandte sich ab.»Einen Moment noch«, sagte D’Agosta.Darüber musste er nachdenken. Nach denErfahrungen, die er in der Zeit ihresZusammenlebens gewonnen hatte, bestellte –oder briet – Laura Blaubeerpfannkuchen ausdem einen oder anderen speziellen Grund.

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Entweder sie hatte ein schlechtes Gewissen,weil sie zu viel gearbeitet und ihn ignorierthatte. Oder sie war in amouröser Stimmung.Beide Möglichkeiten klangen gut. Gab sie ihmeinen Fingerzeig? Das gemeinsame Frühstückwar schließlich ihre Idee gewesen.»Ich nehme auch den Pfannkuchen«, sagte er.»Gerne.« Die Kellnerin zog von dannen.»Hast du heute Morgen schon den West Sidergelesen?«, fragte Hayward.»Ja. Leider.« Das Skandalblatt war offenbarwild entschlossen, die ganze Stadt in Hysteriezu versetzen. Und es war nicht nur der WestSider – sämtliche Boulevardblätter hatteninzwischen das Geschrei und Gezeteraufgenommen. Das Ville wurde in zunehmendgruseligem Licht dargestellt, mit kaumverhohlenen Hinweisen, dass es hinter demMord an der »Star-Reporterin« des West Sider,Caitlyn Kidd, stecke.Am morbidesten und ausführlichstenberichteten die Zeitungen jedoch über BillSmithback. Über den Mord an Kidd durch

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Smithback, nachdem dieser für tot erklärt undobduziert worden war; dass seine Leiche ausder Gerichtsmedizin verschwunden war – überalles war höchst genüsslich geschrieben undspekuliert worden. Und natürlich waren dieArtikel mit weiteren dunklen Andeutungengespickt gewesen, dass letztlich das Ville hinterdem Verbrechen stecke.Was D’Agosta anging, steckten die Leute imVille tatsächlich hinter den Verbrechen. Aberauch wenn seine Wut immer größer wurde, warihm doch klar, dass Selbstjustiz das Letztewäre, was die Stadt brauchen konnte.Die Kellnerin kam mit seinem Kaffee zurück.Dankbar nippte er daran und sah Laura dabeiverstohlen an. Ihre Blicke trafen sich. Sie wirkteweder besonders schuldbewusst nochamourös. Sondern besorgt.»Wann hast du Nora Kelly besucht?«»Gestern Abend, sobald ich davon erfahrenhatte. Unmittelbar nachdem wir das Villedurchsucht hatten.«»Was ist mit dem Personenschutz, den du für

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sie arrangiert hast?«D’Agosta runzelte die Stirn. »DieÜberwachungsteams haben die Ablösungverbockt. Beide dachten, das andere hätte allesim Griff. Verdammte Idioten.«»Wie geht es Nora?«»Sie hat ein paar Prellungen undAbschürfungen. Schwerwiegender ist, dass sieeine zweite Gehirnerschütterung erlitten hat.Sie muss mindestens noch einige Tage zurBeobachtung im Krankenhaus bleiben.«»Die Nachbarn sind dazwischengegangen?«D’Agosta trank noch einen Schluck Kaffee undnickte. »Als sie Noras Schreie gehört haben,kamen sie herbeigelaufen. Sie haben die Türeingetreten.«»Und Nora besteht darauf, dass es Smithbackwar?«»Sie ist sich so sicher, dass sie es bei Gerichtunter Eid aussagen würde. Das Gleiche gilt fürdie Nachbarn.«Hayward schaute auf die Tischplatte ausMarmorimitat.

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»Die Sache ist höchst merkwürdig. Ich meine,was geht hier vor?«»Das gottverdammte Ville – das geht hier vor.«Allein schon beim Gedanken an Nora wurde ererneut zornig. Wie’s aussah, war er in derletzten Zeit ständig wütend. Wütend auf dasVille, wütend auf Kline und seine aalglattenDrohungen, wütend auf den Chef, wütend aufall die bürokratischen Vorschriften, die ihm dieHände banden, wütend selbst auf Pendergastmit seiner irritierenden Verschwiegenheit unddiesem unerträglichen Winzling vonfranzösisch-kreolischem Berater.Laura sah ihn wieder an. Ihre Miene war nochsorgenvoller. »Was genau hat es mit dem Villeauf sich?«»Begreifst du denn nicht? Die stecken hinterallem. Es muss so sein. Smithback hatte recht.«»Darf ich darauf hinweisen, dass du denZusammenhang noch nicht hergestellt hast.Smithback hat über angebliche Tötungen vonTieren geschrieben – das ist alles.«»›Angeblich‹ stimmt nicht. Ich habe die Tiere im

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Laderaum des Kleinlasters gehört. Ich habe dieMesser, das blutige Stroh gesehen. Wenn dudie Kirche gesehen hättest, Laura. Großer Gott,die Roben, die Kapuzen, der Sprechgesang …Diese Leute sind Fanatiker.«»Deshalb sind sie noch lange keine Mörder.Vinnie, du benötigst einen direktenZusammenhang.«»Und sie haben ein Motiv. Dieser Hohepriester,Charrière …« Er schüttelte den Kopf. »Das istvielleicht eine miese Type. Fähig, einen Mord zubegehen. Garantiert.«»Und was ist mit diesem Bertin, von dem ich indem Bericht gelesen habe? Wer ist das?«»Pendergast hat ihn hinzugezogen. Experte fürVoodoo oder so. Ein Quacksalber, wenn dumich fragst.«»Voodoo?«»Pendergast ist verdammt interessiert andiesem Blödsinn. Er gibt es nicht zu, aber er istes. Verflucht noch mal, meinetwegen kann er soviele Nadeln in Puppen stecken, wie er will –solange wir dadurch das Ville drankriegen.«

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Ihre Mahlzeiten kamen, köstlich nach frischenBlaubeeren duftend. Laura ließ den Ahornsirupauf ihren Teller tröpfeln, nahm ihre Gabel, legtesie aber wieder hin und beugte sich vor.»Vinnie, hör mir mal gut zu. Du bist zu wütend,um die Ermittlungen in diesem Fall zu leiten.«»Wovon redest du?«»Du kannst einfach nicht objektiv sein. Du hastSmithback unheimlich gern gemocht. Du bistein großartiger Polizist, aber du musst darübernachdenken, den Fall abzugeben.«»Das kann nicht dein Ernst sein. Ich stecke biszum Hals in den Ermittlungen, vierundzwanzigStunden, sieben Tage die Woche.«»Genau das meine ich ja. Du bist auf Hexenjagd,bist überzeugt, dass die Täter aus dem Villekommen.«D’Agosta hielt sich bewusst mit einer Antwortzurück, bis er einen Bissen von seinemPfannkuchen genommen hatte. »Sollen wirdenn nicht unseren Überzeugungen, unseremBauchgefühl folgen? Ich dachte, die Polizeisollte den Tatverdächtigen ermitteln, der am

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ehesten in Frage kommt?«»Ich meine etwas anderes. Du bist so blind vorlauter Wut, vor lauter Emotion, dass du esversäumst, in andere Richtungen zu ermitteln.«D’Agosta wusste nicht recht, was er ihr daraufantworten sollte. Tief im Inneren spürte er,dass sie recht hatte. Nein, er wusste, dass sierecht hatte. Das Verrückte war, dass es ihmfast egal war. Smithbacks Tod hatte ihnschockiert, eine solch große Lückehinterlassen, wie er es nicht vorhergesehenhatte. Und er wollte, dass die Verantwortlichenzur Rechenschaft gezogen wurden.»Und was willst du nun bezüglich Pendergasttun? Jedes Mal, wenn er ins Bild kommt, gibt esÄrger. Er ist nicht gut für dich, Vinnie – haltdich fern von ihm. Arbeite allein.«»Das ist Blödsinn«, antwortete D’Agostabarsch. »Er ist brillant. Er liefert Ergebnisse.«»Ja, das stimmt. Und weißt du auch, warum?Weil er zu ungeduldig ist, ordnungsgemäßeErmittlungen durchzuführen. Deswegenoperiert er außerhalb des Systems. Und zerrt

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dich mit auf seine außergesetzlichenEskapaden. Und wer steckt am Ende die Kritikein? Du.«»Ich habe mit ihm in einem halben DutzendFällen zusammengearbeitet. Er ist jedem aufden Grund gegangen und hat die Mörder ihrergerechten Strafe zugeführt.«»Pendergasts Strafe, meinst du. Bei der Art,wie er Beweismittel sammelt, bezweifle ich,dass ›seine‹ Täter in einem Gerichtsverfahren jeverurteilt würden. Vielleicht ist es ja kein Zufall,dass sie bei Prozessbeginn nicht mehr amLeben sind.«Aber D’Agosta gab ihr keine Antwort, sondernschob einfach seinen Teller beiseite. DasFrühstück war nicht so verlaufen, wie er sicherhofft hatte. Er war müde – hundemüde unddurcheinander.Da tat Laura etwas, womit er nicht gerechnethatte. Sie streckte den Arm aus und ergriffseine Hand. »Sieh mal, Vinnie. Ich will dir dochkeine Schwierigkeiten machen. Ich will dir dochnur helfen.«

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nur helfen.«»Das weiß ich. Und ich weiß das auch sehr zuschätzen, wirklich.«»Es ist nur so, dass du bei dem letzten Fall vonPendergast, bei dem du involviert warst, fastalles verloren hättest. Der Chef hat dich aufdem Kieker. Ich weiß, wie wichtig dir dein Jobist, und ich möchte nicht erleben, dass du ihnnoch einmal aufs Spiel setzt. Willst du mir nichtwenigstens versprechen, dass du dich von ihmnicht in irgendwelche außergesetzlichenFeldzüge hineinziehen lässt? Du leitest dieErmittlungen in diesem Fall. Letztlich bist dues, der dort oben im Zeugenstand sagen muss,was er getan hat – und was nicht.«D’Agosta nickte. »Okay.«Sie drückte seine Hand und lächelte.»Weißt du noch, wie wir uns kennengelernthaben?«, fragte er. »Ich war der erfahreneVeteran, der große böse Lieutenant der NewYorker Polizei.«»Und ich die kleine, unerfahrene Sergeantin,frisch von der Verkehrspolizei.«

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»Genau. Kaum zu glauben, dass das schonsieben Jahre her ist. Damals habe ich auf dichachtgegeben. Habe dir den Rückenfreigehalten. Komisch, wie sich die Rollenumgekehrt haben.«Wieder blickte sie auf die Tischplatte. Einezarte Röte trat in ihre Wangen.»Aber weißt du was, Laura? Mir gefällt esirgendwie, wie es jetzt ist.«Eine dringliche, atemlose Stimme mischte sichüber Lauras Schulter hinweg in das Gesprächein. »Ist er das?«Er sah an Laura vorbei in die Nische nebenan.Eine hagere Frau in weißer Bluse undschwarzem Kostüm hatte sich umgewandt undstarrte ihm, ein Handy an die Wange gedrückt,mitten ins Gesicht. Einen Augenblick konnte ernicht erkennen, mit wem die Frau redete – ihm,jemand, mit dem sie frühstückte, oder derPerson am anderen Ende des Handys.»Er ist es! Ich hab ihn erkannt, er war gesternin den Nachrichten!« Die Frau steckte dasHandy in die Handtasche zurück, schlüpfte aus

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ihrer Nische und kam herüber. »Sie sind dochder Lieutenant, der in den Zombie-Mordfällenermittelt, oder?«Die Kellnerin, die das mitbekommen hatte, kamherüber. »Ist er’s?«Die dünne Frau beugte sich in seine Richtungund packte mit ihren manikürten Fingernägelndie Tischkante so fest, dass ihre Handknöchelfast weiß wurden. »Bitte sagen Sie mir, dass Siedie Fälle schnell lösen, dass Sie dieseschrecklichen Menschen hinter Gitterbringen!«Jetzt trat eine ältere Frau, die das Gesprächverfolgt hatte, vor. »Bitte, Officer«, sagte siefast flehentlich, während ein rattengroßerYorkshire-Terrier aus einem Korb, den sie inden Armen trug, hervorspähte. »Ich schlafeschon seit Tagen nicht mehr. Und meineFreundinnen auch nicht. Die Stadt unternimmtnichts. Sie müssen der Sache einen Riegelvorschieben!«Verblüfft blickte D’Agosta von einer Frau zuranderen; einen Moment lang war er sprachlos.

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So etwas war ihm noch nie passiert, nicht mal inden Fällen mit großer Außenwirkung.Normalerweise waren die New Yorkerübersättigt, weltklug, respektlos. Aber dieseLeute hier – die Furcht in ihren Blicken und dasDrängende in ihren Stimmen warenunverkennbar.Er lächelte der hageren Frau, wie er hoffte,beruhigend zu. »Wir geben unser Bestes,Ma’am. Es wird nicht mehr lange dauern, dasverspreche ich Ihnen.«»Ich hoffe, Sie halten Ihr Versprechen!« DieFrauen zogen ab, sich angeregt unterhaltend,verbunden durch ein gemeinsames Anliegen.D’Agosta sah wieder zu Laura Hayward. Sieerwiderte seinen Blick und war genauso ratloswie er. »Das war interessant«, sagte sieschließlich. »Die Sache wird richtig groß, undzwar richtig schnell, Vinnie. Pass auf dich auf.«»Wollen wir?«, fragte er und wies zur Tür.»Geh du nur. Ich bleibe noch und trinke meinenKaffee aus.«Er legte einen Zwanziger auf den Tisch. »Sehen

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wir uns heute Nachmittag im Präsidium, imneuen Anbau, um die Beweismittel zu sichten?«Als sie nickte, drehte er sich um und bahntesich so vorsichtig wie möglich einen Weg durchdie kleine Gruppe von New Yorkern mitängstlichen Mienen.

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D’Agosta graute davor, irgendetwas mit denneuen Räumlichkeiten im Untergeschoss desPolizeipräsidiums zu tun zu haben. Die Räumeund das ganze damit zusammenhängendeProzedere waren erneuert worden, nachdem esabermals einen Fall gegeben hatte, den einGericht wegen Fehler in der Beweisführungzurückgewiesen hatte. Als er jetzt diesenAnbau betrat, kam es ihm vor, als verschaffe ersich Zutritt zum Fort Knox.Er zeigte seine Papiere einer Sekretärin hinterkugelsicherem Glas. Anschließend traten er,Hayward und Bertin sich im Warteraum dieFüße in den Bauch – keine Stühle, keineZeitschriften, nur ein Foto des Gouverneurs –,solange ihre Papiere überprüft wurden. Nacheiner Viertelstunde erschien eine forsche Frau,verschrumpelt wie eine Mumie und trotzdem

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erstaunlich lebhaft und mit einem Funkgerät inder Hand, und händigte ihnen allen Schildchenund Baumwollhandschuhe aus.»Hier entlang«, sagte sie in klarem, knappemTonfall. »Bleiben Sie zusammen. Fassen Sienichts an.«Sie folgten ihr über einen kahlen, vonNeonröhren beleuchteten Flur, von demnummerierte Stahltüren abgingen. Nach einerscheinbar unendlich langen Strecke blieb sievor einer der Türen stehen, zog eine Kartedurch den Schlitz und gab mitmaschinenartiger Präzision einen Code in dieSicherheitstastatur ein. Die Tür sprang auf. Imdahinterliegenden Raum reihten sich an dreiWänden Schränke voller Beweismittel, in derMitte stand ein Resopaltisch unter einer Reiheheller Lampen. In den alten Zeiten hätten dieBeweismittel bereits auf dem Tisch gelegen.Jetzt lagen dort Fotos davon, nebst einer Listemit den entsprechenden Einträgen. Manmusste spezielle Anträge stellen, um spezielleGegenstände sehen zu dürfen – stöbern war

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nicht mehr erlaubt.»Stellen Sie sich hinter den Tisch«, ließ sich dieforsche Stimme vernehmen.Hayward, Pendergast und der lästige Bertinbetraten hintereinander den Raum undbefolgten die Anweisung. D’Agosta spürteschon jetzt, dass von Laura Schwingungen derMissbilligung ausgingen. Sie hatte sich gegenBertins Teilnahme ausgesprochen – der Frackund der riesige Gehstock waren auch nicht gutangekommen –, aber seine FBI-Papiere waren inOrdnung. Der kleine Kerl sah ziemlichderangiert aus, war ganz blass um die Nase,Schweißperlen standen ihm auf der Stirn.»Also, dann wollen wir mal«, sagte die Frau undstellte sich hinter den Tisch. »Haben wir dasschon einmal gemacht?«D’Agosta sagte nichts. Die anderen murmelten:»Nein.«»Sie dürfen jeweils nur ein Beweismittelanfordern. Nur mir ist es gestattet, dasBeweismittel zu berühren, es sei denn, Siemüssen es aus nächster Nähe untersuchen –

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was, wie ich hinzufügen sollte, meinervorherigen Zustimmung bedarf. Tests könnenper schriftlicher Anfrage in Auftrag gegebenwerden. Also, dieses Blatt Papier führtsämtliche Beweismittel auf, die bei derHausdurchsuchung eingesammelt wurden,ebenso wie die anderen im Zusammenhang mitdem Fall gesammelten Beweismittel. Wie Siesehen können, gibt es Fotos von allen. Also«,sie lächelte, wenn auch ziemlich verspannt,»was möchten Sie denn sehen?«»Als Erstes«, sagte Pendergast, »können Sieuns die Beweisstücke bringen, die wir in ColinFearings Grabfach sichergestellt haben.«Nach einiger Zeit wurde der winzige Papier-Sarg mit dem Skelett-Imitat darin gebracht.»Was noch?«, fragte die Frau.»Wir würden gern die Truhe aus dem Ville undderen Inhalt sehen.« D’Agosta zeigte hin.»Dieses Bild dort.«Die Frau fuhr mit dem lackierten Fingernageldie Liste hinunter, tippte auf eine Zahl, drehtesich um, trat an einen der

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Beweismittelschränke, zog ein Schubfach aufund ließ ein Fach herausgleiten. »Die ist etwasgroß für mich«, sagte sie.D’Agosta trat einen Schritt vor. »Ich helfeIhnen.«»Nein.« Die Frau tätigte mit ihrem Funkgeräteinen Anruf. Ein paar Minuten darauf kam einstämmiger Mann herein und half ihr, die Truheauf den Tisch zu heben; dann bezog er in einerEcke Aufstellung.»Öffnen Sie das bitte, und legen Sie den Inhaltauf den Tisch«, sagte D’Agosta. Er hatte, als siedie Truhe aus dem Ville fortgeschafft hatten,den Inhalt nicht genau untersuchen können.Aufreizend behutsam öffnete die Frau denDeckel, entfernte den in Ledereingeschlagenen Inhalt und legte die einzelnenTeile übermäßig präzise auf den Tisch.»Wickeln Sie die Gegenstände bitte aus«, sagteD’Agosta.Jeder Gegenstand wurde ausgewickelt, als seies ein Museumsstück. Ein Messerset kam zumVorschein, jedes Messer merkwürdiger,

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exotischer und beunruhigender als dasvorherige. Die Klingen waren kunstvollgeschmiedet, gezahnt und gekerbt, die Griffeaus Holz oder Knochen und mit seltsamenSchnörkeln und Zeichnungen versehen. Derletzte Gegenstand, der ausgewickelt wurde,war kein Messer, sondern ein dicker Draht, derauf die abenteuerlichste Art und Weisegebogen und gekringelt war, mit einem Griffaus Elfenbein an einem Ende und einem Hakenam anderen, wobei die Außenseiterasiermesserscharf geschliffen war. DerGegenstand sah genauso aus wie der, denPendergast entwendet hatte.»Zeremonielle Opfermesser mit vévé«, sagteBertin und trat einen Schritt zurück.Gereizt drehte sich D’Agosta zu ihm um.»Wehweh?«Bertin legte die Hand vor den Mund undhüstelte. »Die Griffe«, sagte er mit leiserStimme, »tragen ein vévé, Zeichen des loa.«»Und was zum Teufel ist ein loa?«»Ein Dämon, ein Geist. Jedes Messer steht für

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einen bestimmten. Die kreisförmigenZeichnungen stellen den inneren Tanz, densogenannten danse-cimetière des jeweiligenDämons dar. Wenn Tiere oder … andereLebewesen … dem loa geopfert werden, mussman das Messer des betreffenden loaverwenden.«»Mit anderen Worten: Voodoo-Quatsch«, sagteD’Agosta.Bertin holte ein Taschentuch hervor undbetupfte sich die Stirn mit zittriger Hand.»Nicht Vôdou. Obeah.«Bertins französische Aussprache von Voodoobot D’Agosta einen neuen Anlass zurVerärgerung. »Wo ist da der Unterschied?«»Obeah ist echt.«»Ah ja, echt«, wiederholte D’Agosta. Er blicktezu Laura. Ihre Miene war wie versteinert.Pendergast zog aus der Anzugjacke einLederetui hervor, öffnete es, entnahm ihmnacheinander mehrere Gegenstände – einkleines Gestell, Teströhrchen, Pinzette, eineNadel, mehrere Pipetten mit Reagenzien – und

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legte alles nacheinander auf den Tisch.»Was soll das?«, fragte Hayward schroff.»Ich mache einen Test«, lautete die knappeAntwort.»Sie können hier drin doch nicht ein Laboraufbauen«, sagte sie. »Außerdem haben Siedoch gehört, was die Dame gesagt hat – Siebrauchen eine Genehmigung.«Pendergasts weiße Hand glitt in die schwarzeAnzugjacke und tauchte mit einem Blatt wiederauf. Hayward nahm es und las es, gleichzeitigverdüsterte sich ihre Miene.»Das ist gegen die Vorschrift –«, begann dievertrocknete Dame. Ehe sie den Satz beendenkonnte, erschien ein zweites Blatt Papier undwurde ihr hingehalten. Sie nahm es, las es undbot nicht an, es zurückzugeben.»Also gut«, sagte sie. »Mit welchem Objektmöchten Sie beginnen?«Pendergast deutete auf den Drahthaken, der zumehreren kunstvollen Schnörkeln gebogen war.»Ich muss den Gegenstand in die Handnehmen.«

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Wieder blickte die Frau auf das Blatt Papierund nickte.Pendergast klemmte sich eine Lupe ans Auge,nahm den Haken in die behandschuhten Hände,drehte ihn um, untersuchte ihn aus der Näheund legte ihn wieder ab. Mittels der Pinzetteentfernte er mit äußerster Sorgfalt einigekleine Flöckchen des Materials, das nahe demGriff eingetrocknet war, und legte sie in einTeströhrchen. Dann nahm er einen Tupfer,feuchtete ihn in einer Flasche an, wischte damitüber diesen Bereich des Hakens, dannversiegelte er den Tupfer in einem weiterenTeströhrchen. Diesen Vorgang wiederholte ermit mehreren der Messer, Griffe und Klingen,wobei jeder Tupfer in ein eigenes kleinesTeströhrchen kam. Dann fügte er mittels einerPipette in jedes Röhrchen Reagenzien hinzu.Nur in dem ersten zeigte sich eine Färbung.Er richtete sich auf. »Wie ungewöhnlich.«Ebenso rasch wie die Ausrüstungsgegenständeerschienen waren, verschwanden sie auchwieder in dem Lederetui, das gefaltet,

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wieder in dem Lederetui, das gefaltet,verschlossen und zurück in den Anzug gestecktwurde.Pendergast strich den Anzug glatt und faltetedie Hände vor dem Bauch. Alle starrten ihn an.»Ja?«, fragte er unschuldig.»Mr. Pendergast«, sagte Hayward, »wenn esIhnen nicht zu viel Mühe bereitet, könnten Sieuns vielleicht an den Früchten Ihrer Arbeitteilhaben lassen?«»Ich fürchte, ich bin nicht weitvorangekommen.«»Wie schade«, sagte Hayward.»Sie kennen doch sicherlich Wade Davis, denkanadischen Ethnobotaniker, und sein BuchPassage of Darkness. The Ethnobiology of theHaitian Zombie aus dem Jahr 1988?«Hayward sah ihn immer noch schweigend undmit verschränkten Armen an.»Eine höchst interessante Studie«, sagtePendergast. »Ich kann sie nur empfehlen.«»Ich bestelle das Buch bei Amazon, da könnenSie sicher sein«, sagte Hayward.

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»Davis hat in seiner Untersuchung gezeigt,dass eine lebende Person durch dieVerabreichung zweier besonderer chemischerSubstanzen, normalerweise durch eine Wunde,in einen Zombie verwandelt werden kann. BeimHauptbestandteil der ersten, coup de poudre,handelt es sich um Tetrodoxin – das gleicheToxin, das sich in der japanischen Delikatessefugu findet. Die zweite Substanz beinhaltet einstechapfelartiges Trennmittel. Eine besondereKombination dieser Substanzen kann, wenn sieim Verhältnis nahe der letalen Dosis bei fünfzigProzent der Bevölkerung angewandt wird, einePerson über Tage in einem Zustand des nahenTodes halten. Während dieser Zeit ist sie mobil,verfügt über minimale Hirnfunktionen, nichtaber über einen unabhängigen Willen. Kurzum:Laut dieser Theorie lässt sich mit Hilfebestimmter chemischer Verbindungen einechter Zombie erschaffen.«»Und Sie haben diese chemischenVerbindungen gefunden?«, fragte Hayward inschroffem Tonfall.

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»Das ist ja das Erstaunliche: Ich habe sie nichtgefunden – weder hier noch durch dieunabhängigen Tests, die ich während meinesAufenthalts im Ville durchgeführt habe. Ichmuss gestehen, ich bin verblüfft – undenttäuscht.«Sie wandte sich brüsk ab. »Holen Sie dienächste Charge der Beweisstücke. Wir habensowieso schon genug Zeit vergeudet.«»Allerdings habe ich festgestellt«, fügtePendergast hinzu, »dass sich an diesem Hakenmenschliches Blut befindet.«Es herrschte Stille.D’Agosta drehte sich zu der forschenMitarbeiterin um. »Ich möchte, dass an diesemHaken ein DNA-Test vorgenommen, außerdem,dass das Ergebnis mit den Datenbankenabgeglichen und auf menschliche Gewebeteileüberprüft wird. Mehr noch: Alle dieseInstrumente müssen auf menschliches wie auchtierisches Blut getestet werden. Stellen Sieauch sicher, dass die Griffe auf Fingerabdrückehin untersucht werden. Ich will eine Auflistung

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aller Personen, die mit den Griffen umgegangensind.« Er wandte sich Pendergast zu. »HabenSie eine Idee, wozu dieser verrückte Hakendient?«»Ich bin ratlos, wie ich gestehen muss.Monsieur Bertin?«Bertin war immer aufgeregter geworden. Jetztbedeutete er Pendergast, er solle einen Schrittbeiseitetreten. »Mon frere, ich kann nichtweiter mitmachen«, sagte er in leisem,drängendem Flüsterton. »Ich bin krank, ichsage es Ihnen – krank! Wir haben es hier mitdem Werk dieses hungan Charrière zu tun. Mitseinem Todeszauber – spüren Sie denn nichtschon seine Wirkung?«»Ich fühle mich gut.«Laura Hayward blickte von den beidenMännern zu D’Agosta und schüttelte den Kopf.»Wir müssen aufbrechen«, sagte Bertin. »Wirmüssen nach Hause zurück. Ich brauche denSirup – den zum Schlürfen. Unverdünnt. Ichweiß, dass Sie ein wenig davon haben. Nichtssonst wird mich beruhigen.«

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»Du calme, du calme, maitre. Sehr bald.« Dannwandte sich Pendergast wieder der Gruppe zuund sagte mit lauterer Stimme: »Wenn Sie nunbitte diesen Haken untersuchen würden,Monsieur?«Nach einem Moment trat Bertin höchstwiderwillig vor, beugte sich vorsichtig über denGegenstand und roch daran. Er schwitzteinzwischen heftig, sein Gesicht war bleich. SeinAtemholen klang in dem kleinen Raum wie dasPfeifen eines alten Dudelsacks. »Höchstsonderbar. So etwas habe ich noch niegesehen.«Er schnupperte noch einmal daran.»Und der Miniatur-Sarg, den wir in FearingsGrabfach sichergestellt haben – wurde der vonder gleichen Sekte hergestellt?«Zögernd trat Bertin einen Schritt näher an denkleinen Sarg. Jetzt lag der Deckel darauf.Hergestellt aus cremefarbenem Papier,handbemalt mit Totenköpfen und langemGebein in schwarzer Tinte. Er war kompliziertgefaltet, auf Origami-Art, damit er präzise auf

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den Sarg aus Pappmaché passte.»Der vévé, der auf dem Deckel aufgemalt ist«,sagte Pendergast. »Mit welchem loa wird eridentifiziert?«Bertin schüttelte den Kopf. »Dieser vévé ist mirvöllig unbekannt. Ich würde meinen, dass dashier privat, geheim, nur einer einzigen Obeah-Sekte bekannt ist. Was immer es ist, es isthöchst eigenartig. Ich habe so etwas noch niegesehen.« Er streckte die Hand aus – zog siezurück, als die alte Frau mit ihrer vertrocknetenZunge schnalzte –, dann streckte er sie wiederaus und nahm den Deckel in die Hand.»Legen Sie das zurück«, sagte die Frau sofort.Bertin drehte den Deckel sachte in denHänden, betrachtete ihn aus nächster Näheund murmelte dabei irgendetwas vor sich hin.»Mr. Bertin«, sagte Hayward warnend.Aber er schien sie nicht zu hören. Er drehte daskleine Papiergebilde in den Händen, zuerst zureinen, dann zur anderen Seite, dabei nochimmer leise murmelnd. Und dann riss er es miteiner plötzlichen Bewegung entzwei.

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Ein graues Pulver rieselte aus den Falten aufBertins Hose und Schuhe.Mehrere Dinge passierten gleichzeitig. Bertinwich zurück, schnaubte vor lauter Angst undEntsetzen, die Papierstreifen flatterten davon.Die alte Dame griff danach und begann,Verwünschungen auszustoßen. Der stämmigeWachmann packte Bertin am Kragen und zerrteihn aus dem Raum. Pendergast kniete sichschnell wie eine zuschlagende Schlange nieder,zog aus der Anzugjacke ein Teströhrchenhervor und begann, die Körner des grauenPulvers hineinzufegen. Und inmitten vonalledem stand Laura Hayward und sahD’Agosta an, als wollte sie sagen: Ich habe dichgewarnt. Ich habe dich ja gewarnt.

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Proctor steuerte den Rolls auf einen leerenParkplatz hinter den Baseballplätzen am Randedes Inwood Hill Parks und schaltete dieScheinwerfer aus. Während Pendergast undD’Agosta ausstiegen, ging er zum Kofferraum,öffnete ihn und zog einen langenSegeltuchrucksack heraus, der Werkzeuge, eineBeweismittelkiste aus Plastik und einenMetalldetektor enthielt.»Sie meinen, es geht in Ordnung, den Wageneinfach so stehen zu lassen?«, fragte D’Agostazweifelnd.»Proctor passt auf ihn auf.« Pendergast nahmden Segeltuchrucksack und reichte ihnD’Agosta. »Wir wollen nicht unsere Zeit hiervertrödeln, Vincent.«»Was Sie nicht sagen.«Er schlang sich den Rucksack über die

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Schulter, und sie machten sich auf den Wegüber die leeren Baseballplätze in RichtungWald. Er sah auf die Uhr: zwei Uhr morgens.Was machte er hier eigentlich? Er hatte Laurasoeben versprochen, er werde nicht zulassen,dass Pendergast ihn in irgendwelche weiterenominösen Betätigungen hineinzog – und jetztbrach er mitten in der Nacht zu einerLeichenfledderer-Expedition in einemöffentlichen Park auf, ohne Genehmigung oderDurchsuchungsbeschluss. Lauras Sätze gingenihm durch den Kopf: Bei der Art, wiePendergast Beweismittel sammelt, werden›seine‹ Täter nie in einem Prozess verurteiltwerden. Vielleicht ist es ja kein Zufall, dass sievor Prozessbeginn nicht mehr am Leben sind.»Würden Sie mich noch mal daran erinnern,warum wir hier herumschleichen wieGrabräuber?«, fragte er.»Weil wir Grabräuber sind.«Wenigstens ist Bertin nicht dabei, dachteD’Agosta. Er hatte in der letzten Minuteabgesagt und über Druckschmerzen im Leib

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geklagt. Der kleine Mann war in heller Panik,weil es Charrière gelungen war, ein paar vonseinen Haaren an sich zu bringen. Es istzumindest unwahrscheinlich, dass derHohepriester von ihm selbst auch welchebekommen hat, dachte D’Agosta mit grimmigerGenugtuung. Ein Vorteil, wenn man eine Glatzebekam. Er dachte an die kleine Szene, die sichim Präsidium in den neuen Beweismittel-Räumlichkeiten zugetragen hatte, und runzeltedie Stirn.»Was hatte Ihr Kumpel Bertin da eigentlichhaben wollen?«, fragte er. »Sirup zumSchlürfen?«»Das ist ein Cocktail, den er gern zu sich nimmt,wenn er sich, äh, übermäßig aufregt.«»Ein Cocktail?«»Sozusagen. Zitronen-Limonen-Soda, Wodka,gelöstes Kodein mit einem Jolly Rancher-Candy.«»Einem was?«»Bertin mag am liebsten die Sorte mitWassermelonen-Geschmack.«

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D’Agosta schüttelte den Kopf. »Verflucht. Sowas gibt’s auch nur in Louisiana.«»Ehrlich gesagt hat das Getränk, wenn ichrecht informiert bin, seinen Ursprung inHouston.«Hinter den Sportplätzen duckten sie sich durcheine Lücke in einem niedrigenMaschendrahtzaun, überquerten eine Bracheund betraten den Wald. Als Pendergast seinGPS einschaltete, tauchte der schwache blaueSchein des Bildschirms sein Gesicht in eingespenstisches Licht.»Und wo genau befindet sich das Grab?«»Es gibt keine Markierung. Aber dank Wrenkenne ich den Ort. Der Verwalter begingoffenbar Selbstmord und hatte keineAngehörigen, weshalb seine sterblichenÜberreste nicht im geweihten Boden desFamiliengrabs begraben werden konnten. Alsowurde er in der Nähe des Ortes beerdigt, andem man ihn fand. Laut einem Bericht fand dasBegräbnis nahe dem Shorakkopoch-Denkmalstatt.«

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»Dem was?«»Das Denkmal erinnert an den Ort, an demPeter Minuit den Weckquaesgeck-IndianernManhattan abgekauft hat.«Pendergast ging voran, D’Agosta folgte ihm. Siegingen durch eng stehende Bäume und dichtesUnterholz, der felsige Grund wurde immerzerklüfteter. Wieder einmal wunderte sichD’Agosta, dass sie sich noch immer auf derInsel Manhattan befanden. Das Gelände warhügelig, sie überquerten einen schmalenBachlauf, in dem nur ein kleines Rinnsal lief,dann einige Felsaustritte. Als der Wald dichterwurde und das Mondlicht aussperrte, holtePendergast eine Taschenlampe hervor.Nachdem sie rund achthundert Meter übersehr felsiges Gelände bergab gegangen waren,ragte plötzlich in einem Kreis aus gelblichemLicht ein großer Felsbrocken auf.»Das Shorakkopoch-Denkmal«, sagtePendergast mit Blick auf sein GPS. Er leuchtetemit der Taschenlampe auf eine bronzenePlakette, die an den Felsen geschraubt war und

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auf der berichtet wurde, dass an dieser StellePeter Minuit im Jahre 1626 die Insel Manhattanvon den einheimischen Indianern im Tauschgegen wertlosen Tand im Wert von sechzigGulden erworben hatte.»Hübsches Investment«, sagte D’Agosta.»Ein sehr schlechtes Investment«, widersprachPendergast. »Wären die sechzig Gulden imJahre 1626 zu fünf Prozent Zins plus Zinseszinsinvestiert worden, so hätte sich eine Summeangesammelt, die den heutigen Wert des Grundund Bodens in Manhattan um ein Vielfachesübersteigt.« Pendergast leuchtete mit derTaschenlampe ins Dunkel. »UnserenInformationen zufolge wurde die Leichezweiundzwanzig Rods nördlich desTulpenbaums beerdigt, der einst neben diesemDenkmal stand.«»Ist der Stumpf noch irgendwo zu sehen?«»Nein. Der Baum wurde 1933 gefällt. AberWren hat eine alte Karte gefunden, auf der derStandort des Baums mit achtzehn Yardssüdwestlich des Denkmals angegeben wird. Ich

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habe die Daten schon ins GPS eingegeben.«Pendergast ging in südwestliche Richtung undbehielt das Gerät genau im Auge. »Hier.« Erwandte sich nach Süden. »22 Rods bei 16,5 Fußpro Rod ergeben 360 Fuß.« Er drückteirgendwelche Knöpfe am GPS. »Folgen Sie mirbitte.«Als sich Pendergast wieder in Bewegung setzte,ins Dunkel hinein, wirkte er in dem schwarzenAnzug geradezu wie ein Gespenst. D’Agostafolgte ihm und schob den schweren Sack höherauf seine Schulter. Der Geruch der Marsch unddes Wattschlicks entlang des Spuyten Duyvilschlug ihm entgegen, und schon bald sah erdurch die Bäume die Lichter der hohenApartment-Gebäude am Steilufer von Riverdale,das direkt gegenüber auf der anderenFlussseite lag. Unvermittelt gelangten sie anden Waldrand, hinter dem sich eine große,grasbewachsene Fläche befand, die zu einemhalbmondförmigen Kieselstrand hinabführte.Dahinter wirbelte und strudelte der Fluss,während die Lichter des Henry Hudson

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Parkway und der Apartment-Gebäude jenseitsdes Wassers glitzerten. Tiefe Nebelschwadentrieben über den Fluss; das Brummen einesSchiffs war zu hören.»Warten Sie einen Moment«, sagte Pendergastleise und blieb am Rand der Bäume stehen.Ein Polizeiboot kam langsam den SpuytenDuyvil heraufgefahren. Die gespenstische Formglitt in den Nebel hinein und wieder heraus, einauf dem Dach angebrachter Scheinwerfer strichüber den Strand. Sie gingen in die Hocke,gerade als das Licht über sie hinwegstrich undin den Wald schien.»Verdammt«, murmelte D’Agosta. »Ichverstecke mich vor den eigenen Leuten. Das istdoch Wahnsinn.«»Es ist die einzige Lösung. Können Sie sichvorstellen, wie lange es dauern würde, dieerforderlichen Genehmigungen zurExhumierung eines Toten zu erhalten, und zwarnicht auf einem Friedhof, sondern auföffentlichem Grund, ohne eine Sterbeurkundeund mit lediglich ein paar Zeitungsartikeln als

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Quellen?«»Das hatten wir doch schon alles.«Pendergast erhob sich, trat aus dem Wald undging durch das Seegras bis zum Kieselstrand.Richtung Osten, auf halbem Weg bis zu denKlippen, sah D’Agosta so gerade eben dieriesige, baufällige Kirche des Ville, die sich wieeine Klaue über die Bäume erhob. Aus denFenstern in den oberen Stockwerken drang einmatter gelblicher Lichtschein.Pendergast blieb stehen. »Genau hier.«D’Agosta blickte sich auf dem Kieselstrand um.»Keine Chance. Wer würde hier einen Totenbeerdigen, an einer solch exponierten Stelle?«»Hier kann man leichter graben. Und vorhundert Jahren war noch keines der Gebäudeam Flussufer gegenüber erbaut worden.«»Ist ja nett. Wie sollen wir denn eine Leicheausgraben, während uns alle Welt dabeizusieht?«»So schnell wie möglich.«Mit einem Seufzer legte D’Agosta denSegeltuchsack auf den Boden, öffnete den

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Segeltuchsack auf den Boden, öffnete denReißverschluss und holte Schaufel undSpitzhacke hervor. Pendergast schraubte dieStangen des Metalldetektors zusammen, setztesich Kopfhörer auf, stöpselte sie in das Gerätund schaltete es ein. Er begann, den Bodenabzusuchen.»Jede Menge Metall hier«, sagte er.Er schwang den Metalldetektor hin und her,hin und her und ging dabei langsam vorwärts.Nachdem er etwa anderthalb Meterzurückgelegt hatte, drehte er um und kamzurück. »Ich bekomme hier ein Dauersignal aussechzig Zentimetern Tiefe.«»Sechzig Zentimeter? Das kommt mir ziemlichflach vor.«»Wren hat mir erklärt, dass seit der Zeit derBestattung die Bodenerosion in dieser Regionetwa einen Meter zwanzig betragen habendürfte.« Pendergast legte den Metalldetektorzur Seite, zog das Jackett aus und hängte es aufden Ast eines nahe gelegenen Baums,schnappte sich die Spitzhacke und begann mit

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verblüffender Kraft, den Boden aufzubrechen.D’Agosta zog Arbeitshandschuhe an und halfmit, die lose Erde und die Kieselherauszuschaufeln.Ein Brummen kündigte die Rückkehr desPolizeiboots an. D’Agosta warf sich auf denBoden, als das Scheinwerferlicht über das Uferstrich, Pendergast ließ sich schnell neben ihnfallen. Als das Boot vorbeigefahren war, erhobsich Pendergast. »Wie lästig.« Er staubte sichab und nahm erneut die Spitzhacke zur Hand.Das rechteckige Loch wurde tiefer – dreißigZentimeter, vierzig Zentimeter. Pendergastwarf die Spitzhacke beiseite, kniete sich hinund fing an, mit der Kelle zu arbeiten. Erkratzte damit Schichten des Erdreichs ab, dasD’Agosta dann aus dem Weg schaufelte. DerGrube entströmte der erstickende Geruch vonbrackigem Meerwasser und verrottendemHumus.Als das Grab ungefähr fünfzig Zentimeter tiefwar, schwenkte Pendergast noch einmal denMetalldetektor darüber hinweg. »Wir sind fast

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am Ziel.«Sie arbeiteten noch fünf Minuten, dann kratztedie Kelle über irgendetwas Hohles. Pendergastfegte die lose Erde weg, worauf die Rückseiteeines menschlichen Schädels zum Vorscheinkam. Nach weiterem Kratzen erschienen dieRückseite eines Schulterblatts und das Endeeines Holzgriffs.»Unser Freund wurde offenbar mit dem Gesichtnach unten begraben«, sagte Pendergast. Ermachte um den Holzgriff herum sauber undlegte einen Handschutz und eine rostige Klingefrei. »Mit einem Messer im Rücken.«»Ich dachte, man hätte ihm in die Brustgestochen«, sagte D’Agosta. Im Mondlicht, dasdurch den Nebel schien, blickte er vomLeichnam zu Pendergast. Sein Gesicht wirktesehr blass und grimmig.Gemeinsam legten sie allmählich den Rückendes Skeletts frei. Verrottete Kleidungsstückekamen ans Licht: ein Paar verschrumpelteSchuhe, die von den Fußknochen abblätterten,ein verrotteter Gürtel, alte Handschellen und

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eine Gürtelschnalle. Pendergast und D’Agostahoben einen schmalen Graben um das Skelettaus, legten die Seiten frei und fegten Erde vonden alten braunen Knochen.D’Agosta erhob sich – achtete dabei auf denFluss und auf Anzeichen für das Polizeiboot –und leuchtete mit seiner Taschenlampe herum.Das Skelett lag mit dem Gesicht nach unten,Arme und Beine waren ordentlich arrangiert,die Zehen nach innen gebogen. Pendergastgriff in die Grube und hob ein paar verrotteteStücke von der Kleidung an, die an denKnochen hafteten, wobei er erst den oberenTeil des Skeletts freilegte und dann kleineFetzen Leinen von den Beinen abzog und allesin die Kiste legte. Das Messer ragte aus demRücken, es war bis zum Heft durch das linkeSchulterblatt gestoßen worden, direkt oberhalbdes Herzens. Als er genauer hinschaute, sahD’Agosta etwas, das eine stark eingedrückteFraktur der Schädelrückseite zu sein schien.Pendergast beugte sich tiefer über dasungewöhnliche Grab und schoss aus

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unterschiedlichen Winkeln eine Reihe vonFotos, antwortete aber nicht. Dann erhob ersich. »Kommen Sie, wir holen sie raus.«Während D’Agosta die Taschenlampe hielt,löste Pendergast mit der Spitze seiner Kelle dieKnochen, einen nach dem anderen, wobei er beiden Füßen begann und sich nach obenvorarbeitete und die Knochen D’Agosta reichte,damit der sie in die Beweismittelkiste legte. Alser die Brust erreicht hatte, zog er das Messerlangsam aus der Erde und reichte es D’Agosta.»Sehen Sie das, Vincent?«, fragte er und zeigtedarauf. D’Agosta leuchtete mit derTaschenlampe auf ein Stück Schmiedeeisen, essah aus wie ein langer Nagel oder Stift, dessenEnde sich über den Oberarmknochen desOpfers bog. Das lange Ende des Stifts stecktetief im Boden. »Im Grab festgenagelt.«Pendergast zog die Stifte heraus und legte siezu den anderen sterblichen Überresten.»Seltsam. Und sehen Sie das hier?«Jetzt leuchtete D’Agosta auf den Hals desOpfers. Die Reste eines dünnen, verdrillten

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Hanfseils waren noch zu erkennen, fürchterlicheng um den Nackenknochen gelegt.»So fest erdrosselt«, sagte D’Agosta, »dass esihn beinahe enthauptet haben muss.«»In der Tat. Das Zungenbein ist so gut wiezertrümmert.« Pendergast setzte seinegruselige Arbeit fort.Bald war nur noch der Schädel freizulegen, dernoch immer mit dem Gesicht nach unten in derErde lag. Pendergast grub mit einem kleinenTaschenmesser unter diesen und den Kiefer,rüttelte beide los und holte sie dann im Ganzenheraus. Mit der Klinge des Taschenmessersdrehte er sie vorsichtig um.»Ach du Scheiße.« D’Agosta trat einen Schrittzurück. Der Mund des Schädels wargeschlossen, aber die Mundhöhle, dort, wo dieZunge gewesen war, war mit einer kreidigen,grünlich-weißen Substanz ausgefüllt. Ganz vornlag ein zusammengerollter Faden, das eineEnde war zwischen die Zähne geklemmt.Pendergast nahm den Faden heraus,betrachtete ihn und legte ihn in ein

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Teströhrchen. Dann beugte er sich vorsichtigvor, roch an dem Schädel und rieb eine kleineMenge des Puders zwischen Daumen undZeigefinger. »Arsen. Man hat die Mundhöhledamit gefüllt und dann die Lippen zugenäht.«»Himmel, und das soll ein Selbstmord gewesensein? Erdrosselt, mit einem Messer im Rückenund einem mit Arsen gefüllten, zugenähtenMund? Man würde doch meinen, dass die, diedie Leiche begraben haben, das bemerkthätten.«»Sie wurde ursprünglich nicht auf diese Weisebegraben. Niemand beerdigt die Seinen mitdem Gesicht nach unten. Nachdem dieAngehörigen den Verstorbenen beerdigthatten, sind andere Personen – diejenigen, dieihn vermutlich ›reanimiert‹ haben –zurückgekehrt, haben ihn ausgegraben und aufdiese spezielle Art präpariert.«»Warum?«»Eine recht gewöhnliche Obeah-Zeremonie. Umihn ein zweites Mal zu töten.«»Und zu welchem Zweck?«

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»Um sicherzustellen, dass er sehr, sehr tot ist.«Pendergast stand auf. »Wie Sie ja bereitsbemerkt haben, Vincent, handelt es sich hiernicht um einen Selbstmord. Mehr noch: Da derMann zweimal getötet wurde, das zweite Malmit Arsen und durch einen Messerstich in denRücken, kann es keinerlei Zweifel geben. Nachseiner ersten Beerdigung wurde der Mannausgegraben – zu einem bestimmten Zweck –und, als dieser Zweck erreicht worden war,noch einmal, mit dem Gesicht nach unten,begraben. Dies ist der Täter – der ›reanimierteLeichnam‹, von dem die New York Sun schrieb –der Inwood-Hill-Morde des Jahres 1901.«»Wollen Sie damit sagen, dass die Bewohnerdes Ville den Mann entführt oder rekrutiert, ihnin einen Zombie verwandelt und dazu gebrachthaben, den Landschaftsarchitekten und denhochrangigen Beamten der Parkbehörde zuermorden – und das alles nur, damit ihre Kirchenicht abgerissen wird?«Pendergast wies auf den Leichnam. »Eccesignum.«

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D’Agosta trank einen Schluck von seinem Kaffeeund schüttelte sich. Es war bereits seine fünfteTasse, dabei war es noch nicht einmal Mittag.Die Kosten, sich den Kaffee von Starbucks zuholen, wurden allmählich ruinös, darumbegnügte er sich wieder mit dem schwarzenTeer, den die uralte Kaffeemaschine imPausenraum weiter hinten im Flur produzierte.Während er nippte, blickte er zu Pendergast,der in der Ecke saß, in Gedanken versunken,die Fingerspitzen aneinandergelegt – allemAnschein nach waren die Grabräuber-Eskapaden in der vorherigen Nacht spurlos anihm vorübergegangen.Plötzlich hörte D’Agosta auf dem Gang eineStimme – jemand verlangte, ihn zu sehen. DieStimme kam ihm bekannt vor, aber er konntesie nicht sofort einordnen. Er stand auf und

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steckte den Kopf zur Tür hinaus. Ein Mann inCordjackett stritt mit einer der Sekretärinnen.Die Sekretärin blickte auf und sah ihn.»Lieutenant, ich habe dem Mann hier bereitszum wiederholten Male erklärt, dass er seinenBericht dem Sergeant vorlegen muss.«Der Mann drehte sich um. »Da sind Sie ja!«Es war der Filmproduzent, Esteban, derGutmensch. Mit einem frischen Stirnverband.»Sir«, sagte die Sekretärin, »Sie müssen einenTermin haben, wenn Sie den Lieutenantsprechen möchten –«D’Agosta winkte ihn zu sich. »Shelley, icherledige das schon. Danke.«D’Agosta ging in sein Büro zurück, Estebanfolgte. Als er Pendergast sah, der still in derEcke saß, runzelte er die Stirn. Die beidenwaren nicht wirklich beste Freunde gewordenwährend ihrer ersten Begegnung draußen aufEstebans Anwesen auf Long Island.D’Agosta setzte sich müde hinter denSchreibtisch, Esteban nahm auf dem Stuhldavor Platz. Esteban hatte etwas an sich, das

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ihm missfiel. Ehrlich gesagt, war der Mann einselbstgerechter Arsch.»Worum geht’s denn?«, fragte D’Agosta.»Ich wurde tätlich angegriffen. Sehen Sie michdoch an! Mit einem Messer attackiert!«»Haben Sie Anzeige erstattet?«»Was glauben Sie denn, was ich gerade tue?«»Mr. Esteban, ich bin Lieutenant imMorddezernat. Ich würde Sie gern an denermittelnden Beamten verweisen –«»Das war ein Mordversuch. Ein Zombie hatmich angegriffen.«D’Agosta stutzte. Pendergast hob langsam denKopf.»Wie bitte … ein Zombie?«, sagte D’Agosta.»Das habe ich doch bereits gesagt. Oderjemand, der sich als Zombie ausgegeben hat.«D’Agosta hob die Hand und drückte einenKnopf auf der Gegensprechanlage. »Shelley?Ich brauche hier sofort einen ermittelndenBeamten, der eine Aussage aufnehmen kann.«»Kein Problem, Lieutenant.«Esteban wollte wieder das Wort ergreifen, aber

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D’Agosta hielt weiterhin die Hand in die Höhe.Kurz darauf kam ein Beamter mit einemDigitalrecorder herein; D’Agosta wies mit einemNicken auf den einen noch leeren Stuhl.Der Officer schaltete den Recorder ein, undD’Agosta senkte die Hand. »Also gut,Mr. Esteban. Nun erzählen Sie mal.«»Ich habe gestern Abend noch lange im Bürogearbeitet.«»Adresse.«»553 West 31. Straße, nahe dem JavisConvention Center. Ich habe das Büro gegenein Uhr verlassen. Dieser Stadtteil ist nachtsziemlich leer und verlassen, und ich ging die 35.entlang, als ich bemerkte, dass mich jemandverfolgt. Ich drehte mich um, der Kerl, derhinter mir her wankte, sah wie eine Art Penneraus, betrunken oder vielleicht high, in Lumpengekleidet. Er war offensichtlich weggetreten,deshalb habe ich ihn nicht weiter beachtet.Kurz bevor ich an der Ecke Tenth Avenueankam, hörte ich so ein Getrappel hinter mir.Ich drehte mich um und bekam mit einem

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Messer einen Schlag auf den Kopf versetzt.Aber der Hieb hat mich nur gestreift, Gott seiDank. Der Mann – oder das Mann-Wesen – hatversucht, noch mal zuzustechen. Aber ich haltemich fit und habe im College geboxt, deshalbhabe ich den Schlag abgewehrt undzurückgeschlagen. Und zwar kräftig. Er hatdann noch einen Hieb ausgeführt, aber da warich bereit und habe ihn niedergeschlagen. Daist er aufgestanden, hat sich das Messergeschnappt und ist in die Nachtdavongewankt.«»Können Sie den Angreifer beschreiben?«,fragte Pendergast.»Nur zu gut. Sein Gesicht war starkaufgedunsen und geschwollen. Die Kleidungzerlumpt und mit Flecken übersät, vielleichtBlut. Das Haar war braun, völlig verfilzt undstand ihm vom Kopf ab, dabei stieß er immerwieder einen Laut aus, so …« Esteban hieltinne, überlegte. »Fast so, als würde Wassereinen Abfluss hinuntergesaugt. Großgewachsen, knochig, dünn, schlaksig. Ungefähr

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fünfunddreißig. Seine Hände waren fleckig,bedeckt mit etwas, das wie altes Blut aussah.«Colin Fearing, dachte D’Agosta. OderSmithback. »Können Sie einen genauenZeitpunkt nennen?«»Ich habe auf die Uhr gesehen. Es war elfMinuten nach ein Uhr nachts.«»Irgendwelche Zeugen?«»Nein. Schauen Sie, Lieutenant, ich weiß, werdahintersteckt.«D’Agosta wartete.»Das Ville hat es auf mich abgesehen, seit ichdie Tieropferungen zum Thema gemacht habe.Dieser Reporter, Smithback, hat michinterviewt – worauf er ermordet wurde. Voneinem Zombie oder jemandem, der so gekleidetwar, laut den Zeitungen. Dann wurde ich nocheinmal interviewt, von dieser Reporterin,Caitlyn Kidd – woraufhin sie von einemsogenannten Zombie ermordet wurde. DieseLeute sind hinter mir her!«»Die Zombies sind hinter Ihnen her«,wiederholte D’Agosta so neutral wie möglich.

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»Hören Sie, ich weiß nicht, ob diese Zombiesecht oder ein Schwindel sind. Der springendePunkt ist – die kommen aus dem Ville. Da mussetwas getan werden – sofort. Diese Leute sindaußer Kontrolle, sie schneiden unschuldigenTieren die Kehle durch, und jetzt ermorden sieauch noch Menschen, die gegen ihre gottlosenZeremonien protestieren. Aber die Stadt NewYork unternimmt nichts, während diese Mörderden Grund und Boden, der der Stadt gehört,besetzt halten!«Jetzt meldete sich Pendergast, der während desWortwechsels ungewöhnlich still gewesen war,zu Wort. »Es tut mir sehr leid, dass Sie verletztwurden«, sagte er besorgt, beugte sich vor unduntersuchte Estebans Verband. »Darf ich –?«Er begann, das Klebeband zu entfernen.»Bitte unterlassen Sie das.«Aber der Verband war ab. Darunter befand sicheine ungefähr fünf Zentimeter langeSchnittwunde, die mit einem halben DutzendStichen genäht war. Pendergast nickte. »Siekönnen von Glück reden, dass es ein scharfes

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Messer und ein sauberer Schnitt war. ReibenSie die Wunde mit ein wenig Neosporin ein,dann bleibt nicht mal eine Narbe zurück.«»Glück? Dieses Wesen hätte mich fastumgebracht!«Pendergast befestigte den Verband wieder undtrat hinter den Schreibtisch.»Es ist auch kein Geheimnis, warum man michgerade jetzt angegriffen hat«, sagte Esteban.»Es ist weithin bekannt, dass ich eineDemonstration gegen die Tierquälerei im Villeplane – ich verfüge über eine Demonstrations-Genehmigung für diesen Nachmittag, unddarüber stand einiges in den Zeitungen.«»Dessen bin ich mir bewusst«, sagte D’Agosta.»Es ist doch offensichtlich, dass die michmundtot machen wollen.« Schweigen.D’Agosta beugte sich vor. »Haben Sieirgendwelche konkreten Informationendarüber, die das Ville mit dem Angriff auf Sie inZusammenhang bringen?«»Jeder Trottel sieht doch, dass alles auf dasVille hinweist! Erst Smithback, dann Kidd und

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jetzt ich.«»Ich fürchte, so offensichtlich ist das nicht«,sagte Pendergast.»Was wollen Sie damit sagen?«»Ich frage mich, warum diese Leute Sie nichtals Ersten ins Visier genommen haben.«Esteban starrte ihn feindselig an. »Was soll dasheißen?«»Sie waren der Initiator der Demonstration, vonAnfang an. Wenn ich an deren Stelle wäre,hätte ich Sie gleich umgebracht.«»Wollen Sie hier den Klugscheißer spielen?«»Keineswegs. Ich weise nur auf dasOffensichtliche hin.«»Dann erlauben Sie mir, ebenfalls auf dasOffensichtliche hinzuweisen – dass wir es daoben in Inwood mit einem Haufenmordlüsterner Hausbesetzer zu tun haben unddass weder die Stadt noch die Polizeiirgendetwas dagegen unternimmt. Nun, diesenLeuten wird es noch leidtun, dass sie michangegriffen haben. Heute Nachmittag werdenwir so viel Staub aufwirbeln, dass Ihnen nichts

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wir so viel Staub aufwirbeln, dass Ihnen nichtsanderes übrigbliebt, als aktiv zu werden.« Ererhob sich.»Sie müssen Ihre Aussage noch durchlesen undunterschreiben«, sagte D’Agosta.Sichtlich verärgert wartete Esteban, währendseine Aussage ausgedruckt wurde, las sieschnell durch und kritzelte seine Unterschriftdarunter. Er ging zur Tür, drehte sich um undzeigte mit dem Finger auf D’Agosta undPendergast. Der Finger zitterte vor lauterEmpörung und Wut. »Ab heute ändert sichalles. Ich habe diese Untätigkeit satt, genausowie viele andere New Yorker.«Pendergast lächelte und tippte sich mit demFinger auf die Stirn. »Neosporin, einmal täglich.Wirkt Wunder.«

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D’Agosta und Pendergast standen an der Ecke214. Straße und Seaman Avenue und schautenzu, wie die Demonstration vorankam. D’Agostawunderte sich über die geringe Teilnahme –seiner Schätzung nach waren es hundertProtestler, vielleicht sogar weniger. HarryChislett, der stellvertretende Polizeichef diesesBezirks, war aufgetaucht und, als er gesehenhatte, wie klein die Demo war, gleich wiedergegangen. Das Ganze lief ja in geordnetenBahnen ab, ruhig, friedfertig, geradezuschläfrig. Keine wütenden Rufe, kein Drängengegen Polizei-Barrikaden, keine Steine oderFlaschen, die aus dem Nichts herangeflogenkamen.»Die Leute sehen aus, als wären sie einem L.-L.-Bean-Katalog entsprungen«, sagte D’Agostaund blinzelte durch das Sonnenlicht des kühlen

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Herbsttages.Pendergast lehnte mit vor der Brustverschränkten Armen an einem Laternenpfahl.»L. L. Bean? Ich kenne diese Marke nicht.«Die Demonstranten bogen um die Ecke der 214.Straße und gingen weiter in Richtung InwoodHill Park, Plakate schwenkend und Sprechchöreskandierend. An der Spitze schritt AlexanderEsteban, den Verband noch an der Stirn,zusammen mit einem anderen Mann.»Wer ist eigentlich der Typ, der da mit EstebanHändchen hält?«, fragte D’Agosta.»Richard Plock«, antwortete Pendergast.»Geschäftsführer der Organisation Menschenhelfen Tieren.«Neugierig musterte D’Agosta den Mann. Plockwar jung, weiß, noch keine dreißig, hatteweiche Gesichtszüge und Übergewicht. Erschritt kräftig aus auf seinen kurzen Beinen,die Füße nach außen gerichtet, die plumpenÄrmchen vor und zurück schwingend, die Mienefest entschlossen. Obwohl er selbst bei dieserKühle ein kurzärmeliges Hemd trug, schwitzte

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er. Im Gegensatz zu Esteban hatte er keinCharisma. Und doch umgab ihn eine Aura dertiefen Überzeugung, die D’Agosta imponierte.Plock war zweifellos ein Mann mit einemunerschütterlichen Glauben an dieRechtmäßigkeit seines Anliegens.Hinter den beiden Anführern kam eine Reihevon Protestlern, die ein riesiges Transparent indie Höhe hielten.

RÄUMT DAS VILLE!

Jeder schien ein anderes Interesse zuverfolgen. Auf vielen Plakaten wurde das Villebeschuldigt, Smithback und Kidd ermordet zuhaben. Zudem kamen die Demonstranten ausganz unterschiedlichen Ecken: Vegetarier, dieAnti-Pelz- und Anti-Pharmatest-Fraktion,christliche Fundamentalisten, die gegen denVoodoo- und Zombie-Kult protestierten, sogareinige Anti-Kriegs-Demonstranten. Ein Plakattrug die Aufschrift »Fleischesser sind Mörder«,andere »Tiere sind unsere Freunde, keinLebensmittel«, »Pelze tragen ist out«,

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»Tierquälerei ist eine Versündigung gegenGott«. Einige Demonstranten hielten, Seite anSeite stehend, vergrößerte Fotografien vonSmithback und Kidd mit der Bildunterschrift»Ermordet« in die Höhe.D’Agosta wandte sich von denverschwommenen Fotos ab. Es war kurz vor 13Uhr. Ihm knurrte der Magen. »Hier läuft nichtviel.«Pendergast gab ihm keine Antwort, sondernließ den Blick über die Demonstrantenschweifen.»Wollen wir etwas zu Mittag essen?«»Ich schlage vor, wir warten noch.«»Es wird nichts passieren – die Leute wollendoch ihre englischen Buttondown-Hemdennicht schmutzig machen.«Pendergast spähte in den Zug dervorbeimarschierenden Protestler. »Ich würdelieber hier bleiben, wenigstens so lange, bis dieReden gehalten wurden.«Pendergast scheint nie etwas zu sich zunehmen, dachte D’Agosta. Tatsächlich konnte

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er sich nicht erinnern, dass sie jemalsaußerhalb seiner Villa am Riverside Drivezusammen etwas gegessen hatten. Warummachte er sich überhaupt die Mühe, ihn zufragen?»Folgen wir der Demonstration bis zur IndianRoad«, sagte Pendergast.Das ist doch keine Demonstration, dachteD’Agosta, sondern eine verdammteSonntagsversammlung. Mürrisch ging erPendergast auf dem Bürgersteig hinterher. Die»Demonstranten« versammelten sich jetztlangsam auf dem Feld am Rand derBaseballplätze, entlang der Straße zum Ville.Bislang war alles in geordneten Bahnenverlaufen. Die Polizei hielt sich im Hintergrundund schaute zu; das Tränengas und dieGummiknüppel waren bereits wieder in denMannschaftswagen verstaut. Von den zweiDutzend Streifenwagen, die ursprünglichlosgeschickt worden waren, hatten mehr als dieHälfte den Einsatzort schon wieder verlassen,um ihre regulären Patrouillenfahrten

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fortzusetzen.Während die Leute umhergingen, sichunterhielten und ihre Plakate schwenkten,stieg Plock auf die unüberdachte Baseball-Tribüne. Esteban stieg auch dort hinauf undstellte sich hinter ihn, faltete respektvoll dieArme vor der Brust und hörte zu.»Freunde und Mitgeschöpfe!«, rief Plock.»Herzlich willkommen!« Er sprach ohneMegafon, aber seine durchdringende, hoheStimme trug nur allzu gut.Stille breitete sich unter den Demonstrantenaus, die unregelmäßigen Sprechchöreverstummten. Die Demonstranten,überwiegend Yuppies und Leute aus der UpperWest Side, dachte D’Agosta, würden genausowenig randalieren wie Kolonialdamen, die beimTee beisammensaßen. Und was er im Momentwirklich brauchte, das war ein Kaffee und einBacon-Cheeseburger.»Mein Name ist Rich Plock, Geschäftsführer derOrganisation Menschen helfen Tieren. Es istmir eine Ehre und ein Privileg, euch den

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Sprecher unserer Organisation vorzustellen.Bitte heißt Alexander Esteban herzlichwillkommen!«Das brachte die Versammelten ein bisschen inSchwung, denn als Esteban auf der Tribünevortrat, nahmen das Klatschen und dieSprechchöre an Lautstärke zu. Estebanlächelte, blickte mal dahin und mal dorthin überdie kleine Menschenansammlung und ließ denTrubel ein, zwei Minuten lang zu. Schließlichstreckte er die Hände aus und bat um Ruhe.»Meine Freunde«, sagte er, wobei seine tiefe,sonore Stimme das genaue Gegenteil vonPlocks Stimme war, »statt eine Rede zu halten,möchte ich etwas anderes probieren. Nennt eseine kognitive Übung, wenn ihr wollt.«Unruhe kam in der Menge auf. Man warhierhergekommen, um zu protestieren, nicht,um sich einen Vortrag anzuhören.D’Agosta grinste. »Kognitive Übung. Passen Sieauf, gleich kommen die Ausschreitungen.«»Ich möchte, dass ihr, jeder Einzelne von euch,die Augen schließt. Legt für einen Augenblick

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eure menschliche Hülle ab.«Stille.»Und versetzt euch in den Körper einesLämmchens.«Gemurre.»Du wurdest im Frühling geboren, auf einerFarm im Staat New York – grüne Wiesen, Sonne,frisches Gras. Die ersten Wochen deinesLebens verbringst du bei deiner Mutter, du bistfrei, kuschelst dich in die schützendeUmarmung deiner Herde. Jeden Tag springstdu auf den Wiesen umher, folgst deiner Mutterund deinen Geschwistern, und jeden Abendwirst du in die sichere Umzäunung der Scheunezurückgeführt. Du bist glücklich, weil du dasLeben führst, das Gott für dich vorgesehen hat.Das ist die präzise Definition von Glück: Dufühlst keine Angst. Keinen Schrecken. KeinenSchmerz. Du weißt nicht einmal, dass es solcheDinge gibt. Dann kommt eines Tages einLastwagen – riesengroß, laut, fremdartig. Grobwirst du von deiner Mutter getrennt. Es ist einefurchterregende, beinahe unvorstellbare

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Erfahrung. Mit Viehtreiberstäben wirst du aufdie Ladefläche des Lkws getrieben. Die Türknallt zu. Drinnen stinkt es nach Kot und Angst.Es ist dunkel. Der Lastwagen fährt unterlautem Brummen an. Könnt ihr euch – versuchtes jetzt gemeinsam mit mir – vorstellen, welchfurchtbare Angst dieses hilflose, winzige Tierempfindet?«Esteban legte eine Pause ein und blickte sichum. Die Menge war verstummt.»Du blökst mitleiderregend nach deiner Mutter,aber sie kommt nicht. Du rufst und rufst, abersie ist nicht da. Sie wird nicht kommen. Mehrnoch … sie wird niemals wiederkommen.«Noch eine Pause.»Nach einer Fahrt, die du in völliger Dunkelheitverbringst, hält der Lastwagen. Alle Lämmerwerden aus dem Lkw getrieben – nur du nicht.Dass ein Lammrücken aus dir wird, das ist nichtdein Schicksal. Nein, etwas viel Schlimmeressteht dir bevor. Der Lastwagen fährt weiter.Nun bist du mutterseelenallein. Du brichst imDunkeln vor lauter Angst zusammen. Die

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Einsamkeit ist überwältigend, sie ist, in ganzrealem Sinne, körperlich. Ein von der Herdegetrenntes Lamm ist ein totes Lamm – immer.Und du fühlst es, du empfindest eine Angst, diestärker ist als der Tod. Wieder hält derLastwagen an. Ein Mann steigt ein, legt direine stinkende, blutverkrustete Kette um denHals. Du wirst herausgezerrt, hinein in einenfinsteren, finsteren Ort. Es ist eine Kirche,zumindest eine Art von Kirche, aber natürlichweißt du das nicht. Die Kirche ist vollerMenschen, und sie stinkt. In der Düsterniskannst du kaum etwas erkennen. Die Menschenkommen näher, sie stimmen einenSprechgesang an und schlagen Trommeln.Merkwürdige Gesichter tauchen im Dunkelnauf. Du hörst Rufe, Zischen, das Aufstampfenvon Füßen, vor deinem Gesicht werden Rasselngeschüttelt. Deine Angst kennt keine Grenzen.Du wirst an einen Pfahl geführt und daranfestgebunden. Das Schlagen der Trommeln, dasAufstampfen der Füße, die stickige Luft – alldas hüllt dich ein. Du blökst vor lauter Angst

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und rufst immer wieder nach deiner Mutter.Denn dies ist das Einzige, was du noch hast:Hoffnung. Die Hoffnung, dass deine Mutterkommen und dich von diesem Ort fortbringenwird. Eine Gestalt nähert sich. Es ist ein Mann,ein großer, hässlicher Mann, der eine Masketrägt und etwas Langes und Helles in der Handhält. Er tritt auf dich zu. Du versuchst zuentkommen, aber als du zu fliehen versuchst,würgt dich die Kette an deinem Hals. Der Mannpackt dich und wirft dich zu Boden, hält dichauf dem Rücken fest. Der Sprechgesang wirdschneller, lauter. Du blökst und wehrst dich.Der Mann ergreift dein Nackenfell und reißtdich zurück, dadurch wird die zarte Unterseitedeines Halses entblößt. Das helle, glänzendeEtwas kommt näher, blitzt auf in dem trübenLicht. Du spürst, wie der Gegenstand gegendeine Kehle drückt …«Wieder hielt Esteban inne, damit Ruhe unterden Leuten einkehrte. »Ich werde euch nun allebitten, nochmals die Augen zu schließen undeinen längeren Versuch zu unternehmen, euch

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einen längeren Versuch zu unternehmen, euchin dieses hilflose Lamm hineinzuversetzen.«Wieder Schweigen.»Das glänzende Ding drückt gegen deine Kehle.Du siehst eine plötzliche Bewegung, fühlsteinen fürchterlichen zuckenden Schmerz –einen Schmerz, von dem du nicht einmalwusstest, dass er in der Welt existiert. DeineAtmung wird plötzlich von einer Flut heißenBlutes abgewürgt. Dein kleines, sanftesBewusstsein kann auch nicht ansatzweise dieGrausamkeit dieses Geschehens erfassen. Duversuchst, einen letzten, erbarmungsvollenSchrei nach deiner Mutter auszustoßen, nachdeiner verlorenen Herde – den sonnigengrünen Weiden deiner Kindheit –, du schreistnach deinen toten Brüdern und Schwestern …Aber du bleibst stumm. Hörst nur ein Gurgelnvon Luft durch Blut. Und jetzt entweicht dasLeben aus dir, stürzt auf den mit Kotverkrusteten Boden, in das schmutzige Heu.Und dein letzter Gedanke ist nicht Hass, istnicht Zorn, ist nicht einmal Angst. Er lautet

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einfach: Warum? Und dann ist alles –gnädigerweise – vorüber.«Er hörte auf. Grabesstille in der Menge. SogarD’Agosta verspürte einen Kloß im Hals. DieRede war sentimental, sie war rührselig, abersie war auch verdammt anrührend.Wortlos – er fügte keine eigene Bemerkung zuEstebans Rede hinzu, keinen Aufruf zumHandeln – trat Rich Plock von der Tribüne undschritt entschlossen über das Feld.Die Menge zögerte und blickte Plock hinterher.Esteban selbst schien überrascht zu sein, nichtganz sicher, was Plock vorhatte.Dann kam Bewegung in die Menge, die Leutefolgten Plock. Der kleine Mann schritt weiterüber das Feld und erreichte die Straße zumVille. Er drehte sich um und ging darauf weiter,beschleunigte dabei seine Schritte.»Oh-oh«, sagte D’Agosta.»Auf zum Ville!«, rief eine Stimme in der jetztvordrängenden Menge.»Auf zum Ville! Auf zum Ville!«, ertönte dieAntwort, bereits lauter und drängender.

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Das Murmeln wurde zu einem Brummen, das zueinem Gebrüll anschwoll. »Auf zum Ville! Stellenwir die Mörder!«D’Agosta blickte sich um. Die Beamtenschliefen noch halb. Hierauf war keiner gefasst.Im Bruchteil einer Sekunde, so schien es, wardie Menge wie elektrisiert, entschlossen undzum Handeln bereit. Ob klein oder nicht, dieseGruppe von Demonstranten meinte es ernst.»Auf zum Ville!«»Räumt das Ville!«»Rächt Smithback!«D’Agosta zog sein Funkgerät aus dem Holsterund stellte es an. »Hier spricht LieutenantD’Agosta. Wacht auf, Leute, setzt eure Hinternin Bewegung! Die Demonstranten besitzenkeine Genehmigung, sich dem Ville zu nähern.«Aber die Menschenmenge bewegte sichweiter – wie eine Flut, nicht schnell, aberunaufhaltsam – die Straße hinunter. Und jetztschloss sich auch Esteban, mit bestürzterMiene und verspätet, der vorwärtsdrängendenMenge an und versuchte, nach vorn

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durchzukommen.»Stellt die Mörder zur Rede!«»Wenn die ins Ville reinkommen«, schrieD’Agosta ins Funkgerät, »dann ist die Kackewirklich am Dampfen. Dann kommt es zuAusschreitungen.«Er hörte verschiedene aufgeregte Stimmen imFunkgerät – die kleine Gruppe von Beamtenversuchte verspätet, ihre Ausrüstungherbeizuholen, sich in Stellung zu bringen unddie Demonstranten aufzuhalten. D’Agosta sah,dass sie zu wenige waren und zu spät kamen –sie waren völlig auf dem falschen Fuß erwischtworden. Ob hundert und hunderttausend, esspielte keine Rolle – er sah Mordlust in denAugen der Demonstranten. Estebans Redehatte sie auf eine Weise ungeheuerangestachelt. Die Gruppe strömte sehr schnellan den Baseballplätzen vorbei auf die Straßezum Ville und vereitelte damit jede Möglichkeit,dass sich die Einsatzwagen der Polizei vor denProtestmarsch stellen konnten.»Vincent, folgen Sie mir.« Pendergast ging

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raschen Schritts los und überquerte dieBaseballplätze in Richtung Wald. D’Agostaerkannte sofort, was er vorhatte – eineAbkürzung durch den Wald nehmen und denProtestlern zuvorkommen, die die Straßehinunterschritten.»Schade, dass jemand das Tor zum Villeruntergerissen hat … nicht wahr, Vincent?«»Lassen Sie diesen Quatsch, Pendergast. Nichtjetzt.« D’Agosta hörte in einiger Entfernungdas Skandieren der Demonstranten, ihr Gerufeund Geschrei, während sie die Straßehinuntermarschierten.Nicht lange, und Pendergast und D’Agostaerschienen ein wenig oberhalb derDemonstranten auf der Straße. DerStacheldrahtzaun befand sich linker Hand, dasTor lag noch immer flach auf dem Boden. DieDemonstranten bewegten sich im Laufschritt,die vorderen Reihen joggten fast. Plock führtesie an. Esteban war nirgends zu sehen. DiePolizisten, die die Menge in Schach haltensollten, waren weit zurückgefallen, und es

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bestand keine Möglichkeit, dass sie sich mitden Einsatzwagen vor die Demonstrantenstellten. Die Presseleute dagegen hielten gutmit, ein halbes Dutzend lief mit Camcordernneben dem Demonstrationszug her, begleitetvon Fotografen und Zeitungsleuten. Am Abendwürden alle Nachrichtensendungen über dasDesaster berichten. »Sieht so aus, als müsstenwir das erledigen«, sagte D’Agosta. Er holtetief Luft, dann trat er auf die Straße und holteseinen Dienstausweis hervor; Pendergast standneben ihm.Er drehte sich zu den Demonstranten um, dievon Plock angeführt wurden. Die Sache warkitzlig, etwa so, wie wenn man einer Herdeangreifender Bullen gegenübersteht. »Leute!«,rief er mit seiner lautesten Stimme. »Ich binLieutenant D’Agosta, Polizei New York! Es istIhnen untersagt, weiterzugehen!«Die Demonstranten rückten weiter vor. »Aufzum Ville!«»Mr. Plock, tun Sie das nicht! Es ist illegal und,glauben Sie mir, Sie werden festgenommen!«

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»Schmeißt sie raus!«»Geht aus dem Weg!«»Wer an mir vorbeigeht, wird festgenommen!«D’Agosta packte Plock, und der Mann leisteteauch keinen Widerstand, aber die Geste wardennoch sinnlos. Die anderen Demonstrantenkamen, einer Flut gleich, immer näher,stürmten auf ihn zu, aber er konnte ja nicht imAlleingang hundert Leute festnehmen.»Halten Sie die Stellung«, sagte Pendergastneben ihm.D’Agosta riss sich zusammen.Wie durch ein Wunder erschien Esteban nebenihnen. »Meine Freunde!«, rief er und stelltesich der anbrandenden Menge entgegen.»Meine Mitstreiter!«Worauf die vorderste Reihe ihr Marschtempodrosselte.»Auf zum Ville!«Auf einmal wandte sich Esteban um undumarmte Plock, dann wandte er sich wieder derMenge zu und hielt die Hände in die Höhe.»Nein! Meine Freunde, eure Tapferkeit berührt

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mich tief – sehr tief! Aber ich flehe euch an:Geht nicht weiter!« Plötzlich senkte er dieStimme und sprach mit Plock unter vier Augen.»Rich, ich brauche deine Hilfe. Das hier istvoreilig, und das weißt du auch.«Plock blickte Esteban an, der die Stirn runzelte.Als die Demonstranten dieMeinungsverschiedenheit zwischen ihrenAnführern bemerkten, begann die vordersteReihe zu zögern.»Wir danken euch für euren großen Mut!«, riefEsteban nochmals der Menge entgegen.»Danke! Aber bitte, hört mir zu. Es gibt eineZeit und einen Ort für alles. Rich und ich sindeiner Meinung: Jetzt ist nicht die rechte Zeitund der rechte Ort, um die Konfrontation mitdem Ville zu suchen! Versteht ihr? Wir habenunseren Standpunkt deutlich gemacht, wirhaben unsere Entschlossenheit unter Beweisgestellt. Wir haben unserem gerechten Zornöffentlich Ausdruck verliehen! Wir haben dieBürokraten beschämt und die Politikerwachgerüttelt! Wir haben das erreicht,

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weswegen wir demonstriert haben! Aber keineGewalt. Bitte, keine Gewalt!«Plock schwieg, seine Miene verfinsterte sich.»Wir sind zusammengekommen, um demMorden Einhalt zu gebieten, nicht um zureden!«, rief eine Stimme.»Und wir werden diesem Morden Einhaltgebieten!«, sagte Esteban. »Ich frage euch –was wird eine Konfrontation erreichen? Machteuch nichts vor, diese Leute werden uns mitgewalttätigem Widerstand empfangen. Siekönnten bewaffnet sein. Seid ihr daraufvorbereitet? Wir sind so wenige! MeineFreunde, bald wird die Zeit kommen, da dieseTierquäler das Ville räumen müssen, und dannwerden diese Mörder von Lämmern undKälbern – von Journalisten gar nicht zu reden –in alle vier Himmelsrichtungen verstreutwerden! Aber nicht jetzt – noch nicht!«Er hielt inne. Es war erstaunlich, welch jähe,aufmerksame Stille enstand.»Meine Mitgeschöpfe«, fuhr Esteban fort, »ihrhabt den Mut eurer Überzeugungen gezeigt.

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Jetzt aber kehren wir um und marschieren zuunserem Versammlungsort zurück. Dortwerden wir miteinander sprechen, wir werdenReden halten und der ganzen Stadt zeigen, washier geschieht. Wir werden gerecht sein –selbst zu jenen, die keine Gerechtigkeitzeigen!«Die Demonstranten warteten offenbar darauf,dass Plock Estebans Worte bekräftigte.Schließlich hob Plock die Hände, eine langsame,geradezu widerwillige Geste. »Wir habenunseren Standpunkt klargemacht!«, sagte er.»Lasst uns zurückgehen – vorerst!«Die Presseleute drängten sich vor, die Kamerasder Abendnachrichtensendungen liefen,Mikrofone an Galgen schwenkten herum, aberEsteban winkte sie fort. Mit Erstaunenverfolgte D’Agosta, wie der Mob – auf Estebansdringendes Geheiß – umkehrte; die Leutegingen die Straße hinauf und bildetenallmählich wieder die gleiche friedfertigeGruppe wie zuvor, einige hoben sogar dieSchilder auf, die sie während ihres Blitzkriegs

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Schilder auf, die sie während ihres Blitzkriegsgegen das Ville am Straßenrand liegengelassen hatten. Eine erschreckende, fastbeängstigende Verwandlung. D’Agosta sahweiter staunend zu. Esteban hatte die Mengeangefeuert und in Bewegung gesetzt – und siedann, im letzten möglichen Augenblick, mitkaltem Wasser übergossen.»Was treibt den Kerl, diesen Esteban,eigentlich an?«, fragte er. »Glauben Sie, dass erim letzten Moment kalte Füße bekommen hat?«»Nein«, antwortete Pendergast, während erdem davoneilenden Esteban hinterherblickte.»Und es ist schon ziemlich merkwürdig«, dassagte er beinahe wie zu sich selbst, »dassunser Freund Fleisch isst. Lammfleisch, umgenau zu sein.«

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Als D’Agosta Marty Warteks Büro betrat, sahder nervöse kleine Bürokrat sofort, wie wütender war, und rollte den roten Teppich aus. Ernahm ihm den Mantel ab, begleitete ihn zumSofa, holte eine Tasse mit lauwarmem Kaffee.Dann zog er sich hinter seinen Schreibtischzurück. »Was kann ich für Sie tun,Lieutenant?«, fragte er mit seiner hohen,dünnen Stimme. »Geht es Ihnen gut?«Tatsächlich ging es D’Agosta gar nicht gut. Seitdem Frühstück ging es ihm zunehmendmiserabel – er fühlte sich grippig, hatte überallleichte Schmerzen. Ob da vielleicht eineErkältung oder etwas Ähnliches im Anzug war?Er versuchte, nicht daran zu denken, dass esBertin angeblich sehr schlecht ging, undPulchinski, der Mann vom Tierschutzamt, amVortag früh von der Arbeit nach Hause

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gegangen war und über Schüttelfrost undSchwäche geklagt hatte. Ihre Beschwerdenstanden in keinem Zusammenhang mitCharrière und seinen Zaubertricks … daskonnte einfach nicht sein. Aber er war nichthier, um über seine Gesundheit zu klagen.»Sie wissen doch sicherlich, was gesternNachmittag während der Demonstrationpassiert ist, oder?«»Ich habe die Zeitungen gelesen.«Und in der Tat, da lagen die News, die Post undder West Sider auf dem Schreibtisch desstellvertretenden Amtsleiters, kaum verborgenunter den Aktenmappen mit offiziell wirkendemPapierkram. Der Mann war ohne Zweifel aufdem Laufenden, was das Ville betraf.»Ich war dort. Ausschreitungen konntengerade noch verhindert werden. Und wir redenhier nicht über einen Haufen linksgerichteterKrawallmacher, Mr. Wartek. Es waren ganznormale, gesetzestreue Bürger.«»Ich habe einen Anruf bekommen vom Büro desBürgermeisters«, sagte Wartek mit noch

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höherer Stimme. »Auch er hat in deutlichenWorten seiner Besorgnis Ausdruck verliehen,was die brenzlige Lage im Inwood Hill Parkbetrifft.«D’Agosta war ein wenig erleichtert. Wie esschien, spielte Wartek endlich mit – oderverstand zumindest die Botschaft. Der Mannhatte die Lippen fester denn jezusammengepresst, die vom Rasieren gerötetenKinnfalten bebten leicht. Er wirkte genau wiejemand, der gerade einen Anpfiff erster Gütebekommen hatte. »Und? Was wollen Siedagegen unternehmen?«Wartek nickte kurz, etwas vogelähnlich, undnahm ein Blatt Papier vom Schreibtisch. »Wirhaben uns mit unseren Anwälten beraten, unsfrühere Präzedenzfälle angeschaut und dieFrage auf den höchsten Ebenen der Behördediskutiert. Und wir haben beschlossen, dassdas Recht nachteiliger Besitznahme in diesemFall keine Geltung hat, weil das bedeutendereöffentliche Wohl unter Umständen Schadennehmen könnte. Unsere Position wird, äh, von

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dem Umstand gestützt, dass aktenkundig ist,dass die Stadt bereits vor hundertvierzig Jahrengegen diese Besetzung öffentlichen Grund undBodens Einspruch erhoben hat.«D’Agosta ließ sich tiefer ins Sofa sinken.Offenbar hatte der Anruf des Bürgermeistersendlich Wirkung gezeigt. »Das freut mich zuhören.«»Es gibt keine eindeutigen Aufzeichnungendarüber, wie die Besetzung begann. Soweit wirdas erkennen können, fand sie kurz nachAusbruch des Bürgerkriegs statt. Das würdebedeuten, dass der ursprüngliche Einspruchder Stadt in dem rechtlich verbindlichenZeitfenster vorgebracht wurde.«»Es gibt also keine Probleme? Das Ville wirdzwangsgeräumt?« Warteks juristischeFormulierungen kamen ihm doch ein wenig zuglatt vor.»Absolut. Und dabei habe ich noch nicht einmalunsere juristische Rückzugsposition erwähnt.Selbst wenn diese Leute irgendeine Art vonRechtsanspruch auf das Land erworben hätten,

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könnten wir es immer noch durch Enteignungfür öffentliche Zwecke erwerben. Das Wohl derGemeinschaft muss Vorrang haben vor denInteressen Einzelner.«»Das was?«»Das Wohl der Gemeinschaft. DasGemeinwohl.«»Wie sieht also der Zeitplan aus?«»Der Zeitplan?«»Ja. Wann sind die Leute draußen?«Wartek rutschte unruhig auf dem Stuhl herum.»Wir haben uns darauf geeinigt, die Sacheunseren Anwälten vorzulegen, damit sie denRechtstitel für die Zwangsräumung entwerfenkönnen, und zwar für eine zeitnahe Einleitung.«»Und wann wäre das?«»Wenn man die juristischen Vorbereitungenund Nachforschungen, dann dasGerichtsverfahren, gefolgt von einer Revisioneinbezieht – wobei ich nur vermute, dass dieseLeute in Berufung gehen –, würde ich meinen,dass wir den Fall in, vielleicht, drei Jahrenabschließen können.«

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Schweigen im Raum. »In drei Jahren?«»Möglicherweise in zwei Jahren, wenn wirDruck machen.« Wartek lächelte nervös.D’Agosta erhob sich. Es war unglaublich. EinWitz. »Mr. Wartek, wir haben nicht einmal dreiWochen Zeit.«Der kleine Wartek zuckte mit den Achseln. »Wirhalten uns an die Durchführung einesordnungsgemäßen Verfahrens. Wie ich demBürgermeister gesagt habe: DieAufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung istdie Aufgabe der Polizei, nicht derWohnungsbaubehörde. Jemandem in der StadtNew York das Zuhause wegzunehmen ist einschwieriges und kostspieliges juristischesUnterfangen. Und so gehört es sich auch.«D’Agosta spürte, dass seine Schläfen vor Wutpochten und die Muskeln sich anspannten. Erbemühte sich, seine Atmung zu kontrollieren.Er wollte schon sagen: Sie werden noch von mirhören, entschied sich dann aber dagegen – eshatte keinen Sinn, Drohungen auszustoßen.Stattdessen drehte er sich um und verließ das

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Büro.Warteks Stimme hallte hinaus auf den Flur.»Lieutenant, wir geben morgen einePressekonferenz, um unsere Klage gegen dasVille bekanntzugeben. Vielleicht trägt das jadazu bei, dass sich die Lage wieder beruhigt.«»Irgendwie«, knurrte D’Agosta, »habe ich dameine Zweifel.«

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Laura Hayward stand in der Damentoilette im32. Stock des Polizeihochhauses undbetrachtete sich im Spiegel. Ein ernstes,intelligentes Gesicht blickte ihr entgegen. IhrKostüm sah picobello aus. Keine Strähne ihresblauschwarzen Haars war verrutscht.Bis auf das Jahr, in dem sie sich freigenommenhatte, um ihren Master an der Universität vonNew York zu machen, war Hayward ihrgesamtes Berufsleben Polizeibeamtingewesen – zuerst bei der Verkehrspolizei, dannbei der Kripo. Mit 37 war sie immer noch derjüngste Captain – und der einzige weibliche – imgesamten Polizeiapparat. Sie wusste, dass dieLeute hinter ihrem Rücken über sie redeten.Manche nannten sie Arschkriecherin. Anderebehaupteten, sie sei so weit und so schnellaufgestiegen, gerade weil sie eine Frau war,

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eine Art Vorzeigefrau für die progressiveEinstellung der Polizei. Sie hatte längstaufgehört, sich über solches Gerede den Kopfzu zerbrechen. Fest stand, dass es ihr ziemlichegal war, welchen Dienstgrad sie bekleidete.Sie liebte einfach ihren Beruf.Sie wandte sich vom Spiegel ab und sah auf dieUhr. Fünf vor zwölf. Commissioner Rocker hattesie um zwölf zu sich gebeten.Sie lächelte. Allzu oft war das Leben ungerecht.Aber hin und wieder hatte es auch seine gutenMomente. Dieser verhieß, einer davon zuwerden.Sie trat aus der Damentoilette und ging überden Flur. Es stimmte, dass sie sich nicht vielaus Beförderungen machte, aber das hier wardoch etwas anderes. Die Sonderkommission,die der Bürgermeister zusammenstellte, daswürde nicht irgend so eine Truppe werden, dieman versammelte, um die Medien bei Laune zuhalten. Seit Jahren schon gab es zu wenigVertrauen, zu wenig hochrangigeKooperationen zwischen den Büros des

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Polizeipräsidenten und des Bürgermeisters. Mitdieser Sonderkommission, so war ihr vonhöchster Ebene versichert worden, würde sichdas ändern. Die Kommission könnte sehr vielweniger Bürokratie bedeuten und dieGelegenheit eröffnen, die Effizienz desDepartments enorm zu erhöhen. Sicher, eswürde auch einen riesengroßen Karrieresprungbedeuten – auf der Überholspur zum DeputyInspector –, aber das war ihr nicht wichtig.Worauf es ihr ankam, das war die Chance,wirklich etwas bewirken zu können.Sie trat durch die Glas-Doppeltür des Büros desCommissioners und meldete sich bei derSekretärin. Fast im gleichen Moment erschienein Assistent und führte sie den Weg zurück,vorbei an Büros und Konferenzzimmern, zumAllerheiligsten des Polizeipräsidenten. Rockersaß hinter seinem großen Mahagoni-Schreibtisch und zeichnete Akten ab. Wieimmer sah er erschöpft aus; die dunklen Ringeunter den Augen wirkten noch ausgeprägterals sonst.

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»Hallo, Laura«, sagte er. »Setzen Sie sichdoch.«Überrascht nahm Hayward auf einem derStühle vor dem Schreibtisch Platz. Weil Rockerpenibel auf Vorschriften undHöflichkeitsformen achtete, redete er fast niejemanden mit Vornamen an.Er blickte sie über den Schreibtisch hinweg an.Etwas an seiner Miene ließ sie sofort auf derHut sein.»Es fällt mir nicht leicht, das Folgende zusagen«, begann er. »Deshalb möchte ich esIhnen gleich mitteilen. Ich ernenne Sie nichtzum Mitglied der Sonderkommission.«Einen Moment glaubte Hayward, sich verhörtzu haben. Sie wollte etwas erwidern, brachteaber kein Wort heraus. Sie atmete tief durch.»Ich …«, brachte sie hervor, dann hielt sie inne.Sie war verwirrt, wie vor den Kopf geschlagen,außerstande, einen zusammenhängenden Satzzu formulieren.»Es tut mir sehr leid«, sagte Rocker. »Ich weiß,wie sehr Sie sich auf diese Chance gefreut

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haben.«Hayward holte nochmals tief Luft. Sie spürte,wie sich eine seltsame Wärme in ihren Gliedernausbreitete. Erst jetzt – als ihr diese Ernennungauf so unerwartete Weise entglitt – wurde ihrklar, wie wichtig sie für sie gewesen war.»Wen ernennen Sie statt meiner?«, fragte sie.Rocker wandte sich kurz ab, bevor erantwortete. Er wirkte untypischerweiseverlegen. »Sanchez.«»Sanchez ist ein guter Mann.« Ihr war, alsbefände sie sich in einem Traum, und jemandanderer als sie hätte den Satz geäußert.Rocker nickte.Hayward bemerkte, dass ihre Hände wehtaten.Sie schaute an sich hinunter und sah, dass siedie Armlehnen des Stuhls mit aller Kraftumklammerte. Sie zwang sich, sich zuentspannen, um Haltung zu bewahren – mitgeringem Erfolg. »Habe ich etwas Falschesgetan?«, platzte es aus ihr heraus.»Nein, nein, natürlich nicht. Es ist nichtsdergleichen.«

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»Habe ich Sie auf irgendeine Weise im Stichgelassen? Die Erwartungen nicht erfüllt?«»Sie sind eine vorbildliche Kriminalbeamtin, undich bin stolz, Sie bei uns zu haben.«»Dann warum? Unerfahrenheit?«»Dass Sie einen Master in Soziologie haben,betrachte ich als ideale Voraussetzung für dieSonderkommission. Es ist nur so, dass es – nunja – bei einer Ernennung wie dieser auch immerum die Dienstjahre geht. Und wie sichherausgestellt hat, ist Sanchez länger bei uns.«Hayward ließ sich Zeit mit der Antwort. Ihr warnicht klar gewesen, dass Dienstalter ein Faktorwar. Mehr noch: Sie hatte geglaubt, dassgerade diese Ernennung frei von solchemUnsinn wäre.Rocker rutschte auf dem Stuhl herum. »Ichmöchte nicht, dass Sie das Gefühl bekommen,dass es hier um die Bewertung IhrerLeistungen geht.«»Ihnen war Sanchez’ und mein Dienstalter dochsicher bekannt, als Sie mir Anlass zur Hoffnunggaben«, sagte Hayward ruhig.

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Rocker spreizte die Hände. »Tatsache ist, dassBeförderungsregeln ziemlich undurchsichtigsein können. Ich habe einen Fehler gemacht. Estut mir leid.«Hayward schwieg.»Es wird andere Gelegenheiten geben, vorallem für einen Captain Ihres Kalibers. Seien Sieversichert, dass ich dafür sorgen werde, dassIhre harte Arbeit und Ihr Engagement belohntwerden.«»Die Tugend ist sich selbst genug, Sir. Sagtman das nicht so?« Hayward stand auf – anRockers Miene war abzulesen, dass dasGespräch beendet war – und ging auf leichtunsicheren Beinen zur Tür. Als sich die Fahrstuhltür zur Lobby öffnete,hatte sie ihre Fassung wiedergewonnen. Derwiderhallende Raum war jetzt zur Mittagszeitvoll Lärm und hektischer Betriebsamkeit.Hayward passierte die Sicherheitskontrolle,dann trat sie durch die Drehtür nach draußenauf die breite Treppe. Streng genommen hatte

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sie kein Ziel vor Augen: Sie musste einfachgehen. Gehen und nicht denken.Ihre Überlegungen wurden jäh unterbrochen,als jemand heftig mit ihr zusammenprallte. Sieblickte auf. Ein Mann, schlank, jugendlich, mitstarker Akne auf den Wangen.»Verzeihung«, sagte er. Dann blieb er stehenund reckte sich. »Captain Hayward?«Sie runzelte die Stirn. »Ja?«»Welch Zufall!«Sie betrachtete ihn genauer. Er hatte dunkle,kalte Augen, die sein Lächeln Lügen straften.Sie kramte rasch in ihrem Gedächtnis –Bekannte, Kollegen, Täter – und kam zu demSchluss, dass sie ihn nicht kannte.»Wer sind Sie?«, fragte sie.»Mein Name ist Kline. Lucas Kline.«»Von was für einem Zufall sprechen Sie?«»Nun, dem Umstand, dass ich gleich dorthingehen werde, wo Sie eben gewesen sind.«»Ach ja? Und wo soll das sein?«»Das Büro des Commissioners. Verstehen Siedoch, er will mit mir sprechen. Persönlich.« Und

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noch ehe Hayward etwas erwidern konnte, griffKline in die Hosentasche, zog ein Kuvert hervor,nahm das darin befindliche Schreiben herausund hielt es ihr hin.Sie griff nach dem Brief, aber Kline zog ihn ansich, außer Reichweite. »Nein. Nicht anfassen.«Hayward blickte ihn noch einmal prüfend an,dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wiederdem Brief zu. Das Schreiben stammtetatsächlich von Commissioner Rocker, offiziellerBriefkopf, auf den Vortag datiert, und dankteKline – dem Vorstandschef von Digital Veracity,Inc. – für seine soeben bekanntgewordeneFünf-Millionen-Spende für den Dyson-Fonds.Der Fonds, eine Art Heiligtum unter allenBeamten und Mitarbeitern der New YorkerPolizei, trug seinen Namen nach Gregg Dyson,einem verdeckten Ermittler, der zehn Jahrezuvor von Drogenhändlern ermordet wordenwar. Er war gegründet worden, um die Familienvon New Yorker Polizisten, die im Dienstumgekommen waren, finanziell zu unterstützen.Wieder blickte sie Kline an. Menschen strömten

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Wieder blickte sie Kline an. Menschen strömtenaus dem Gebäude, wichen ihnen aus. DasLächeln lag noch immer auf seinenGesichtszügen. »Das freut mich sehr für Sie«,sagte sie. »Aber was hat das mit mir zu tun?«»Alles.«Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann Ihnen nichtfolgen.«»Sie sind doch eine schlaue Polizistin. Siewerden schon noch dahinterkommen.« Erdrehte sich zu der Drehtür um, hielt kurz inneund blickte zurück. »Ich will Ihnen jedochverraten, wo Sie mit Ihrer Suche beginnenkönnen.«Hayward wartete.»Fragen Sie Ihren Freund Vinnie.« Und alsKline sich wieder abwandte, war sein Lächelnverschwunden.

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Nora Kelly schlug die Augen auf. Einen Momentlang versuchte sie zu begreifen, wo sie sichbefand. Dann erinnerte sie sich: an den Geruchvon Franzbranntwein und schlechtem Essen,das Piepen und Murmeln, die fernen Sirenen.Das Krankenhaus. Immer noch.Sie lag da mit pochendem Kopf. DieInfusionsflasche, die am Ständer neben demBett hing, schwang im hellen Mondlicht,knarrend wie ein rostiges Schild im Wind. Hattesie ihn angestoßen, so dass er sich derartbewegte? Vielleicht hatte ja eine Schwester denStänder berührt, als sie eben nach ihr gesehenund ihr noch mehr jener Beruhigungsmittelverabreicht hatte, von denen Nora immerwieder gesagt hatte, dass sie sie nicht brauche.Möglicherweise hatte auch der Polizist, denD’Agosta vor dem Zimmer postiert hatte, kurz

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hereingeschaut. Sie blickte zur Tür.Geschlossen.Die Infusionsflasche schwang hin und her undknarrte unablässig.Ein seltsames Gefühl der Entrücktheitbeschlich Nora. Sie war müder, als ihr klargewesen war. Oder es handelte sich um dieAuswirkungen der zweitenGehirnerschütterung.Die Gehirnerschütterung. Sie wollte nichtdarüber nachdenken. Weil sie sich dann an dieUrsache erinnern würde, an ihre nachtdunkleWohnung, das offene Fenster und …Sie schüttelte vorsichtig den Kopf, schloss dieAugen, dann atmete sie tief durch, mehrmals,um sich zu beruhigen. Schließlich schlug sie dieAugen auf und blickte sich um. Sie befand sichim selben Zweibettzimmer, in dem sie seit dreiTagen lag, ihr Bett stand am Fenster. DieJalousien waren geschlossen, derTrennvorhang um das Bett neben der Tür warzugezogen.Sie drehte sich um und betrachtete den

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Vorhang genauer. Dahinter war der Umriss derschlafenden Person zu erkennen, von hintenerleuchtet vom Licht, das aus dem Badezimmerfiel. Aber war das wirklich die Silhouette einesPatienten? War das Bett nicht leer gewesen, alssie einschlief? Das war jetzt ihre dritte Nachthier. Immer wieder hatten die Ärzte ihrversichert, dass sie nur zur Beobachtung hiersei, dass sie morgen entlassen würde – unddass das Bett immer leer gewesen sei.Langsam beschlich sie ein fürchterliches Gefühlvon déjà vu. Nora lauschte und hörte ganz leiseein Atmen, ein leises, unregelmäßiges Seufzen.Wieder blickte sie sich um. Das ganze Zimmerwirkte seltsam, die Winkel verrutscht, derausgeschaltete Fernseher über dem Bettschief, wie die Perspektiven in einem deutschenexpressionistischen Film.Ich muss wohl immer noch schlafen, dachte sie.Das hier ist nur ein Traum. Es kam ihr vor, alswürde die erstarrte Traumlandschaft sieeinhüllen und in eine wattige Umarmungschließen.

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Der Umriss regte sich; ein Seufzen. Ein leisesGurgeln von Schleim. Dann hob sich langsamein Arm, die Silhouette zeichnete sich hinterdem Vorhang ab. Vor Angst zitternd packteNora die Bettdecke und versuchtezurückzuweichen. Aber sie fühlte sich soschwach …Der Vorhang glitt zur Seite, langsam,furchterregend absichtsvoll, wobei er ein leisesiiiih erzeugte, als die Metallschlaufen auf denStahlschienen entlangglitten. Wie gelähmt vorAngst sah Nora, wie der dunkle Umriss einerPerson auftauchte, erst im Schatten – dann vomMond beschienen.Bill.Dasselbe aufgedunsene Gesicht, dasselbeverfilzte Haar, geschwärzte, tiefliegende Augen,graue Lippen. Dasselbe getrocknete Blut,derselbe Schmutz, dieselbe Fäulnis. Sie konntesich einfach nicht bewegen. Sie konnte nichtaufschreien. Sie konnte nur daliegen undstarren, während sich der Albtraum, der alleAlbträume beenden sollte, entfaltete.

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Die Gestalt stand aus dem Bett auf und starrteauf sie hinunter. Bill … und doch nicht Bill,lebendig und doch tot. Er trat einen Schritt vor.Sein Mund öffnete sich, darin waren Würmer.Die klauenartige Hand streckte sich ihrentgegen, die Nägel lang und rissig, währendder Kopf sich langsam zu ihr senkte – um sie zuküssen …Sie setzte sich mit einem Aufschrei im Bett auf.Einen Moment lang saß sie nur da, zitternd vorAngst, bis Erleichterung sie durchströmte, alsihr klar wurde, dass es tatsächlich ein Traumgewesen war. Ein Traum wie der vorherige –nur schlimmer.Sie legte sich im Bett zurück, schweißgebadet,ihr Herzschlag verlangsamte sich, als siespürte, dass der Albtraum wie eine Flutzurückwich. Die Infusionsflasche schwang nichtmehr hin und her, der Fernseher sah normalaus. Das Zimmer lag im Dunkel, kein hellesMondlicht schien. Der Trennvorhang war umdas Nachbarbett herumgezogen, aber sie hörtekein Atmen. Das Bett war leer.

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Oder doch nicht?Sie starrte auf den Vorhang. Er schwang ganzleicht. Er war blickdicht, was genau sichdahinter befand, war nicht zu erkennen.Sie zwang sich, sich zu entspannen. Natürlichwar niemand im Zimmer. Es war nur ein Traum.Außerdem hatte D’Agosta ihr gesagt, dassniemand sonst ins Zimmer gelegt werdenwürde. Sie schloss die Augen, aber sie schliefnicht ein – und sie wollte es eigentlich auchnicht. Der Traum war so furchtbar gewesen,dass sie Angst hatte, einzuschlafen.Aber das war albern. Ihrem Zwangsaufenthaltim Krankenhaus zum Trotz hatte sie kaumgeschlafen. Sie brauchte unbedingt Ruhe.Sie schloss die Augen, fühlte sich aber viel zuwach zum Schlafen. Eine Minute verging. Zwei.Ärgerlich seufzend schlug sie die Augen wiederauf. Unwillkürlich schweifte ihr Blick abermalszum Nachbarbett. Wieder bewegten sich dieVorhänge ganz leicht.Sie seufzte. Es war töricht, ihre Phantasie warhyperaktiv. Im Grunde kein Wunder nach einem

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derartigen Albtraum.Doch war der Vorhang geschlossen gewesen,als sie einschlief?Sie war sich nicht sicher. Je länger sie darübernachgrübelte, desto überzeugter war sie, dassder Vorhang offen gestanden hatte. Aber siewar nicht ganz klar im Kopf gewesen, litt nochimmer unter ihrer Gehirnerschütterung – wiekonnte sie sich da auf ihr Gedächtnisverlassen? Sie wandte sich ab, starrte auf diegegenüberliegende Wand und versuchtewieder, die Augen zu schließen.Und abermals wurde ihr Blick gegen ihrenWillen von dem geschlossenen Vorhangangezogen, der nach wie vor leicht hin und herschwang. Es waren nur Luftströme, dieKlimaanlage. Ein Lufthauch, zu schwach, alsdass sie ihn fühlen konnte, aber stark genug,um den Vorhang zum Schwingen zu bringen.Wieso war der Vorhang zugezogen? Hatte manihn zugezogen, während sie schlief?Als sie sich unvermittelt aufsetzte, pochte ihrKopf wie zum Protest. Es war albern, sich

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Sorgen zu machen, wenn eine einfacheHandlung das Problem ein für alle Mal lösenwürde. Sie schwang die Beine über dieBettkante und stand auf, wobei sie daraufachtete, sich nicht am Infusionsschlauch zuverheddern. Zwei rasche Schritte, dannstreckte sie den Arm aus, packte denTrennvorhang – und zögerte. Plötzlich klopfteihr das Herz vor Angst bis zum Hals.»Ach, Nora«, sagte sie laut, »sei doch nicht soein Feigling.«Sie riss den Vorhang zur Seite.Ein Mann lag auf dem Bett, völlig reglos. Ertrug eine gestärkte weiße Pflegeruniform. DieArme auf der Brust gekreuzt, die Beineübereinandergeschlagen, lag er beinahe da wieeine ägyptische Mumie – außer dass die Augenweit aufgerissen waren und in dem Lichtglänzten. Sie direkt anstarrten. Mit ihr spielten.In diesem Moment, als sie vor Angst erstarrte,sprang die Gestalt wie eine Katze auf, legte ihreHand auf Noras Mund, drängte sie aufs Bettzurück und hielt sie unter sich fest.

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Sie wehrte sich, trat mit den Füßen um sich,versuchte zu schreien, aber der Mann war sokräftig, dass sie ihn nicht abschütteln konnte.Er drückte ihren Kopf zur Seite, und da sah siein seiner freien Hand eine Spritze aus Glas miteiner stählernen Injektionsnadel, lang undgrausam aussehend, ein Tropfen Flüssigkeitzitternd an der Spitze. Eine rasche Bewegung,und dann spürte Nora, wie die Nadel tief inihren Oberschenkel stach.Sosehr sie auch versuchte, sich zu wehren, sichzu bewegen, zu schreien – eine Lähmung lagauf ihr wie ein Sukkubus, kein Traum diesmal,sondern auf furchtbare, unbestreitbare Weisewirklich, zog Nora in eine unwiderstehlicheUmarmung, und dann kam es ihr vor, als stürzesie, stürze sie hinab in eine tiefe, bodenloseGrube, die zu einem Endpunktzusammenschrumpfte. Und dann erlosch allesringsum.

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Marty Wartek legte die schwitzigen Hände überden Rand des Rednerpults und blickte über dieMenschenmenge, die sich auf dem Platz vordem Batchelder-Gebäude derWohnungsbaubehörde der Stadt New Yorkversammelt hatte. Es war seine erstePressekonferenz, eine einschüchternde und,ehrlich gesagt, ziemlich spannende Erfahrung.Links und rechts von ihm standen einigeMitarbeiter, die er um des äußeren Scheinswillen eilig zusammengetrommelt hatte, undzwei uniformierte Polizisten. Das Pult war aufden unteren Stufen errichtet worden, auf derRückseite waren Kabel mit Klebeband auf demBoden befestigt.Sein Blick schweifte über die kleine Schar vonProtestlern, die sich in einer Ecke des Platzesversammelt hatten und von einer kleinen

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Gruppe von Polizisten in Schach gehaltenwurden. Ihre Sprechchöre machten einen rechtgleichgültigen Eindruck, was ihn hoffen ließ,dass die Leute aufhören würden, sobald er dasWort ergriff.Er räusperte sich und hörte die beruhigendeVerstärkung über die Lautsprecheranlage. Erblickte sich um, die Menge verstummte. »GutenTag, meine Damen und Herren von der Presse,ich werde nun ein vorbereitetes Statementverlesen.«Er begann, die Demonstranten verstummten.Das Rechtsverfahren, so erklärte er, sei in Ganggesetzt worden. Es würden falls nötigjuristische Schritte gegen das Ville eingeleitet.Die Rechte aller Beteiligten würden respektiert,die Voraussetzungen für ein ordnungsgemäßesVerfahren eingehalten werden. Geduld undRuhe seien das Wichtigste.Er leierte die Punkte herunter, die Plattitüdenwirkten einschläfernd auf die Presseleute. Eswar eine kurze Presseerklärung, nicht längerals eine Seite, von einem Komitee verfasst und

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von einem halben Dutzend Anwälten gründlichüberprüft. Das Gute an der Erklärung war,dass sie gar nichts sagte, keinerleiInformationen enthielt, keine Versprechungenmachte und gleichzeitig den Eindruckvermittelte, als blieben die Interessen allerBeteiligten gewahrt. Das war zumindest dieIdee.Als Wartek in der Mitte seines Manuskriptsangelangt war, hörte er ein vulgäres Geräusch,es ertönte aus einem Megafon, aus der Gruppeder Demonstranten. Er las weiter, ohne zuzögern, ohne aufzublicken. Noch ein Laut.»Was für ein Scheiß!«Er hob die Stimme und übertönte damit dieRufe.»Was ist mit den Tieren?«»Was ist mit dem Mord an Smithback?«»Stoppt die Mörder!«Er las weiter, ein wenig lauter, den Blick zurSeite gerichtet, den Glatzkopf über das Pultgebeugt.»Reden, nichts als Reden! Wir wollen Taten

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sehen!«Aus dem Augenwinkel sah er, dass die Galgen-Mikrofone und Kameras von ihm weg inRichtung der Protestierenden schwenkten. Erhörte einige weitere Rufe, sah ein Plakat, dasein Polizist zur Seite schob. Und das war’s. DieRuhestörung war behoben, die Demonstrantenwaren eingeschüchtert. Ihre geringe Anzahlreichte nicht, einen Massenprotest auszulösen.Wartek las den letzten Satz, faltete das BlattPapier zusammen und blickte schließlich auf.»Und nun nehme ich Ihre Fragen entgegen.«Wieder wurden die Kameras und Mikrofone aufihn gerichtet. Die Fragen kamen langsam,sporadisch. Enttäuschung lag in der Luft. DieDemonstranten blieben in ihrer Ecke stehen,schwenkten ihre Plakate und stimmtenSprechchöre an, aber ihre Stimmen klangengedämpft und wurden größtenteils vomVerkehr auf der Chambers Street übertönt.Die Fragen waren vorhersehbar; erbeantwortete sie alle. Ja, man werde juristischeSchritte gegen das Ville einleiten. Nein, das

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werde nicht morgen geschehen; dasRechtsverfahren werde den Zeitplan festlegen.Ja, er sei sich durchaus bewusst, dass gegendie Gruppe Mordverdacht bestehe; nein, esgebe keine Beweise, die Ermittlungen würdenfortgesetzt, niemand sei bislang einesVerbrechens angeklagt. Ja, das Ville besitzeallem Anschein nach keinen Rechtsanspruchauf den Grund und Boden; die städtischenAnwälte seien vielmehr der Auffassung, dassdie Bewohner kein Recht auf nachteiligeBesitznahme begründet haben.Die Fragen verebbten; er sah auf die Uhr:Viertel vor eins. Er nickte seinen Assistenten zuund hob seinen Glatzkopf mit dem kleinenHaarbüschel ein letztes Mal in Richtung derPresseleute. »Vielen Dank, meine Damen undHerren. Hiermit ist die Pressekonferenzbeendet.«Das quittierten die Demonstranten mit einigenweiteren Zurufen. Nichts als Worte, aber keineTaten! Nichts als Worte, aber keine Taten!Hochzufrieden steckte Wartek das Blatt Papier

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in seine Anzugtasche zurück und stieg dieTreppe hinauf. Es war genauso gelaufen, wie ererhofft hatte. Er sah die Abendnachrichtenschon vor sich. Einige kurze Zitate aus seinerRede, ein, zwei Fragen, die er beantwortete, einpaar Augenblicke, die den Demonstrantengewidmet waren, und damit wäre die Sacheerledigt. Er hatte sich abgesichert, jederWählerschaft einen Knochen hingeworfen unddas nüchterne, langweilige Gesicht derVerwaltung der Stadt New York gezeigt. Wasdie New Yorker Demonstranten anging, so wardas eine reichlich saft- und kraftlose Gruppe.Offensichtlich handelte es sich um einenNebenkriegsschauplatz zu dem, was sie sonstnoch vorhatten. Wie er gehört hatte, war einezweite Ville-Demonstration geplant, viel größerals die erste, aber die würde gottlob nicht inseinen Kompetenzbereich fallen. Solange dieLeute nicht hier in der Gegend demonstrierten,war ihm das ziemlich schnuppe. Und wenn sieam Ende das Ville abfackelten – na ja, das wäreeine praktische Lösung für sein Problem.

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Er kam oben auf der Treppe an und ging, zweiAssistenten an seiner Seite, auf die Glas-Drehtür zu. Es war Mittagszeit, deshalb kamenStröme von Angestellten der Stadtverwaltungaus dem großen Gebäude und ergossen sichüber die Treppe. Es war, als schwimme mangegen eine Strömung.Während er und seine Assistenten gegendiesen Strom ankämpften, spürte Wartek, dassein Vorbeigehender ihm einen kräftigen Schlagauf die Schulter versetzte.»Ich muss doch bitten!« Wartek wandte sichverärgert um, als er in seiner Seite ein völligüberraschendes Gefühl verspürte. Er taumeltezurück, griff sich instinktiv an die Taille undwar noch erstaunter, als er ein sehr langesMesser ertastete – und sah, wie es aus ihmheraus und durch seine zupackenden Händegezogen wurde. Er empfand Hitze undEiseskälte zugleich; Eiseskälte tief in denEingeweiden, Hitze, die nach außen und untenströmte. Er schaute auf und erhaschte einenkurzen Blick auf ein geschwollenes, schorfiges

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Gesicht: übelriechende, klebrige Haare,aufgesprungene Lippen, die sich über einemvergammelten Gebiss zurückzogen.Und dann war die Gestalt verschwunden.Sprachlos fasste sich Wartek an die Seite,torkelte vorwärts. Die Leute, die an ihmvorbeiströmten, schienen zu zögern, zu stocken,gegeneinanderzustoßen.Eine Frau kreischte ihm ins Ohr.Wartek, der noch immer nicht verstand, nochimmer keinen klaren Gedanken fassen konnte,tat einen zweiten taumelnden Schritt. »Aua«,sagte er leise, zu niemand Besonderem.Noch ein Schrei, dann erfüllte eine Welle vonLärm, ein Tosen, so laut wie die Niagara-Fälle,die Luft. Wartek knickten die Beine weg,gleichzeitig hörte er zusammenhanglose Rufe,sah einen Ansturm blauer Uniformen:Polizisten, die sich durch die Menge drängten.Noch eine jähe Explosion von Chaos rings umihn herum. Menschen, die dahin und dorthinliefen, hin und her.Mit äußerster Kraftanstrengung tat er noch

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einen Schritt, dann sackte er zusammen. VieleHände fingen ihn auf und legten ihn sanft aufden Boden. Noch mehr verwirrte Rufe, einigewiederkehrende Worte durchdrangen denTumult: Holt einen Krankenwagen! Einen Arzt!Der Mann wurde niedergestochen! Er blutet!Marty Wartek fragte sich, worum es eigentlichbei all diesem Durcheinander ging, und legtesich schlafen. Er war so müde, und New Yorkwar eine so laute Stadt.

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Langsam trieb sie in düstere Träume hineinund wieder hinaus. Sie schlief, wachte halb,schlief wieder. Schließlich kehrte das volleBewusstsein zurück. Es war stockdunkel undroch nach Schimmel und feuchtem Gestein. Sielag einen Moment verwirrt da. Dann fiel ihrwieder alles ein, und sie stöhnte auf vor Angst.Ihre Hände ertasteten feuchtes Stroh übereinem kalten Betonboden. Als sie aufstehenwollte, protestierte ihr Kopf heftig, und sielegte sich wieder hin; ihr wurde speiübel.Sie kämpfte gegen den Impuls, zu kreischen,loszuschreien – und es gelang ihr. Nach einigenAugenblicken versuchte sie erneut, sichaufzusetzen, und diesmal hatte sie Erfolg. Gott,wie schwach sie sich fühlte. Da war kein Licht,nichts, nur Finsternis. Ihr Arm war entzündet,dort, wo der Infusionsschlauch gewesen war,

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und kein Verband bedeckte den Bereich desEinstichs.Allmählich ging ihr auf, dass sie aus demKrankenhauszimmer entführt worden war. Vonwem? Der Mann in der Pflegeruniform war ihrunbekannt gewesen. Was war mit demPolizisten passiert, der das Zimmer bewachthatte?Sie erhob sich unsicher und streckte die Armeaus, trat vorsichtig mehrere Schritte nach vorn,bis ihre Hände etwas berührten – eine feuchte,klamme Wand. Sie tastete darauf herum. DieWand bestand aus rauhen, mit Mörtel gefugtenNatursteinen. Der Mörtel wies Ausblühungenauf. Sie musste sich in einer Art Kellerbefinden.Sie fing an, sich die Wand entlang zu tasten.Der Boden war leer und frei von Hindernissen,bis auf kleine, mit Stroh bedeckte Flächen. Siekam zu einer Ecke, ging weiter, maß dieEntfernung mit Schritten ab. Nach dreiweiteren Schritten gelangte sie zu einer Nische,der sie folgte – bis sie auf einen Türrahmen

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stieß und dann eine Tür. Holz. Sie tastete nachoben, dann nach unten. Holz, mit eisernenBeschlägen und Nieten versehen.Durch einen Spalt in der Tür drang ein ganzschwacher Lichtschein. Sie drückte ihr Augeauf den Spalt, aber die Zungen- undRillenkonstruktion trotzte ihren Versuchen,durch den Spalt hindurchzusehen.Sie hob die Faust, zögerte, dann schlug sie festgegen die Tür. Einmal, zweimal. Die Türdröhnte und hallte. Lange Zeit herrschte Stille,dann hörte sie Schritte, die näher kamen. Sielegte das Ohr an die Tür, um zu horchen.Ganz plötzlich hörte sie über sich einkratzendes Geräusch. Als sie hochsah, ergosssich ein jähes, blendendes Licht über sie.Instinktiv bedeckte sie das Gesicht, trat zurückund wandte sich ab. Nach einer Weilegewöhnten sich ihre Augen an die blendendeHelligkeit. Sie blickte wieder hin.»Helfen Sie mir«, krächzte sie hilflos.Keine Antwort.Sie schluckte. »Was wollen Sie?«

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Immer noch keine Antwort. Aber sie hörteetwas, ein leises, regelmäßiges Surren. Siespähte ins Licht. Jetzt konnte sie oben in derTür einen kleinen rechteckigen Schlitz sehen.Von dort kam das Licht. Und da war noch etwasanderes: das Objektiv einer Videokamera, dickund massig, durch den Schlitz geschoben unddirekt auf sie gerichtet.»Wer … sind Sie?«Abrupt wurde das Objektiv zurückgezogen. DasSurren hörte auf. Eine leise undeinschmeichelnde Stimme antwortete: »Duwirst nicht lange genug leben, dass mein Nameeine Rolle spielt.«Und damit wurde das Licht gelöscht, der Schlitzgeschlossen, und Nora stand wieder imDunkeln.

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Kenny Roybal, Highschool-Abbrecher, saß aufder unüberdachten Tribüne desBaseballplatzes und säuberte mal schnell dasGras, schnippte die Samen heraus und rollteden Rest zu einem dicken Joint. Er steckte ihnan und inhalierte tief, dann reichte er ihn anseinen Freund Rocky Martinelli weiter.»Nächstes Jahr«, sagte Martinelli, nahm denJoint entgegen und nickte in Richtung desFeldes hinter dem dunklen Baseballplatz,»ernten wir das Pot, das da unten wächst.«»Ja«, sagte Roybal und stieß den Rauch scharfaus. »Und Premium-Qualität wird’s auch.«»Scheiße, ja.«»Bitte nicht diese Ausdrücke, Kumpel.«»Okay.«Roybal nahm noch einen Zug, reichte den Jointzurück und blies den Rauch geräuschvoll aus.

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Er wartete, während Martinelli einen Zugnahm. Der Joint knisterte, und die Spitze wurdevorübergehend heller, tauchte Martinellisbenebelte Gesichtszüge in ein diffuses Orange.Roybal nahm den Joint zurück, schnipptesorgfältig die Asche ab und formte das Endeneu. Er wollte den Joint gerade wiederanzünden, als er in der hereinbrechendenDämmerung einen Streifenwagen sah, derähnlich wie ein langsam dahinschwimmenderHai auf den Parkplatz bog.»Achtung! Bullen.« Roybal ließ sich hinter dieTribüne fallen, Martinelli desgleichen. Siespähten durch die Metall- und Holzstreben. DerPolizeiwagen hielt an, der Scheinwerferschwenkte in der Gegend herum und tauchtedie Baseballplätze in grelles Licht.»Was machen die da?«»Scheiße, woher soll ich das wissen?«Sie warteten in der Hocke, während dasScheinwerferlicht langsam über die Tribüneglitt. Es schien zu verharren, als es über siehinwegstrich.

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»Keine Bewegung«, ertönte Roybals leiseStimme.»Ich beweg mich doch gar nicht.«Der Scheinwerfer suchte weiter die Gegend ab,dann kam er langsam zurück. Das Lichtblendete sie, leuchtete durch die Tribüne.Konnten die Bullen sie hier, auf der Rückseiteder Tribüne, erkennen? Roybal bezweifelte das,aber die Bullen zeigten ungewöhnlich starkesInteresse an der Tribüne.Er hörte ein Grunzen, dann rannte Martinelliwie ein Verrückter mitten über denBaseballplatz und auf das Feld, in RichtungWald. Das Scheinwerferlicht strahlte ihn an.»Scheiße!« Roybal lief hinter Martinelli her.Jetzt nahm das Licht ihn ins Visier. Es kam ihmvor, als würde er seinem Schattenhinterherlaufen. Er sprang über den niedrigenMaschendrahtzaun, lief mitten über das Feld inden Wald und folgte Martinellis halbdunklerflüchtender Gestalt.Sie rannten und rannten, bis sie nicht mehrkonnten. Schließlich machte Martinelli schlapp,

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er bekam Seitenstechen, ließ sich fallen undstürzte über einen liegenden Baumstamm.Roybal warf sich neben ihn auf den Boden, nachLuft japsend.»Kommen sie?«, keuchte Martinelli schließlich.»Du musstest mich da nicht sitzen lassen,Mann«, antwortete Roybal. »Wenn du nichtaufgesprungen wärst, hätte der Bulle uns nichtgesehen.«»Er hatte uns schon gesehen.«Roybal starrte in die Wand aus Bäumen, konnteaber nichts erkennen. Martinelli war eine großeStrecke gerannt. Er griff in seine Hemdtasche.Leer.»Deinetwegen hab ich den Joint verloren.«»Ich hab dir doch gesagt, du wärstdrangewesen, Mann.«Roybal spuckte. Es lohnte nicht, sich deswegenzu streiten. Er fischte das Zigarettenpapier ausder Hosentasche, nebst dem Rest der Kippe. Erklebte zwei Blättchen zusammen und streuteein bisschen Pot in die Rille. »Scheiße, ich kannüberhaupt nichts erkennen.«

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Trotzdem fiel genug schwaches Mondlichtdurch die Bäume, dass er ein paar Samenherauspflücken, den Joint rollen, anzünden undeinen Zug nehmen konnte. Er behielt ihn einenAugenblick, inhalierte tief, atmete aus, nahmnoch einen Zug, hielt den Rauch in der Lunge,atmete wieder aus und reichte ihn dann weiter.Er lachte prustend. »Mann, du bist wie einHase losgerannt, dem ein Jagdhund auf denFersen ist.«»Alter, der Bulle hat uns gesehen.« Martinellinahm den Joint und sah sich um. »Weißt duwas? Dieser gruselige Ort, das Ville, istirgendwo hier in der Nähe.«»Es liegt viel weiter weg, hinter denWattflächen.«»Nee, Mann. Es liegt direkt unten am Fluss.«»Ach ja? Willst du wieder weglaufen? Huhu,hier kommen die Zombies!« Roybal wedelte mitden Händen über dem Kopf. »Zombies!Zombiiies!«»Halt endlich die Schnauze.«Schweigend reichten sie den Joint hin und her,

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bis Roybal schließlich die Kippe sorgfältigtrimmte und in eine längliche Bonbondoselegte. Plötzlich schwebten die gedämpftenKlänge von »Smack My Bitch Up« durch dieDunkelheit.»Ich wette, das ist deine Mami«, sagte Roybal.Martinelli fischte das klingelnde Handy aus derTasche.»Geh nicht ran.«»Sie wird sauer, wenn ich nicht rangehe.«»Irre.«»Hallo? Ja. Hey.«Roybal lauschte missmutig dem Gespräch. Erwar längst von zu Hause ausgezogen, hatteeine eigene Bude. Martinelli wohnte noch beiseiner Mutter.»Nein, ich bin in der Bibliothek. Kenny und ichlernen für die Mathe-Arbeit … Ich pass schonauf … Hier gibt’s keine Straßenräuber … Ja,Mom, es ist erst elf Uhr!«Er klappte das Handy zu. »Muss nach Haus.«»Ist doch noch nicht mal zwölf. Uncool, Mann.«Martinelli erhob sich, Roybal ebenfalls. Er hatte

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schon jetzt Muskelkater von diesem idiotischenGerenne. Martinelli ging durch die Bäumezurück, und zwar schnell, seine schlaksigenBeine waren im Dunkeln kaum zu sehen. Kurzdarauf blieb er stehen.»Ich erinnere mich nicht an diesenumgestürzten Baum«, sagte er.»Wie könntest du dich auch an irgendwaserinnern? Du warst doch zugedröhnt.« Royballachte wieder.»Ich hätte mich erinnert – dass ichdrübergesprungen wäre oder so was.«»Geh weiter.« Roybal stieß ihn in den Rücken.Sie kamen zu einem weiteren umgestürztenBaum. Wieder blieb Martinelli stehen. »Jetztweiß ich, dass wir nicht hier lang gekommensind.«»Geh einfach weiter.«Aber Martinelli rührte sich nicht. »Was ist dasfür ein Geruch. Alter, hast du eben einenfahren lassen?«Roybal schniefte laut. Er blickte sich um, aberes war so dunkel, dass er den Boden nicht gut

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erkennen konnte.»Ich geh voran.« Er trat über den Baumstamm,und dabei sank sein Fuß in irgendetwasFestem, aber auch Nachgiebigem ein. »Waszum Geier?« Er zog den Fuß zurück und beugtesich vor, um nachzuschauen.»Scheiße!«, kreischte er und taumelte nachhinten. »Eine Leiche! Heiliger Bimbam! Ich bineben auf eine Leiche getreten!«Jetzt blickten sie beide hinunter. Ein StreifenMondlicht erhellte ein Gesicht – bleich,verwüstet, blutig, blicklose Augen, die glasigstarrten.Martinelli hustete. »O mein Gott!«»Ruf die Bullen an!«Martinelli taumelte zurück, fummelte seinHandy hervor und drückte wie ein Irrer ein paarTasten.»Ich fass es einfach nicht – das ist ’ne Leiche!«»Hallo? Was soll das –?« Plötzlich beugte sichMartinelli vor und erbrach sich auf das Handy.»O Scheiße, Mann –!«Martinelli übergab sich weiter, jetzt fiel das

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Handy, glitschig vor Erbrochenem, zu Boden.»Geh wieder ans Telefon!«Wieder übergab sich Martinelli.Roybal trat noch einen Schritt zurück.Unglaublich, er hörte eine Stimme, die aus demHandy ertönte. »Wer ist da?«, wollte die leiseStimme wissen. »Bist du es, Rocky? Rocky!Geht’s dir gut?«Martinelli hörte gar nicht mehr auf, sich zuübergeben. Roybal warf noch einmal einenletzten Blick auf die Leiche, die da im Mondlichtlag, auf der Seite liegend, verrenkt, ein Armnach oben gestreckt, bleich und zerlumpt. Dashier war die totale Scheiße. Dann drehte er sichum und rannte durch den Wald. Nur weg vonhier, weg, weg, weg …

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Es war vier Uhr morgens, als D’Agosta undPendergast im Warteraum des Anbaus zumLeichenschauhaus eintrafen. Dr. Becksteinwartete bereits und sah merkwürdigerweisebesser gelaunt aus. Vielleicht, dachte D’Agosta,ist er es aber auch nur gewohnt, mitten in derNacht in einer Leichenhalle herumzulungern.D’Agosta fühlte sich beschissen; nichts wäreihm lieber gewesen, als nach Hause zu gehenund ins Bett zu kriechen.Aber genau das konnte er nicht. Die Dingeentwickelten sich fast schneller, als er sieverarbeiten konnte. Von all den Ereignissen injüngster Vergangenheit war das bei weitemschlimmste – für ihn jedenfalls – die Entführungvon Nora Kelly. Keinerlei Hinweise auf ihrenAufenthaltsort, der Personenschützer war mitirgendwelchen K.-o.-Tropfen im Kaffee betäubt

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und in Noras Krankenhauszimmereingeschlossen worden. Abermals hatte er sieim Stich gelassen.Und jetzt das hier.»Nun ja, meine Herren«, sagte Beckstein undstreifte sich ein Paar Handschuhe über. »DasGeheimnis wird dunkler und dunkler. Bitte,bedienen Sie sich.« Er wies mit einem Nicken zueinem Behälter in der Nähe.D’Agosta zog einen Kittel an, legte Mundschutzund Chirurgenhaube an und streifte sich einPaar Handschuhe über. Das Gefühl der Angstnahm zu, gleichzeitig versuchte er sich gegendie neuerlichen Qualen, die er gleich erduldenmusste, zu wappnen. Es war ihm schon immerschwergefallen, sich Leichen inLeichenschauhäusern anzusehen. Irgendetwasan dieser Mischung von totem kaltem Fleisch,der klinischen Beleuchtung und dem Blitzendes Edelstahls verursachte ihmMagengrimmen. Wie er wohl mit dieser Leichefertigwerden würde – wenn die Schilderungendes Mannes in der Ambulanz schon reichten,

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dass bei allen das Mittagessen wiederhochkam? Er blickte zu Pendergast hin, der,jetzt in Grün und Weiß gekleidet, mehr wie einMitarbeiter und weniger wie ein Besucheraussah. Er schien sich hier ganz wie zu Hausezu fühlen.»Doktor, bevor wir hineingehen«, D’Agostaversuchte, ganz locker und entspannt zuklingen, »habe ich noch ein paar Fragen.«»Selbstverständlich«, sagte Beckstein und bliebstehen.»Die Leiche wurde doch im Inwood Hill Parkgefunden, richtig? Nicht weit entfernt vomVille?«Beckstein nickte. »Zwei junge Männer habendie Leiche gefunden.«»Und Sie sind sicher, was die Identität desOpfers angeht? Dass es sich bei der Leiche umColin Fearing handelt?«»Halbwegs sicher. Der Doorman des Gebäudes,in dem Fearing wohnte, hat ihn eindeutigidentifiziert, und ich halte ihn für einenglaubhaften Zeugen. Zwei Mieter, die Fearing

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gut kannten, haben die Leiche ebenfallsidentifiziert. Sie weist die richtige Tätowierungund das richtige Muttermal auf. Nur umsicherzugehen, haben wir DNA-Tests bestellt,aber ich würde meine Karriere daraufverwetten, dass es sich um Colin Fearinghandelt.«»Die erste Leiche – der Selbstmörder, derBrückenspringer? Diejenige, die Dr. Heffler alsFearing identifizierte? Wie konnte das alsopassieren?«Beckstein räusperte sich. »Wie es scheint, hatDr. Heffler einen Fehler gemacht – einenverständlichen Fehler unter den Umständen«,fügte er hastig hinzu. »Ich hätte dieIdentifizierung durch eine Schwester sicherlichebenfalls als maßgeblich akzeptiert.«»Faszinierend«, murmelte Pendergast.»Was?«, fragte D’Agosta.»Ich frage mich, an welcher Leiche Dr. Hefflerdann in Wirklichkeit die Autopsie vorgenommenhat.«»Ja.«

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»Eine derartige Fehlidentifikation«, sagteBeckstein, »ist gar nicht so ungewöhnlich. Ichhabe das schon mehrmals erlebt. Wenn man dieTrauer und den Schock der Angehörigen mitden unvermeidlichen Veränderungen, die derTod an der Leiche verursacht, kombiniert – vorallem bei längerem Verbleiben in Wasser oderder Verwesung unter heißer Sonne …«»Richtig, richtig«, sagte D’Agosta hastig.»Außer dass die externen Indizien daraufhindeuten, dass es sich hier um vorsätzlichenBetrug handelt. Obendrein war Dr. Heffler auchnachlässig, was die Überprüfung der Identitätder Schwester betrifft.«»Fehler passieren nun mal«, sagte Becksteinlahm.»Ich habe festgestellt, dass Arroganz, an der esDr. Heffler gewiss nicht mangelt«, meldete sichPendergast zu Wort, »der Dünger desWeinbergs der Fehlerhaftigkeit ist.«D’Agosta versuchte noch, den Satz zuverstehen, als Beckstein ihnen bedeutete, ihmin den Obduktionssaal zu folgen. Drinnen lag

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Fearings Leiche auf einer Rollbahre untergrellem Licht. D’Agosta war enorm erleichtert,als er sah, dass die Leiche von einem weißenPlastiklaken verdeckt wurde.»Ich habe noch nicht angefangen, daran zuarbeiten«, sagte Beckstein. »Wir warten nochauf das Eintreffen eines Pathologen und einesAssistenten. Entschuldigen Sie bitte dieVerzögerung.«»Nicht nötig«, sagte D’Agosta ein wenig hastig.»Wir sind dankbar, dass Sie diese Eilsektiondurchführen. Die Leiche wurde erst umMitternacht eingeliefert, richtig?«»Stimmt. Ich habe die vorbereitendenMaßnahmen durchgeführt und dabei an derLeiche einige, äh, Merkwürdigkeitenfestgestellt.« Beckstein fingerte an der Eckedes Lakens. »Darf ich?«Merkwürdigkeiten. D’Agosta konnte sich schonvorstellen, was das für Merkwürdigkeitenwaren. »Na ja …«»Mit dem größten Vergnügen!«, sagtePendergast.

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D’Agosta wappnete sich, atmete durch denMund und entspannte sich. Das hier würdehässlich werden. Eine bereits dunkelschillernde, aufgedunsene Leiche, Fleisch, dasvon Knochen getrennt würde, Fett, dasschmolz, Flüssigkeiten, die abliefen … Gott, wieer Leichen hasste!Kurzes Geraschel von Plastik, dann schlugBeckstein das Laken zurück. »Bitte.«D’Agosta zwang sich, sich auf den Leichnam zukonzentrieren. Und staunte nicht schlecht.Es handelte sich um die Leiche einer normalaussehenden Person, sauber, makellos und sofrisch, dass sie auch hätte schlafen können.Das Gesicht war glattrasiert, das Haargekämmt und gegelt, der einzige Beweis desTodes eine hässliche Schusswunde oberhalbdes rechten Ohrs und einige Zweige undBlätter, die an der Schädelrückseite am Haarfestklebten.D’Agosta schaute zu Pendergast und sah, dasser genauso erstaunt war wie er.»Na bitte!«, sagte D’Agosta, ungeheuer

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erleichtert. »So viel zu unseren Zombies undlebenden Leichen, Pendergast. Wie ich immergesagt habe: Die ganze Sache ist ein schlechterScherz – ausgedacht vom Ville. Der Bursche istwahrscheinlich von einer Party der falschenZombies nach Hause gegangen und wurde voneinem Straßenräuber kaltgemacht.«Pendergast sagte gar nichts dazu, sondernnahm die Leiche genau in Augenschein.D’Agosta wandte sich zu Beckstein um.»Können Sie den Todeszeitpunkt bestimmen?«»Die Analprobe deutet darauf hin, dass derMann ungefähr zweieinhalb Stunden tot war,als er im Inwood Hill Park aufgefunden wurde.Das war so gegen dreiundzwanzig Uhr, plusminus, so dass der Tod gegen zwanzig Uhrdreißig eingetreten sein dürfte.«»Todesursache?«»Aller Wahrscheinlichkeit nach die ausgeprägteSchusswunde oberhalb des rechten Ohrs.«D’Agosta sah genauer hin. »KeineAustrittswunde. Sieht wie ein Kaliberzweiundzwanzig aus.«

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»Das ist vermutlich korrekt. Natürlich wissenwir das erst, wenn wir ihn aufmachen. Meinevorbereitende Untersuchung deutet darauf hin,dass er von hinten erschossen wurde, auskürzester Entfernung. Keinerlei Anzeichen füreinen Kampf oder Gewaltanwendung, keineHinweise auf Blutergüsse, Kratzwunden oderSpuren einer Fesselung.«D’Agosta drehte sich um.»Was folgern Sie daraus, Pendergast? KeinVoodoo, kein Obeah, nur ein beschissener Mordmittels Schusswaffe, so wie die Hälfte in dieserStadt. Dr. Beckstein, wurde der Mann in situgetötet, oder wurde die Leiche an den Fundortgebracht?«»Darüber habe ich noch keine Informationen,Lieutenant. Die Erstversorger haben die Leicheins Krankenhaus gebracht. Sie war noch warm,und sie haben keinerlei Vermutungenangestellt.«»Richtig, natürlich. Wir müssen bei denSpurensicherungsteams nachfragen, wenn diefertig sind.« D’Agosta vermochte den Triumph

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fertig sind.« D’Agosta vermochte den Triumphin seiner Stimme kaum zu unterdrücken. »Fürmich ist ziemlich klar, dass wir es hier miteinem ausgemachten Hokuspokus zu tunhaben, ersonnen von diesen Dreckskerlen imVille, um die Leute zu verscheuchen.«»Sie erwähnten einige Merkwürdigkeiten«,sagte Pendergast zu Beckstein.»Ja. Die erste kommt Ihnen möglicherweisebekannt vor.« Beckstein nahm aus einemoffenen Behälter einen Zungenspatel, riss diesterile Verpackung auf und öffnete den Munddes Toten. Dort, auf der Zunge befestigt,befand sich ein winziges Gebinde aus Federnund Haaren. Es entsprach beinahe genau dem,das man in Bill Smithbacks Mund gefundenhatte.D’Agosta starrte ungläubig darauf.»Und dann war da noch etwas. Dafür muss ichden Leichnam ein wenig drehen. Lieutenant?«Mit enormem Widerwillen half D’AgostaBeckstein, die Leiche auf die Seite zu drehen.Zwischen die Schulterblätter war mit einem

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dickem Marker eine komplizierte, stilisierteDarstellung zweier Schlangen gekritzelt,umgeben von Sternen, X-en und Pfeilen undsargähnlichen Kisten. Den unterenRückenbereich füllte eine unheimliche,spinnenartige Zeichnung einer Pflanze aus.D’Agosta schluckte. Diese Zeichnungen kannteer.»Eine vévé«, murmelte Pendergast, »ähnlichder, die wir an der Wand in SmithbacksWohnung gesehen haben. Merkwürdig …«»Was?«, fragte D’Agosta sofort.Anstatt umgehend zu antworten, schütteltePendergast bedächtig den Kopf. »WennMonsieur Bertin das hier nur sehen könnte.«Dann richtete er sich auf. »Mein lieber Vincent,ich glaube nicht, dass dieser Gentleman ›voneinem Straßenräuber kaltgemacht‹ wurde. Dashier war vorsätzlicher Mord, eine Hinrichtung,und zwar mit einem ganz speziellen Ziel.«Für einen Moment sah D’Agosta ihn ungläubigan. Dann blickte er wieder auf die Leiche aufdem Seziertisch.

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Alexander Esteban setzte sich auf einenunauffälligen Platz am großen Resopaltisch imschäbigen »Sitzungszimmer« der OrganisationMenschen helfen Tieren in der West 14. Straße.Draußen war ein heller Herbstmorgen, aber esdrang kaum Licht durch das eine schmierigeFenster, das einen Ausblick in einenLuftschacht bot. Er faltete die Arme vor derBrust und sah zu, wie die anderenVorstandsmitglieder ihre Plätze einnahmen.Stühle wurden gerückt, Begrüßungengemurmelt, Blackberrys und iPhonesklapperten. Der Duft von Zimt-dolce-Lattes undKürbisgewürz-Frappuccino-Crèmes vonStarbucks lag in der Luft, als die Anwesendenihre extragroßen Kaffeebecher auf den Tischstellten.Als Letzter betrat Rich Plock den Raum,

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begleitet von drei Personen, die Esteban nichtkannte. Plock nahm eine Position am anderenEnde des Raums ein, die verschränkten Armeverbargen die schwangerschaftsähnlicheWölbung seines Bierbauchs unter dem schlechtsitzenden Anzug, das rote Gesicht schwitztehinter einer Fliegersonnenbrille. Sofort setzteer mit seiner hohen, wichtigtuerischen Stimmezu einer Rede an.»Meine Damen und Herren vom Vorstand, ichfreue mich, Ihnen drei sehr bedeutende Gästevorzustellen. Miles Mondello, Präsident derGrünen Brigade, Lucinda Long-Pierson,Vorsitzende der Veganischen Armee, undMorris Wyland, Direktor von Animal Amnesty.«Das Trio stand da und blickte zu Esteban, alskämen sie geradewegs aus einem Casting.Fanatische Idealisten, die verzweifelt auf derSuche nach einer guten Sache waren, aber nullAhnung von etwas hatten.»Diese drei Organisationen werden neben derMHT die Demonstration heute Abend mitunterstützen. Heißen wir ihre Vertreter auf

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unserer Versammlung willkommen.«Applaus.»Bitte setzen Sie sich. Ich erkläre dieSondersitzung des Vorstands der MHT hiermitfür eröffnet.«Rascheln mit Papieren, vielfaches Nippen anKaffeebechern, Schreiber und Notizblocks undLaptops wurden hervorgeholt. DieBeschlussfähigkeit wurde festgestellt. Estebanwartete ab.»Es gibt einen einzigen Punkt auf derTagesordnung: der Protestmarsch heuteAbend. Zusätzlich zu denGründungsorganisationen haben wir weitereeinundzwanzig Gruppen an Bord. Ganz genau,meine Damen und Herren, Sie haben richtiggehört: weitere einundzwanzig!« Plock strahlteund schaute sich um. »Die Reaktion warunglaublich. Wir erwarten an die dreitausendTeilnehmer – aber ich bin weiterhin noch mitanderen interessierten Organisationen inKontakt, und es könnten noch mehr werden.Viel mehr.« Er schüttelte einen Stapel Papiere

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aus einem Schnellhefter und reichte sie herum.»Hier nun die Details. Die kleineAblenkungsgruppe wird sich bei denBaseballplätzen versammeln. Die anderenGruppen – sie sind auf dem Blatt aufgeführt –versammeln sich am Fußballplatz, dem Park ander West 218. Straße, entlang der Promenadebei den Wattflächen und mehreren anderenOrten. Wie Sie wissen, habe ich eineGenehmigung erwirkt. Andernfalls hätte manuns nicht in die Nähe des Ville gelassen.«Murmeln und Nicken.»Aber natürlich haben die städtischenBehörden keine Ahnung – absolut keineAhnung –, was für eine große Gruppe sich da imNorden der Stadt versammeln wird, dafür habeich gesorgt.«Einige Anwesende kicherten wissend.»Weil, meine Damen und Herren, das hier einNotfall ist! Diese kranken, verkommenenMenschen, Hausbesetzer in unserer Stadt,töten nicht nur Tiere, sondern steckenoffensichtlich auch hinter dem brutalen Mord

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an Martin Wartek. Sie sind verantwortlich fürden Mord an zwei Reportern, Smithback undKidd, und die Entführung von Smithbacks Frau.Und was unternimmt die Stadt? Nichts. Absolutnichts! Es ist an uns zu handeln. Darum gehenwir heute Abend um achtzehn Uhr rein. Wirwerden die ganze Sache beenden. Jetzt!«Plock schwitzte, seine Stimme klang hoch, seinePräsenz war wenig beeindruckend. Dennochhatte er Charisma – das des wahren Glaubens,der Leidenschaft und des echten Muts.Esteban war beeindruckt.»Den detaillierten Plan der Demonstrationfinden Sie auf dem vor Ihnen liegenden Blatt.Passen Sie gut darauf auf – es wäre eineKatastrophe, wenn unser Plan der Polizei in dieHände fiele. Gehen Sie nach Hause, fangen Siean zu telefonieren, fangen Sie an, E-Mails zuschreiben, fangen Sie an, sich zu organisieren!Unser Zeitplan ist eng. Wir treffen uns umachtzehn Uhr. Abmarsch ist um achtzehn Uhrdreißig.« Er blickte sich um. »IrgendwelcheFragen?«

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Keine Fragen. Esteban räusperte sich und hobden Finger.»Ja, Alexander?«»Ich bin etwas verwirrt. Sie planen alsotatsächlich, auf das Ville zuzumarschieren?«»So ist es. Wir stoppen das, hier und jetzt.«Esteban nickte nachdenklich. »Hier steht nicht,was Sie vorhaben, wenn Sie dort eintreffen.«»Wir werden auf das Gelände des Villevordringen und die Tiere befreien. Und wirwerden die Hausbesetzer vertreiben. Der Plandeckt das alles ab.«»Verstehe. Es stimmt natürlich, dass dieseLeute Tiere kaltblütig töten – und quälen. Undsie tun das vermutlich auch schon seit Jahren.Aber bedenken Sie, sie dürften bewaffnet sein.Wir wissen bereits, dass sie mindestens dreiMenschen ermordet haben.«»Wenn diese Leute Gewalt anwenden, zahlenwir es ihnen mit gleicher Münze zurück.«»Sie haben vor, sich zu bewaffnen?«Plock faltete die Arme vor der Brust. »Ich sagedazu nur so viel: Niemand wird uns davon

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abhalten, in Notwehr zu handeln – ganz gleich,mit welchen Mitteln.«»Mit anderen Worten«, sagte Esteban, »Sieempfehlen, dass die Teilnehmer bewaffnet zurDemonstration erscheinen?«»Ich empfehle garnichts, Alexander. Ich stelle hier nur eineTatsache fest. Gewalt ist sicherlich eineMöglichkeit, und jeder Mensch in diesem Landhat das Recht auf Selbstverteidigung.«»Verstehe. Und die Polizei? Wie wollen Sie mitder fertigwerden?«»Deshalb versammeln wir uns ja anunterschiedlichen Punkten und rücken ausmehreren Richtungen vor, wie ein Krake. Wirwerden die Polizei überwältigt haben, noch ehedie überhaupt weiß, was vor sich geht.Tausende von uns, die massenhaft durch denWald vorrücken – wie wollen die uns daaufhalten? Die können weder Barrikadenerrichten noch unsere Marschroute blockieren.Es gibt dort keinen Zugang für Fahrzeuge, nureine einzige Straße, und die wird vonDemonstranten versperrt sein.«

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Esteban verlagerte unbehaglich sein Gewicht.»Also, verstehen Sie mich nicht falsch, ich bingegen das Ville, das wissen Sie. Diese Leutesind verachtenswert, unmenschlich. Ich meine,man denke da nur einmal an diesen PechvogelFearing. Man hat ihn einer Gehirnwäscheunterzogen, damit er Morde beging. Und dannwurde er mit einem Kopfschuss getötet –wahrscheinlich von Leuten aus dem Ville –, alser zu ebenjenen Sadisten zurückkriechenwollte, die ihn überhaupt erst zum Zombiegemacht hatten. Wenn diese Leute so etwasFearing antun konnten, dann können sie esjedem antun. Aber wenn Sie auf eine derartunkontrollierte Weise auf das Gelände des Villevordringen, könnten Menschen zu Schadenkommen. Sogar getötet werden. Haben Sie dasin Betracht gezogen?«»Es sind bereits Menschen getötet worden.Von den Tieren – Hunderten, Tausenden, denenauf fürchterlichste Art und Weise die Kehledurchgeschnitten wurde, ganz zu schweigen.Nein, Sir, wir beenden das. Heute Abend.«

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»Ich weiß nicht recht, ob ich dazu bereit bin«,sagte Esteban. »Das ist eine ziemlich radikaleMaßnahme.«»Alexander, wir freuen uns außerordentlich,dass Sie unserer Organisation beigetreten sind.Und dass Sie ein starkes Interesse an unseremWirken haben. Wir schätzen uns glücklich, Sieals Mitglied im Vorstand zu haben. Ihregroßzügige finanzielle Unterstützung wirdaußerordentlich geschätzt, ebenso wie Ihregroße öffentliche Präsenz. Aber ich persönlichbin der festen Überzeugung, dass irgendwanneinmal die Zeit kommt, da ein Mann oder eineFrau Stellung beziehen muss. Zu reden – dasgenügt nicht mehr. Die Zeit zu handeln istjetzt.«»Und wenn Sie auf das Gelände des Villevorgedrungen sind«, sagte Esteban, »und dieTiere befreit haben, was geschieht dann?«»Genau das, was ich gesagt habe. Wir werdendiese Tiermörder vertreiben. Wohin sie gehen,ist ihre Sache.«»Und dann?«

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»Und dann?«»Und dann brennen wir die Gebäude nieder,damit die Leute nicht zurückkehren können.«Esteban schüttelte den Kopf. »Angesichts derTausende von Menschen, die außerhalb undinnerhalb des Ville herumlaufen, und weil eskeine Zufahrt für Feuerwehren gibt, kann jedesFeuer, das Sie legen, Dutzende Menschenlebenkosten. Das Ville ist eine Feuerfalle. Da werdenSie womöglich Ihre eigenen Leute umbringen,nicht nur die Bewohner des Ville.«Unbehagliches Schweigen.»Ich möchte mich hier ganz deutlich gegenBrandstiftung aussprechen. Das Gegenteil zutun, das wäre richtig – ich würde anausgewählte Demonstranten die Aufgabe derBrandkontrolle übertragen, zum Schutz gegendiese Möglichkeit. Was ist, wenn die Bewohnerso agieren wie diese Irren in Waco und dieGebäude selbst in Brand stecken, während Siesich auf dem Gelände befinden?«Noch eine Pause. »Vielen Dank, Alexander«,sagte Plock. »Ich muss zugeben, Sie haben da

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ein gutes Argument vorgebracht. Ich nehmezurück, was ich über die Brandstiftung gesagthabe. Wir werden die Gebäude mit bloßenHänden niederreißen. Ziel ist es, dass sie nichtmehr bewohnbar sind.«Zustimmendes Gemurmel.Esteban runzelte die Stirn und schüttelte denKopf. »Ich kann das dennoch nichtunterstützen. Ich bin eine bekannte Person undhabe einen Ruf zu verlieren. Tut mir leid, ichdarf einfach nicht mit einem derartigen Angriffin Zusammenhang gebracht werden.«Stühlerücken. Leises Gemurre. »Das istnatürlich Ihr Recht, Alexander«, sagte Plockkühl. »Und ich muss sagen, ich bin nicht völligüberrascht angesichts der Art und Weise, wieSie unsere letzte Begegnung mit dem Ville mitkaltem Wasser übergossen haben. Will sichsonst noch jemand Mr. Esteban anschließenund aussteigen?«Esteban blickte sich um. Niemand sonst rührtesich. Er sah den mangelnden Respekt, dieVerachtung in ihren Blicken.

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Er stand auf und verließ den Raum.

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Während die Morgensonne durch die Fensterströmte, saß D’Agosta hinter seinemSchreibtisch, die Finger auf der Tastatur seinesComputers, und starrte auf den Bildschirm. Esgab eine Million Dinge, die zu erledigen waren,und trotzdem fühlte er sich wie gelähmt. Eskam ihm vor, als befände er sich im Auge einesHurrikans: ringsum fieberhafte Aktivität, dochhier, im Zentrum des tosenden Sturms, waralles ruhig.Plötzlich ging die Tür zu seinem Büro auf. Erwandte sich um und sah Laura Hayward, diemit raschen Schritten hereinkam. Sofort stander auf.»Laura.«Sie schloss die Tür hinter sich und trat an denSchreibtisch. Als er ihre eisige Miene sah,wurde ihm ganz flau im Magen.

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»Vinnie, manchmal bist du wirklich einegoistischer Scheißkerl«, sagte sie leise.Er schluckte. »Worum geht’s denn?«»Worum es geht? Meine Beförderung ist mir imletzten Augenblick vor der Naseweggeschnappt worden. Und du bist dafürverantwortlich.«Einen Moment sah er sie verständnislos an.Dann fiel ihm das Gespräch ein, das er auf demFlur von Digital Veracity geführt hatte; dieunterschwellige Drohung desSoftwareentwicklers. »Kline«, sagte er und ließsich zurück auf den Schreibtischstuhl fallen.»Da hast du verdammt recht. Kline.«D’Agosta schaute sie an. Dann senkte er denBlick. »Was hat er getan?«»Kline hat fünf Millionen für den Dyson-Fondsgespendet. Unter der Bedingung, dass ichnicht in die Sonderkommission komme.«»Das kann er nicht machen. Das istErpressung. Das verstößt gegen das Gesetz.«»O bitte. Du weißt doch genau, wie es in dieserStadt läuft.«D’Agosta seufzte. Ihm war

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durchaus klar, was er empfinden sollte –rechtschaffene Empörung, sogar Wut –, aberplötzlich war er nur noch müde.»Rocker ist kein Trottel«, sagte Lauraverbittert. »Er weiß, dass man ihn ans Kreuzschlagen würde, wenn er eine solche Spendeablehnte – vor allem für eine politisch so heißeKartoffel wie den Dyson-Fonds. Und ich bindiejenige, die ungerecht behandelt wird.«»Laura … es tut mir so leid. Du bist die Letzte,die ich in diese Sache verwickeln wollte. Aberich habe nur meine Arbeit getan. Was sollte ichdenn tun – diesen Witzbold Kline laufen lassen?Er ist tatverdächtig. Er hat Smithbackbedroht.«»Was du hättest tun sollen? Professionellhandeln. Seit dem Mord an Smithback bist duaußer Kontrolle. Ich habe von dieserHolzhacker-Hausdurchsuchung gehört, mit derdu Kline auf die Palme gebracht hast. Du hastgewusst, dass dem Mann leicht dieSicherungen durchbrennen, und hast ihntrotzdem provoziert. Und um sich zu rächen, ist

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er dann über mich hergefallen.«»Es stimmt – ich habe tatsächlich versucht, ihnzu provozieren, damit er einen falschen Schrittmacht. Er ist jemand, der es nicht ertragenkann, das Gesicht zu verlieren. Wenn ichgewusst hätte, dass er es an dir auslässt, hätteich ganz anders agiert.« Er ließ den Kopfhängen und massierte seine Schläfen. »Was sollich sagen?«»Dieser Job hat mir mehr als alles bedeutet.«Ihre Worte hingen in der Luft. Er hob den Kopfund erwiderte ihren Blick.Am Fenster seiner Bürotür klopfte es. Erblickte hin und sah den Vorzimmer-Beamten inder Tür stehen.»Entschuldigen Sie, Sir. Ich glaube, Sie solltenmal Kanal zwei einschalten.«Wortlos ging D’Agosta mit langen Schritten zumFernsehgerät, das oben an der Wandangebracht war, und drückte den Ein-Knopf.Auf dem Bildschirm erschien ein amateurhaftesVideo, körnig, verwackelt, aber er erkannte dieFrau in dem Bildausschnitt trotzdem sofort.

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Nora Kelly. Sie trug ein dünnesKrankenhaushemd, ihr Gesicht war aschfahl,das Haar unordentlich. Sie befand sich in einerArt Kerker: grob behauene Wände, hier und daStroh auf dem Betonboden. Er sah zu, wie sieunsicher auf das Kameraobjektiv zuschritt.»Helfen Sie mir«, sagte sie.Unvermittelt wurde der Bildschirm schwarz.D’Agosta drehte sich wieder zum Vorzimmer-Sergeant um. »Was zum Teufel …?«»Das ist vor ungefähr fünfzehn Minuten insNetwork gelangt. Zurzeit wird das Originalanalysiert.«»Ich will, dass unsere besten Forensiker daraufangesetzt werden. Sofort – verstanden? Wowurde das Video abgegeben?«»Ist per E-Mail reingekommen.«»Stellen Sie den Absender fest.«»Ja, Sir.« Der Sergeant verschwand.D’Agosta sank auf den Stuhl zurück, legte denKopf in die Hände und schloss die Augen. EineMinute verging, in der er sich sammelte. Dannsagte er leise: »Ich werde Nora Kelly finden,

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Laura, und wenn das meine letzte Handlung alsPolizist sein sollte. Was immer das erfordert, ichmache es zu meiner persönlichen Sache, dafürzu sorgen, dass Nora Kelly nicht stirbt. Unddass die Verantwortlichen es teuer bezahlenwerden.«»Siehst du, du fängst schon wieder damit an«,sagte Hayward. »Wenn du Nora Kelly rettenwillst, dann musst du deine Gefühle in den Griffbekommen. Du musst wieder anfangen, dichwie ein professioneller Cop zu verhalten.Andernfalls werde beim nächsten Mal nicht nurich beschädigt werden.«Und damit drehte sich Laura ohne ein Wort desAbschieds um, verließ den Raum und schlossdie Tür fest hinter sich.

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Während die Morgensonne die cremefarbenenMauern und aufragenden Terracotta-Spandrillen des Dakota-Gebäudes in eingoldenes Licht tauchte, fand vor dem Eingangdes Gebäudes in der 72. Straße eine seltsameProzession statt. Zwei Hoteldiener tauchtenzwischen den schwarzen gusseisernen Torenauf, jeder trug drei Koffer. Ihnen folgte eineFrau in einer weißen Schwesterntracht, die ausdem Dunkel des Hofeingangs trat und nebendem Unterstand des Doormans Aufstellungbezog. Als Nächster erschien Proctor, er gingzum Rolls-Royce, der am Bordstein stand,öffnete den Fond und blieb erwartungsvolldaneben stehen. Nach einem langenAugenblick erschien eine weitere Gestalt unterdem Torbogen. Sie war recht klein und saß ineinem Rollstuhl, der von einer weiteren

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Krankenschwester geschoben wurde. Trotz deswarmen Spätsommertags war die Gestalt sodick in Decken, Muffs und Schalseingemummelt, dass das Gesicht, ja sogar dieGeschlechtszugehörigkeit kaum zu erkennenwar. Die Gesichtszüge wurden von einemgroßen weißen Fedora-Hut verdunkelt. Unterder dunklen Sonnenbrille ragte eine Perlmutt-Zigarettenspitze hervor.Die Krankenschwester schob den Invaliden biszum wartenden Proctor. Währenddessenerschien Pendergast aus dem Eingang undschlenderte, die Hände in den Hosentaschen,zum Rolls hinüber.»Ich kann Sie also nicht dazu überreden, nochein wenig länger zu bleiben, maître?«, fragteer.Die Person im Rollstuhl nieste explosiv. »Ichbleibe keine Minute länger, und wenn derheilige Christophorus selbst mich darumbäte!«, lautete die gereizte Antwort.»Lassen Sie mich Ihnen helfen, Mr. Bertin«,sagte Proctor.

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»Gleich.« Unter der Decke erschien eine blasseHand, die ein Nasenspray hielt. Das Fläschchenwurde gegen ein zitterndes Nasenlochgedrückt, dann wieder unter die Deckegesteckt. Die dunkle Brille wurde abgenommenund in das BOAC-Boardcase gesteckt, das derkleine Mann offenbar stets bei sich trug.»Doucement, pour l’amour du ciel –doucement!«Mit einiger Mühe gelang es Proctor und derKrankenschwester, Bertin aus dem Rollstuhl zuheben und, unter einem Strom vonVerwünschungen seinerseits, auf den Rücksitzdes Rolls zu heben. Pendergast kam herbei undstreckte den Kopf durchs Fenster.»Geht es Ihnen etwas besser?«, fragte er.»Nein, und das wird erst dann passieren, wennich ins hinterste Bayou zurückgekehrt bin –wenn überhaupt.« Bertin lugte zwischen seinenDecken hervor und packte seinen riesigenGehstock fester, seine dunklen Augenfunkelten wie Glasperlen. »Und Sie müssen aufsich achtgeben, Aloysius. Die Zauber, die dieser

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hungan heraufbeschwört hat, sind stark, altund stark.«»In der Tat.«»Und wie geht es Ihnen?«»Nicht schlecht.«»Sehen Sie!«, erklärte Bertin beinahetriumphierend. Wieder erschien die Hand,kramte in der ramponierten Reisetasche undholte einen kleinen versiegelten Umschlaghervor. »Lösen Sie das hier in sechs UnzenSarsaparille auf und geben Sie Flachssamenölhinzu. Zweimal täglich.«Pendergast steckte das Kuvert ein. »VielenDank, maître. Verzeihen Sie, dass ich Ihnen sogroße Umstände gemacht habe.«Einen Moment lang blickten die funkelndenschwarzen Augen hellwach. »Pah! Es war gut,Sie nach so vielen Jahren wiederzusehen. Abernächstes Mal treffen wir uns in New Orleans –ich werde an diesen Ort der Finsternis nie mehrzurückkehren!« Er schauderte. »Ich wünscheIhnen viel Glück. Dieser loa aus dem Ville – erist wirklich böse. Böse.«

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»Gibt es sonst noch etwas, das Sie mir sagensollten, bevor Sie abreisen?«»Nein. Ja!« Bertin hustete und nieste nocheinmal. »Das hätte ich inmitten all meinerLeiden fast vergessen. Dieser winzige Sarg, denSie mir gezeigt haben – der aus dem Raum mitden Beweismitteln –, das ist eine merkwürdigeAngelegenheit.«»Der aus dem Grab von Colin Fearing? Der, äh,beschädigte?«Bertin nickte. »Es hat etwas gedauert, bis iches erkannt habe. Aber die Anordnung derTotenköpfe und der Gebeine auf dem Deckel…« Er schüttelte den Kopf. »Die Anordnung istungewöhnlich, sie widerspricht sich selbst. Siemüsste eigentlich dem ›Wahren Muster‹ folgen,zwei zu fünf. Ein feiner Unterschied, aberdennoch ein Unterschied.« Er schnippteabfällig mit den Fingern. »Eine plumpe,sonderbare Sache.«»Ich habe das graue Puder, das sich im Sargbefand, analysiert. Es scheint sich schlicht umHolzasche zu handeln.«

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Noch ein abfälliges Schnippen. »Sehen Sie? Espasst nicht zu dem anderen Obeah vonCharrière und dem Ville. Die dort verwendetenZauberfetische sind unendlich viel übler.Warum dieser eine Fetisch nicht ins Musterpasst, ist mir ein Rätsel.«»Vielen Dank, maître.« Pendergast richtete sichauf, ein nachdenklicher Ausdruck trat in seinGesicht.»Gern geschehen. Und nun adieu, mein lieberAloysius, adieu! Und vergessen Sie nicht: insechs Unzen Sarsaparille auflösen, zweimaltäglich.« Bertin tippte mit dem Knauf seinesGehstocks gegen das Dach des Rolls. »Siedürfen losfahren, guter Mann! Und geben Sieden Pferdchen die Sporen, wenn ich bittendarf!«

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Der Multimedia-Services-Raum imPolizeihochhaus erinnerte D’Agosta an denKontrollraum eines U-Boots: heiß, vollgestopftmit Elektronik und erfüllt von menschlichenAusdünstungen. Mindestens zwanzig Personendrängten sich in dem niedrigen Raum, hocktenvor Terminals und Workstations. Weilirgendjemand gerade ein frühes Mittagesseneinnahm, hing der durchdringende Geruch vonCurry in der Luft.D’Agosta blieb stehen und blickte sich um. Diegrößte Gruppe konzentrierte sich imrückwärtigen Teil, dort, wo John Loader, Leiterder forensischen Abteilung, sein Kabuff hatte.D’Agosta schlenderte darauf zu, und seinGefühl der Frustration nahm noch zu, als ersah, dass Chislett bereits eingetroffen war. Derstellvertretende Bezirksleiter der Polizei drehte

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sich um, erblickte D’Agosta und wandte sichwieder um.Loader saß an seiner digitalen Workstation,eine riesige CPU-Einheit unter demSchreibtisch und ein dualer 30-Zoll-Flachbildschirm obendrauf. Obwohl D’AgostaDruck gemacht hatte, hatte der Forensikerdarauf bestanden, dass er mindestens zweiStunden für die Bearbeitung und Analyse desVideos benötige. Anderthalb Stunden war erinzwischen schon dabei.»Bringen Sie mich auf den neuesten Stand«,sagte D’Agosta im Näherkommen.Loader schob sich von der Arbeitsstation weg.»Es handelt sich um eine MPEG-4-Datei, die perE-Mail an die Nachrichtenabteilung unseresNetzwerks geschickt wurde.«»Und der Absender?«Loader schüttelte den Kopf. »Wer immer eswar, er hat einen Remailing-Service inKasachstan genutzt.«»Okay, und wie sieht’s mit dem Video aus?«Der Forensiker zeigte auf die beiden

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Bildschirme. »Läuft gerade durchs Video-Analyseprogramm.«»Und dafür haben Sie anderthalb Stundengebraucht?«Loader runzelte die Stirn. »Ich habe den Codeübertragen, den gesamten Clip justiert und dieFrames angepasst, die Nebengeräuscheentfernt, jeden Frame heller gemacht und einedigitale Bildstabilisierung angewendet.«»Haben Sie auch nicht vergessen, einSahnehäubchen draufzusetzen?«»Lieutenant, wenn man eine solche Dateibearbeitet, dann glättet und schärft man nichtnur das Bild, sondern reduziert auchAblenkungen und kann Indizien highlighten, dieansonsten nicht auffallen würden.«D’Agosta hatte nicht übel Lust, daraufhinzuweisen, dass hier ein Menschenleben aufdem Spiel stand und jede Minute zählte,entschied sich aber dagegen. »Na gut. LassenSie mal sehen.«Loader zog den Joystick näher zu sich heran –ein rundes schwarzes Gerät von der Größe

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eines Eishockeypucks. Auf dem linken Monitorerschien flackernd das Video. Es war nicht sokörnig und verschwommen wie vorhin, als er esin den Nachrichten gesehen hatte. Man hörteein Rasseln, dann war schwacher Lichtscheinzu erkennen, der in die Dunkelheit fiel. Und dawar Nora. Sie blickte in die Kamera, ihr von derLichtquelle erhelltes Gesicht sah aus wie einweißes Gespenst, das im Dunkeln schwebte.Hinter ihr konnte D’Agosta gerade eben kleineFlächen mit Stroh auf einem Zementbodenausmachen, roh gehauene, mit Mörtel gefugteNatursteine, die die Wände bildeten.»Hilfe!«, sagte Nora.Die Kamera wackelte, das Bild wurde unscharf,dann wieder scharf.»Was wollen Sie?«, fragte Nora.Keine Antwort, kein Laut. Und dann so etwaswie ein gedämpftes Kratzen oder Quietschen.Das Licht schwenkte weg, das Dunkel kehrtezurück, der Clip war zu Ende.»Sie können das Video also nichtzurückverfolgen«, sagte D’Agosta und

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versuchte, ganz gelassen zu klingen. »Gibt essonst noch etwas über die Datei, das Sie mirsagen können? Irgendetwas?«»Sie war nicht gebündelt.«»Das heißt?«»Sie stammt nicht aus einemÜberwachungskamerasystem. Die Quelle warhöchstwahrscheinlich ein digitaler Camcorder,wie es ihn überall zu kaufen gibt, vermutlich einälteres Modell, wenn man sieht, wie stark dieBilder wackeln.«»Und in der E-Mail gab es keine Nachricht?Keine Lösegeldforderung, keine Botschaftirgendeiner Art?«Loader schüttelte den Kopf.»Spielen Sie das Band bitte noch einmal ab.«Während das Video lief, sah sich D’Agostagenau das wenige an, was von dem Raum zusehen war, auf der Suche nach etwas,irgendeiner Kleinigkeit, womit er sich vielleichtidentifizieren ließ.»Können Sie auf die Wand dort zoomen?«,fragte er.

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Mittels des Joysticks spulte Loader dieAufnahme ein, zwei Sekunden zurück, markierteeinen Abschnitt der Wand in der Nähe von Noraund vergrößerte ihn dann.»Das ist zu grobkörnig«, sagte D’Agosta.»Ich kann ja mal das Unschärfen-Masken-Hilfsprogramm anwenden. Damit müsste dieWand deutlicher zu erkennen sein.« Ein paarKlicks mit der Maus, und die Wand wurdeerheblich schärfer – flache Natursteine,übereinanderliegend und mit Zementfugenversehen.»Ein Keller«, sagte D’Agosta. »Und zwar einalter.«»Bedauerlicherweise«, meldete sich Chislettzum ersten Mal zu Wort, »ist anhand dieserBilder gar nichts eindeutig identifizierbar.«»Woraus besteht das Gestein?«»Unmöglich, seine spezielle mineralischeZusammensetzung zu bestimmen«, sagteLoader. »Könnte Schiefer, könnte Basalt sein…«»Lassen Sie das Bild noch mal durchlaufen.«

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Schweigend sahen sie sich das Playback an.D’Agosta spürte, wie seine Wut den Raumförmlich erfüllte. Warum machte er sichüberhaupt die Mühe, sie zu unterdrücken? DieDreckskerle hatten Nora entführt.»Dieses Geräusch da im Hintergrund«, sagteer. »Was ist das?«Loader schob den Hebel des Joysticks zur Seite.»Wir haben daran gearbeitet. Ich lade mal dieAudio-Verstärkungs-Software.«Jetzt öffnete sich ein schmales Fenster aufeinem zweiten Bildschirm, das eine Audio-Wellenform enthielt, ein unscharfes,geschlängeltes Band, das wie eine Sinuskurveauf Anabolika aussah.»Etwas Ruhe, bitte!«, rief Loader. Es wurde stillim Raum. Loader klickte auf einen Play-Knopfunten im Fenster.Die Schlängelkurve begann, sich durch dasFenster zu bewegen, ähnlich einer Bandspule,die durch einen Recorder läuft. D’Agosta hörtedie gedämpften Bewegungen der Person, diedie Kamera vermutlich durch die Dunkelheit

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trug; leises Klicken, als die Kameraleuchteanging, ein Scharren, als ob der kleineCamcorder auf etwas abgelegt oder dasObjektiv durch Stäbe oder einen Schlitzgeschoben wurde. Nora sagte irgendetwas,dann noch etwas. Und dann war das Geräuschzu hören. Ein Quietschen? Ein Kratzen? Es warzu leise, da war zu viel Hintergrundrauschen,um es identifizieren zu können.»Können Sie das Geräusch verstärken?«, fragteer. »Es isolieren?«»Ich kann ja mal ein paar parametrischeEqualizer zum Signalpfad hinzufügen.« WeitereFenster wurden geöffnet, kompliziertaussehende Kurven wurden auf die Audio-Wellenform gelegt. Wieder spielte Loader dieGeräuschdatei ab. Die Geräusche warendeutlicher, aber immer noch verschwommen.»Ich wende mal einen sogenanntenZiegelmauer-Filter an, um das Brummen amunteren Ende auszuschalten.« Weitere Klicks,weitere Anpassungen mit der Maus, dannspielte Loader die Wellenform erneut ab.

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»Das Geräusch stammt von einem Tier«, sagteD’Agosta. »Und zwar von einem, dem die Kehledurchgeschnitten wird.«»Ich fürchte, ich höre das nicht«, sagte Chislett.»Ach nein?« D’Agosta wandte sich an Loader.»Und wie steht’s mit Ihnen?«Der Forensiker kratzte sich etwas nervös dieWange. »Schwer zu sagen.« Er öffnete einweiteres Fenster. »Laut diesem Spektrum-Analyseprogramm liegt ein Mix von sehr hohenFrequenzen vor, einige davon höher als für dasmenschliche Gehör wahrnehmbar. Ich würdemeinen, dass es sich um das Quietschen einerrostigen alten Tür handelt.«»Quatsch!«»Bei allem Respekt …«, begann Loader.»Bei allem Respekt, das ist der Schrei einesTieres. Dieses Kellergeschoss ist alt undnachlässig gemauert. Ich will Ihnen mal etwassagen: Dieses Video stammt aus dem Ville. Wirmüssen das Gelände stürmen. Sofort.« Erdrehte sich um und blickte Chislett streitlustigan. »Stimmt’s, Chief?«

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an. »Stimmt’s, Chief?«»Lieutenant«, hob Chislett an, seine Stimme derInbegriff der Ruhe und der Vernunft, »Sieverdunkeln die Situation, statt sie zu erhellen.Auf diesem Video findet sich keinerleiAnhaltspunkt – überhaupt keiner –, der auf dieQuelle hinweist. Dieses Geräusch könnenMyriaden Dinge sein.«Verdunkeln statt erhellen. Myriaden Dinge. Daswar mal wieder typisch für diesen arrogantenChislett. D’Agosta beherrschte sich. »Chief, Siesind sich darüber im Klaren, dass heute Abendeine Demonstration gegen das Ville stattfindet,ja?«»Die Demonstration ist genehmigt, ist allesganz legal. Wir haben diesmal jede MengeLeute vor Ort und sorgen dafür, dass alles ingeordneten Bahnen abläuft.«»Ach ja? Das lässt sich aber nicht sichervorhersagen. Falls die Demonstration außerKontrolle gerät, drehen die Leute im Villewomöglich durch, was dazu führen könnte, dasssie Nora ermorden. Wir müssen das Ville sofort

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stürmen, heute, vor der Demonstration. DasÜberraschungsmoment ausnutzen, schnell undhart reingehen und Nora befreien.«»Lieutenant, haben Sie mir nicht zugehört? Wosind die Beweise? Kein Richter wird aufGrundlage dieses einen Geräuschs eine Razziagenehmigen, nicht mal, wenn es von einem Tierstammt. Das wissen Sie. Vor allem«, fügte erabfällig hinzu, »nach Ihrer plumpenDurchsuchung von Klines Büroräumen.«D’Agosta richtete sich auf. Schließlich ließ erden Damm brechen, sein Frust und seine Wutfuhren aus ihm heraus. »Ihr alle, seht euchdoch mal an«, sagte er laut, »sitzt hier rum aufeuren Hintern und fummelt an euremEquipment.«Alle hielten in ihrer Arbeit inne, drehten sichum und sahen ihn an.»Während ihr hier mit eurem Spielzeugherumkaspert, wurden eine Frau entführt undzwei Journalisten und ein Beamter derWohnungsbaubehörde ermordet. Was wirbrauchen, ist eine massive Razzia mit einer

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Spezialeinheit, um die Dreckskerle da obenauszuheben.«»Lieutenant«, sagte Chislett, »es würde Ihnengut zu Gesicht stehen, wenn Sie Ihre Gefühle imZaum hielten. Wir sind uns alle darüber imKlaren, was auf dem Spiel steht, und tun, waswir können.«»Nein, ich werde meine Gefühle nicht im Zaumhalten, und nein, Sie wissen nicht, was Sie tun.«Und damit drehte sich D’Agosta um und verließmit langen Schritten den Raum.

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Pendergast saß, das eine Bein über das anderegeschlagen und das Kinn auf diezusammengelegten Finger gestützt, in einemOhrensessel im Salon seiner Wohnung imDakota. In einem Sessel auf der anderen Seiteeines großen türkischen Teppichs saß Wren,dessen vogelähnliche Gestalt in demburgunderfarbenen Leder fast versank.Zwischen ihnen befand sich ein Tisch, auf demeine Kanne mit A-Li-Shan-Jin-Xuan-Tee, einKörbchen mit Brioche, eine Dose mit Butter undkleine Schälchen mit Marmelade undStachelbeergelee standen.»Welcher Angelegenheit habe ich dasVergnügen Ihres unerwarteten Besuchs zuverdanken, und dann noch bei Tageslicht?«,fragte Pendergast. »Es erfordert doch etwasrecht Bedeutsames, um Sie zu solch einer

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Stunde aus Ihrer Höhle zu locken.«Wren nickte knapp. »Gewiss, ich bin lichtscheu.Aber ich habe etwas entdeckt, das Sie, wie ichglaube, wissen sollten.«»Glücklicherweise ist es in meiner Wohnungmeist dunkel.« Pendergast schenkte zweiTassen voll, stellte eine vor seinen Gast undhob die andere an die Lippen.Wren blickte auf seine Tasse, rührte sie jedochnicht an. »Ich wollte Sie das schon immereinmal fragen: Wie geht es eigentlich derreizenden Constance?«»Ich erhalte regelmäßig Berichte aus Tibet.Alles verläuft nach Plan – zumindest so weit,wie Dinge nach Plan verlaufen können. Ichhoffe, in nicht allzu ferner Zukunft dorthinreisen zu können.« Pendergast trank nocheinen Schluck. »Sie sagten, Sie hätten etwasentdeckt. Bitte, fangen Sie an.«»Im Rahmen meiner Nachforschungen über dieGeschichte des Ville und seiner Bewohner –und deren Vorgänger – habe ich mich natürlicheiner großen Anzahl zeitgenössischer

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Darstellungen, Zeitungsartikeln, Gutachten,Manuskripten, Inkunabeln und andererDokumente bedient. Und je länger ich geforschthabe, desto mehr hat sich mir einemerkwürdige Erkenntnis aufgedrängt.«»Und die wäre?«Wren setzte sich vor. »Dass ich nicht der Erstebin, der diese besondere Reise unternommenhat.«Pendergast stellte seine Tasse ab.»Tatsächlich?«»Jeder, der seltene oder historische Dokumenteuntersucht, bekommt von der Bibliothek eineIdentifikationsnummer ausgehändigt. Schonbald fiel mir auf, dass die gleiche ID-Nummer inder Zugangs-Datenbank für diejenigenDokumente auftauchte, die ich für meineRecherchen anforderte. Zunächst glaubte ich,es handele sich nur um einen Zufall. Abernachdem das mehrere Male passiert war, habeich mir in der Datenbank dieseIdentifikationsnummer einmal angeschaut. Undsiehe da, jedes Dokument über das Ville, seine

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Einwohner, seine Geschichte, die Geschichteseiner früheren Bewohner – mit besonderemAugenmerk, wie es scheint, auf die Gründer –war von diesem anderen Forscher ebenfallsdurchgesehen worden. Dabei ging er umsichtigvor, er hatte sogar einige Zeitungen studiert,die ich in meine Recherche nicht einbezogenhatte.« Wren schüttelte bedauernd den Kopf.»Und wer ist dieser geheimnisvolle Forscher?«»Das ist es ja gerade – seine oder ihre Dateiwar aus dem Datenspeicher der Bibliothekvollständig gelöscht worden. Als ob diebetreffende Person nicht wollte, dass jemandvon ihrer Anwesenheit erfuhr. Übrig gebliebenwaren also nur die Spuren ihres Aufenthalts.Ich weiß, dass es sich um einen berufsmäßigenForscher handelt – darauf verweist das Präfixseiner Identifikationsnummer. Und ich bindavon überzeugt, dass es sich um eineAuftragsarbeit handelte, nicht etwas, das ihnsonderlich interessierte. Die Recherche wurdezu schnell erledigt und auf eine zu geordneteArt und Weise, über einen zu kurzen Zeitraum,

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als dass es sich um ein Hobby oder einpersönliches Studium gehandelt habenkönnte.«»Verstehe.« Pendergast trank einen Schluck.»Und wann hat das stattgefunden?«»Er begann mit dem Recherchieren vonBibliotheksmaterialien vor rund acht Monaten.Die Ausleihen setzten sich fort, in mehr oderweniger wöchentlichem Abstand. Schließlichendete die Spur ziemlich abrupt, vor etwa zweiMonaten.«Pendergast sah ihn an. »Hat dieser Forscherseine Recherchen beendet?«»Ja.« Wren zögerte. »Es gibt da natürlich auchnoch eine andere Möglichkeit.«»Gewiss. Und die wäre?«»Dass er nach etwas suchte – nach etwas ganzBesonderem. Und dass der unvermittelteAbbruch der Nachforschungen bedeutet, dasser es gefunden hat.«Nachdem sein Gast gegangen war, erhob sichPendergast aus dem Stuhl, verließ den Salonund ging über den mittleren Flur der Wohnung,

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bis er in einem kleinen und recht altmodischenLabor ankam. Er zog die schwarze Anzugjackeaus und hängte sie an einen Haken an der Tür.Der Raum wurde beherrscht von einemSpeckstein-Labortisch, auf dem Chemie-Apparaturen und ein Bunsenbrenner standen.Antike eichene Vitrinenschränke säumten dieWände, Glasflaschen konkurrierten um freieFlächen mit zerfledderten Zeitschriften und vielbenutzten Nachschlagewerken.Pendergast nahm einen Schlüssel und schlosseinen der Schränke auf. Daraus holte erverschiedene Dinge hervor: ein PaarLatexhandschuhe, einen Instrumentenkastenaus poliertem Walnussholz, ein Gestell vollergläserner Teströhrchen mit Etiketten undStöpseln sowie ein Vergrößerungsglas ausMessing. Das alles breitete er auf demSpeckstein-Tisch aus. Dann schritt er durchden Raum, streifte die Handschuhe über undschloss einen zweiten Schrank auf. Kurz daraufkam, auf Pendergasts Händen liegend, einTotenschädel zum Vorschein – der Schädel, den

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er und D’Agosta aus dem Grab am Flussufergeborgen hatten. Immer noch klebtenSchmutzreste am Kinn und an denAugenhöhlen. Behutsam legte Pendergast denSchädel auf den Tisch und öffnete denInstrumentenkasten, so dass ein Set vonDentalwerkzeugen aus dem 19. Jahrhundert mitElfenbeingriffen zum Vorschein kam. Mitgroßer Sorgfalt säuberte er den Schädel undentfernte kleine Schmutzreste, von denen ereinige in diverse Teströhrchen gab und aufdiese nummerierte Etiketten klebte. Spureneines weißlichen Puders, das an der Innenseitedes Kiefers und der Zähne klebte, wandertenebenfalls in die Teströhrchen, samt kleinenStücken von der Haut, den Haaren und desLeichenwachses.Als er damit fertig war, legte er den Schädel abund betrachtete ihn. Sekunden verstrichen,dann Minuten. Es war absolut still im Raum.Und dann erhob sich Pendergast langsam.Seine Augen funkelten vor inneremEnthusiasmus. Er nahm das Vergrößerungsglas

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zur Hand und untersuchte den Schädel aus derNähe, wobei er sich schließlich auf die rechteAugenhöhle konzentrierte. Dann legte er dasVergrößerungsglas wieder ab und hob denSchädel hoch, untersuchte die Augenhöhle,drehte sie und betrachtete sie aus allenRichtungen. An der Innenseite der Höhlungwaren mehrere schmale, kurvenförmigeKratzspuren zu erkennen sowie ähnlicheKratzer auf der inneren Rückwand desSchädeldachs.Dann legte Pendergast den Schädel wieder hin,ging zu einem dritten Schrank und schloss ihnauf. Daraus holte er das seltsame Instrumenthervor, das er aus dem Altarraum der Ville-Kirche entwendet hatte, ein scharfes,gebogenes Stück Metall, das aus einemhölzernen Griff hervorragte und wie einverlängerter, bizarrer Korkenzieher aussah. Ertrug es zum Labortisch und legte es neben denSchädel. Dann stützte er sich mit beidenHänden auf den Tisch und betrachtete eineZeitlang beide Gegenstände, wobei sein Blick

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unruhig von einem zum anderen wanderte.Schließlich nahm er neben dem Tisch Platz. Erwog den Schädel in der Rechten und dasInstrument in der Linken. Wieder verstrich einegewisse Zeit, während er die Objekteabwechselnd betrachtete. Schließlich führte er,ungemein vorsichtig, die beiden zusammen undplazierte das gebogene Ende des Hakens in dieAugenhöhle. Langsam und behutsam ließ erden Haken an den feinen Kratzspurenentlanggleiten und führte ihn durch die obereOrbitalfissur – die Lücke auf der Rückseite derAugenhöhle – ein. Die Spitze glitt mühelos indie Öffnung. Als löse er ein Rätsel, führtePendergast den Haken in die Gehirnhöhle,immer tiefer, wobei er wiederum denKratzspuren auf dem Knochen folgte, bis sicheine Kerbe in dem metallenen Instrument ander Orbitalfissur verfing und die hakenförmigeSpitze tief innerhalb der Gehirnhöhle zumRuhen kam.Mittels einer jähen, geschicktenHandbewegung – einer kleinen Drehung des

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Handbewegung – einer kleinen Drehung desGriffs – bewirkte Pendergast, dass diehakenförmige Spitze des Instruments einekreisförmige, schneidende Bewegungbeschrieb. Hin und her drehte er es – und hinund her bewegte sich der kleine messerscharfeHaken innerhalb der Schädelhöhle, in einempräzisen kleinen Bogen.Ein freudloses Lächeln erhellte das Gesicht vonSpecial Agent Pendergast, und dann murmelteer ein Wort: »Broca.«

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Nora Kelly lag im Dunkeln und lauschte. In demRaum war es grabesstill. Ganz gleich, wie sehrsie sich anstrengte, sie konnte die normalen,beruhigenden Hintergrundgeräusche derAußenwelt – Autos, Stimmen, Schritte, den Windin den Bäumen – nicht wahrnehmen. In diesemfeuchten Keller war nicht mal das Huschen vonMäusen oder Ratten zu hören.Sowie sie wieder bei vollem Verstand war undihre Angst in den Griff bekommen hatte, hattesie eine minutiöse Erkundung ihresGefängnisses vorgenommen, erst einmal, dannein zweites Mal. Es hatte Stunden gedauert. Siemusste nach Gefühl vorgehen, denn nur einmalhatte sie einen Blick in ihre Zelle erhaschenkönnen, als sie gefilmt worden war, aber zudem Zeitpunkt war sie so verwirrt undaufgebracht gewesen, dass sie diese

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Gelegenheit, sich ihre Umgebung einzuprägen,verpasst hatte.Dennoch hatten ihr die taktilen Erkundungenein klares Bild von ihrer Zelle vermittelt – einfast allzu klares. Der Boden bestand ausgegossenem Beton, sehr frisch und feucht, miteinem starken Zementgeruch. Er war mit Strohbedeckt. Ihr Gefängnis, das sie mehrfachpenibel per Schrittlänge ausgemessen hatte,umfasste ungefähr drei mal fünf Meter. DieWände bestanden aus rauhem, mit Mörtelgemauertem Naturstein, vermutlich Granit undabsolut solide, außer der Tür gab es keineÖffnung darin. Die Tür war aus schwerem Holz,mit Beschlägen und Nieten aus Eisen verstärkt(das sie per Geschmack bestimmte). Sie hatteden Eindruck, dass es sich um eine neue Türhandelte, eine Maßanfertigung, da der Rahmenniedriger und schmaler als die Standardgrößewar. Die Decke war niedrig und gewölbt undbestand aus Ziegelsteinmauerwerk, das sie anden Rändern ertasten konnte. In die Wand undin die Decke waren einige rostige Eisenhaken

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eingelassen, was darauf hindeutete, dass derRaum einst vielleicht zum Räuchern von Fleischgenutzt worden war.Es gab zwei Gegenstände in der Zelle: einenEimer, der in einer Ecke stand und als Latrinediente, und einen Plastikkanister mit Wasser.Man hatte ihr in der ganzen Zeit, in der sieeingekerkert war, kein Essen gegeben. ImStockdunkeln war schwer festzustellen, wie vielZeit sie hier schon verbracht hatte, aber siewar sicher, dass mindestens vierundzwanzigStunden vergangen waren. Merkwürdigerweisemachte es ihr nichts aus, hungrig zu sein; eshatte den Effekt, dass ihr Denkvermögengeschärft war.Du wirst nicht lange genug leben, dass meinName eine Rolle spielt. Mehr hatte ihrKerkermeister nicht gesagt, und Nora wusste,dass es ihm ernst damit war. Er hatte keinerleiMühe darauf verwandt, sie am Leben zu halten,sie mit frischer Luft zu versorgen,sicherzustellen, dass sie in einem annehmbarenkörperlichen Zustand ins Land der Lebenden

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zurückkehrte. Mehr als das: Seine Stimme hatteso lässig geklungen, dass sie tief im Innerenspürte, dass er ihr die Wahrheit sagte.Es kam ihr unwahrscheinlich vor, dass siebefreit werden würde. Zu kooperieren warkeine Option – sie würde nur ihren eigenen Todherbeiführen. Sie musste fliehen.So methodisch, als würde sie Tonscherbenklassifizieren, erkundete Nora jeden möglichenFluchtweg. Könnte sie sich vielleicht irgendwiedurch den nicht ganz getrockneten Betonbodengraben? Der Plastikeimer und derPlastikkanister boten nichts, mit dem sichetwas anfangen ließ. Sie besaß weder Schuhenoch einen Gürtel; sie trug noch immer dasdünne Krankenhaushemd. Die Haken warenfest in der Decke verankert. Sie könnte zwarmit ihren Fingernägeln an ihrenVerankerungen kratzen, aber das würdenatürlich nichts bringen.Und was war mit den gemauertenNatursteinwänden? Mit großer Sorgfalt strichsie darüber, testete jeden Stein, ertastete den

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Mörtel dazwischen. Pech gehabt. Die Steinewaren fest gefügt; keiner fühlte sich lose an.Die Steine und Ziegel in der Decke warenoffenbar frisch übermalt worden, außerdemgab es keinen einzigen Spalt, in den sie einenFingernagel hätte hineinschieben können.Auch die Tür kam nicht in Frage. Sie warunbeweglich und äußerst massiv. An derInnenseite befand sich kein Schloss, nicht malein Schlüsselloch; vermutlich war sie an derAußenseite verriegelt und mit einemVorhängeschloss versehen. In der Tür befandsich ein kleines Fenster, innen mit Gitterstäbenund mit einer Metallklappe draußen, diebislang verschlossen geblieben war. Im Raumwar es so still, dass er zweifellos unterirdischlag und schalldicht war.Damit blieb ihr nur eine Option: ihrenKerkermeister überwältigen, wenn erzurückkehrte. Um das zu schaffen, musste sieeinen Plan haben. Und eine Waffe.Zunächst erwog sie die rostigen Haken in denWänden und der Decke, aber sie waren aus

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dickem Eisen und zu kräftig, um sie lockernoder abbrechen zu können. Selbst der Eimerhatte keinen Griff. Damit blieben ihre Hände,Füße, Nägel und Zähne, die sie als Waffeeinsetzen könnte. Die würden reichen müssen.Er brauchte sie lebendig, zumindest vorerst.Warum? Weil er jemandem beweisen musste,dass sie am Leben war. Ging es um Lösegeld?Möglicherweise. Oder sollte sie als Geiseldienen? Das konnte man nicht wissen. Siewusste nur, dass er sie, sobald er hatte, was erbrauchte, umbringen würde.Ganz einfach.Sie wunderte sich selbst, dass sie so ruhig war.Warum hatte sie nicht mehr Angst? Auch dashatte einen einfachen Grund. Nach Bills Todgab es nichts mehr, wovor sie Angst habenmusste. Das Schlimmste war schon passiert.Sie setzte sich auf und machte dreißigKniebeugen, um ihren Kreislauf in Schwung zubringen. Die plötzliche Bewegung, verbundenmit dem Mangel an Essen und derGehirnerschütterung, machte sie

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vorübergehend schwindlig. Aber als sich derSchwindel legte, fühlte sie sich wacher denn je.Ein Plan. Könnte sie vielleicht Übelkeitvortäuschen, ihn in den Raum locken, so tun,als sei sie bewusstlos – und dann angreifen?Aber das würde nicht klappen. Es war einlahmer Trick, und er würde nicht daraufhereinfallen.Wenn er das nächste Mal kam, konnte das ihrenTod bedeuten. Sie musste sicherstellen, dassihr Kerkermeister, wenn er zurückkehrte, sienicht einfach mit einem Schuss durch dasTürfenster hinrichten konnte. Nein, sie musstesich so positionieren, dass er die Tür öffnenund den Raum betreten musste, wenn er sietöten wollte. Die Dunkelheit wäre ihrVerbündeter. Wenn er hereinkam … das wäreihre einzige Chance. Sie musste bereit sein,blitzartig in Aktion zu treten. Sie würdegeradewegs auf seine Augen zielen. Er war derKerl, der ihren Ehemann umgebracht hatte – siewar sich da ganz sicher. Der Hass auf ihnerfüllte sie mit Kraft und Energie.

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Sie ging die einzelnen Schritte in Gedankendurch, visualisierte die Türöffnung, ihrenSprung, sein Zurücktaumeln, ihre Daumen inseinen Augen. Und dann würde sie sich seineWaffe schnappen, sie ziehen und ihn töten …Ein Geräusch unterbrach ihre Gedanken, einganz leises, das nicht zu identifizieren war. Wieeine Katze sprang sie zur anderen Seite der Türund ging im Dunkeln in die Hocke, stellte dabeieinen Fuß nach vorn, hockte dort fast wie eineSprinterin in den Startblöcken, bereit, sich aufihn zu stürzen. Sie hörte, wie einVorhängeschloss geöffnet, ein schwerer Riegelzurückgeschoben wurde. Die Tür öffnete sicheinen Spalt, ein matter Lichtschein fiel auf denBoden. Die Tür stieß gegen ihren Fuß.»Zeit fürs Kino«, sagte die Stimme. »Ich kommerein.« Das Licht des Camcorders ging an,tauchte ihre Zelle in gleißende Helligkeit, dieNora vorübergehend blendete. Sie wartetegespannt wie eine Feder und versuchte, denBlick zu fokussieren.Plötzlich schwenkte das helle Licht um die Tür

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herum und schien ihr direkt ins Gesicht. Sielangte danach, stieß mit ausgestrecktenFingern auf den Kopf ihres Kerkermeisters zu.Aber das grelle Licht blendete sie, mit einemSeufzer packte der Mann ihre Handgelenke ineinem schraubstockartigen Griff und ließ denCamcorder fallen. Sie spürte, wie sie mit großerKraft zur Seite gerissen und zu Boden geworfenwurde und einen heftigen Tritt in den Magenbekam. Der Camcorder war klappernd zu Bodengefallen, aber der Mann hob ihn sofort wiederauf und zog sich einige Schritte zurück.Sie blickte vom Boden auf, keuchte undversuchte, wieder zu Atem zu kommen. Wiederwar das Licht auf sie gerichtet, das Objektivdarunter surrte; der Mann dahinter blieb völligunsichtbar im Dunkeln. Wieder schoss ihr derunerträgliche Gedanke durch den Kopf: Das istder Kerl, der meinen Mann umgebracht hat.Sie atmete tief durch, stand auf und rannteabermals gegen den Kerl hinter dem Camcorderan, schlug auf ihn ein, aber er war daraufgefasst. Ein Hieb traf sie seitlich am Kopf. Als

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gefasst. Ein Hieb traf sie seitlich am Kopf. AlsNächstes wusste sie nur, dass sie am Bodenlag. Wieder klingelten ihr die Ohren und sah sieSternchen.Das Licht am Camcorder ging aus, die Gestaltzog sich zurück, die Tür schloss sich. Norarappelte sich auf, hockte sich auf die Knie,plötzlich schwach, ihr Kopf pochte, aber derRiegel wurde vorgeschoben, bevor sie ganzaufstehen konnte. Sie legte die Hände an dieTür und zog sich daran hoch – was wehtat.»Du bist ein toter Mann«, keuchte sie unddonnerte mit der Faust gegen die Tür. »Ichschwöre es, ich bring dich um.«»Es ist genau umgekehrt, kleine Wildkatze«,ließ sich die Stimme vernehmen. »Erwartemich – bald.«

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D’Agosta stand ganz hinten im Einsatzraum, dieArme vor der Brust gefaltet, und schaute aufdie Reihen der sitzenden Beamten vor sich, dieHarry Chislett zuhörten, der sie gebieterischüber den bevorstehenden »Vorbeimarsch«informierte – so nannte dieser eingebildeteFatzke das –, der vor dem Ville stattfindensollte. Vorbeimarsch, von wegen, dachteD’Agosta ungeduldig. Dass Esteban und Plockeine Genehmigung für die Demonstrationbekommen hatten, hieß ja noch lange nicht,dass sie vorhatten, gemessenen Schritts und»Give peace a chance« singend am Villeaufzutauchen. D’Agosta hatte gesehen, zuwelch hässlichen Ausschreitungen es währendder ersten Demonstration gekommen war undwie schnell. Chislett hatte das nichtmitbekommen – er war praktischerweise

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gegangen, bevor der verdammte Protestlosging. Und jetzt stand er hier, zeigtegroßspurig auf die Schautafeln auf einerFlipchart und redete so ruhig über Schutz,Eindämmung der Demonstration und diversetaktische Finessen, als ginge es um einenFigurentanz der Töchter Amerikas.Während er zuhörte, wie die einfallslosenEinsatzpläne erklärt wurden, ballten sichD’Agostas Hände zu Fäusten. Er hatte Chislettzu erklären versucht, dass Nora Kellymöglicherweise im Ville gefangen gehaltenwurde und jeder Ausbruch von Gewalt seitensder Demonstranten ihren Tod bedeutenkonnte. Es gehe hier um mehr als nur Logistik;bei jeder großen Menschenansammlung könnees im Nu zu gewalttätigen Ausschreitungenkommen. Nora Kellys Leben hingemöglicherweise am seidenen Faden. Aber derDeputy Chief sah das anders. »Die Last desBeweises ruht auf Ihren Schultern«, hatte erpompös erklärt. »Wo sind Ihre Beweise, dasssich Nora Kelly im Ville befindet?« D’Agosta

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hatte sich zügeln müssen, sonst hätte er demMann einen Fausthieb in den Fettwanstversetzt.»Wir werden drei Kontrollpunkte einrichten,hier, hier und hier«, bramarbasierte Chislettund tippte weiter mit dem Zeigestock auf dieFlipchart. »Zwei an den zentralen Stellen vonEinfahrt und Ausfahrt, eine am Eingang zumInwood Hill Park. Die Weisungskette verläuftvon den Beamten im Rückraum zu denen in denvorgerückten Stellungen.«»Allemande links mit der linken Hand«,murmelte D’Agosta bei sich. »Rechts zumPartner, rechts und links herum in großemBogen.«»Anscheinend ist dem Deputy Chief derentscheidende Punkt entgangen«, sagte einevertraute Stimme an seinem Ellbogen.D’Agosta wandte sich um und sah Pendergast,der neben ihm stand. »Guten Tag, Vincent.«»Was machen Sie denn hier?«, fragte D’Agostaüberrascht.»Ich habe nach Ihnen gesucht.«

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»Und wo steckt Ihr Kumpel Bertin?«»Er hat sich zurückzogen, in den Schutz desBayou. Jetzt sind wir wieder zu zweit.«D’Agosta merkte, dass Hoffnung in ihmaufkam – etwas, was er seit Tagen nicht mehrverspürt hatte. Zumindest begriff Pendergastden Ernst der Lage. »Dann wissen Sie ja auch,dass wir nicht mehr warten können. Wirmüssen da reingehen und Nora retten, sofort.«»Ich bin ganz Ihrer Meinung.«»Wenn diese Demonstration stattfindet,während Nora im Ville festgehalten wird, kannes durchaus passieren, dass sie auf der Stellegetötet wird.«»Nochmals: Ich stimme Ihnen zu –vorausgesetzt, dass sie sich im Ville befindet.«»Vorausgesetzt? Wo sollte sie denn sonst sein?Ich habe die Geräusche auf dem Videoanalysieren lassen.«»Das ist mir schon klar«, sagte Pendergast.»Die Experten schienen aber nicht mit Ihnenübereinzustimmen, dass es sich um Tierlautehandelt.«

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»Dann zum Teufel mit den Experten. Ich haltedieses Warten nicht mehr aus. Ich gehe darein.«Pendergast nickte, als habe er nichts andereserwartet. »Nun gut. Aber etwas anderes,Vincent, wir dürfen unsere Kräfte nicht spalten.Das Ville hat auf irgendeine Weise mit derSache zu tun, das stimmt. Aber wie? Das ist dasRätsel. Es geht hier etwas vor, auf das ich nochnicht den Finger legen kann – etwas, das sichfür mich verkehrt anfühlt.«»›Verkehrt‹. Pervers würde ich sagen. NoraKelly steht kurz davor, zu sterben.«Pendergast schüttelte den Kopf. »Das meine ichnicht. Habe ich Ihr Wort, Vincent, dass wir dashier gemeinsam durchstehen?«D’Agosta sah ihn an. »Sie haben es.«»Ausgezeichnet. Mein Wagen wartet schonunten.«

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Richard Plock stand auf dem Parkplatz desWerkhofs der städtischen U-Bahn-Betriebe ander 207. Straße und blickte über die dichtenReihen der Waggons, die im Schein derSpätnachmittagssonne parkten. DasWerksgelände war still, fast schläfrig. EinArbeiter ging zwischen den Gleisen umher undverschwand in der Schmiede, ein Lokführersteuerte eine Reihe Waggons auf einNebengleis neben dem Inspektionsschuppen.Plock blickte die Straße hinauf und hinunter,die hinter dem Zaun lag. Die West 215. Straßewar ebenfalls ruhig. Er seufzte zufrieden undsah auf die Uhr: 18 Uhr 15.Eines der mit Farbcodes versehenen Handys inseiner Jackentasche klingelte. Er zog es hervorund sah, dass es sich um das rote handelte.Das war Traums, drüben im Fort Tryon Park.

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Er klappte es auf. »Bringen Sie mich auf denneuesten Stand, Traums.«»Die Leute sind in den letzten Minuteneingetroffen.«»Wie viele bislang?«»Zweihundert, vielleicht zweihundertfünfzig.«»Gut. Die Leute sollen ausschwärmen, damitalles möglichst unorganisiert aussieht. Wirwollen unser Blatt nicht zu früh aufdecken.«»Hab verstanden.«»Halten Sie mich weiter auf dem Laufenden.Wir gehen hier in einer Viertelstunde los.«Plock klappte das Handy zu und steckte eswieder ein. Zeit, dass er zu seiner eigenenEinheit stieß, die sich gerade an der Südseitedes U-Bahn-Werkhofs versammelte.Rich Plock war sich durchaus bewusst, dass ernicht gerade wie der geborene Führer aussah.Und wenn er ehrlich war, fehlte ihm auch dasnotwendige Charisma. Aber er besaß die nötigeLeidenschaft, die erforderliche Überzeugung –und das zählte am meisten. Fakt war, man hatteihn sein Leben lang unterschätzt. Auch heute

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würde man ihn unterschätzen.Und darauf zählte er.Seit der ersten, abgebrochenen Demonstrationwar Plock unablässig tätig gewesen, er hatte imVerborgenen mit Organisationen in der ganzenStadt, im Staat und selbst im Land Kontaktaufgenommen und die radikalsten Gruppen fürdie Demonstration heute Abendzusammengetrommelt. Und jetzt würde er dieFrüchte ernten. Über zwei Dutzendunterschiedliche Organisationen – Menschenhelfen Tieren, Die Veganische Armee, Amnestieohne Grenzen, Die Grüne Brigade –versammelten sich in diesem Moment in derWest Side. Und es waren nicht mehr nurVegetarier und Tierschützer. Die Morde an denbeiden Journalisten und dem städtischenBeamten, dazu die Entführung von Nora Kelly,hatten die Leute auf erstaunliche Weiseaktiviert. Mit dieser öffentlichenAufmerksamkeit im Rücken hatte Plock einigeradikale Gruppen mit wirklichernstzunehmenden politischen Interessen

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hinter dem Ofen hervorgelockt. Einige hatteneinander zwar misstrauisch beäugt – zumBeispiel waren jetzt Waffen für alle und Amerikaden Amerikanern mit von der Partie –, aberdank seiner aufrührerischen Reden hatten alleim Ville den gemeinsamen Feind ausgemacht.Dabei war er keine Risiken eingegangen. Erhatte alles perfekt aufeinander abgestimmt. Umzu vermeiden, dass man vorzeitigauseinandergetrieben oder von den Copseingekesselt wurde, hatten sich dieunterschiedlichen Gruppen an zehn vorherfestgelegten Punkten versammelt: WienStadium, Dyckman House, High Bridge Park undandere. Auf diese Weise würden sie bei denOrdnungskräften nicht allzu vielAufmerksamkeit erregen … bis Plock den Befehlgeben würde und alle zu einer Gruppeverschmolzen. Und ab diesem Punkt wäre esdann zu spät, sie aufzuhalten. Es würde keinZurückweichen mehr geben – dieses Mal nicht.Während er sich an die erste Demonstrationerinnerte, verhärteten sich seine Züge. Im

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Rückblick war es sehr gut gewesen, dassEsteban gekniffen hatte. Der Mann hatte seineNützlichkeit überlebt. Er hatte getan, wasgetan werden musste, als prominentesAushängeschild gedient, ihre Sichtbarkeiterhöht, ihnen die unbedingt nötigen Geldmittelverschafft, die Plock ermächtigten, eine fürdiese Sache ausreichend starke Truppe um sichzu scharen. Wäre Esteban heute dabei, erwürde vermutlich zur Vorsicht raten, alle daranerinnern, dass es keinen Beweis für eineGeiselnahme gebe, keinen Beweis, dass dasVille hinter den Morden stecke.Estebans ängstliche Nervosität hatte ihre letzteAktion unterlaufen, aber, bei Gott, diese würdeer nicht vereiteln. Dem Ville würde dasHandwerk gelegt werden, ein für alle Mal. Dermutwilligen Grausamkeit, dem Abschlachtenhilfloser Tiere und der Ermordung vonJournalisten, die mit ihrem Anliegensympathisierten, würde ein Ende gemachtwerden.Plock war auf einer Farm im Norden New

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Hampshires aufgewachsen. Als kleiner Jungewar er jedes Jahr körperlich erkrankt, wenn dieZeit kam, die Lämmer und Schweine zuschlachten. Sein Vater hatte das nieverstanden, er hatte ihn verprügelt und alsDrückeberger und Muttersöhnchen beschimpft,wenn er sich dem Mithelfen zu entziehenversuchte. Er war zu klein gewesen, umzurückzuschlagen. Er erinnerte sich, dass erzusah, wie sein Dad einem Huhn mit dem Beilden Kopf abschlug und dann lachte, währendder unglückselige Vogel einen merkwürdigen,flatternden Tanz auf dem staubigen Feldwegaufführte und ihm das Blut aus demdurchtrennten Hals schoss. Das Bild verfolgteihn seitdem bis in seine Träume. Sein Vaterbestand darauf, dass sie die eigenen Tiereverspeisten, Fleisch zu jedem Essen, undverlangte, dass Rich seinen gerechten Anteildavon aß. Als Plocks Lieblingsschweingeschlachtet wurde, zwang ihn sein Vater, diefettigen Rippchen zu essen. Hinterher schlicher nach draußen und erbrach sich schier endlos

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hinter der Scheune. Tags darauf war Plock vonzu Hause ausgezogen. Er machte sich nicht maldie Mühe, seine Sachen zu packen, nahm nurein paar Bücher mit – Schöne Neue Welt, Atlaswirft die Welt ab, 1984 – und brach in RichtungSüden auf.Und er hatte nie zurückgeblickt. Sein Vaterhatte ihm keine Liebe geschenkt, keineUnterstützung, hatte ihn nichts gelehrt –nichts.Das stimmt nicht ganz, dachte er, als er inGedanken zum Ville zurückkehrte. Eins hattesein Vater ihm doch beigebracht – zu hassen.Ein anderes seiner Mobiltelefone klingelte, dasblaue. McMoultree, vor der Yeshiva University.Als Plock den Anruf entgegennehmen wollte,sah er etwas Merkwürdiges, einen LincolnTown Car, der die Tenth Avenue in RichtungNorden hinaufraste, ein Pfleger in vollerNotfallbekleidung am Steuer. Aber das Handyklingelte noch immer, weshalb er dem Wagennur einen Augenblick lang hinterherschaute.Dann räusperte sich Plock leise, klappte das

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Handy auf und hielt es sich zuversichtlich ansOhr.

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Der Rolls kam am Ende der 218. Straße zumStehen und stellte sich auf einen Parkplatzzwischen einem schäbigen Lieferwagen undeinem Jeep jüngeren Datums. Linker Handerstreckte sich eine Reihe unscheinbarerMietshäuser, rechter Hand das grüne Oval desBaker Field der Columbia University.Schätzungsweise zweihundert Menschenstanden und saßen scheinbar ohne Ordnungauf der Sportanlage und auf den Tribünen, aberD’Agosta war überzeugt, dass sie sich auf denbevorstehenden Protestmarsch vorbereiteten.Auf der Fahrt durch Inwood waren ihm ähnlichverdächtige Gruppen aufgefallen. Chislett,dieser Ignorant, würde schon bald feststellen,dass er mit seinem Latein am Ende war.»Wir gehen von der Seite rein, durch den IshamPark«, sagte Pendergast und schnappte sich

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einen Leinen-Seesack vom Rücksitz.Sie joggten über Baseballplätze und gepflegteFelder, ehe sie mit einem Mal in den wildenInwood Hill Park gelangten. Das Ville selbst lagnoch hinter den Bäumen versteckt. Pendergasthatte einen guten Zugangsweg ausgewählt; dieBewohner des Ville würden ihr Augenmerk aufandere Stellen richten, so dass er undPendergast unentdeckt auf das Geländeschleichen könnten. D’Agosta hörte dieGeräusche, die von Süden her mit derAbendbrise herüberwehten: die Megafone, dieRufe der Demonstranten, die Drucklufthörner.Wer immer das hier geplant hatte, war ziemlichschlau – eine lautstarke Gruppe sollte dieAufmerksamkeit der Polizei auf sich lenken,damit die anderen Gruppen sich organisierenund dann massenhaft vorrücken konnten.Wenn er und Pendergast Nora da nichtherausholten, bevor die Hauptgruppe sich inGang setzte …Pendergast, der vor ihm ging, blieb stehen,legte den Seesack auf den Boden, öffnete ihn

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und zog zwei dunkelbraune Roben heraus.D’Agosta, der in der kugelsicheren Weste, dieer angezogen hatte, schon jetzt schwitzte, warfroh, dass es ein kalter Tag war. Pendergastreichte ihm eine der Roben, und sofort zogD’Agosta sie sich über und legte sich dieKapuze eng um den Kopf. Pendergast folgteseinem Beispiel und betrachtete sich in einemTaschenspiegel, den er dann D’Agosta hinhielt.Nicht schlecht, wenn er die Kapuze aufhatteund den Kopf gesenkt hielt. Dann zogPendergast weitere Ausrüstungsgegenständeaus dem Seesack – eine kleine Taschenlampemit Extrabatterien, ein Messer, Meißel undHammer, Dietriche – und verstaute alles ineiner Hüfttasche, die er anschließend unter derRobe versteckte. D’Agosta fasste sich kurz andie Hüfte, um sicherzugehen, dass die Glockund die Ersatzmagazine griffbereit waren.Pendergast verbarg den inzwischen leerenSeesack unter einem umgestürzten Baum, fegteein wenig Laub darüber, dann nickte erD’Agosta zu, er solle ihm die Böschung

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hinauffolgen. Sie kletterten den steilen Hanghinauf und spähten darüber hinweg. DerMaschendrahtzaun rund um das Ville lagungefähr sieben Meter entfernt, dieserAbschnitt war verrostet und verfallen, mehrereLücken waren deutlich zu erkennen. FünfzigMeter dahinter lag die unförmige Gruppe derGebäude des Ville, schemenhaft imschwindenden Abendlicht, die große Silhouetteder alten Kirche überragte alles.D’Agosta erinnerte sich an das erste Mal, als erin diesem Wald gewesen war, damals hatte manihm für seine Anstrengungen eins über denSchädel gezogen. Das würde ihm nicht nocheinmal passieren. Er zog die Glock aus demHolster und behielt sie in der Hand.Er folgte Pendergast und rannte zumMaschendrahtzaun, schlüpfte durch eine derLücken und lief gehockt zur Mauer, die um dasVille verlief. Sie schlichen um eine Ecke, bis siezu einer kleinen, verfallenen Tür mit einemVorhängeschloss gelangten. Ein kurzer Schlagmit Pendergasts Meißel, und das

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Vorhängeschloss und die Angeln gaben nach.Pendergast schob die Tür auf. Vor ihnen lageine schmale, mit Unrat übersäte Gasse, diebeinahe vollständig von überhängendenDächern eingeschlossen war und entlang einerSeite der großen Kirche verlief. Er betrat dieGasse, D’Agosta folgte und schloss die Türhinter sich. Pendergast drückte das Ohr an dieRückwand der Kirche, D’Agosta folgte seinemBeispiel. Drinnen hörte er eineSingsangstimme, die lauter und leiser wurde,ein priesterlicher Ton voll tremolierenderKlagen und Anrufungen, aber alles zu leise undgedämpft, um einzelne Worte verstehen zukönnen – vorausgesetzt, dass es sich überhauptum Englisch handelte. Hin und wieder ertönteeine vielstimmige Antwort, vergleichbar demmonotonen Gebrumm eines gedankenlosenChors, dann setzte der irre Sprechgesangwieder ein.Außerdem war das leise, hohe Wiehern einesverängstigten Fohlens zu hören.D’Agosta versuchte, das Entsetzen darüber aus

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seinen Gedanken zu verbannen und sich aufdas zu konzentrieren, was sie hier taten. Erging dicht hinter Pendergast die Gassehinunter, duckte sich von Türeingang zudunklem Türeingang, hielt dabei den Kopf unddas Gesicht verborgen. Es schien niemand inder Nähe zu sein, höchstwahrscheinlich warenalle in der Kirche und nahmen an dieserabartigen Zeremonie teil. Die Gasse machteeine scharfe Biegung und führte in einenkunterbunten Komplex uralter, wackligerGebäude, dann vorbei an einem größerenGebäude, das mit der Kirche verbunden warund aussah, als könnte es sich um das altePfarrhaus handeln.Die erste Tür des Pfarrhauses warverschlossen, aber Pendergast hatte sie inweniger als fünf Sekunden aufgebrochen.Rasch traten sie ein und standen dann in einemdunklen, stickigen Raum. Nachdem seineAugen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten,sah D’Agosta, dass es sich um einen Speisesaalhandelte, darin ein alter Eichentisch, Stühle

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und jede Menge Kerzen und Kerzenleuchter mitmächtigen Ansammlungen von Wachsgetröpfel.Licht spendete einzig der Bildschirm einesalten Rechners aus der DOS-Ära, der unter denantiken Möbeln irrsinnig deplaziert wirkte. ZumOsten, Süden und Westen hin führten Türen innoch dunklere Räume.Hier war der Sprechgesang des Priesterslauter, er drang aus einer nicht erkennbarenRichtung herüber.Auf einmal kam ihm das Problem, vor dem siestanden – Nora in diesem riesigen Gewirr vonGebäuden zu finden –, unlösbar vor. Sofortschüttelte er den Gedanken ab. Ein Schrittnach dem anderen.»Die Küchen in diesen alten Häusern verfügtenimmer über eine Treppe zu den Vorratsräumenim Keller«, flüsterte Pendergast. Anscheinendwillkürlich wählte er eine Tür aus – zum Ostenhin – und ging hindurch. D’Agosta folgte ihm.Sie standen in einer Speisekammer mitgestapelten Jutesäcken, die offenbar vollGetreide waren. Ganz hinten sah man einen

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uralten, primitiven Speisenaufzug. D’Agostatrat an Pendergast vorbei und ging dorthin,schob die Tür auf, schaltete die Taschenlampean und spähte hinunter – weit hinunter.Plötzlich hörte er eine Stimme hinter sich, lautund schroff.»Ihr beide. Was macht ihr da?«

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Deputy Chief Harry Chislett glitt vom Rücksitzdes zivilen Crown Vic und ging mit raschenSchritten über den Bürgersteig zu der Stelle,wo sein persönlicher Assistent, InspectorMinerva, durch ein Fernglas dieMenschenmenge beobachtete.Menschenmenge, dachte Chislett, ist doch eineziemliche Übertreibung. Das warenzweihundert, höchstens zweihundertfünfzigLeute, die verstreut auf dem Baseballplatz amEingang des Parks standen, Plakateschwenkten und skandierten. Die Leute sahengenauso aus wie diese Ökos, die sich beimletzten Mal versammelt hatten. Während er siebeobachtete, erhob sich ein stümperhafterAnfeuerungsruf, der erstarb, kaum dass erangestimmt worden war.»Sehen Sie den bärtigen Kerl irgendwo?«,

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fragte er. »Den Filmregisseur, der, der dieLeute beim letzten Mal aufgepeitscht hat?«Minerva sah durch das Fernglas. »Nö.«»Was ist mit den Kontrollpunkten und denvorgerückten Posten?«»Wir haben an beiden Standorten Teamspositioniert.«»Großartig.« Chislett lauschte, während sichein weiterer halbherziger Anfeuerungsruferhob. Die Demonstranten hörten sich sehr vielapathischer an als beim letzten Mal. Und ohnediesen Sprecher, der sie anstachelte, würde dieganze Sache zweifellos schnell im Sandeverlaufen. Und selbst wenn nicht – er warvorbereitet.»Sir.« Er drehte sich um und sah zu seinemErstaunen neben sich eine Frau mit Captain-Tressen am Revers. Sie war zierlich unddunkelhaarig und erwiderte seinen Blick kühlund selbstbewusst, was er sofort irritierendund auch ein bisschen einschüchternd fand. Siegehörte nicht zu seinen Leuten, aber ererkannte sie trotzdem: Laura Hayward. Der

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jüngste weibliche Captain der New YorkerPolizei. Und Lieutenant D’Agostas Freundinbeziehungsweise, wenn der Klatsch zutraf, Ex-Freundin. Weder die eine noch die andereEigenschaft machten sie ihm sympathisch.»Ja, Captain«, sagte er kurz angebunden.»Ich war bei Ihrem Briefing vorhin. Ich habeversucht, Sie hinterher noch kurz zu sprechen,aber Sie waren schon gegangen.«»Und?«»Bei allem Respekt, Sir, angesichts desEinsatzplans, den Sie vorstellten, bin ich mirnicht sicher, dass Sie über genügendEinsatzkräfte verfügen, um dieseMenschenmenge kontrollieren zu können.«»Einsatzkräfte? Menschenmenge? Schauen Siedoch selbst, Captain.« Chislett wies mit weitausholender Handbewegung über denBaseballplatz. »Sehen Sie hier vieleDemonstranten? Die werden Reißaus nehmenvor dem ersten Cop, der sie anspricht.«Inspector Minerva hörte grinsend zu.»Ich glaube nicht, dass das schon alle sind.

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Möglicherweise werden es noch mehr.«»Und woher sollen die kommen?«»Es gibt zahlreiche Plätze in diesemStadtviertel, an denen sich eine größereMenschenmenge versammeln kann«,antwortete Hayward. »Und tatsächlich habe ichziemlich viele Leute gesehen, die sich andiversen Orten zusammengefunden haben –was ungewöhnlich ist, vor allem an einemWochentagabend im Herbst.«»Das ist genau der Grund, warum wir unsereMänner in vorgerückte Positionen gebrachthaben. Das gibt uns die Flexibilität, die wirbenötigen, um rasch handeln zu können.« Erversuchte, die Verärgerung aus seiner Stimmeherauszuhalten.»Ich habe Ihr Schaubild gesehen, Sir. Diesevorgerückten Posten bestehen aus jeweils nureinem halben Dutzend Beamten. Falls IhrKordon durchbrochen wird, können dieDemonstranten geradewegs auf das Villezumarschieren. Und falls Nora Kelly im Ville alsGeisel gehalten wird – was möglich ist –,

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können ihre Entführer in Panik geraten. Dannschwebt sie in Lebensgefahr.«Das war genau der gleiche Quatsch, denD’Agosta von sich gegeben hatte. Vielleichthatte ja sogar er ihr das eingeflüstert.»Ich habe Ihre Besorgnis zur Kenntnisgenommen«, erwiderte Chislett, der sich nunkeine Mühe mehr gab, den Sarkasmus in seinerStimme zu verbergen. »Ich möchte jedoch zuProtokoll geben, dass ein Richter heutefestgestellt hat, dass es absolut keine Hinweisedarauf gibt, dass Nora Kelly sich dort befindet,und sich geweigert hat, einenDurchsuchungsbeschluss für das Villeauszustellen. Würden Sie mir bitte alsofreundlicherweise erklären, was Sie hier tun,Captain? Als ich das letzte Mal nachgesehenhabe, gehörte Inwood Hill Park nicht zu IhremZuständigkeitsbereich.«Aber Hayward gab ihm keine Antwort. Erbemerkte, dass sie nicht mehr auf ihn, sondernauf etwas schräg hinter ihm schaute.Er wandte sich um. Von Osten her näherte sich

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eine weitere Gruppe von Demonstranten. Sietrugen keine Plakate, sondern sahen aus, alsmeinten sie es ernst. Sie gingen schnell undsehr ruhig in Richtung Baseballplatz undschlossen die Reihen im Näherkommen. Es wareine bunt zusammengewürfelte, radikaleraussehende Gruppe als diejenige, die sichbereits auf dem Feld versammelt hatte.»Geben Sie mir mal Ihr Fernglas«, sagte er zuMinerva.Als er die Gruppe beobachtete, sah er, dass sievon dem jungen, rundlichen Kerl angeführtwurde, der auch schon beim letzten Malvorneweg marschiert war. Einen Augenblicklang, während er auf die entschlossene Mienedes Mannes und die verschlossenenGesichtszüge seiner Anhänger starrte,verspürte er einen Anflug von Angst.Der aber so schnell verschwand, wie ergekommen war. Was bedeuteten schon hundertoder zweihundert mehr? Er verfügte überausreichend Einsatzkräfte, um mit vierhundertDemonstranten fertigzuwerden – mindestens.

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Außerdem war sein Eindämmungsplan einMeisterwerk an Ökonomie und Flexibilität.Er reichte das Fernglas Minerva zurück.»Geben Sie die Anweisung«, sagte er in seinemmartialischsten Tonfall, wobei er Haywardignorierte. »Wir fangen jetzt mit demendgültigen Aufmarsch an. Sagen Sie denLeuten in den vorgerückten Positionen, siesollen sich bereithalten.«»Ja, Sir«, antwortete Minerva und zückte seinFunkgerät.

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D’Agosta erstarrte. Pendergast hielt den Kopfgesenkt, murmelte irgendetwas und schlurfteauf den Mann zu, wobei er ein wenig wankte,wie ein alter Mann, der unsicher auf denBeinen ist.»Was macht ihr hier?«, fragte der Mann nocheinmal mit seinem seltsamen, exotischenAkzent.Mit heiserer Stimme entgegnete Pendergast:»Va t’en, sale bete.«Der Mann trat einen Schritt zurück. »Ja, aber …ihr dürft nicht hier sein.«Pendergast schlurfte näher und bedeuteteD’Agosta mit einem Augenzwinkern, er sollesich bereithalten.»Ich bin nur ein alter Mann …«, begann er mitleiser, krächzender Stimme, während er bittendseine zittrige Hand hob. »Kannst du mir helfen

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…?«Der andere beugte sich vor, um Pendergastbesser zu verstehen. Da trat D’Agostageschickt um ihn herum und versetzte ihm mitdem Griff seiner Waffe einen Schlag gegen dieSchläfe. Der Mann sackte bewusstloszusammen.»Ein Treffer, ein sehr spürbarer Treffer«, sagtePendergast während er den Körper auffing.In den Räumen dahinter hörte D’Agosta weitereerregte Stimmen. Nicht alleGemeindemitglieder nahmen, so schien es, ander Zeremonie in der Kirche teil. DieSpeisekammer besaß keinen Hinterausgang –es war eine Sackgasse, und sie saßen in derFalle, mit dem Bewusstlosen.»In den Speisenaufzug«, flüsterte Pendergast.Sie legten den Mann in den Aufzug, schoben dieTür zu und schickten ihn ins Untergeschoss.Fast sofort darauf erschienen am Eingang zurSpeisekammer drei Männer. »Morvedre, wasmachst du denn da?«, fragte einer von ihnen.»Komm mit uns. Ihr auch.«

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Die drei Männer gingen vorbei. D’Agosta undPendergast schlossen sich ihnen an undversuchten dabei, ihren langsamen,bedächtigen Gang nachzuahmen. D’Agostaspürte, wie sein Frust und seine Anspannungzunahmen. Ausgeschlossen, dass sie ihrTäuschungsmanöver noch langeaufrechterhalten konnten. Sie mussten von hierabhauen und anfangen, das Kellergeschoss zudurchsuchen. Die Zeit lief ihnen davon.Die Männer bogen ab, folgten einem langen,schmalen Gang, gingen durch einezweiflügelige Tür, und dann waren sie in derKirche selbst. Die Luft war durchdrungen vomGeruch von Kerzenwachs und schweremWeihrauch; die Menge murmelte eindringlichund bewegte sich wellenartig zu den Kadenzendes Hohepriesters Charrière, der vor ihnenstand. Zwei Reihen mit brennenden Kerzenspendeten Licht, während vier Männer an einerflachen Steinplatte hantierten, die in den Bodeneingelassen war. Jenseits, in der wächsernenDunkelheit, standen viele weitere

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Gemeindemitglieder, Dutzende Kapuzen-Gestalten, schweigend, das Weiß ihrer Augenwie flackernde Perlen. An der einen Seite standBossong – er hatte sich fast königlich zu vollerGröße gereckt und beobachtete das Geschehenaus dem Halbschatten. Sein Gesichtsausdruckwar nicht zu lesen.Unter D’Agostas Blicken zogen die vier MännerSeile durch eiserne Ringe, die in die Ecken dergroßen Steinplatte eingelassen waren,verknoteten die Enden, dann legten sie dieSeile auf den Steinboden und nahmen ihrePositionen neben ihnen ein. Stille senkte sichüber den Raum; der Hohepriester trat vor, inder einen Hand einen kleinen Kandelaber, inder anderen eine Rassel. Er trug eine grobedunkelbraune Kutte und bewegte sich mitgroßer Entschlossenheit. Er stellte einennackten Fuß vor den anderen, die Zehen nachaußen gerichtet, bis er in der Mitte derSteinplatte stand.Er schüttelte die Rassel, einmal, zweimal,dreimal, und bewegte sich dabei im Kreis,

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wodurch das Wachs der Kerze auf seinen Armund auf den Stein spritzte. Dann griff er in dieTasche seines Umhangs, zog einen kleinengefiederten Gegenstand hervor und ließ diesen,während er sich um die eigene Achse drehte,fallen. Noch ein leises Rasseln, noch eineDrehung in Zeitlupe. Und dann hob Charrièreden nackten Fuß, hielt ihn kurz ihn der Luftund stampfte schließlich damit auf dieSteinplatte.Plötzliche Stille. Von unten drang ein leisesGeräusch herauf, ein rauhes Luftholen, eingepresstes Atmen.Völlige Stille im Altarraum.Abermals schüttelte der Hohepriester dieRassel, ein wenig lauter jetzt, erneut ging er imKreis herum. Dann hob er den Fuß undstampfte damit noch einmal auf den kaltenStein auf.Aaaaaahhhuuuuu, ertönte aus der Tiefe einKlagelaut.D’Agostas Herz begann schneller zu schlagen.Er warf Pendergast einen scharfen Blick zu,

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aber der betrachtete das Geschehenaufmerksam und gelassen unter seinerschweren Kapuze.Jetzt begann der Priester, langsam im Kreis zutanzen. Seine behaarten Füße machten leichteSchritte und zogen einen Kreis um dasgefiederte Objekt. Hin und wieder war einSchritt viel lauter, ein Aufstampfen, dannantwortete von unten ein Stöhnen. Währendder Tanz schneller wurde, das Aufstampfenhäufiger, nahmen die Klagelaute an Länge undLautstärke zu. Es handelte sich um die Lautevon jemandem oder etwas, den oder das dietrommelnden Geräusche oben zu Wutanstachelten. Mit einem Mal erkannte D’Agostadiese Töne – nur zu gut.Aaaaiihhhuuuuuuuuuuuuuuu, ließ sich derKlagelaut vernehmen, während Charrièretanzte, aaaiihuuuuu … aaaiihuuuu … Dielanggezogenen Vokallaute folgten keinemrhythmischen Muster, wurden jedoch mitzunehmender Aufregung und kürzerer Dauerhervorgepresst. Während sie lauter und

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eindringlicher wurden, fing die versammelteMenge an, diese ihrerseits mit ihremSprechgesang zu beantworten. Er begann alsbloßes Flüstern, wurde jedoch allmählichintensiver, bis das Wort, das die Gemeindesang, deutlich zu verstehen war: Envoie!Envoie! Envoie!Der Tanz des Priesters wurde schneller, jetztwaren seine Füße ein Wirbel von Bewegungen,das rhythmische Aufstampfen hielt Takt wieeine menschliche Trommel. Aiihuuuuu!, grunztedas Wesen unten; envoi, intonierte dieGemeinde oben.Plötzlich blieb Charrière abrupt stehen. DerGesang in der Kirche hörte auf, die Stimmenverklangen. Aber die Laute unten setzten sichfort, verschmolzen miteinander: Stöhnen undröchelndes Atmen, dazu die Laute einesruhelosen Schlurfens.D’Agosta schaute atemlos aus dem Schatten zu.»Envoie!«, rief der Hohepriester und trat vonder Steinplatte herunter. »Envoie!«Die vier Männer an jeder Ecke der großen

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Platte packten ihre Seile, drehten sich um,schlangen sie sich über die Schulter undbegannen zu ziehen. Knarrend kippte diePlatte, wackelte und hob sich.»Envoie!«, rief der Priester noch einmal undhob die flachen Hände in die Höhe.Die Männer traten beiseite und zogen den Steinweg, so dass eine Öffnung im Boden desAltarraums zum Vorschein kam. Sie brachtendie Steinplatte zum Stillstand und ließen dieSeile fallen. Die im Kreis stehende Gemeinderückte enger zusammen, alle wartetenschweigend. Alles im Raum hing in derSchwebe, kam zum Stillstand. Bossong, der sichnicht vom Fleck gerührt hatte, starrte sieabwechselnd mit seinen dunklen Augen an.Eine schwache Ausdünstung stieg aus derÖffnung empor – der Geruch des Todes.Jetzt war die Grube unten erfüllt von denLauten ruheloser Bewegung. Gekratze undGehusche. Schleimiges Geschlürfe.Und dann tauchte das Wesen aus dem Dunkelnauf und packte den Rand des Steins mit einer

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bleichen, verdörrten Hand, einem knochigenUnterarm, in dem die Muskeln und Sehnen wieTaue hervorstanden. Eine zweite Handerschien, und dann kam, begleitet von einemGekrabbel, ein Kopf in Sicht, das Haar verfilztund feucht, der Gesichtsausdruck leer bis aufein vages Verlangen. Das eine Auge saß schiefin der Augenhöhle, das andere lag unterKlumpen getrockneten Bluts und Gewebe. Miteinem jähen Stoß zog sich das Wesen aus derGrube und stürzte schwer zu Boden, seineNägel kratzten über den Stein. In der Gemeindeder Männer erhoben sich erregte Rufe,zusammen mit einigen wenigen zustimmendengemurmelten Lauten.Ungläubig und voll Entsetzen starrte D’Agostaauf das Wesen. Es handelte sich um einenMann – zumindest war es ein Mann gewesen.Und für ihn bestand kein Zweifel – überhauptkeiner –, dass ebendieses Wesen ihn genau vorsieben Tagen außerhalb des Ville verfolgt undangegriffen hatte. Doch es schien nicht Fearingzu sein, und es war mit Sicherheit nicht

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zu sein, und es war mit Sicherheit nichtSmithback. War es lebendig … oder einwiederbelebter Toter? D’Agosta bekam eineGänsehaut, als er in das lüstern grinsendeGesicht schaute. Die teigige, verwelkte Haut,die aufgemalten Schnörkel und Ranken undKreuze, die unter den schmuddeligen Lumpenhervorschauten, die als Kleidung dienten. Unddoch, als er genauer hinsah, erkannte er, dassdas Mann-Wesen gar nicht in Lumpen gekleidetwar, sondern in Seide oder Satin, denÜberresten irgendeines uraltenBekleidungsstücks, das inzwischen zerschlissenund steif vor Schmutz, Blut und Dreck war.Die Menschenmenge murmelte etwas, geradezuehrfürchtig, während das Mann-Wesen zögerndumherschlich und zu dem Priester aufschaute,als verlange es nach Anweisungen. EinSpeichelfaden baumelte von den dicken grauenLippen, der Atem war wie Luft, die aus einernassen Tüte herausgepresst wird. Das einegesunde Auge wirkte tot – absolut tot.Charrière griff in die Falten seiner Robe und

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zog einen kleinen Messingkelch hervor. Ertauchte die Finger hinein, sprenkelte etwas,das aussah wie Öl, über Kopf und Schultern desGeschöpfs, das schwankend vor ihm stand.Dann sank zu D’Agostas grenzenlosemErstaunen der Hohepriester vor dem Wesen aufdie Knie und verneigte sich tief. Die anderenfolgten seinem Beispiel. D’Agosta spürte einZiehen an seiner Robe: Pendergast wies ihn an,das Gleiche zu tun. Er kniete nieder undstreckte die Hände in Richtung des Zombiesaus – wenn es denn ein solcher war.Gleichzeitig sah er, dass die anderen es auchtaten.»Wir verneigen uns vor unserem Beschützer!«,intonierte der Priester. »Heil unserem Schwert,unserem Fels!«Die anderen stimmten ein.Charrière setzte seine Predigt in einer fremdenSprache fort, die anderen sprachen ihm nach.D’Agosta blickte sich um. Bossong war nichtmehr zu sehen.»So wie die Götter droben uns stärken«, sagte

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der Hohepriester und wechselte zurück insEnglische, »so wollen wir nun dich stärken!«Wie aufs Stichwort hörte D’Agosta einWimmern. Als er sich umwandte, erblickte er inder Dunkelheit ein kleines kastanienbraunesFohlen – höchstens eine Woche alt –, das amHalfter zu dem hölzernen Pfahl geführt wurde,seine langen, wackligen Beine stampften aufden Boden, es bewegte sich vor und zurück undwieherte zum Erbarmen, die großen braunenAugen rund und verängstigt. Der Ministrantband es an den Pfosten und trat einen Schrittzurück.Der Priester erhob sich. Während er sich halbtanzend, halb schwankend bewegte, hob er einglänzendes Messer, ähnlich denjenigen, die siebei der Hausdurchsuchung entwendet hatten.O du lieber Gott, nein, dachte D’Agosta.Die Menge stand da und wandte sich demHohepriester zu. Die Zeremonie näherte sicheindeutig ihrem Höhepunkt. Charrièresteigerte sich in eine Trance hinein und tanzteauf das Fohlen zu, die Gemeinde schwankte

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rhythmisch hin und her, das glitzernde Messerwurde noch höher gehoben. Das kleine Fohlenstampfte und wieherte vor Todesangst,schüttelte den Kopf, versuchte, von dem Pfahlloszukommen.Der Priester kam näher.D’Agosta wandte sich ab. Er hörte das schrilleWiehern, hörte den jähe Ausatmen der Menge –und dann den Todesschrei des Fohlens.Die Männer stimmten einen schnellenSprechgesang an. D’Agosta wandte sich wiederab. Der Priester hob sich das sterbende Fohlen,dessen Beine noch zuckten, auf die Arme. Erschritt den Mittelgang hinunter, die Mengeteilte sich, abermals näherte er sich demhässlichen Mann-Wesen. Mit einem Aufschreilegte der Priester das tote Fohlen auf denSteinfußboden, die Gemeindemitglieder knietenalle auf einmal nieder, und D’Agosta undPendergast beeilten sich, es ihnen gleichzutun.Einen grässlichen Laut ausstoßend, stürztesich der Zombie auf das tote Fohlen, zerrte mitden Zähnen daran, zog mit einem bestialischen

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Laut der Befriedigung die Eingeweide herausund stopfte sie sich in den Mund.Das Flüstern wurde lauter. Gebt demBeschützer zu essen! Envoie! Envoie!D’Agosta starrte voll Entsetzen auf denknienden Mann. Gleichzeitig verspürte er tief insich eine atavistische Angst. Er blickte zuPendergast. Ein Blinzeln der silbergrauenAugen unter der Kapuze lenkte D’AgostasAufmerksamkeit auf eine Seitentür in derKirche – sie stand einen Spaltbreit offen undführte in einen dunklen, leeren Gang. EinFluchtweg.Envoie! Envoie!Die Gestalt aß mit wüster Geschwindigkeit. Unddann war sie satt. Sie erhob sich, das Gesichtausdruckslos, als erwarte sie Befehle. DieMenge erhob sich ebenfalls.Auf eine Geste des Priesters hin teilte sich dieMenge und bildete einen Durchgang. Vomanderen Ende der Kirche ertönte das Knarrenund Quietschen von Eisen, einGemeindemitglied öffnete die Tür zur

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Außenseite. Ein Hauch von Abendluft drangherein, über der Schutzmauer war eineinzelner, matt leuchtender Stern am dunklenHimmel zu sehen. Charrière legte dem Zombieeine Hand auf die Schulter, hob die andere undzeigte mit seinem langen, knochigen Finger zuroffenen Tür.»Envoie!«, flüsterte er mit rauher Stimme undbebendem Finger. »Envoie!«Langsam begann die Gestalt in Richtung Tür zuschlurfen. Im Nu war sie hindurchgetreten undverschwunden. Die Tür schloss sich mit lautem,hohlem Klang.Da atmeten die Männer tief aus, entspanntensich und gingen schlurfend hin und her. DerPriester legte die sterblichen Überreste desFohlens in einen sargähnlichen Kasten. Derfürchterliche »Gottesdienst« näherte sichseinem Ende.Sofort begab sich Pendergast in RichtungDurchgang, D’Agosta folgte ihm und setztealles daran, ruhig und gelassen zu wirken. Kurzdarauf erreichte Pendergast die offene Tür und

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legte die Hand auf den Griff.»Moment!« Eines der am nächsten stehendenGemeindemitglieder hatte sich von derentsetzlichen Szene abgewandt und Pendergastund D’Agosta bemerkt. »Niemand darf gehen,bevor die Zeremonie beendet ist – das wisst ihrdoch!«Pendergast deutete auf D’Agosta, hielt dabeiden Kopf abgewandt. »Meinem Freund istübel.«»Ausreden sind nicht gestattet.« Der Mannkam heran, duckte sich und betrachtetePendergasts Gesicht unter der Kapuze. »Werbist du, Freund?«Pendergast neigte den Kopf, aber der anderehatte sein Gesicht bereits gesehen.»Fremdlinge!«, rief er und riss Pendergast dieKapuze weg.Eine jähe Stille trat ein.»Fremdlinge!«Rasch stieß Charrière das Portal der Kirche auf.»Eindringlinge!«, rief er in die Dunkelheit.»Baka! Baka!«

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»Schnappt sie euch! Schnell!«Plötzlich erblickte D’Agosta das Mann-Wesen imTürrahmen. Eine Minute lang stand es dort,leicht schwankend. Dann begann es, sichseltsam zielstrebig zu bewegen – auf sie zu.»Envoie!«, kreischte der Priester und zeigte inihre Richtung.D’Agosta handelte als Erster, er schlug denBeschuldiger zu Boden. Pendergast sprangüber die am Boden liegende Gestalt und rissdie Seitentür auf. D’Agosta stürmte hindurch,Pendergast folgte, knallte die Tür hinter ihnenzu und schloss ab.

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Als sie stehen blieben, fanden sie sich in einemdüsteren Gang wieder; am anderen Ende sahensie eine weitere Tür. Das jähe Donnern an derTür, die sie gerade abgeschlossen hatten,drängte sie zum Handeln. Sie liefen den Ganghinunter, aber die Tür am Ende warabgeschlossen. D’Agosta trat einen Schrittzurück, um sie einzutreten.»Warten Sie.« Pendergast betätigte kurz denDietrich, dann gab die Tür nach. Wieder gingensie hindurch, und Pendergast verschloss dieTür hinter ihnen.Sie standen auf einem Treppenabsatz, einehölzerne Treppe führte hinunter in eineschreckliche Finsternis. Pendergast schalteteseine Stiftlampe ein und leuchtete damit insDunkel.»Dieser … dieser Mann …«, keuchte D’Agosta.

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»Was zum Teufel haben die da getan? Ihnangebetet?«»Vielleicht ist jetzt nicht die ideale Zeit, umdarüber zu spekulieren«, erwidertePendergast.»Aber eines kann ich Ihnen sagen: Das ist dasWesen, das mich außerhalb des Ville attackierthat.« Vom anderen Ende des Gangs hörte erein Donnern an der Tür, das Brechen von Holz.»Nach Ihnen«, sagte Pendergast und wies aufdie Treppe.D’Agosta rümpfte die Nase. »Was bleibt unsanderes übrig?«»Leider nichts.«Sie stiegen in dem uralten Treppenhaushinunter, während die Stufen unter ihrenFüßen laut knarrten. Die Treppe endete aufeinem halben Absatz, der zu einem zweitenTreppenhaus führte, dieses war aus Stein undführte spiralförmig ins Finstere. Als sieschließlich unten ankamen, sah D’Agosta, dasssich ein aus Ziegeln gemauerter Gang vor ihnenerstreckte, feucht, voll mit Spinnweben und

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Ausblühungen. Die Luft roch nach Erde undMehltau. Von hinter und über ihnen kamengedämpfte Rufe und das Geräusch, wie wennFäuste gegen Holz hämmerten.D’Agosta zog seine Taschenlampe hervor.»Wir müssen das Gestein finden, das zu dem indem Video passt«, sagte Pendergast undleuchtete mit seiner Stiftlampe die feuchtenWände entlang. Er bewegte sich schnell durchdas Dunkel, die Robe wehte hinter ihm her.»Diese Mistkerle von da oben werden unsgleich eingeholt haben«, sagte D’Agosta.»Die beunruhigen mich nicht«, murmeltePendergast. »Aber er sehr wohl.«Sie passierten mehrere Durchgänge und eineSteintreppe, die nach oben führte. Dahintergabelte sich der Tunnelgang, und nach kurzerÜberlegung entschied sich Pendergast für dielinke Abzweigung. Kurz darauf gelangten sie ineinen großen, kreisförmigen Raum mit Nischen,die in regelmäßigen Abständen in die Wändegeschlagen waren. In jeder Nische stapeltensich Menschenknochen gleich Korkholz, die

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Schädel hingen an den langen Gebeinen. Vielehatten noch Haarbüschel, die an Fetzenverdorrter Kopfhaut hafteten.»Reizend«, murmelte D’Agosta.Pendergast blieb abrupt stehen.Dann hörte D’Agosta, was Pendergastinnehalten ließ: ein fahriges Schlurfen, das ausdem hinter ihnen liegenden Dunkel zu ihnenherüberklang. Jenseits des Lichtscheins seinerTaschenlampe ertönte ein lauter, verschleimterSchnüffellaut, als prüfe jemand die Luft.Wankende, schwere Schritte, die schnellerwurden und sich einen unsichtbaren Gangentlang bewegten, der offenbar parallel zuihrer Kammer verlief. D’Agosta stieg der starke,wildähnliche Geruch nach Pferdefleisch in dieNase.»Haben Sie das gerochen?«»Nur zu gut.« Pendergast richtete seineTaschenlampe auf einen Durchgang in derNähe, aus dem ein frischer Luftzug zu kommenschien.D’Agosta zog seine Glock, denn unwillkürlich

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verspürte er einen Stich Angst. »Das Wesen istda drin. Sie übernehmen die linke Seite, ich dierechte.«Pendergast zog seinen 45er unter der Robehervor, und sie schlichen zu dem Durchgang,einer auf jeder Seite.»Jetzt!«, rief D’Agosta.Sie drehten sich in den Durchgang, D’Agostarichtete die Waffe in das Licht seinerTaschenlampe … nichts als leere Wände ausfeuchtem Backstein. Pendergast zeigte auf denBoden, auf dem blutige Fußabdrücke in dieDunkelheit führten. D’Agosta ging in die Hockeund berührte einen davon. Das Blut war sofrisch, dass es noch nicht einmal geronnen war.D’Agosta erhob sich. »Verdammt merkwürdig«,murmelte er.»Außerdem vergeuden wir Zeit, die wir nichthaben. Lassen Sie uns weitergehen. Schnell.«Sie zogen sich aus dem Raum zurück und liefenim Laufschritt durch die Nekropole in einenGang am anderen Ende. Schon bald mündetedieser in einen weiteren höhlenartigen Raum,

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sehr krude und roh aus dem Gestein gehauen.Sie traten ein und leuchteten mit denTaschenlampen umher.»Die Wände hier sehen anders aus als dasGestein im Video«, sagte Pendergast. »Das hierist Schiefer, nicht Granit, und nicht auf diegleiche Art gehauen.«»Das ist ein Irrgarten hier unten.«Pendergast nickte in Richtung eines niedrigenDurchgangs. »Probieren wir’s mit dem Gang.«Sie duckten sich in den niedrigen,tunnelartigen Gang. »Verflucht noch mal,dieser Geruch«, sagte D’Agosta. Einerstickender Gestank nach Pferdeblut, intensiv,mit einem Hauch Eisen, umso fürchterlicher,weil er offenbar so frisch war. Durchbrochenwurde er durch gelegentliche Strudel kühlerLuft, die aus irgendeinem unsichtbaren Einlassvon draußen hereinkamen. In der Ferne hörteer, durch die Tunnelgänge hallend, die Rufeund Schreie der Gemeindemitglieder, dieanscheinend ebenfalls die Kavernen erreichthatten und ausschwärmten, um nach ihnen zu

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suchen.Sie liefen weiter den Tunnel entlang, wobeiPendergast sich so schnell bewegte, dassD’Agosta sich beeilen musste, um mitzuhalten,und dabei durch Pfützen aus Wasser undGlibber patschte. Salpeter und Spinnwebenüberzogen die feuchten Wände, imVorüberlaufen sah D’Agosta weiße Spinnen, diein Löcher im Mauerwerk huschten. Am Randder Dunkelheit funkelten und flackerten dieroten Augen von Ratten.Sie näherten sich einer Abzweigung, an derdrei Quertunnel zusammentrafen, die in einenRaum in Form eines Sechsecks führten.Pendergast ging langsamer, legte die Finger andie Lippen und machte D’Agosta Zeichen, sichdicht an einer Wand zu halten, während er aufdie andere Seite ging.Als sie die Kreuzung erreichten, verspürteD’Agosta mehr, als dass er sie sah, über sicheine schnelle Bewegung. Als er zu einer Seiteauswich, ließ sich etwas – das Zombie-Wesen –fallen, die Fetzen uralter Kleidung schlugen

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und flatterten über den knotigen Gliedmaßengleich zerfetzten Segel in einer starken Brise.D’Agosta gab einen Schuss ab. Aber das Mann-Wesen war bereit und bewegte sich sounerwartet, dass D’Agostas Schuss sein Zielweit verfehlte. Das Wesen lief durch seinBlickfeld, flitzte durch den Strahl seinerTaschenlampe. Und während er sich zu Bodenfallen ließ, um dem Angriff auszuweichen,brannte sich ihm ein kurzes,schreckenerregendes Bild ein: das baumelndeAuge, die Kringel und Schnörkel des vévé, aufdie Haut gemalt oder tätowiert, die nassenLippen, die zu einer Grimasse verzweifelterHeiterkeit verzerrt waren. Und doch hatten dieBewegungen dieses Wesens nichts Vages,nichts Überschwengliches – vielmehr verfolgtees Pendergast mit entschlossener,furchterregender Zielstrebigkeit.

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D’Agosta feuerte noch einmal, aber es war einSchuss ins Leere; das Wesen war in dieDunkelheit zurückgehuscht und verschwunden.Er lag auf dem Boden und leuchtete mit seinerTaschenlampe umher, mal dahin und maldorthin, die Glock gezückt.»Pendergast?«Pendergast erschien aus dem Dunkel einesDurchgangs, in der Hocke, er hielt den Colt mitbeiden Händen nach vorn gestreckt.Stille, die nur unterbrochen wurde durch denLaut tropfenden Wassers.»Er ist noch immer da draußen«, murmelteD’Agosta, setzte sich in eine halbe Hocke undvollführte mit der Glock einen 360-Grad-Schwenk. Angestrengt spähte er ins Dunkel.»In der Tat. Ich vermute, er geht erst dann,wenn wir tot sind.«

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Die Sekunden dehnten sich zu Minuten.Schließlich richtete sich D’Agosta auf undsenkte die Glock. »Wir haben keine Zeit, hierabzuwarten, Pendergast. Wir müssen …«Wie ein Blitz kam der Zombie von der Seite,stürzte sich sofort auf D’Agostas Taschenlampeund schlug mit seiner Spinnenhand danach, sodass sie laut klappernd ins Dunkel schlitterte.D’Agosta feuerte, aber das Wesen war schonaußer Sichtweite geflitzt, zurück in denrelativen Schutz der Dunkelheit. Er hörte, wiePendergasts 45er beinahe gleichzeitig mit derGlock abgefeuert wurde, ein ohrenbetäubenderDoppelschuss, und dann war plötzlich allesdunkel, als Pendergasts Taschenlampe gegeneine Wand prallte.Der Tunnelgang war jetzt in tiefe Finsternisgehüllt – und fast im selben Moment hörteD’Agosta die Laute eines verzweifelten Kampfs.Er stürzte auf den Lärm zu, steckte die Glockins Holster und zückte sein Messer. Es warbesser für den Nahkampf im Dunkeln geeignet,außerdem war es weniger wahrscheinlich, dass

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er Pendergast damit verletzte, der nun offenbarin einen Kampf auf Leben und Tod mit demWesen verstrickt war. D’Agosta prallte mit dersehnigen Gestalt des Zombies zusammen undschlug sofort mit dem Messer nach ihm, abertrotz seiner schlurfenden Bewegungen war dasWesen furchtbar stark und schnell. Es drehtesich, schlug nach D’Agosta wie ein Panther undumhüllte ihn mit seinem erstickenden Gestank.Das Messer wurde D’Agosta aus den Händengerissen, und da ging er mit den Fäusten aufdas Mann-Wesen los, zielte auf den weichenBauch, den Kopf, während er gleichzeitig diedrahtigen Hände abwehrte, die nach ihmschlugen. Im Dunkeln und bekleidet mit einerMönchsrobe befand er sich im Nachteil, daszerlumpte Wesen andererseits schien ganz inseinem Element zu sein. Ganz gleich, wie ersich drehte und wehrte, das Wesen bewahrteseinen Positionsvorteil, der noch dadurcherhöht wurde, dass der von Schweiß, Blut undSchmiere überzogene Körper sehr glitschigwar.

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Was zum Teufel war mit Pendergast passiert?Ein Arm legte sich ihm um den Hals unddrückte plötzlich zu wie ein Stahlkabel.D’Agosta riss sich los, keuchend und würgend,und versuchte den Angreifer abzuwerfen,während er gleichzeitig nach der Glock tastete.Aber das schlüpfrige Mann-Wesen hatteMuskeln so hart wie Teak. Ganz gleich, wie sehrer sich wehrte, die eine Hand würgte ihnweiterhin und schnürte ihm die Luftröhre zu,während die andere seine Waffenhandfesthielt. Das Wesen stieß ein Triumphgeheulaus, ein schrilles, durchdringendes Wehklagen:Oaaahhuuuuooooooooo!Weiße Blitze glitzerten vor D’Agostas Augen. Erwusste, ihm blieb nur noch wenig Zeit. Miteiner letzten, explosiven Anstrengung riss erseinen rechten Arm los, zog die Waffe undschoss. Der Mündungsblitz erhellte dendüsteren Tunnelgang, der Schuss klangohrenbetäubend laut in dem beengten Raum.Eeeeee!, kreischte der Zombie, im selbenMoment spürte D’Agosta einen kräftigen Hieb

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an den Kopf. Wieder sah er Sterne. Wieder hieltdas Wesen seinen Unterarm fest, schüttelteund hieb ihn auf den Boden und versuchte, ihmdie Waffe aus der Hand zu schlagen. Eeeeee!,schrie es noch einmal. Obwohl betäubt, warsich D’Agosta sicher, dass er das Wesengetroffen hatte – die Erregung, das hoheWehklagen waren eindeutig –, und dennochkam es ihm stärker denn je vor, es kämpfte miteiner unmenschlichen Wut. Es stauchteD’Agostas Unterarm, und er hörte, wie Knochenbrachen. Ein unbeschreiblicher Schmerz kurzoberhalb des Handgelenks, die Waffe flog imhohen Bogen davon, und wieder stürzte sichdas Wesen auf ihn, diesmal umklammertenbeide Hände seinen Hals.D’Agosta drehte und wendete sich, schlug mitdem unverletzten Arm nach dem Zombie,versuchte sich loszureißen, aber er spürtebereits, wie seine Kräfte schwanden.»Pendergast!«, stieß er erstickt hervor.Die Stahlfinger drückten weiter zu. D’Agostahob sich und bockte, aber er bekam keine Luft,

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stand auf verlorenem Posten. Ein sonderbaresKribbeln überkam ihn, begleitet von einemSummen. Er streckte die Hand aus und suchteauf dem Boden nach dem Messer. Stattdessenfand er ein großes Stück Mauerwerk. Er packtees, holte mit aller Kraft aus und schlug damitgegen den Kopf des Zombies.Eeeeaaaaaahh!, quiekte der vor Schmerz undtaumelte zurück. D’Agosta keuchte, atmete tiefdurch, holte wieder mit dem Ziegelstein ausund versetzte dem Wesen noch einen Schlag.Noch ein schrilles Kreischen, dann sprang esvon ihm herunter.Hustend und nach Luft japsend rappelteD’Agosta sich auf und rannte wie einVerrückter ins Dunkel hinein. Kurz darauf hörteer, wie das Mann-Wesen hinter ihm herhuschteund mit seinen nackten Füßen über denglitschigen Steinboden patschte.

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Von seinem Beobachtungsposten neben einerbreiten Bresche im Maschendrahtzaun ließ RichPlock mit eisiger Genugtuung den Blick überdie Menschenmenge schweifen, die dorthindurchströmte. Zehn erste Gruppen, rundzweihundert pro Gruppe – das bedeuteteinsgesamt zweitausend, weniger als erwartet,aber respekteinflößend wegen ihrerEntschlossenheit. Verglichen mit anderenDemonstrationen in New York war das nochimmer eine kleine Menge, die aber etwasanders als die anderen war. Denn diese Leutewaren engagiert. Sie waren beinhart. DieNervösen und Ängstlichen, die Tagesausflüglerund Sonnenanbeter – die Esteban-Typen –waren diesmal zu Hause geblieben. Umsobesser. Seine Gruppe war von diesenElementen gesäubert, eine Truppe mit einem

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klaren Ziel, die angesichts von Widerstand, jasogar Gewaltanwendung nicht einknickenwürde. Allerdings dürfte es nicht zu größerenAusschreitungen kommen. Die Bewohner desVille waren den Protestlern im Verhältnis einszu zehn unterlegen. Möglicherweise wehrtensie sich zunächst, aber man würde sie schnellüberwältigen.Die ganze Organisation hatte wie amSchnürchen geklappt. Die Polizei war völligüberrascht gewesen. Die Gruppe der erstenDemonstranten, sorgfältig ausstaffiert, damitsie möglichst wenig bedrohlich aussahen,hatten die Bullen im Glauben gelassen, dass eseine kleine, harmlose Demo werden würde, lautzwar, aber ohne Biss. Und dann, binnenweniger Minuten, waren all die anderenGruppen eingetroffen, ruhig, zu Fuß, ausverschiedenen Richtungen – und sofort gingwie geplant ein Ruck durch die Menge, dieLeute schlossen sich zusammen und steuertenüber die Felder und die Straße in Richtung Villehinunter. Der Polizei war keine Zeit geblieben,

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eine Barrikade zu errichten, keine Zeit, dieAnführer festzunehmen, keine Zeit, ihrevorgerückten Einheiten in andere Stellungen zubringen, keine Zeit, Unterstützungherbeizurufen. Die Bullen konnten nur eines:nutzlos in ihre Megafone schreien und umOrdnung betteln, während gleichzeitig ihrPolizeihubschrauber über dem Geschehenkreiste und per Lautsprecher eineunverständliche Warnung verbreitete. Hintersich hörte Plock die Sirenen und Megafone,während die Polizei ein verspätetesRückzugsgefecht lieferte, um dieDemonstranten davon abzuhalten, weiter aufdas Ville zuzurücken.Kein Zweifel, Verstärkung war schonunterwegs. Die New Yorker Polizisten warenkeine Leute, mit denen gut Kirschen essen war.Aber wenn sie schließlich eingetroffen wären,würde er mit seinen Leuten bereits im Ville seinund weit auf dem Weg fortgeschritten, sein Zielzu erreichen – die Mörder zur Rechenschaft zuziehen und, vielleicht, die entführte Frau, diese

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Nora Kelly, zu finden.Die letzten Demonstranten strömten durch dasTor und sammelten sich auf dem Feldgegenüber dem Haupteingang zum Ville, wobeisie wie Sturmtruppen ausschwärmten. Sieteilten sich, als Plock vor sie trat, um noch einpaar letzte Worte an sie zu richten. Das Villeselbst lag schweigend im Abendlicht, düsterund monolithisch, das einzige Anzeichen vonLeben einige gelbe Fenster oben im Gemäuerder Kirche. Der Eingang war verrammelt undverriegelt, aber er würde kein Hindernisdarstellen für die Männer mit Rammböcken, dieschweigend an der Spitze der Menge standen,bereit, loszuschlagen.Plock hob die Hand, die Menge beruhigte sich.»Meine lieben Freunde.« Er senkte die Stimme,was eine noch größere Stille unter den Leutenherbeiführte. »Wozu sind wir hier?« Er legteeine Pause ein. »Lasst uns ganz klar sein,insbesondere in dieser Frage: Wozu sind wirhier?« Er blickte sich um. »Wir sind hier, umdieses Tor aufzubrechen und diese Tierquäler,

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diese Mörder, zu vertreiben. Das werden wirtun, und zwar durch unsere unerbittlichemoralische Verdammung, das Gewicht unserergroßen Zahl. Wir werden sie aus dem Feldschlagen. Wir werden die Tiere aus diesemDreckloch befreien.«Über ihnen kreiste der Polizeihubschrauberund verbreitete noch immer seineunverständliche Mitteilung. Er nahm keineNotiz davon.»Etwas von größter Bedeutung will ich euchsagen: Wir sind keine Mörder. Wir werdenunsere moralische Überlegenheit beweisen unddurchsetzen. Aber wir sind auch keinePazifisten, und wenn sie sich entscheiden zukämpfen, werden wir ebenfalls kämpfen. Wirwerden uns verteidigen, und wir werden dieTiere verteidigen.«Er atmete tief durch. Er wusste, dass er keineloquenter Redner war, aber er besaß die Kraftseiner Überzeugung und sah, dass die Mengebegeistert war.Die Polizisten kamen jetzt von der Straße

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herauf, aber verglichen mit seinen Leutenwaren es lächerlich wenige. Plock ignoriertesie. Er würde im Ville sein, bevor sie sichüberhaupt neu formieren konnten. »Sind wirbereit?«, rief er.»WIR SIND BEREIT«, ertönte die Antwort.Er streckte den Arm aus. »Und los!«Mit Gebrüll drängte die Menge auf dieHaupttür des Ville zu. Sie war offenbar erstkürzlich repariert und verstärkt worden.Vorneweg marschierten die beiden Männer mitden Rammböcken, sie schwangen sie, erst deneinen, dann den anderen, und schlugen damitgegen die Tür. Das Holz erbebte und splitterte,und in weniger als einer Minute war der Einlasseingedrückt, die Menge drängte vor und fegtedie Reste beiseite. Plock schloss sich denMassen an, während sie in eine dunkle,schmale und von schiefen Fachwerkhäuserngesäumte Gasse strömten. Sie wirktemerkwürdig leer, keine Bewohner zu sehen.Das Gebrüll der Menge erhob sich gleich einemTierschrei, verstärkt durch die Enge im Ville,

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dann fielen die Leute in Laufschritt, bogen umdie Ecke der Gasse und standen schließlich vis-à-vis der uralten Kirche.Da zögerte die Menge. Die Kirche machte einenabweisenden Eindruck. Wie einmittelalterliches Gebäude von BoschscherFremdheit stand sie da: schief, mit Fachwerkund grob aussehenden Strebepfeilernversehen, die in die Luft ragten, bevor sie imBoden verschwanden. Das Portal befand sichan der Stirnseite, wieder eine Holztür mitEisenbeschlägen und -nieten.Doch das Zögern währte nur einen Augenblick.Dann ertönte abermals das Gebrüll, lauter dennje, und die Männer mit den Rammböckenrückten wieder vor und stellten sich beidseitsder mit Eisen verstärkten doppelflügeligen Türauf, schwangen die Rammen inabwechselndem, asynchronem Rhythmus:Bumm – bumm! Bumm – bumm! Bumm – bumm!Ein lautes Krachen verkündete, dass das uralteEichenholz unter den unablässigen Schlägennachgab. Diese Tür war zwar viel

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widerstandsfähiger als die erste, gab aberschließlich unter krachendem Splittern nach,zum Klang der abspringenden Eisennieten und-beschläge. Sie sackte nach innen und stürzte,getragen vom Eigengewicht, donnernd underzitternd ein …Und dort im Dämmerlicht, den Wegversperrend, standen zwei Männer. Der einewar groß und auffällig, er trug einen langen,dunkelbraunen Umhang, die Kapuzezurückgeschlagen, die dicken Brauen undausgeprägten Wangenknochen verbargenbeinahe die dunklen Augen, die blasse Hautleuchtete im Schein des aufgehenden Mondes,die Nase war wie eine Messerklinge, gebogenund scharf. Der andere Mann war kleiner, hatteweniger feine Gesichtszüge und trug eineabenteuerlich verzierte zeremonielle Robe. Eshandelte sich offensichtlich um eine ArtPriester. Er starrte die Eindringlinge mit vorBösartigkeit glitzernden Augen an.Die innere Kraft des größeren Mannes brachtedie Menge sofort zum Schweigen. Er streckte

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eine Hand aus und sagte: »Keinen Schrittweiter.« Eine leise, begräbnisartige Stimme, miteinem leisen Akzent, den Plock nicht erkannte –die jedoch eine große Macht ausstrahlte.Plock drängte sich vor und sah dem Mannmitten ins Gesicht. »Wie heißen Sie?«»Bossong. Und es ist meine Gemeinde, die Siemit Ihrer Anwesenheit entweihen.«Plock reckte sich. Er war sich völlig darüber imKlaren, dass er halb so groß und doppelt sobreit wie sein Widersacher war. Aber erantwortete ihm trotzdem im Brustton derÜberzeugung: »Wir werden weitergehen, undSie werden beiseitetreten. Sie haben keinRecht, hier zu sein, Sie Schlachter.«Der Mann stand wie angewurzelt da, und zuseinem Erstaunen sah Plock, dass im rötlichenZwielicht hinter dem Mann mindestens hundertMänner standen.»Wir tun niemandem ein Leid an«, fuhr Bossongfort. »Wir wollen lediglich in Ruhe gelassenwerden.«»Kein Leid? Wie nennen Sie das denn –

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»Kein Leid? Wie nennen Sie das denn –unschuldigen Tieren die Kehledurchzuschneiden?«»Es handelt sich um ehrenvolle Opferungen, umeinen zentralen Lehrsatz unseres Glaubens –«»Quatsch! Und was ist mit der Frau, die Sieentführt haben? Wo steckt die? Und wo sind dieTiere? Wo halten Sie die gefangen? Sagen Siees mir!«»Von einer Frau weiß ich nichts.«»Lügner!«Jetzt hielt der Priester plötzlich eine Rassel inder einen Hand, ein sonderbar aussehendesGebinde aus Federn in der anderen. Er stimmteeinen lauten, tremolierenden Sprechgesang inirgendeiner Fremdsprache an, als wollte er dieEindringlinge mit einem Fluch belegen.Plock schlug ihm das Bündel aus der Hand.»Gehen Sie mir aus den Augen mit diesemHokuspokus! Treten Sie beiseite, oder wirüberrennen Sie!«Der Mann starrte ihn an, sagte jedoch nichts.Plock trat vor, als wollte er durch ihn

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hindurchgehen. Die Menge hinter ihmreagierte mit Gebrüll und drängte vor, drücktePlock wider Willen gegen den Priester, so dasser diesen zurückstieß. Im Nu lag der Mann amBoden, und die Menge strömte um ihn herum indie dunkle Kirche, Bossong wurde grob zurSeite gerempelt, während dieGemeindemitglieder in der Kirche beim Anblickihres gefallenen Priesters zögernd reagiertenund vor lauter Angst, Wut und Empörungschrien ob der Schändung ihres heiligen Orts.»Zu den Tieren!«, rief Plock. »Findet die Tiere!Befreit die Tiere!«

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Pendergasts Kleidung war zerrissen undblutverschmiert, und nach dem Angriffklingelten ihm noch immer die Ohren. Errappelte sich auf, bis er leicht wankend stand.Nach der Begegnung mit dem Mensch-Tier warer einige Minuten lang bewusstlos gewesen,dann aber im Dunkeln zu sich gekommen. Erholte aus seiner Anzugjacke eine kleine LED-Lampe hervor, die er für Notfälle wie diesen beisich trug, und leuchtete damit umher. Langsamund methodisch suchte er den feuchten Bodennach seiner Waffe ab, die aber nirgends zusehen war. Er erkannte undeutliche Anzeicheneines Kampfs, darunter etwas, bei dem es sichoffensichtlich um D’Agostas Fußabdrückehandelte; D’Agosta musste auf der Flucht vordem barfüßigen, angemalten Mann sein.Er knipste die Lampe aus und blieb im Dunkel

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sitzen. Er überlegte rasch und traf eineschnelle Entscheidung. Diese Kreatur, dieserZombie, wurde von ihren Hütern zu einemschrecklichen, mörderischen Zweck gehalten.Auf freiem Fuß stellte sie für ihn und D’Agostaeine ernstzunehmende Bedrohung dar.Trotzdem hatte Pendergast Vertrauen inD’Agosta, ein Vertrauen, das an Glaubengrenzte. Wenn jemand auf sich selbstaufpassen konnte, dann der Lieutenant.Doch Nora – Nora harrte noch immer ihrerRettung.Pendergast knipste die Lampe wieder an unduntersuchte den angrenzenden Raum. Eineveritable Nekropole: Holzsärge lagen in Reihund Glied auf Steinsockeln, manche stapeltensich zu zweit oder dritt übereinander, vielewaren zerbrochen, ihr Inhalt auf dem Bodenverstreut. Es schien, als seien vieleKellergeschossräume des Ville umgewandeltworden, um die Toten zu lagern.Doch als er sich abwandte und seine Suchenach Nora wieder aufnehmen wollte, erhaschte

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er einen Blick auf etwas ganz vorn in demRaum – einen ungewöhnlichen Sarg. Etwasdaran fesselte seine Aufmerksamkeit. Er tratnäher, um ihn genauer anzusehen, dann traf ereine Entscheidung und legte eine Hand darauf.Es handelte sich um einen Sarg aus dickemBlei. Anstatt auf einem Sockel zu liegen wie dieanderen, war dieser so in den Natursteinbodeneingelassen, dass nur der obere Teilherausragte. Sofort sprang ihm ins Auge, dassder Deckel offen stand. Zweifellos war der Sarggeplündert worden war, und zwar erst kürzlich.Er untersuchte ihn eingehender. Invergangenen Jahrhunderten war Blei wegenseiner konservierenden Eigenschaften oft zurVerwendung gekommen, wenn man einebedeutende Person bestattete. Als Pendergastden Lichtschein seiner Lampe über den Sarghinwegstreichen ließ, sah er, dass dasBehältnis sorgfältig versiegelt und derBleideckel fest verlötet war. Aber jemand hatteden Deckel mit einem Beil aufgehackt, dieVersiegelung mit Gewalt aufgebrochen und den

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Deckel aufgehebelt, so dass ein gezacktes,klaffendes Loch zurückblieb. Das war erst vorkurzem geschehen, und in großer Hast. DieKratzer in dem weichen Metall waren hell undglänzend und zeigten keine Anzeichen für eineOxidierung.Pendergast blickte in den Sarg. Die Ruhe desToten – der in der versiegelten Umgebungmumifiziert war – war auf grobe Weise gestörtworden, irgendetwas war ihm aus dengekrümmten Händen gerissen worden, dieverknöcherten Finger waren gebrochen undlagen verstreut, ein Arm war aus der staubigenGelenkpfanne gezogen worden.Er griff in dem Sarg, befühlte den Leichenstaubund schätzte dessen Trockenheit ab. Das Ganzewar so kürzlich geschehen, dass sich nicht maldie feuchte Raumluft im Sarg niedergeschlagenhatte. Die Plünderung musste vor weniger alseiner halben Stunde stattgefunden haben.Zufall? Sicherlich nicht.Pendergast wandte seine Aufmerksamkeit demLeichnam selbst zu. Es handelte sich um die

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erstaunlich gut erhaltene Leiche eines altenMannes mit weißem Vollbart und langenweißen Haaren. Zwei Gold-Guineen waren ihmauf die Augen gedrückt worden. Das Gesichtwar verschrumpelt wie ein alter Apfel, dieLippen aufgrund der Austrocknung von denZähnen zurückgezogen, die Haut eingedunkeltzur Farbe alten Elfenbeins. Die Leiche trugeinfache, quäkerähnliche Kleidung – einenschlichten Gehrock, Hemd, braune Weste undhelle Kniebundhosen –, aber an der Brust warsie während der Plünderung aufgerissen unddurcheinandergebracht worden; Knöpfe undkleine Teile lagen überall herum, der Mann waralso offenbar einer fieberhaftenLeibesvisitation unterzogen worden. Auf derBrust sah Pendergast Druckstellen,augenscheinlich stammten sie von einemkleinen, quadratischen Behältnis.Das, zusammen mit den gebrochenen Fingern,sagte viel. Der Plünderer hatte den staubigenHänden der Leiche einen Kasten entrissen.Auf dem Boden neben dem Sarg entdeckte

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Pendergast die zerbrochenen Überreste derSchatulle, der trockenfaule Deckel waraufgehebelt worden. Er beugte sich vor unduntersuchte die Schatulle genauer, roch daran,nahm die Maße. Der schwache Geruch nachPergament bestätigte seine ursprünglicheVermutung, dass die Schatulle ein Dokument imQuartformat enthalten hatte.Langsam und bedächtig ging Pendergast umden Sargdeckel herum. An dessen oberemEnde, in das Blei geprägt, war eine Inschrift zuerkennen, die von weißlichenOxidauswucherungen verdeckt wurde. Erwischte das Oxid mit dem Ärmel ab und las dieInschrift.

Elijah EstebanDer dieses Leben verließ am 22. Novbr 1745

In seinem 55. JahreWie traurig der Klang

Wie rasch der HiebWelcher die tödliche Wunde schlug.

Ihr Lebenden

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Kommet, sehet den BodenIn dem ihr alsbald liegen werdet.

Im blassen Schein der kleinen LED-Lampestarrte Pendergast lange Zeit auf den Namenauf dem Grabstein. Und dann, ganz plötzlich,wurde ihm klar, wie alles zusammenhing. SeineGesichtszüge verdüsterten sich, als er sichseinen katastrophalen Fehler vor Augen führte.Dass dieser Sarg geplündert worden war, warkein Zufall, keine irrelevanteNebenvorstellung – sondern das Hauptereignis.

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Die Kreatur war verschwunden. Irgendwiehatte D’Agosta sie abgehängt, oder sie hattedie Verfolgung aufgegeben. Letzteres kam ihmjedoch unwahrscheinlich vor. Das Wesenmochte ein watschelnder Zombie sein, war aberhartnäckig wie ein Pitbull-Terrier. Vielleichthatte die Abwesenheit des Wesens etwas mitden leisen Geräuschen – ähnlich einerMassenflucht – zu tun, die er von oben gehörthatte. Halb betäubt ließ er sich gegen dasfeuchte Gestein sinken und schnappte nachLuft, allmählich ließ das Dröhnen in seinemKopf nach. Noch immer hörte er den leisenTumult, der aus der über ihm liegenden Kircheherabdrang.Er setzte sich auf, gleichzeitig fuhr ihm einstechender Schmerz durch den rechtenUnterarm. Vorsichtig tastete er mit der linken

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Hand danach und spürte, dass Knochen aufKnochen rieb. Ganz klar, der Arm wargebrochen.»Pendergast?«, sagte er ins Dunkel hinein.Kein Laut.Er versuchte, sich zu orientieren, sich in demGewirr der Tunnels zurechtzufinden, aber eswar stockdunkel. Unmöglich zu wissen, wie weiter gelaufen war oder wo er sich jetzt befand.Zusammenzuckend vor Schmerz steckte er dengebrochenen Arm ins Hemd, knöpfte es bequemzu, dann kroch er über den Boden, bis er mitdem unverletzten Arm eine Backsteinmauerertastete. Als er sich daran aufrichtete, spürteer, dass ihm übel wurde. Die Stimmen über ihmredeten weiter, überlagert jetzt von einemanderen, viel näheren Lärm. Rufe und Schreie,die ihm von irgendwo anders in diesemKellergeschoss entgegenhallten und sich raschnäherten.Also wurde er noch immer verfolgt.Er rief so laut, wie er sich traute:»Pendergast!«

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Keine Antwort.Seine Taschenlampe war weg, aber ihm fiel dasalte Zippo-Feuerzeug ein, das er bei sich trug,eine Angewohnheit aus jener Zeit, als er nochZigarren rauchte. Er holte es hervor undschnippte es an. Er stand in einem kleinenRaum mit einem gewölbten Durchgang, der ineinen Gang mit Backsteinwänden führte. Erbewegte sich langsam, damit die Schmerzennicht die Übelkeit verstärkten, taumelte in denDurchgang und blickte sich um. Noch mehrGänge mit Ziegelsteinwänden.Als die Flamme ihm fast die Finger verbrannte,ließ er sie ausgehen. Er musste zurückgehen,die Glock ausfindig machen, Pendergast finden.Vor allem aber mussten sie Nora finden.Er fluchte laut und schnippte das Feuerzeugwieder an. Er versuchte den stechendenSchmerz im Arm zu ignorieren, stützte sich ander Backsteinmauer ab und begab sich in denHaupttunnel. Er erkannte ihn nicht wieder – ersah aus wie alle anderen.Langsam taumelte er weiter. Waren sie diesen

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Tunnel entlanggekommen? Im flackerndenSchein des Feuerzeugs sah er auf demfeuchten, modrigen Boden frische Fußspuren,aber waren das seine? Da entdeckte er einengroßen, gespreizten Abdruck eines nacktenFußes. Es lief ihm kalt den Rücken herunter.Die Geräusche von oben wurden lauter:Schreie, das Krächzen eines Megafons, einKnall. Das klang nicht mehr wie eineZeremonie. Sondern so, als seien dieDemonstranten eingetroffen.War das Wesen deshalb verschwunden? Allesandere ergab keinen Sinn.»Pendergast!«Plötzlich sah er Lichter in der Dunkelheit. Ineiner Biegung in dem vor ihm liegenden Tunnelerschien eine Gruppe von Männern. Sie trugenUmhänge mit Kapuzen. Einige hieltenTaschenlampen oder Fackeln in der Hand,andere trugen unterschiedliche Waffen.Schaufeln, Mistgabeln. Es waren zwanzig,vielleicht fünfundzwanzig.D’Agosta trat einen Schritt zurück und fragte

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sich, ob die Männer ihn wohl im Dunkelnentdeckt hatten.Die Männer schrien, so schien es, wie mit einerStimme und kamen auf ihn zugestürmt.D’Agosta drehte sich um und rannte los, hieltdabei den gebrochenen Unterarm an die Brust.Er floh, so gut er konnte, die dunklenTunnelgänge hinunter. Das Feuerzeugflackerte in der Zugluft und ging aus. Er bliebstehen, um es anzuzünden, sah sich um undbegann wieder loszulaufen. Er bog um eineEcke und stand in einem trostlosen Kellerraumvoll mit Stapeln aus verrottetem Bauholz. Amanderen Ende befand sich eine Tür. Er liefhindurch und knallte sie hinter sich zu, dannlehnte er sich keuchend dagegen. DieSchmerzen im Unterarm machten ihnschwindlig. Das Zippo war bei dem Sprintausgegangen, und als er es wieder anzündete,stellte er fest, dass er sich offenbar in einemanderen großen Vorratsraum befand. Er sah ansich hinunter – und das Herz gefror ihm in derBrust.

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Keine zwei Meter vor ihm gähnte eine Grube,die mit gemauertem Naturstein eingefasst war.Eindeutig ein alter Brunnen mit glitschigenInnenwänden. Vorsichtig trat er näher undhielt das Feuerzeug über den dunklen Schlund.Die Grube schien unendlich tief zu sein.Ringsum stapelten sich Haufen mit uraltenMöbeln, zerbrochenen Fliesen, schimmligenBüchern und anderem Trödel.Verzweifelt blickte er sich nach einem Versteckum. Es gab viele, aber keines würde ihn langeverbergen, sollten diese Verrückten, die ihmauf den Fersen waren, jede Ecke und jedenWinkel durchstöbern. Er ging um den altenBrunnen herum, dann lief er weiter, dabei stießer einen alten Rohrstuhl um, der zerbrach undsich in seinen Beinen verfing. Er schüttelte ihnheftig ab, dann duckte er sich unter einenDurchgang am anderen Ende desVorratsraums. Jetzt stand er in einem riesigen,gruftähnlichen Raum mit uralten Steinsäulenund Kreuzgratgewölbe. Er leuchtete mit demFeuerzeug umher: Es war eine weitere Gruft,

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allerdings anders als die erste. Die Wände undBöden waren mit Marmorplatten ausgelegt, indie Kreuze, Trauerweiden und Totenschädelgemeißelt waren, in die wiederum krudeGeburts- und Sterbedaten eingraviert waren.Außerdem waren Reihen kruder Holzsärge zusehen. Es war ein einziges Durcheinander, allesstaubbedeckt, die Steinwände wölbten sich undwären beinahe eingestürzt. Das hier warjenseits von uralt; es musste der Besetzung desVille um Jahrzehnte, vielleicht Jahrhundertevorausgehen. Über ihm waren die Stimmenlauter geworden. Das klang nach dem Beginneiner Konfrontation, wenn nicht einerAusschreitung.Er hörte, wie hinter ihm die Tür desBrunnenraums aufgerissen wurde, vernahmdas Getrappel zahlreicher Füße.Am anderen Ende der Gruft erspähte er einengewölbten Durchgang, lief darauf zu, rannteunter ihm hindurch, bog an der Kreuzung abund entschied sich willkürlich für einenanderen Tunnelgang, dann noch einen. Der

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hier war offenbar älter, glich eher einerKatakombe, die aus dem Erdreich ausgehobenworden war, mit Nischen in den hartenLehmwänden und mit altem Holz angefüllt.Überall Voodoo-Zeichen: mottenzerfresseneBeutel, Gebinde aus verrotteten Federn,sonderbare Gebilde und Graffiti und einigeseltsam geformte Schreine.Er kroch durch einen niedrigen Durchgang undfand sich in einer Kammer wieder, in derenWände deckenhohe Nischen eingelassen waren,von denen jede ein oder mehrere Skeletteenthielt. Spontan zwängte er sich in die größteNische, den gebrochenen Arm schützend,drückte die Knochen zur Seite, wand sich, soweit wie er konnte, bis zur Rückseite hinein,und scharrte dann die Gebeine mit den Füßenunbeholfen wieder zurück, um einenSichtschutz zu haben.Dann wartete er.Die Verfolger waren näher gekommen. Erkonnte ihre Stimmen hören, die in denunterirdischen Räumen merkwürdig hallten.

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Das war gar nicht gut. Am Ende würden sie ihnfinden. Als er die Nische mit dem Feuerzeuginspizierte, entdeckte er, dass sie noch tieferins Erdreich führte. Indem er sich flach machte,gelangte er tiefer hinein. Gleichzeitig wischteer mit den Füßen die Knochen, die erbeiseitegeschoben hatte, zurück an ihren Platz.Zum Glück verhinderte die Feuchtigkeit, dasssich verräterische Staubwolken bildeten, dafürhüllte ihn jetzt ein unangenehm schimmligerGestank nach Verwesung ein. Einige Leichenhatten noch Fetzen von Kleidungsstücken,Haare, Gürtelschnallen, Knöpfe undverschrumpelte Schuhe am Leib. Offenbarhatten die Bewohner des Ville ihre Toten indiesen tiefen Nischen verscharrt – hatten diealten Leichen einfach weiter nach hintengeschoben und dann die neuen hineingelegt.Weil die Wände ringsum so glitschig waren,gelangte er auf dem leicht abschüssigenAbhang weiter nach hinten und zwängte sich,so weit er konnte, in die Nische.Dann wartete und lauschte er, während die

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Dann wartete und lauschte er, während dieStimmen der Verfolger lauter und leiser wurdenund allmählich näher kamen. Und da war ihmalles klar: Seine Verfolger befanden sich in demkleinen Raum.Er stand weit hinten im Dunkel, zu weit, alsdass eine Taschenlampe es durchdringenkönnte. Er hörte ein Klappern: Die Männerschoben eine Stange in die Grabnischen undversuchten, ihn aufzuscheuchen. Kurz daraufglitt die Stange in seinen Kriechraum undschlug dabei die Knochen beiseite, aber erstand so weit hinten, dass die Stange ihn nichterreichte. Sie stocherte mal dahin, mal dorthin,bevor sie sich schließlich zurückzog. Er hörtedie Verfolger in weiteren Nischen stochern.Jetzt klangen ihre Stimmen plötzlich lauter underregter. Er hörte, wie sich ihre Schritteentfernten, und dann – recht schnell –verklangen die Stimmen.Stille.Waren die Leute zurückgerufen worden, damitsie das Ville verteidigten? Es war die einzige

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Erklärung.Er wartete eine Minute, dann noch eine, nur umsicherzugehen. Dann versuchte er, die Nischezu verlassen. Es war sinnlos. Wie er feststellte,hatte er sich in seiner Panik zu weit in denKriechraum hineinbegeben. Er war eingekeilt,hatte keinerlei Bewegungsspielraum. Einfurchtbares Gefühl der Klaustrophobie ergriffihn; er versuchte, es zu beherrschen, seineAtmung zu regulieren. Er wand sich erneut,aber er steckte fest. Wieder drohte Panik ihn zuüberwältigen, stärker diesmal.Das konnte doch nicht wahr sein. Er war dochhineingekommen, da musste er doch wiederrauskommen.Er winkelte das Bein an, stellte es auf die Kantezwischen Decke und Boden und versuchte, sichherauszuhebeln, indem er sich mit derunverletzten Hand abstützte. Pech gehabt. DieWände waren rutschig vor Feuchtigkeit undGlibber, außerdem ging es leicht bergauf. Erstrengte sich an, ächzte, kratzte mit derunverletzten Hand über die feuchte Wand.

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Nach einer neuen Welle der Panik grub er dieFingernägel in das feuchte Erdreich, versuchte,sich nach vorn zu ziehen, und brach sich dabeimehrere Nägel ab.Mein Gott, dachte er. Ich bin lebendigbegraben.Fast hätte er laut aufgeschrien.

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Pendergast brauchte zehn Minuten, in denen erfalsche Abzweigungen nahm, aber schließlichden gleichen Weg zurückfand, den ergekommen war, um zum Speisenaufzug zugelangen, der zur Vorratskammer hinaufführte.Er zerrte den stöhnenden, halb bewusstlosenMann heraus, kletterte hinein und konnte sich,indem er durch eine Verkleidung in der Deckedas Kabel packte, aus dem Untergeschosshinaufzuziehen. Als der Speisenaufzug gegendie Schachtdecke stieß, schob Pendergast dieTür auf und sprang heraus. Aus der Kirchedrangen die Geräusche eines lauten Tumults,der offenbar alle Bewohner des Ville inHörweite angezogen hatte. Das eröffnete ihmeine Fluchtmöglichkeit. Er spurtete durch diedunklen Räume des alten Pfarrhauses, lief zurSeitentür hinaus, dann die gewundene

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Hintergasse hinunter. In weniger als fünfMinuten war er wieder zurück im Inwood HillPark. Er schüttelte Umhang und Kapuze ab, ließbeides auf den laubbedeckten Boden fallen, zogsein Handy hervor und wählte.»Hayward«, lautete die knappe Antwort.»Pendergast hier.«»Warum macht es mir eigentlich Angst, IhreStimme zu hören?«»Sind Sie in der Nähe vom Inwood Hill Park?«»Ich bin bei Chislett und seinen Männern.«»Ach ja, Chislett. Zeugnis der letztendlichenNutzlosigkeit jeder höheren Bildung. Hören Sie,D’Agosta steckt in den Kellerräumen des Villefest. Möglicherweise befindet er sich in einerschwierigen Lage.«Kurzes Schweigen. »Vinnie? Im Ville? Was willer dort?«»Ich glaube, Sie können es sich denken – ersucht nach Nora Kelly. Aber mir ist soeben klargeworden, dass sie nicht dort ist. Es braut sicheine Konfrontation zusammen …«»Die braut sich nicht nur zusammen. Die ist

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schon in vollem Gange, und …«Pendergast schnitt ihr das Wort ab. »Ichglaube, Vincent könnte Ihre Hilfe brauchen,und zwar dringend.«Stille. »Und was genau haben Sie vor?«»Dafür bleibt keine Zeit, jetzt zählt jede Minute.Hören Sie, im Ville befindet sich irgendetwas –etwas, das die Leute dort selbst entfesselthaben. Es hat uns angegriffen.«»Etwa ein Zombie?«, lautete die sarkastischeAntwort.»Ein Mensch, oder wenigstens ein Wesen, daseinmal ein Mensch gewesen ist und sich jetzt inetwas äußerst Gefährliches verwandelt hat. Ichwiederhole: Vincent braucht Hilfe. Er könnte inLebensgefahr schweben. Seien Sie auf derHut.«Ohne Haywards Antwort abzuwarten, klapptePendergast das Handy zu. In der Ferne,zwischen den Bäumen, sah er das Mondlicht aufdem Harlem River glitzern. EinMotorengeräusch war zu hören, dann stach einSuchscheinwerfer durch die Dunkelheit: ein

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Polizeiboot, das Patrouille fuhr, verspätet aufder Suche nach den Demonstranten, die ausdem Westen oder Norden kamen. Pendergastspurtete durch den Wald in Richtung Fluss. Alser den Waldrand erreichte, verlangsamte erseinen Schritt, richtete seinen eingerissenenAnzug und schlenderte dann hinaus auf dasMarschgras und hinunter zum Kieselstrand. Erwinkte dem Polizeiboot, zog seinen FBI-Dienstausweis hervor und zeigte ihn mit Hilfeseiner kleinen Taschenlampe vor.Das Boot verlangsamte die Fahrt, wendete undsteuerte in die Bucht, unmittelbar vor demStrand kam es im Leerlauf zum Stehen. Eshandelte sich um ein Patrouillenboot mit Jet-Motor, das neueste Modell, das die New YorkerPolizei besaß. An Bord befanden sich einSergeant der städtischen Polizei und einBeamter der Wasserschutzpolizei.»Wer sind Sie?«, fragte der Sergeant undschnippte seine Zigarettenkippe ins Wasser. Ertrug einen militärisch kurzen Haarschnitt undhatte ein fleischiges Gesicht mit alten

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Aknenarben, dicke Lippen, eine dreifacheNackenrolle und kleine, etwas stummeligeFinger. Sein Partner, der am Ruder stand, sahaus, als verbrächte er seine Freizeit zumgroßen Teil im Fitness-Studio. SeineNackenmuskeln waren so straff wie die Kabelder Brooklyn Bridge. »Mann, Sie sehen ja auswie durch die Mangel gedreht.«Pendergast steckte seinen Dienstausweiswieder ein. »Special Agent Pendergast.«»Tatsächlich? FBI? Passiert denen immerwieder, was, Charlie?« Er versetzte seinemPartner einen kleinen Rippenstoß. »Wenn dasFBI eintrifft, dann immer zu spät und mit zukleiner Besetzung. Wie kriegt ihr Jungs das nurimmer wieder hin?«»Sergeant –?« Pendergast watete durchsWasser, bis er am Dollbord stand, und legteseine Hand darauf.»Du ruinierst dir die Schuhe, Kumpel«, sagteder Sergeant und warf seinem Partner nocheinen ironischen Blick zu.Pendergast blickte auf das Namensschild des

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Mannes. »Sergeant Mulvaney. Ich fürchte, ichmuss dieses Boot requirieren.«Der Sergeant starrte Pendergast an, wie er dabis zur Hüfte im Wasser stand, und grinste.»Sie fürchten, Sie müssen dieses Bootrequiriiieren?«, sagte er ironisch. »Tja, und ichfürchte, ich brauche eine diesbezüglicheGenehmigung. Ich kann nämlich nicht jedemdas Eigentum der Polizei übergeben, nicht malJ. Edgar Hoovaah.«Sein fleischiger Partner ließ die Muskelnspielen und schnaubte verächtlich.»Glauben Sie mir, Sergeant, es handelt sich umeinen Notfall. Ich beziehe mich hiermit aufAbschnitt 302(b)2 des Uniform Code –«»Ah, wir haben es hier auch noch mit einemAnwalt zu tun. Mit einem Notfall. Mit was füreinem Notfall denn?« Mulvaney zog den Gürtelhoch, was seine Handschellen und Schlüsselklimpern ließ, und wartete mit zur Seitegeneigtem Kopf.»Es geht um ein Menschenleben, das in Gefahrist. Das hier war ein reizendes Gespräch, aber

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ich fürchte, ich habe keine Zeit mehr, mit IhnenWorte zu wechseln, Sergeant. Das war meineerste und letzte Warnung.«»Schauen Sie, ich habe meine Befehle. Ich sollden seewärtigen Zugang zum Ville im Augebehalten. Und ich gebe dieses Patrouillenbootnicht auf, nur weil Sie das so wollen.« DerSergeant verschränkte die fleischigen Arme vorder Brust und lächelte auf Pendergast herab.»Mr. Mulvaney?« Pendergast beugte sich überdas Dollbord in Richtung Mulvaney, als wollteer ihm vertraulich etwas zuflüstern. Mulvaneyging in die Hocke, um hinzuhören. Dann eineschnelle Bewegung. Pendergasts Faust schossaufwärts in den Solarplexus; Mulvaney japsteund beugte sich über das Dollbord. Mit einerschnellen Drehung riss Pendergast ihn insWasser, in dem er laut platschend landete.»Was zum Teufel –?« Der Partner richtete sichauf und griff nach der Waffe.Pendergast zog den tropfnassenPolizeibeamten auf die Beine, nahm ihm dieWaffe ab und richtete sie auf den Beamten der

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Wasserschutzpolizei. »Werfen Sie Ihre Waffenauf den Strand.«»Aber Sie können doch nicht –«Der Schuss ließ den Beamten zusammenzucken.»Ist ja schon gut! Mein Gott.« Der Mann nahmseine Waffen ab und warf sie auf denKieselstrand. »Erlaubt das FBI eigentlich sowas?«»Das lassen Sie mal meine Sorge sein«, sagtePendergast, der noch immer den keuchendenMulvaney festhielt. »Sie müssen nur eines tun:aus dem Boot aussteigen. Sofort.«Der Partner ließ sich vorsichtig ins Wasser.Blitzartig sprang Pendergast ins Cockpit, legteden Rückwärtsgang ein und steuerte das Bootvom Strand weg.»Es hat mir schrecklich leidgetan, Sie zuinkommodieren, meine Herren«, rief er, drehtedas Steuerrad und rammte das Getriebe in denVorwärtsgang. Er drückte das Gaspedal durch,der Motor gab ein röhrendes Geräusch vonsich, und das Boot verschwand hinter derBiegung des Flusses.

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D’Agosta brachte all seine Geistesgegenwartauf, atmete bewusst langsam und konzentriertesich auf seine Mission. Er musste Norabefreien. Irgendwie hatte es ihn etwasberuhigt, sich nicht mehr so stark auf denUmstand zu konzentrieren, dass er feststeckte.Das Problem war nicht so sehr, dass er festsaß,sondern dass die Wände so schlüpfrig waren.Er fand einfach keinen Halt daran, vor allemweil er nur einen gesunden Arm hatte. Er hattesich die Fingernägel ruiniert bei einer seinernutzlosen Anstrengungen, tatsächlich aberbrauchte er etwas Scharfes und Stabiles, dassich regelrecht in die Wände hineinbiss, so dasser sich aus seinem Verlies herausziehenkonnte.Biss …Da, keine fünfzehn Zentimeter von seiner Hand

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entfernt lag ein menschlicher Kieferknochen,daran noch alle Zähne. D’Agosta streckte sich,damit er den Knochen mit dem unverletztenArm packen konnte. Dann drehte er sich zurSeite und rammte die Zähne des Knochens ineinen Spalt im Nischendach. Indem ergleichzeitig zog und sich wand, gelang es ihmschließlich, sich aus der Nische zu befreien.Ungeheuer erleichtert kroch er heraus undrichtete sich schwer atmend in der Kammer auf.Alles still. Offenbar hatten der Zombie und dieJagdgesellschaft kehrtgemacht, um sich mit denDemonstranten zu befassen.Er kehrte zum zentralen Gang zurück undversuchte mit Hilfe des Feuerzeugs die Längezu bestimmen. Er endete in einer Sackgasse.An beiden Seiten waren krude Grabkammern zusehen, sie waren aus dem gleichen schwerenLehm gegraben und mit Holzbalken verstärkt,sahen jedoch ganz anders aus als die mit Mörtelgefugten Natursteinwände auf dem Video.Streng genommen ähnelte nichts, was erbislang gesehen hatte, dieser Bauweise – allein

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schon das Gestein war anders. Er musstewoanders suchen.Er ging den gleichen Weg zurück, wobei er amBrunnen vorbeikam, und fand sich in derNekropole wieder. In die Wände waren vieleEisentüren eingelassen, die offenbar inFamiliengräber führten. Er untersuchte jedeeinzelne Tür, fand aber keinerlei Anzeichen vonNora.Zusehends frustriert ging er den Weg zurück,wobei er immer wieder eine falsche Richtungeinschlug und zurückgehen musste, undgelangte schließlich wieder in die zentraleGrabkammer. Dort versuchte er, sich dieAnlage der Kellerräume zu vergegenwärtigen,durch die er sich halb von Sinnen bewegt hatte.Die Türen in allen vier Himmelsrichtungen; eineführte zu den Katakomben, eine andere zu demSackgassengang, aus dem er vor kurzemerschienen war. Damit blieben noch zwei übrig,die er ausprobieren musste.Er wählte eine aufs Geratewohl aus.Wieder mündete die Tür in einen Tunnelgang.

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Sofort kam ihm dieser Gang vielversprechendervor. Die Wände bestanden aus grobgehauenem, mit Mörtel gefugtem Naturstein.Nicht ganz so wie das Gestein auf dem Video,aber näher dran.Ein übler Gestank waberte den Korridorhinunter. D’Agosta blieb stehen und schnipptekurz sein Feuerzeug an. Der Gang warschmutzig, das Gestein mit Schlamm bespritztund mit starkem Schimmel- und Pilzbefallversehen, der Boden gab unangenehm unterden Füßen nach.Während er den Lichtschein des Feuerzeugsumherschwenkte, hörte er aus dem vor ihmliegenden Dunkel einen leisen, gedämpftenSchrei – kurz, hoch und angstvoll …Nora?Das Feuerzeug vor sich ausgestreckt, spurteteer den Gang hinunter auf das Geräusch zu.

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Plock vorneweg, rannten die Demonstrantendurch die Kirche und stießen dabei Altäre undmit Fetischen geschmückte Schreine um. Als ihrPriester gefallen war, hatten sich dieverwirrten Gemeindemitglieder, die deutlich inder Unterzahl und vorübergehend völlig ratloswaren, zurückgezogen. Plock erkannte, dassseine Leute die Initiative ergriffen hatten;entscheidend war, sie auch zu behalten.Während die Menge ihm folgte, stieß er zumzentralen Altar vor. Da stand derblutverschmierte Pfahl, an dem offenkundig dieTieropferungen vollzogen wurden – und da wareine frische Blutlache. Es war empörend, eineSchande!»Zerstört diesen Ort der Metzelei!«, rief Plock,während die Menschenmenge auf das Podiummit dem Altar und dem Schlacht-Pferch stürmte,

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den Pfahl niederriss, Schatullen aufbrach undReliquien zu Boden warf.»Ketzer!«, donnerte die tiefe Stimme vonBossong. Er stand über dem gefallenenPriester, der bewusstlos und von dem Pöbelübel niedergetrampelt worden war. Bossongwar auch nicht ganz unverletzt geblieben –während er den Mittelgang entlangschritt, kamein schmales Rinnsal Blut auf seiner Stirn zumVorschein.Die Stimme des Anführers des Ville wirkteelektrisierend auf die Gemeindemitglieder inihren Roben. Sie wichen nicht mehr weiterzurück, sondern verharrten in einer ArtStillstand. In einigen Händen tauchten Messerauf.»Schlächter!«, schleuderte einer derDemonstranten Bossong entgegen.Plock erkannte, dass er die Menschenmenge inBewegung halten, sie aus der Kirche hinausund in das übrige Ville führen musste. EineKonfrontation hier konnte schnell in Gewaltumschlagen.

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Plötzlich stürzte ein Gemeindemitglied miteinem Aufschrei vor und stach mit einemMesser auf einen Demonstranten ein. Einkurzer, gewalttätiger Kampf folgte, bei demeinzelne aus beiden Gruppen dem eigenenKämpfer zu Hilfe eilten. Ein Schrei ertönte;jemand war niedergestochen worden.»Mörder!«»Killer!«Das Knäuel aus lauter Menschen – brauneRoben und Khaki und Pima-Baumwolle – rangund wirbelte, trat mit Füßen und schlug mitFäusten. Ein geradezu surrealer Anblick.Binnen Augenblicken lagen mehrere Personenblutend auf dem Steinboden.Auf einmal schrie Plock: »Die Tiere!« Er konntesie hören und riechen, ein gedämpfter Tumulthinter einer Tür am Kopfende des Altars. »Hierentlang! Findet und befreit die Tiere!« Errannte auf die Tür zu und donnerte dagegen.Die Speerspitze der Demonstranten warf sichgegen die Tür, wieder erschienen dieRammböcke. Krachend und splitternd gab die

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Tür nach, und die Demonstranten strömtendurch einen steinernen Durchgang, aber einschweres gusseisernes Gitter versperrte ihnenden Weg. Auf der anderen Seite sahen sie einBild wie aus der Hölle: Dutzende von jungenTieren, Lämmer, Kälber, sogar Welpen undKätzchen, eingesperrt in eine riesigeSteinkammer, der Boden bestreut mit einerdünnen Strohschicht. Die Kätzchen stimmtenein jämmerliches Miauen an, die Lämmerblökten, die Welpen winselten.Einen Moment lang war Plock sprachlos vorEntsetzen. Das war schlimmer als alles, was ersich vorgestellt hatte.»Öffnet das Tor!«, rief er. »Lasst die Tiere frei!«»Nein!«, rief Bossong, der sich mühsam nachvorn durchkämpfte, aber er wurdebeiseitegeschoben und zu Boden gestoßen.Die Rammböcke donnerten gegen das eiserneGitter, das sich jedoch als sehr vielwiderstandsfähiger als die hölzerne Tür erwies.Wieder und wieder schlugen die Männer gegendas Eisen, während die Tiere zurückschraken

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und vor Angst schrien.»Ein Schlüssel! Holt einen Schlüssel!«, riefPlock. »Er muss einen haben.« Er zeigte aufBossong, der sich aufgerappelt hatte und mitmehreren Demonstranten rang.Die Menge warf sich auf Bossong, erverschwand in dem Wirbel, man hörteKleiderstoff reißen.»Hier!« Ein Mann hielt einen Eisenring mitSchlüsseln daran in die Höhe. Rasch wurde derEisenring nach vorn durchgereicht, Plocksteckte die schweren, uralten Schlüssel insSchloss, einen nach dem anderen. Mit einemklappte es. Er stieß das Tor weit auf.»Freiheit!«, rief er.Die Vorhut der Demonstranten stürmte in dieKammer, scheuchte die Tiere hinaus undversuchte, sie zusammenzuhalten. Aber sobalddie Tiere das Tor passiert hatten, stoben sie vorpanischem Entsetzen auseinander und ranntenumher, während ihre Schreie in dem großenKirchenraum widerhallten.Die Weichen waren gestellt, die Kirche

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verwandelte sich in eine Höllenszene ausKämpfen und Fliehen, in der die Demonstranteneindeutig die Oberhand gewannen. Die Tiereliefen den Mittelgang entlang, sprangen davon,als die Gemeindemitglieder sie zu fassenversuchten, und verschwanden rasch durchjede Tür und Öffnung, die sie finden konnten.»Jetzt gilt’s!«, schrie Plock. »Treibt dieseSchlachter hinaus. Treibt sie hinaus! Sofort!«

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Das Schnellboot der Polizei mit Pendergast amSteuer raste mit fünfzig Knoten den HarlemRiver hinunter und bog um die Nordspitze vonManhattan Island in Richtung Süden. Esbrauste unter mehreren Brücken hindurch, derWest-207th-Street-Brücke, der George-Washington-Brücke, der Alexander-Hamilton-Brücke, der High Bridge, der Macombs-Dam-Brücke, der 145th-Street-Brücke und schließlichder Willis-Avenue-Bridge. Hier, in der Nähe desZusammenflusses mit dem East River,verbreiterte sich der Harlem River zu einerBucht. Doch anstatt in den East Rivereinzubiegen, wendete Pendergast das Bootunter lautem Jaulen und steuerte es in denBronx Kill, einen schmalen, übelriechendenSeitenarm, der die Bronx von Randall’s Islandtrennte.

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Er reduzierte die Geschwindigkeit auf dreißigKnoten und steuerte den Bronx Kill – eher einoffener Abwasserkanal und eine Müllkippedenn ein schiffbarer Wasserweg – hinunter, dasBoot warf braunes Kielwasser auf, aus dem derGeruch von Marschgras und Abwässern wie einPesthauch aufstieg. Vor ihm ragte eine dunkleEisenbahn-Bockbrücke empor, und als erdarunter hindurchfuhr, erzeugte derDieselmotor in dem kurzen Tunnel einenunheimlichen Halleffekt. Die Nacht hatte dieöde Stadtlandschaft eingehüllt. Pendergastpackte den Griff des Scheinwerfers und richteteden Lichtstrahl auf verschiedene vor ihmliegende Hindernisse, während das Boot Slalomfuhr zwischen den halb versunkenen Rümpfenalter Schuten, den verrotteten Pfeilern längstverschwundener Brücken und den unterWasser liegenden Skeletten uralter U-Bahn-Waggons. Plötzlich verbreiterte sich der BronxKill wieder zu einer breiten Bucht und mündetein das obere Hell Gate und das Nordende desEast River. Direkt vor ihm erhob sich die riesige

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Gefängnisanlage auf Rikers Island, dieberüchtigten x-förmigen Zementtürme, in eingrelles Sodiumlicht getaucht, hoben sichdeutlich gegen den dunklen Himmel ab.Pendergast erhöhte die Geschwindigkeit.Schnell ließ das Boot Manhattan hinter sich.Die Skyline von Midtown Manhattan wich immerweiter zurück, während er den East River inRichtung der Bucht von Long Islandhinaufdonnerte. Jetzt, als er zwischen demviktorianischen Leuchtturm Stepping StonesLight und City Island hindurchfuhr, bogPendergast in die Bucht und gab Vollgas. DerWind heulte vorbei, die Gischt wirbelte auf, daskleine Boot bretterte über die Wellen undschwankte von einer Seite zur anderen,während es den Sund hinaufraste und derVollmond sich auf der großen Wasserflächeschimmernd spiegelte. Es war ein ruhigerAbend, nur ein paar Boote waren auf demWasser. Die Kanalbojen glänzten matt imMondlicht.Jede Minute zählte. Möglicherweise war er

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schon zu spät dran.Als der Leuchtturm von Sands Point in Sichtkam, steuerte er das Boot Richtung Ufer,überquerte die breite Mündung von Glen Coveund steuerte geradewegs auf das Festland aufder anderen Seite zu, während er gleichzeitigden Blick auf die Villen am Ufer, die eine nachder anderen an ihm vorüberzogen, gerichtethielt. Ein langer Anleger an einem bewaldetenUfer kam in Sicht, und Pendergast steuertedarauf zu. Hinter der Anlegestelle lag einedunkle, große Rasenfläche, die sich bis zu denTürmchen und Schindelgiebeln eines großenAnwesens hinauf erstreckte.In beängstigendem Tempo steuerte Pendergastden Anleger an, schaltete die Motoren imletzten Moment in den Rückwärtsgang undwendete das Boot so, dass es mit dem Bug inden Sund zeigte. Noch bevor er das Bootgestoppt hatte, rammte er einen Fenderzwischen Steuerrad und Gashebel, sprang vomBug auf den Anleger und lief auf die dunkle,stille Villa zu. Das führerlose Boot, Gashebel im

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Vorwärts-Leerlauf, tuckerte vom Anleger fortund verschwand schon bald in den Weiten derBucht von Long Island, während die roten undgrünen Fahrtlichter allmählich in derDunkelheit entschwanden.

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Captain Laura Hayward blickte wütend auf diezerschmetterte Tür, die in den dunklen Schlunddes Ville führte, und hörte den Lärm des Chaosdarin. Die Demonstration war professionellgeplant worden. Ihre Befürchtungen hattensich bewahrheitet. Das hier war kein buntzusammengewürfelter Haufen, sondern eineGruppe, die alles gut vorbereitet hatte und esernst meinte. Chislett war hoffnungslosüberwältigt und ausgetrickst worden. Fünfentscheidende Minuten lang, während der sichdie Krawallmacher wie aus dem Nichtsversammelt hatten, war er wie betäubtgewesen, hatte nichts getan, außer ohnmächtigstaunend herumzustehen. Kostbare Minutenwaren verstrichen, Minuten, in denen diePolizei zumindest das Vorrücken hätteverlangsamen oder einen Keil in die Spitze der

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Demonstration schieben können. Und alsChislett sich schließlich aufraffte, brüllte ermehrere widersprüchliche Befehle, die unterseinen Beamten nur noch mehr Verwirrungstifteten. Hayward konnte mehrere Polizisten inden vorgerückten Posten sehen, die dieAngelegenheit jetzt in die eigene Hand nahmenund, mit Tränengas und Anti-Aufstand-Ausrüstung versehen, auf die Eingangstür desVille zurannten. Aber es war zu spät: DieDemonstranten waren schon drin, was eineäußerst schwierige und komplizierte taktischeSituation ergab.Doch darüber konnte sich Hayward nicht denKopf zerbrechen. Ihre Gedanken galtenPendergast und seinem Anruf. D’Agostaschwebe möglicherweise in Lebensgefahr,hatte er gesagt. Und Pendergast neigte nichtzu Übertreibungen.Ihre Miene verfinsterte sich. Es war nicht daserste Mal, dass Vinnies Zusammenarbeit mitPendergast in einem Desaster geendet hatte –für Vinnie natürlich. Pendergast schien jedes

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Mal ungeschoren davonzukommen. Wie auchjetzt, als er Vinnie sich selbst überließ.Sie verdrängte ihren Ärger. Später war auchnoch Zeit, Pendergast zur Rede zu stellen. Jetztmusste sie handeln.Sie näherte sich dem Ville, wobei sie dieKonfrontation, die in der Kirche stattfand, zuumgehen versuchte. Das Haupteingangstorstand weit offen, ein flackerndes Licht drangdaraus hervor. Im Näherkommen sah sie, dassPolizisten ins Ville eindrangen, Schlagstöckeund Taser in den Händen. Die eigene Waffegezückt, ging sie rasch hinter ihnen hinein.Hinter der zerschmetterten Tür lag eine uralte,schmale Gasse, die beidseits von schiefenHolzhäusern gesäumt war. Sie folgte denuniformierten Beamten an dunklenTüreingängen und Fenstern mit geschlossenenLäden vorbei. Von vorn drang der LärmTausender Stimmen herüber.Sie bog um eine Ecke und betrat einen mitNatursteinen gepflasterten Platz, hinter demdie massige Kirche aufragte. Hier bot sich ihr

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ein derart bizarrer Anblick, dass sie abruptstehen blieb. Der Platz war ein einzigesPandämonium, ein felliniesker Albtraum:Männer in dunkelbraunen Roben flohen aus derKirche, einige bluteten, andere wehklagtenoder schrien. Demonstranten schlugenunterdessen alles kurz und klein, liefen in derGegend herum, schlugen Scheiben ein undzertrümmerten alles, was sie sehen konnten.Aus dem Inneren der Kirche kam einunbeschreiblicher Lärm. Zahlreiche Tiere –Schafe, Ziegen, Hühner – rannten auf dem Platzherum, brachten die herumlaufenden Gestaltenins Straucheln und fügten ihr eigenes Blökenund Quieken dem allgemeinen Lärm hinzu. Unddazwischen standen noch mehr Polizisten,spazierten ungläubig umher, ohne Befehle,ohne Plan, unsicher und verwirrt.Das brachte nichts. Sie musste den Eingang zuden Kellerräumen finden, in denen Vinnie nachNora Kelly suchte.Sie wandte sich von dieser Irrenhausszene ab,verließ den Platz, lief eine weitere dunkle

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kopfsteingeflasterte Gasse hinunter undrüttelte dabei an Türen. Viele warenverschlossen, aber eine führte in irgendeine ArtWerkstatt, eine Gerberei oder primitiveSchneiderwerkstatt. Sie blickte sich rasch um,fand jedoch keine Kellertür.Sie kehrte zur Gasse zurück, ging weiter undprobierte wieder, welche Türen unverschlossenwaren. Einige Gebäude weiter gab eineschwere Holztür nach, Hayward ließ sich hineinund schloss die Tür hinter sich. Sofort warendie Rufe und Tierschreie leiser.Auch dieses Gebäude war menschenleer. Eshandelte sich offenbar um eine Metzgerei. Sieging an einer Reihe von Glasvitrinen vorbei inein Hinterzimmer und erspähte eine Treppe, diein ein Kellergeschoss führte. Sie zog eine kleineTaschenlampe aus der Jackentasche, schaltetesie ein und stieg hinunter. Unten an der Treppebefand sich ein kühler Raum mit uraltenZinkverkleidungen: eine Speisekammer.Schinken, Rippenstücke, dicke Würstchen undSchweinehälften hingen zum Trocknen von der

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Decke. Sie bewegte sich vorsichtig zwischenihnen, versetzte aber trotzdem ein, zwei inleichte Schwingung und ließ den Lichtscheinder Taschenlampe über den Boden und dieWände streichen. Hinten, im rückwärtigen Teilder Speisekammer, befand sich eine Tür, die zueiner weiteren Treppe – Wände aus Natursteinund offenbar sehr alt – führte. Einunangenehmer Geruch schlug ihr aus der Tiefeentgegen. Hayward zögerte, sie erinnerte sichdaran, was Pendergast ihr gesagt hatte: EinWesen, das früher einmal ein Mensch gewesenwar und sich in etwas äußerst Gefährlichesverwandelt hat. Ich wiederhole: Vincentbraucht Hilfe. Er könnte in Lebensgefahrschweben.Er könnte in Lebensgefahr schweben …Ohne weiter zu zögern, leuchtete Hayward mitihrer Taschenlampe in den Treppengang undbegann mit vorgehaltener Waffe tiefer insDunkel hinabzusteigen.

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Alexander Esteban bog von der Pond Road ab,fuhr durch das automatische Tor und dannweiter auf der makellosen, mit Kieselbestreuten Zufahrt zwischen dendickstämmigen Eichen, die zu seinemherrschaftlichen Haus führte. Er fuhr langsamund genoss das Gefühl, nach Hausezurückzukehren. Neben ihm, auf dem Sitz, lagein schlichtes, zweiseitiges Kalbsleder-Dokument, unterzeichnet, mit dem Siegel NewYorks versehen, notariell beglaubigt undjuristisch unangreifbar.Ein Schriftstück, das ihn ohne Zweifel, nach einpaar rechtlichen Auseinandersetzungen, zueinem der reichsten Männer der Welt machenwürde.Es war spät, fast 21 Uhr, aber er hatte keineEile mehr. Kein weiteres Planen, Regieführen,

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Produzieren, Ausführen. Es hatte praktischjeden Moment seines Lebens bestimmt, fürmehr Monate, als er zählen konnte. Aber daslag jetzt alles hinter ihm. Die Show war perfektgelaufen, zu stehendem Applaus, und jetzt bliebnur noch, ein kleines ungeklärtes Problem zulösen. Ein letzter Vorhang sozusagen, eineletzte Verbeugung.Während der Wagen vor der Scheune zumStehen kam, spürte Esteban, dass seinBlackberry vibrierte. Verärgert warf er einenBlick darauf. Der hintere Kücheneingang zeigteeinen Alarm an. Sein Rücken wurde steif. Sicherein Fehlalarm – so etwas passierte oft aufgroßen Anwesen, einer der Nachteile, wennman ein derart umfassendes Sicherheitssystemsein Eigen nannte. Trotzdem, er musste dasichergehen. Er zog aus dem Handschuhfachseine bevorzugte Waffe hervor, eine BrowningHi-Power 9 mm mit Tangentialvisier. Erüberprüfte das Magazin – es war voll mitdreizehn Parabellum-Patronen. Er steckte dieWaffe ein, stieg aus und trat in die

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wohlriechende Nachtluft. Er prüfte den frischgeharkten Kies auf der Auffahrt – keinerleiSpuren von Autoreifen. Dann schlenderte erüber die weite Rasenfläche, blickte auf denverlassenen Anleger, auf die blinkenden Lichterauf der anderen Seite der Bucht hinunter undfand alles in Ordnung. Mit der Waffe in derHand ging er am Gewächshaus vorbei, betrateinen ummauerten Garten und näherte sichdem Hintereingang zur Küche, demjenigen, andem der Alarm ausgelöst worden war. Erdrückte die Klinke hinunter. Die Tür warverschlossen. Das alte Schlüsselloch ausMessing zeigte keinerlei Anzeichen vonGewalteinwirkung, keine Kratzer auf demGrünspan, keine zerbrochenen Scheiben,nichts, was auf einen Einbruch hindeutete.Also ein falscher Alarm.Er sah auf die Uhr. Beinahe freute er sich aufdas, was bevorstand. Ein perverses Vergnügen,sicher, aber ein uraltes. Ein tief in den Geneneingeschriebenes Vergnügen, die Lust zumTöten. Er hatte es schon einmal getan und

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fand, dass es eine seltsam kathartischeErfahrung war. Vielleicht hätte er ja, wäre ernicht Filmregisseur geworden, einenausgezeichneten Serienmörder abgegeben.Er kicherte ob dieser kurzen Reflexion, holteseinen Schlüssel hervor, öffnete die Küchentürund tippte den Code ein, wodurch er dasAlarmsystem im Haus ausschaltete. Doch als erdurch die Küche auf die Tür zum Kellergeschosszuging, zögerte er. Warum jetzt der falscheAlarm? So etwas passierte normalerweise beiGewittern oder Stürmen. Es war eine ruhige,klare Nacht, es ging kein Windhauch. Handeltees sich um einen Kurzschluss, eine zufälligestatische Entladung? Er war unsicher, einGefühl, das man – wie er gelernt hatte – niemalsignorieren sollte.Anstatt ins Kellergeschoss hinabzusteigen,wandte er sich um und ging leise durch diedunklen Räume, bis er in sein Arbeitszimmergelangte. Er startete den Mac, gab dasPasswort ein und loggte sich in dieInternetseite ein, die seine

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Überwachungskameras steuerte. Wäre jemanddurch die Küchentür ins Haus gekommen, dannhätte er den Rasen hinter dem altenGewächshaus überqueren müssen, wo eineKamera die betreffende Person eingefangenhätte. Es gab praktisch keine Möglichkeit, insHaus zu gelangen, ohne gesehen zu werden,aber wenn man es versuchen wollte, so wäredie Küchenseite des Hauses mit demummauerten Garten und dem verfallenenGewächshaus vielleicht der schwächste Punktim Gesamtsystem. Er tippte das zweitePasswort ein, das Video-Bild erschien auf demSchirm. Als er auf seinen Blackberry schaute,sah er, dass der Alarm um 21 Uhr 41 ausgelöstworden war. Er gab »21:36« in das digitaleZeitfeld ein, wählte die betreffendeÜberwachungskamera aus und schaute sich dieAufzeichnung an.Es war weit nach Sonnenuntergang, darum wardas Bild dunkel – der Nachtsicht-Modus warnoch nicht aktiviert. Er hantierte mit derSteuerung und vergrößerte das Bild, so weit es

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ging. Er wunderte sich über die eigeneParanoia; er kümmerte sich mal wieder um jedeKleinigkeit. Ironisch lächelnd dachte er, dass esseine schlechteste, aber auch seine besteEigenschaft war. Und doch blieb das Gefühl derUnsicherheit bestehen.Und da sah er einen dunklen Schatten durcheine Ecke des Bildschirms huschen.Esteban hielt den Film an, ging zurück und ließihn in Zeitlupe vorlaufen. Da war sie wieder,eine Gestalt in Schwarz, die ganz am Randdurch das Bild flitzte. Es überlief ihn kalt. Sehr,sehr schlau. Hätte er versucht, sich ins Haus zuschleichen, hätte er es genauso angestellt.Er hielt die Aufnahme an und ging nochmalszurück, Ausschnitt um Ausschnitt. Der laufendeMann war zwar nur in sechs Einzelbildern zusehen, kürzer als eine Fünftelsekunde, aber diehochauflösende Kamera hatte ihn guteingefangen; im mittleren Frame hatte er dasbleiche Gesicht und die blassen Hände desEindringlings kurz erkennen können.Esteban stand abrupt auf – und stieß seinen

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Stuhl um. Das war doch der FBI-Agent, der, derihn vor einer Woche aufgesucht hatte. Kurzdrohte eine Welle der Panik ihn zuüberwältigen, eine erstickende Enge seineBrust zu packen. Bislang war alles so perfektgelaufen – und jetzt das. Wieso wusste derMann Bescheid? Wieso wusste der MannBescheid?Mit äußerster Willenskraft atmete er aus, umseine Panik zu bekämpfen. Unter Druck klardenken zu können, das war eine seiner Stärken,etwas, das er im Filmgeschäft gelernt hatte.Wenn etwas schiefging am Set, mitten in einemDreh, und alle zu tausend Dollar die Minuteherumstanden und darauf warteten, dass er dieLösung fand, dann musste er in Sekundenpräzise Entscheidungen treffen.Pendergast. So hieß dieser FBI-Agent. Er warallein. Seinen kräftigen Adlatus, den mit demitalienischen Namen, hatte er zurückgelassen.Warum? Es bedeutete, dass er aus einerAhnung heraus hier war, als Freiberuflersozusagen. Hätte der Mann hieb- und stichfeste

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Beweise, dann wäre er mit einem mobilenEinsatzkommando gekommen. Das war Punkteins.Punkt zwei: Pendergast wusste nicht, dass eraufgeflogen war. Vielleicht hatte er ihn,Esteban, ja im Auto kommen sehen odervermutet, dass er kommen würde. Aber erwusste nicht, dass er hier war. Das verliehEsteban einen deutlichen Vorteil.Punkt drei: Pendergast kannte nicht die Anlagedes Anwesens, vor allem nicht die weitläufigenund verwirrenden Kellerräume. Esteban kanntesie mit geschlossenen Augen.Er blieb am Schreibtisch sitzen und dachteangestrengt nach. Pendergast würdegeradewegs auf das Untergeschoss zusteuern –da war er sicher. Er suchte nach der Frau.Vermutlich war er auf der Treppe in der Küchenach unten gegangen, ganz in der Nähe derTür, durch die er hereingekommen war. Undzweifellos befand er sich in diesem Augenblickdort unter dem Haus, stöberte herum zwischenden alten Filmrequisiten, arbeitete sich durch

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die südlichen Kellerräume. Es würdemindestens fünfzig Minuten dauern, bis er sichdurch den ganzen Krempel zum Tunnelvorgearbeitet hätte, der zur Scheune verlief.Zum Glück befand sich die Frau genau dort, imKeller unter der Scheune.Abrupt traf Esteban eine Entscheidung. Ersteckte die Browning hinter den Gürtel, standauf und ging raschen Schritts zur Haustürhinaus und über den Rasen zur Scheune.Während er die Auffahrt überquerte, erschienein kleines Lächeln auf seinem Gesicht, dennihm war eine Idee gekommen. Der arme Mannhatte ja keine Ahnung, in was er dahineingeraten war. Dieses kleine Drama würdeein reizendes Ende haben – ein sehr reizendes.Nicht unähnlich dem in seinem letzten Film,Ausbruch aus Sing Sing. Schade, dass er dasnicht filmen konnte.

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Rich Plock stand in dem chaotischen Dunkel,die Rufe und Schreie der Gemeindemitgliederund Demonstranten vermischten sich mit denSchreien der Tiere, dem Klappern der Rasselnund dem Schlagen der Trommeln. Nach derErstürmung der Kirche hatten sich dieGemeindemitglieder nur kurz versammelt, undjetzt zogen sie sich wieder zurück, viele flohendurch Seitentüren in die schmalen,gewundenen Gassen und das Gewirr derGebäude, die das Ville bildeten.Für Plock war das eine unerwartete Wendungder Ereignisse, ja sogar eine kleineEnttäuschung. Sie hatten die Tiere erfolgreichbefreit, aber jetzt stellte er fest, dass es keinenOrt gab, um sie zusammenzutreiben, keinenOrt, um sie unterbringen zu können. Dabeiliefen sie wie verrückt in der Gegend herum,

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die meisten waren durch die zerschmettertenTüren gesprungen und auf dem Kirchhofverschwunden. Daran hatte er nicht gedacht,und jetzt wusste er nicht, was er mit denLeuten aus dem Ville anstellen sollte. Sein Planwar gewesen, die Bewohner zu vertreiben, aberer hatte nicht recht bedacht, wie riesig,verwirrend, weitläufig das Gelände war.Außerdem hatte er nicht vorausgesehen, dassdie Bewohner so plötzlich in Deckung rennenund in die Tiefen des Ville fliehen würden,anstatt einen längeren Kampf zu liefern, indessen Zuge sie aus ihren Gebäudenhinausgetrieben werden konnten. Sie warenwie die alten Indianer und entzogen sich jederdirekten Konfrontation.Er würde sie aufstöbern müssen.Und während sie die Bewohner aufstöberten,konnte man ja auch nach der gekidnapptenFrau suchen. Denn allmählich dämmerte Plock:Falls sie die Frau nicht retteten, was dieErstürmung des Ville rechtfertigen würde,dann würden sie, wenn alles vorbei war,

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womöglich – nein, mit Sicherheit – in argeSchwierigkeiten geraten. Sie würden durch dasVille ziehen, es säubern, reinen Tisch machen,die Schlachter aufstöbern, ihnen zeigen, dasssie nirgendwohin fliehen, kein Versteck findenwürden – und gleichzeitig die Frau vor dem Todbewahren. Wenn sie das erreichten, würde dieöffentliche Meinung ganz auf ihrer Seite sein.Zudem würde es eine Art juristischeRechtfertigung liefern. Wenn nicht …Noch immer strömten die Demonstranten durchdas zerschmetterte Portal der Kirche undfüllten den Kirchenraum, während die letztender Ville-Bewohner verschwanden. Nur einerblieb, der Anführer, Bossong, der wie eineStatue dastand. Unverrücklich, immer nochblutend an der Stirn, schaute er dem Treibenzu, das sich da vor seinen Augen abspielte.Während die letzten Demonstranten in dieKirche strömten, stieg Plock auf das Podest.»Leute!«, rief er und hob die Hände.Die Leute verstummten. Plock versuchte,Bossong zu ignorieren, der in der Ecke stand

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und auf die Protestler starrte; seine bösePräsenz erfüllte den ganzen Raum.»Wir müssen zusammenbleiben!«, rief Plock.»Die Tierquäler sind abgetaucht – wir müssensie finden und aufscheuchen! Und vor allemmüssen wir die Frau retten!«Plötzlich meldete sich Bossong zu Wort. »Dashier ist unser Zuhause.«Plock wandte sich um; sein Gesicht war vorblanker Wut verzerrt. »Ihr Zuhause! Das hier istein Ort der Folter! Sie verdienen keinZuhause!«»Dies ist unser Zuhause«, wiederholte dieStimme leise. »Und so ehren wir hier Gott.«Wut erfüllte Plock. »So ehren Sie Gott? IndemSie hilflosen Tieren die Kehle durchschneiden?Indem Sie Menschen kidnappen und töten?«»Gehen Sie. Verschwinden Sie endlich, solangeSie es noch können.«»Oooh, jetzt habe ich aber Angst. Also, wosteckt die Frau? Wo haben Sie sieeingesperrt?«Die Menge kochte vor wütender Zustimmung.

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»Wir ehren die Tiere, indem wir sie zurErnährung … unseres Beschützers opfern. Mitdem Segen unserer Götter können wir …«»Ersparen Sie mir diesen Quatsch!« Plock bebtevor Empörung, während er den Mann in derRobe anschrie. »Sagen Sie Ihren Leuten, dasssie am Ende sind, dass sie besser von hierverschwinden. Andernfalls werden wir siehinaustreiben. Haben Sie das kapiert? GehenSie woanders hin mit Ihrer abartigen Religion!«Bossong zeigte mit erhobenem Finger aufPlock. »Ich fürchte, es ist bereits zu spät fürSie«, sagte er ruhig.»Ich mach mir gleich in die Hose!« Plockbreitete die Arme zu einer Willkommensgesteaus. »Schlagt mich zu Boden, Götter derTierfolterer! Macht schon! Nur zu.«Plötzlich war in einem der dunklen Querschiffeein Tumult zu hören, Unruhe kam unter denDemonstranten auf, ein Augenblick desZögerns entstand. Und dann kreischte jemand,und die Menge wich zurück gleich einerzurückflutenden Welle, Menschen drückten

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gegen die Menschen hinter ihnen, diewiederum die noch weiter hinten Stehendenzurückdrängten, als ein groteskes,missgestaltetes Geschöpf schwerfällig in dasschummerige Zwielicht trat. Plock blieb derMund offen stehen vor Entsetzen undUnglauben, als er das Wesen sah – aber nein,es war kein Wesen. Das war ein Mensch. Erstarrte auf die schorfigen Lippen, dieverfaulten Zähne, das breite, großflächigeGesicht, auf die blasse, schleimige Muskulaturunter den schmutzigen Lumpen. Die eine Handhielt ein blutiges Messer. Sein Gestank erfüllteden Raum, und dann legte das Wesen den Kopfin den Nacken und schrie wie ein verwundetesKalb. Das eine milchigblinde Auge rollte inseiner Höhle – dann fixierte es Plock.Es trat einen Schritt vor, dann zwei, dieOberschenkel bewegten sich mit einer Artlangsamer, kriechender Zielstrebigkeit. Plockerstarrte, stand wie angewurzelt da,außerstande, sich zu bewegen, wegzusehen, jazu sprechen.

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In der plötzlichen Stille war ein Rascheln vonStoff zu hören. Bossong kniete nieder, neigteden Kopf und streckte die Hände in betenderHaltung aus.»Envoie«, sagte er leise, fast traurig.Sofort stürmte das Mann-Wesen in einer ArtKrebsgang auf das Podest zu, sprang darauf,riss den fauligen Mund auf und stürzte sich aufPlock.Schließlich fand Plock seine Stimme wieder. Erwollte aufschreien, als das Wesen ihn zerriss,aber es war schon zu spät, als dass aus seinerdurchtrennten Luftröhre noch Laute drangen,und so starb er in qualvoller Stille.Es war sehr, sehr schnell vorbei.

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Pendergast leuchtete mit seiner LED-Lampe imKellergeschoss umher. Der schmale Lichtstrahlenthüllte ein Chaos bizarrer Objekte, aber erignorierte sie und richtete sein Augenmerk aufdie Wand des Kellers, die aus flachen, rauhenGranitquadern bestand, übereinandergesetztund sorgfältig mit Mörtel zusammengefügt.Seine Züge strafften sich vor Erkennen.Schließlich konzentrierte er sich auf dasGerümpel, das überall herumlag. Vor ihm ragteein ägyptischer Obelisk aus rissigem Gipsempor, feucht und voller Spinnweben, in denensich Mehltau verfangen hatte. Daneben standder abgesägte Turm einer mittelalterlichenBurg, aus verrottetem Sperrholz, mitsamtZinnen und Pechnasen, vielleicht ein Zehntelder Originalgröße. Daneben befand sich einHaufen zerbrochener Gipsstatuen, gestapelt

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wie Klafterholz, in denen Pendergast kleineKopien des David, der Nike von Samotrake undder Laokoon-Gruppe erkennen konnte; dieArme und Beine und Köpfe waren alleverheddert, abgebrochene Finger lagen überallauf dem Betonboden herum. Dann wieder fieldas Licht seiner Taschenlampe auf einenFiberglas-Hai, mehrere Plastik-Skelette, eineprimitive Stammes-Reliquie, geschnitzt ausStyropor, sowie ein menschliches Gehirn ausGummi, aus dem ein Stück herausgebissen war.Wegen des Gerümpels, das überall herumlag,kam er nur schlecht voran, außerdemverhinderte es, dass er das wahre Ausmaß derunterirdischen Räume abschätzen konnte.Während er sich durch den gespenstischenStapel aus weggeworfenen Filmrequisiten –denn darum handelte es sich ohne Zweifel –bahnte, hielt er die Taschenlampe tief, dabeibewegte er sich möglichst schnell und leise.Obwohl die Requisiten kreuz und quer undohne einen Hinweis auf eine erkennbareOrdnung herumlagen, waren sie und auch der

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Betonboden, auf dem sie lagen, ungewöhnlichsauber und staubfrei, was von einemübermäßigen Interesse seitens Estebanszeugte.Der Lichtschein fiel mal dahin und mal dorthin,während Pendergast tiefer in diesesDurcheinander von Hollywood-Andenkenvordrang. Die klaustrophobischenunterirdischen Räume verzweigten sichweiterhin, Raum für Raum, sie erstreckten sichüber den Grundriss des derzeitigen Baushinaus, in alle Arten von seltsamen undungewöhnlichen Ecken und Winkeln, jeder mitalten Requisiten in verschiedenen Stadien derBaufälligkeit und des Verfalls, die meisten ausden großen Historienfilmen, für die Estebanbekannt war. Allmählich kam der KellerPendergast endlos vor. Er musste zu einemälteren, größeren Gebäude gehört haben, daseinst auf Estebans Anwesen stand.Esteban. Er würde bald nach Hause kommen,wenn er es nicht bereits getan hatte. Die Zeitverstrich – kostbare Zeit, die Pendergast auf

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keinen Fall verschwenden durfte.Er betrat den nächsten Kellerraum – einstgehörte er offenbar zu einem Räucherhaus,jetzt war er ausgestattet mit einem Folterstuhl,einem Galgen, einem Pranger und einerspektakulär realistischen Guillotine aus derZeit der Französischen Revolution, Klinge kurzvor dem Herabsausen, der Korb darunter mitmehreren abgetrennten Wachsköpfen gefüllt,die Augen offen, die Münder zum Schreiaufgerissen.Er ging weiter.Er erreichte das Ende des letzten Kellerraumsund näherte sich einer rostigen Eisentür,unverschlossen und einen Spaltbreit offen. Erschob sie auf und wunderte sich, dass sich dieschwere Tür leise in geölten Angeln bewegte.Ein langer, schmaler Tunnelgang erstrecktesich ins Dunkel – ein Tunnel, der auf den erstenBlick aus dem rohen Erdreich gegraben zu seinschien. Pendergast trat einen Schritt vor, legtedie Hand an eine Wand – und stellte fest, dasses sich gar nicht um Erde handelte, sondern um

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Gips, so angestrichen, als handelte es sich umErde. Noch eine Filmrequisite, nachgerüstet zuetwas, das offenbar ein älterer Tunnel gewesenwar. Aus der Richtung, in die der Tunnelverlief, folgerte Pendergast, dass er in dieScheune führte. Derartige Tunnelgänge, diedas Haupthaus und die Scheune verbanden,waren auf den Höfen des 19. Jahrhunderts einverbreitetes Merkmal.Er leuchtete mit der Taschenlampe dendüsteren Gang hinunter. Hier und da war derfalsche Gips abgeblättert, dahinter kamen diegleichen gestapelten Granitsteine zumVorschein, mit denen das Untergeschoss desHauses errichtet worden war – und die im Videovon Nora zu sehen waren.Vorsichtig ging er den Tunnelgang hinunter.Sollte Nora hier auf dem Gelände festgehaltenwerden – und er war sich da sicher –, dannmusste sie sich in einem Raum unterhalb derScheune befinden. Esteban betrat die Scheune durch die

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Seitentür. Mit leisen Schritten bewegte er sichin dem riesigen Raum, in dem es nach Heu undaltem Gips roch. Rings um ihn herum ragten dieRequisiten auf, die er gewissenhaft gesammeltund eingelagert hatte, unter großen Kosten,aus zahlreichen Filmen. Er hatte sie aussentimentalen Gründen aufbewahrt, die er sichnie hatte erklären können. Wie alleFilmrequisiten waren auch sie in aller Eilegebaut worden, mit Klebstoffzusammengeklatscht, dazu gedacht, nur solange zu halten, wie die Dreharbeiten dauerten.Jetzt verrotteten sie zusehends. Und dennochfühlte er sich tief verbunden mit ihnen, ja, erkonnte es nicht ertragen, sich von ihnen zutrennen und zu sehen, wie sieauseinandergebrochen und fortgeschafftwurden. So manchen schönen Abend hatte erzusammen mit ihnen verbracht, als er zwischenihnen umherschlenderte, einen Cognac in derHand, sie berührend, sie bewundernd, sichliebevoll an die glorreichen Tage seinerKarriere erinnernd.

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Jetzt dienten die Requisiten einemungewöhnlichen Zweck: Sie sollten diesen FBI-Agenten aufhalten, ihn beschäftigen undablenken und zugleich ihm selbst helfen, seineBewegungen zu verbergen.Esteban schlängelte sich durch die Requisitenzur Rückseite der Scheune, wo er eine Eisentürentriegelte. Eine Treppe führte in ein kühlesDunkel hinab, in die weitläufigenunterirdischen Räume der Scheune – einstmalsdie Obstkeller, Käsereifungsräume,Rübenkeller, Räucherkammern und Weinkellerdes großen Hotels, das an dieser Stellegestanden hatte. Selbst diese Räume, dietiefsten des Anwesens, waren bis oben voll mitRequisiten. Bis auf den alten Fleischkühlraum,den er ausgeräumt hatte, um dort die Fraueinzukerkern.Wie ein Blinder im eigenen Haus tastete sichEsteban durch die Unmengen an altenRequisiten, wobei er nicht einmal eineTaschenlampe einschaltete, bewegte sichsicher und selbstbewusst im Dunkel. Bald traf

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er am Eingang zum Tunnel ein, der von derScheune zum Haus führte. Jetzt schaltete er einkleines Taschen-LED an. In dem bläulichenSchein erblickte er die falschen Gipswände, dievon den Dreharbeiten zu Ausbruch aus SingSing übrig geblieben waren. Indem er genaudiesen Tunnelgang als Set genutzt hatte, hatteer eine ordentliche Stange Geld gespart. Rundsieben Meter hinter dem Tunneleingang wardie Wand von einer Sperrholzverkleidungverdeckt, aus der ein kleiner Eisenwinkelhebelhervorragte. Esteban inspizierte ihn kurz undstellte fest, dass er in gutem Zustand war. Eswar ein einfacher Mechanismus, er erfordertekeinen Strom, nur die Schwerkraft, damit erfunktionierte – im Filmgeschäft musstentechnische Vorrichtungen zuverlässig undleicht zu handhaben sein, denn es warwohlbekannt, dass alles, was kaputtgehenkonnte, unvermeidlich kaputtging, wenn dieKameras liefen und der Star endlich nüchternwar. Aus Neugier hatte er die Vorrichtung erstim vorherigen Jahr getestet – eine, die er selbst

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entworfen hatte – und dabei festgestellt, dasssie noch immer so gut funktionierte wie am Tag,als er die unsterbliche Fluchtszene des Filmsdrehte, der ihm beinahe einen Oscareingebracht hatte. Beinahe.Er errötete bei dem Gedanken an die nichtgewonnene Auszeichnung, schaltete dieTaschenlampe aus und lauschte. Ja, das warendie leisen Schritte des FBI-Agenten, der näherkam. Der Mann würde bald eine grauenhafteEntdeckung machen. Außerdem war esnatürlich schlicht unmöglich, dass er – egal, wieirrsinnig schlau er war – vorhersehen konnte,was ihm als Nächstes widerfahren würde.

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Harry R. Chislett, stellvertretender Polizeichefdes Bezirks Washington Heights North, standam zentralen Kontrollpunkt an der Indian Road,ein Funkgerät in jeder Hand. Obwohl er einerunvorhergesehenen und völlig unerwartetenEntwicklung gegenübergestanden hatte, hatteer sich ihr, wie er fand, bemerkenswert schnellund effizient angepasst. Wer hätte denn soviele Demonstranten vorhersehen können, dasssie so schnell vorrückten, alle mit derrücksichtslosen Präzision und Zielgerichtetheiteines einzigen Bewusstseins? Doch Chisletthatte sich der Situation gewachsen gezeigt.Was für eine Tragödie also, dass er – trotz allseiner Umsicht – von Inkompetenz undUnfähigkeit umgeben war. Seine Befehle warenfalsch gedeutet, unangemessen ausgeführt,sogar ignoriert worden. Ja, es gab kein anderes

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Wort dafür: Es war eine Tragödie.Er nahm seinen Feldstecher zur Hand undrichtete ihn auf den Eingang zum Ville. DenDemonstranten war es gelungen, dorthineinzustürmen, und seine Männer hatten sieverfolgt. Die Berichte waren chaotisch undwidersprüchlich. Gott allein wusste, was dortwirklich ablief. Er wäre da selbst reingegangen,nur durfte sich ein Befehlshaber keinerleiGefahr aussetzen. Möglicherweise kam es zuAusschreitungen, vielleicht sogar Mord. Es warder Fehler seiner Männer vor Ort, und sowürde er das in seinem Bericht auch mitäußerster Nachdrücklichkeit formulieren.Er hob das Funkgerät in seiner Rechten.»Vordere Position Alpha!«, rief er. »VorderePosition Alpha. Rücken Sie in dieVerteidigungsposition vor.«Das Funkgerät knisterte.»Vorderer Posten Alpha, hören Sie mich?«»Vordere Alpha, roger«, kam die Stimme. »Bittebestätigen Sie den letzten Befehl.«»Ich sagte, rücken Sie in die

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Verteidigungsstellung vor.« Es war empörend.»Zukünftig wäre ich Ihnen dankbar, wenn Siemeine Anordnungen befolgten, ohne mich zubitten, sie zu wiederholen.«»Ich wollte nur sichergehen, Sir«, ließ sich dieStimme erneut vernehmen, »denn vor zehnMinuten haben Sie gesagt, wir sollen unszurückfallen lassen und …«»Tun Sie einfach, was ich Ihnen sage!«Aus der Gruppe der Beamten, die verwirrt aufdem Baseballfeld herumstanden, löste sich eineGestalt in dunklem Anzug und kamherübergetrabt. Inspector Minerva.»Ja, Inspector«, sagte Chislett, der daraufachtete, dass seine Stimme einen würdevollenBefehlston annahm.»Erste Berichte kommen rein, Sir, aus demInneren des Ville.«»Bitte fahren Sie fort.«»Es besteht ein nicht unerheblicher Konfliktzwischen den Bewohnern und denDemonstranten. Es gibt Berichte überVerletzte, einige Schwerverletzte. Das Innere

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der Kirche wird gerade demoliert. Die Straßendes Ville füllen sich mit vertriebenenBewohnern.«»Das wundert mich nicht.«Minerva zögerte.»Ja, Inspector.«»Sir, noch einmal, ich empfehle, dass Sie … naja, härter durchgreifen.«Chislett sah ihn an. »Härter durchgreifen.Wovon zum Teufel reden Sie?«»Bei allem gebotenen Respekt, Sir, als dieDemonstranten ihren Marsch auf das Villebegonnen haben, habe ich Ihnen empfohlen,umgehend Verstärkung anzufordern. Wirbrauchen mehr Leute.«»Unsere Einsatzkräfte reichen aus«, sagte er inbetulichem Tonfall.»Ich habe außerdem empfohlen, dass unsereBeamten schnell ausrücken und Stellung aufder Straße zum Ville beziehen, um den Marschzu blockieren.«»Und genau das habe ich befohlen.«Minerva räusperte sich. »Sir … Sie haben allen

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Einheiten befohlen, auf ihren Posten zubleiben.«»Ich habe keinen derartigen Befehl gegeben!«»Es ist nicht zu spät, dass wir –«»Sie haben Ihre Befehle«, sagte Chislett. »Bitteführen Sie sie aus.« Er sah den Mann böse an,der den Blick senkte, ein »Ja, Sir« murmelte undlangsam zur Gruppe der Beamtenzurücktrottete. Ehrlich gesagt, es war nichtsals Inkompetenz, und das selbst unterdenjenigen, auf die er, wie er gehofft hatte, sicham meisten verlassen konnte.Er hob erneut das Fernglas. Also, das warinteressant. Da waren Demonstranten –zunächst nur ein paar, aber während er zusah,immer mehr –, die mit angstverzerrtenGesichtern aus dem Ville und die Zufahrtherunterliefen. Endlich hatten seine Beamtendie Protestler aufgestöbert. Unter ihnen warenauch Gestalten in Roben mit Kapuzen,Bewohner des Ville. Alle strömten aus demVille, spurteten weg von den uraltenHolzbauten, stürzten übereinander in dem

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panikartigen Versuch, möglichst weitwegzukommen.Ausgezeichnet, ausgezeichnet.Er senkte das Fernglas und hob das Funkgerätan den Mund. »Vordere Position Delta, bittekommen.«Kurz darauf quäkte das Funkgerät: »VorderePosition Delta, Wegman am Apparat.«»Officer Wegman, die Demonstranten fangenan, sich zu zerstreuen«, sagte Chislett förmlich.»Meine Taktik zeigt zweifellos die beabsichtigteWirkung. Ich möchte, dass Sie und Ihre Männerdie Demonstranten in Richtung Baseballplatzund Straße zurückdrängen, um so einegeordnete Auflösung herbeizuführen.«»Aber, Sir, wir sind im Moment auf der anderenSeite des Parks, dort, wo wir wegen IhresBefehls –«»Tun Sie einfach, was ich Ihnen sage, Officer.«Chislett schnitt die Einwände des Mannes ab,indem er den Übertragungsschalter umlegte.Pflaumenweich, die ganze Truppe. Hatte sich jeein Befehlshaber in der Geschichte der

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organisierten Gewalt einer solch monumentalenUnfähigkeit gegenübergesehen?Mit einem verzagten Seufzer senkte er dasFunkgerät und sah zu, wie dieMenschenmenge, die aus dem Ville kam, erst zueinem Strom, dann zu einer Flut anschwoll.

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Pendergast ging durch den Tunnelgang, hieltsich dabei eng an der linken Wand undschirmte den schmalen Lichtschein der Lampesorgfältig ab. Als er um eine Biegung kam,erspähte er etwas in dem trüben Licht – einlängliches, weißliches Objekt, das auf demBoden lag.Er ging darauf zu. Es handelte sich um einenstabilen Plastiksack mit einem Reißverschlussan der einen Seite, verschmiert mit Schlamm,Dreck und Gras, als sei er über den Bodengeschleift worden. Aufgedruckt waren dieWorte Leichenschauhaus der Stadt New Yorksowie eine Zahl.Er kniete sich hin und griff nach demReißverschluss. Langsam zog er ihn auf,möglichst leise. Ein überwältigender Gestanknach Formalin, Alkohol und Zersetzung schlug

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ihm entgegen. Zentimeter um Zentimeter kamdie Leiche darin zum Vorschein. Er zog denReißverschluss auf, bis der Sack halb offen war,ergriff die Kanten des Plastiksacks und zog sieauseinander, wodurch das Gesicht zumVorschein kam.William Smithback jr.Lange starrte Pendergast auf das Gesicht.Dann zog er mit fast ehrfürchtiger Sorgfalt denReißverschluss ganz auf, so dass der gesamteLeichnam zu sehen war. Er befand sich imübelsten Zustand der Verwesung. SmithbacksLeiche war obduziert und dann am Tag, bevorsie verschwand, wieder zusammengeflicktworden, damit sie der Familie überführt werdenkonnte. Die Organe waren wieder hineingelegtworden, der Y-Schnitt zugenäht, dasSchädeldach wieder aufgesetzt, die Kopfhautwieder darübergezogen und fest vernäht, dasGesicht repariert, alles vollgepackt undausgestopft. Grob ausgeführt – Feinarbeitengehörten nicht zu den Stärken vonPathologen –, aber ein guter

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Bestattungsunternehmer könnte zumindestdamit arbeiten.Nur: Die Leiche war nie in einemBestattungsunternehmen angekommen. Siewar gestohlen worden. Und jetzt war sie hier.Plötzlich sah Pendergast genauer hin. Er griffin die Tasche seiner Anzugjacke, holte einePinzette hervor und pflückte damit ein paarStückchen weißes Latexgummi ab, die auf demGesicht der Leiche klebten, eines von einemNasenflügel, eines von einem Ohrläppchen. Eruntersuchte sie eingehender mit seiner Lampeund steckte sie dann nachdenklich ein.Als er mit der Lampe langsam herumleuchtete,sah er fünfzehn Meter entfernt noch eineverwesende Leiche, schick gemacht undbekleidet für eine Beisetzung im schwarzenAnzug. Eine unbekannte Person, aber groß undschlaksig, ungefähr genauso groß und mit dergleichen Statur wie Smithback und Fearing.Und während er die beiden Leichenbetrachtete, rückten in seinem Kopf die letztenDetails von Estebans Plan zusammen. Der Plan

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war außerordentlich elegant. Jetzt blieb nurnoch eine Frage: Was stand in dem Dokument,das Esteban aus dem Grab gestohlen hatte? Esmusste etwas wahrhaft Außergewöhnliches,etwas von immensem Wert sein, dass ein Mannein solches Risiko einging. Vorsichtig und leiseschloss Pendergast den Reißverschluss. Er warverdutzt, nicht nur, weil Estebans Plan sokomplex, sondern auch so tollkühn war. Nur einMann von besonderer Begabung und Geduld,mit einer strategischen Vision und echterKlasse konnte so etwas zustande bringen. Under hatte es hinbekommen. Wäre Pendergastnicht zufällig auf das geplünderte Grab imKellergeschoss des Ville gestoßen und hätte erdiesen Fund nicht mit der blutigen Verpackungeines Premium-Lammrückens im Müllkombiniert, dann wäre Esteban ungeschorendavongekommen.Im Dunkel dachte Pendergast angestrengtnach. Weil er mit dem Boot so gerast war, damiter möglichst schnell hierherkam, um Nora zuretten, hatte er nicht im Einzelnen bedacht, wie

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er mit Esteban zu Rande kommen sollte. Nunwurde ihm klar, dass er den Mann unterschätzthatte – Esteban war ein ernstzunehmenderGegner. Die Entfernung mit dem Wagen vonInwood nach Glen Cove war nicht sehr groß,deshalb war er inzwischen sicherlich nachHause zurückgekehrt. Ein solcher Mann würdewissen, dass auch Pendergast hier war. Erwürde einen Plan verfolgen und auf Pendergastwarten. Aber er musste die Erwartungen desMannes enttäuschen. Er musste aus einer –ganz wörtlich – unerwarteten Richtungzuschlagen.Vorsichtig und geräuschlos zog er sich aus demTunnelgang zurück, auf demselben Weg, den ergekommen war. Esteban wartete im Tunnel, er stand nebendem Hebel und lauschte angestrengt. Der FBI-Agent bewegte sich verdammt leise, aber indiesen stillen, unterirdischen Räumen trugauch das leiseste Geräusch enorm weit. Indemer angestrengt lauschte, konnte er

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rekonstruieren, was passiert war. Zuerst dasleise Geräusch eines Reißverschlusses, danndas Rascheln von Plastik, mehrere Minutenlang Stille – dann wieder der Reißverschluss.Schließlich erspähte er im Kellergang einenganz schwachen Lichtschein: PendergastsTaschenlampe. Trotzdem wartete er.Es war wirklich amüsant, dass der FBI-Agentdie beiden Leichen gefunden hatte. Was für einSchock das gewesen sein musste. Er fragtesich, wie viel der Mann eigentlichherausgefunden hatte. Jetzt, da beide Leichenvor ihm lagen, vermutlich eine ganze Menge –dieser Pendergast war offenkundig intelligent.Vielleicht wusste er ja alles, aber dasEntscheidende, nämlich worum es in demDokument ging, das hatte Esteban aus demGrab seiner Vorfahren mitgenommen.Das Wichtige war, dass Pendergast nur eineAhnung hatte, keine Beweise – und genaudeshalb war er ja auch allein gekommen, ohneVerstärkung oder ein Einsatzkommando.Beim Gedanken an das Dokument spürte

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Esteban plötzlich, wie ein Gefühl der Panikseinen Rücken hinaufkroch. Er hatte dasDokument nicht. Wo hatte er es gelassen? Inseinem unverschlossenen Auto, das auf derAuffahrt stand. Der verdammte Alarm, der überseinen Blackberry reingekommen war, hatte ihnabgelenkt, gerade als er zu Hause eintraf. Undwenn es nun gestohlen wurde? Was, wennPendergast es fand? Aber das waren törichteGedanken. Das Tor zum Anwesen warverschlossen, und Pendergast war hier untenim Kellergang. Er würde das Dokument bei dernächsten Gelegenheit holen, aber im Momenthatte er Dringlicheres zu erledigen.Es herrschte jetzt eine völlige Stille im Tunnel.Kaum atmend lauschte und wartete Esteban.Und wartete. Der schwache, indirekteLichtschein der Taschenlampe blieb stetig undbewegte sich nicht. Während die Minutenquälend langsam verstrichen, wurde ihmallmählich klar, dass da irgendetwas nichtstimmte.»Mr. Esteban«, ertönte die angenehme Stimme

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hinter ihm aus der Dunkelheit. »Würden Sie sofreundlich sein und vollkommen still stehenbleiben, während Sie die Waffe auf den Bodenfallen lassen? Ich warne Sie: Die geringsteBewegung, selbst das unzeitige Zucken einesAugenlids, wird umgehend zu Ihrem Todführen.«

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Esteban ließ die Waffe los. Laut polternd fiel siezu Boden.»Wenn Sie jetzt freundlicherweise die Händeheben, zwei Schritte zurücktreten und sich andie Wand lehnen.«Esteban befolgte die beiden Anweisungen.Pendergast hob die Browning auf und stecktesie ein, dann durchsuchte er Estebans Taschenund nahm ihm die Taschenlampe ab. Er tratzurück und schaltete sie ein.»Hören Sie …«, begann Esteban.»Bitte nicht reden, außer um meine Fragen zubeantworten. Führen Sie mich jetzt bitte zuNora Kelly. Nicken Sie, wenn Sie michverstanden haben.«Esteban nickte. Noch war nicht alles verloren …Mit etwas Klugheit war es immer noch möglich,hier herauszukommen. Er begab sich langsam

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nach hinten, in Richtung Haus.»In der Richtung befindet sie sich nicht«, sagtePendergast. »Die Bereiche habe ich schonerkundet. Sie haben Ihren einzigen Trumpfausgespielt – wenn Sie das nächste Malversuchen, so eine Nummer abzuziehen,schließe ich daraus, dass Sie nicht kooperierenwollen, töte Sie ohne viel Federlesens und findeMiss Kelly selbst. Nicken Sie, wenn Sie michverstanden haben.«Esteban nickte.»Ist sie im Keller der Scheune?«Esteban schüttelte den Kopf.»Wo ist sie? Sie dürfen sprechen.«»Sie ist in einem Raum, verborgen hinter demKellergang, unter dem Gips. Nicht weit weg vonSmithbacks Leiche.«»In dem Kellergang gibt es kein frischesWasser.«»Die Tür befindet sich unter einem Abschnittmit altem drahtverstärktem Gips, den ichentfernen und wieder anbringen kann.«Pendergast schien darüber nachzudenken.

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Dann wedelte er mit seiner Waffe. »Sie gehenvoran. Und vergessen Sie nicht, was passiert,wenn Sie nicht kooperieren.«Abermals ging Esteban den Tunnel zurück, inRichtung Smithback, wobei er sich eng an derrechten Wand hielt. Pendergast folgte ungefährdrei Meter dahinter. Er trat über eine kleineTaschenlampe – offensichtlich die desAgenten –, die am Boden lag. Während er andem Hebel vorbeikam, tat Esteban so, alswürde er straucheln und hinfallen, und zogdabei den Hebel hinunter.Der Schuss ertönte, aber er war hoch gezieltund zerzauste nur seine Haare. Von der Deckekam ein Knirschen, während der Hebel seinerApparatur einen falschen Erdrutsch auslöste.Es war kein echter Einsturz, natürlich nicht,sondern einer, der aus Styropor-Felsenbestand, zuvor angebrochenen und angemaltenSperrholzbalken und Sand und Kies, gemischtmit angemalter Styropor-Füllmasse. Er warnicht so tödlich wie ein echter Abbruch, aber eskam doch alles schnell und heftig herunter.

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Pendergast sprang beiseite, aber so schnell erauch reagierte, er konnte dem ziemlichschweren Material, das auf ihn herabprasselte,nicht mehr ausweichen. Unter dem langen,grollenden Donner aus Holzbalken undFüllmasse und Styropor wurde erniedergeworfen und darunter begraben.Esteban kraxelte nach vorn und entkam imletzten Augenblick der vorderen Kante derLawine.Alles war stockdunkel – die Lampe warzusammen mit dem Agenten begraben. Estebanhörte, wie die letzten Stückchen Kiesherabregneten. Dann lachte er laut auf. Daswar die Lawine, die die verfolgendenGefängniswärter im Showdown von Ausbruchaus Sing Sing unter sich begrub, als der Heldaus der Tunnelöffnung in Sicherheit sprang.Und jetzt hatte er die Szene wiedererschaffen –in der Realität!Pendergast war offensichtlich kein Kinogänger.Wäre er es, dann hätte er den Tunnelmöglicherweise wiedererkannt und erraten,

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was kommen würde. Schade für ihn.Esteban watete in den vorgetäuschtenErdrutsch, kickte die Füllmasse weg und suchtenach Pendergast. Nachdem er das Geröll fünfMinuten lang weggeschoben hatte, entdeckteer den Lichtschein seiner Taschenlampe, immernoch eingeschaltet, und daneben den Agenten,blutig und staubbedeckt, betäubt durch dieplötzliche Kaskade. Die Browning, die er ihmabgenommen hatte, lag neben ihm. Die eigeneWaffe hatte der Agent noch in der Hand, dasHandy lag in der Nähe. Er war von denTrümmerteilen schwer getroffen worden undkonnte sogar tot sein, aber Esteban musstesichergehen. Zunächst mal schnappte er sichbeide Waffen. Als Nächstes stellte er den Fußauf das Handy und zertrat es. Dann hob er dieBrowning, prüfte das Magazin, zielte aufPendergasts Brustbein und feuerte ausnächster Nähe zwei Kugeln ins Herz desAgenten, gefolgt von einem dritten Schuss, umsicherzugehen, während der Körper bei jedemAufprall zuckte und Staub von Brust und

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Schultern nach oben waberte.Auf dem Boden erschien ein Blutfleck, der sichausbreitete.Esteban stand da, inmitten des Staubs, undgestattete sich ein halbes Lächeln. Schade,dass diese kleine Szene nie auf der großenLeinwand zu sehen sein würde. Denn jetzt wares an der Zeit für den letzten Akt in seinemprivaten Epos: die Frau umbringen und dieLeichen beseitigen.Alle vier.

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Laura Hayward ging vorsichtig durch diedüsteren Kellergewölbe tief unter den Gassenund Höfen des Ville. Die Schreie und Rufe überihr, die ein Crescendo erreicht zu habenschienen, hatten jäh aufgehört. Entwederhatten die Ausschreitungen auf den Inwood HillPark übergegriffen, oder sie war zu tief insErdreich hinabgestiegen, um sie zu hören. DieGänge im Untergeschoss des Ville breitetensich über mehrere Ebenen aus und waren inzahlreichen architektonischen Stilen gehalten,von kruden, per Hand aus dem Gesteingeschlagenen Grotten bis zu kunstvollen, mitSteinwänden versehenen Räumen mitKreuzgratgewölben. Es war, als obaufeinanderfolgende Wellen von Bewohnern mitganz unterschiedlichen Bedürfnissen undgroßem Kunstverstand die unterirdischen

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Räume je nach ihren Zwecken geschaffenhatten.Ein rascher Blick auf ihre Armbanduhr zeigte,dass sie die Kellerräume inzwischen seit einerViertelstunde erkundete – fünfzehn Minutenvoller Sackgassen und Umwege, jederverwirrender und makabrer als der vorherige.Wie weit erstreckte sich dieses unterirdischeLabyrinth eigentlich? Und wo steckte Vincent?Mehr als einmal hatte sie überlegt, ob sie nachihm rufen sollte, aber jedes Mal hatte ihrsechster Sinn sie davor gewarnt. Ihr Funkgeräterwies sich als nutzlos.Jetzt blieb sie an einer Kreuzung stehen, vonder vier kurze Gänge zu Türen mitEisenbeschlägen fortführten. Sie wählte einenGang aufs Geratewohl, ging ihn entlang, blieban der Tür stehen, um zu horchen, dann öffnetesie die Tür und trat hindurch. Dahinter lag einschmutziger und übelriechender Tunnelgang.Der Boden war schwammig vor lauterSchimmel, an der Decke hingen Spinnweben.Vom glitschigen Mauerwerk über ihr tropfte

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Kondenswasser. Schmierige Tropfen prasseltenihr auf Haare und Schultern. Angewidertschnippte sie sie weg.Nach ungefähr sieben Metern gabelte sich derGang in zwei Richtungen. Hayward wandte sichnach rechts, in die Richtung, wie sie glaubte,der Kirche. Die Luft war hier etwas wenigerwiderlich, die Wände bestanden aus primitivbehauenem Naturstein. Sie betrachtete dasMauerwerk genauer und untersuchte es mitihrer Taschenlampe. Das hier war eindeutignicht die Wand im Video mit Nora Kelly.Plötzlich richtete sie sich auf. War das einSchrei?Sie stand reglos im Dunkeln und horchteangestrengt. Doch was immer sie da gehörthatte – wenn sie denn tatsächlich etwas gehörthatte –, ertönte nicht noch einmal.Sie ging weiter. Der Natursteingang mündetein einen massiven, gewölbten Durchgang. Sieduckte sich hindurch und befand sich in einemgrob konstruierten Mausoleum, gestützt vonverrottenden Balken, mit einem Dutzend

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Grabnischen in den Lehmwänden, jede davonmit einem verrotteten Sarg versehen. ÜberallZauberamulette und Fetische, kleineLederbeutel und Pailletten, groteske Puppenmit grinsenden, übergroßen Köpfen, irrsinnigkomplizierte Zeichnungen mit Spiralen undKreuzschraffuren, gemalt auf Bretter undaufgespannte Tierhäute. Es war einunterirdischer Tempel, offenbar geschaffen fürdie toten Anführer des Ville – oder vielleicht dieuntoten. Die Särge selbst waren merkwürdig,mit Eisen beschlagen und großenVorhängeschlössern versehen, als wollte mandie Toten darin festhalten, durch manche Särgewaren massive Nägel bis in den Lehmbodendarunter getrieben worden. Hayward lief eskalt den Rücken hinunter, und sie erinnertesich an einige der farbigeren Geschichten ihreralten Kollegen bei der Polizei von New Orleans.Jetzt hörte sie das Geräusch wieder, unddiesmal war es absolut klar: eine Frau, die leiseschluchzte – und das Schluchzen kam aus derunmittelbar vor ihr liegenden Dunkelheit.

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Nora Kelly? Hayward ging weiter, so leise siekonnte, durch die mit Voodoo vollgestopfteKammer, die Waffe gezückt, die Taschenlampeabgeschirmt. Das Schluchzen klang gedämpft,aber nahe, war vielleicht nur zwei, dreiKammern entfernt. Der Raum voller Nischenmündete in einen Gang, der sich abermalsgabelte. Die Geräusche kamen von links,Hayward ging darauf zu. Falls es sich um Norahandelte, wäre sie vermutlich bewacht – dasVille hätte beim ersten Anzeichen von Ärgerjemanden hinuntergeschickt.Der Gang machte eine Biegung, dann führte erplötzlich in eine riesige Gruft, derenGewölbedecke von schweren Säulen getragenwurde. In der nach Staub riechendenDunkelheit konnte Hayward Reihen vonHolzsärgen erkennen, die sich bis zurrückwärtigen Wand erstreckten. Dort, in derFerne, sah sie drei Gestalten, von hintenbeleuchtet vom unregelmäßigen Geflacker vonetwas, das ein Feuerzeug zu sein schien. Zweider Gestalten waren Frauen, von denen die

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eine leise schluchzte. Die andere, ein Mann,sprach mit leiser Stimme auf die Frauen ein. Erkehrte Hayward den Rücken zu, und seinemTon und seinen Gesten nach zu urteilen, schiener sie wegen irgendetwas zu beruhigen.Sie spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Sietrat einen Schritt näher. Und dann war sie sichsicher. Der Mann auf der anderen Seite desRaums war Vincent D’Agosta.»Vinnie!«Er drehte sich um. Für einen Moment wirkte erverwirrt. Dann zeigte sich ein Lächeln derErleichterung auf seinen Zügen. »Laura! Wasmachst du denn hier?«Sie ging rasch auf ihn zu, es kümmerte sie nichtmehr, das Licht der Taschenlampe zuverbergen. Die Frauen blickten ihr entgegen,während sie näher kam, ihre Gesichterangstverzerrt.D’Agostas Arm ruhte in einer improvisiertenSchlinge, sein Gesicht war zerkratzt undschmutzig, sein Anzug zerrissen und übelzerknittert. Aber sie war so erleichtert, ihn zu

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sehen, dass sie es kaum bemerkte.Sie nahm ihn hastig in die Arme, unbeholfen,wegen der Schlinge. Dann blieb sie stehen undschaute ihn an. »Vinnie, du siehst aus, als hätteman dich hinter einem Auto hergeschleift.«»Ich fühle mich auch so. Ich habe hier zweiLeute, die Hilfe benötigen. Sie waren unter denDemonstranten, wurden von einigen derBewohner des Ville verfolgt und haben sich aufder Flucht verlaufen.« Er hielt kurz inne. »Bistdu auch hier unten, um nach Nora zu suchen?«»Nein, um dich zu suchen.«»Mich? Wieso?« Er schien fast beleidigt.»Pendergast hat mir gesagt, dass du hier untenbist und in Gefahr sein könntest.«»Ich habe nach Nora gesucht. Pendergast hastdu gesagt?«»Als er ging, hat er mir gesagt, er wolle Norafinden. Er hat mir gesagt, dass sie nicht hierist.«»Wie bitte? Wo ist sie?«»Das hat er mir nicht mitgeteilt. Aber er hatgesagt, dass irgendetwas euch beide

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angegriffen hat. Etwas Seltsames.«»Das ist richtig. Laura, wenn es stimmt, dassNora nicht hier unten ist, dann müssen wir hierraus. Sofort.«Plötzlich verstummte er. Kurz darauf hörte esauch Hayward: ein fleischiges Patschen aus derDunkelheit, als würden breite Hände einenWirbel auf die kalten Steine trommeln. Es warweit weg, kam aber näher. Kurz darauf wurdedas schlitternde Geräusch von einem nassenSchmatzen und einem leisen Stöhnen übertönt,ähnlich dem Schnaufen eines durchstochenenBlasebalgs: aaaahuuuuuu …Eine der Frauen schnappte nach Luft und trateinen instinktiven, taumelnden Schritt zurück.D’Agosta zuckte zusammen. »Zu spät. Es istwieder da.«

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Nora hockte in der schimmeligen Dunkelheitund wartete. Sie hatte irrsinnig starke,pochende Kopfschmerzen. Die geringsteBewegung schickte eine Lanze des Schmerzesvon Schläfe zu Schläfe. Ihr Kerkermeister hattemit dem Schlag auf ihren Kopf dieGehirnerschütterung verschlimmert. Trotz derSchmerzen musste sie aber unbedingt gegendie schwere Starre ankämpfen, die sie zuüberwältigen drohte. Wie viele Stunden warenverstrichen? 24? 36? Seltsam, wie das Dunkeldie Zeitwahrnehmung verzerrte.Sie saß aufrecht an der Wand, auf einer Seiteder Tür, wartete auf die Rückkehr ihresPeinigers und fragte sich, ob sie wohl die Kraftaufbringen würde, ihn anzugreifen, wenn erzurückkam. Sie musste zugeben, dass esaussichtslos war – der Trick hatte beim ersten

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Mal nicht funktioniert, und er würde wohl auchkaum beim zweiten Mal klappen. Aber welcheandere Möglichkeit hatte sie? Wenn sieanderswo in dem Raum blieb, könnte er siedurch das kleine Fenster in der Tür erschießen.Sie wusste, dass ihr Kerkermeister sie nichtlaufen lassen würde. Aus irgendeinem, ihrunklaren Grund hielt er sie am Leben, abernachdem er dieses Ziel erreicht hatte, würde ersie umbringen.Sie hockte im Stockfinsteren, ihre Gedankenschweiften ab. Das Bild einer schwarzenLimousine im Yachthafen der winzigen StadtPage in Arizona stieg in ihr auf, die rotenSteilufer von Lake Powell erhoben sich imHintergrund, der Himmel über ihr einewolkenlose Schüssel aus perfektem Blau. DieHitze stieg in schimmernden Wellen vomParkplatz auf. Die Tür der Limousine öffnetesich, ein schlaksiger Mann stieg ungelenk aus,staubte sich ab und richtete sich auf. Er wirktealbern mit seiner Ray-Ban-Brille, seine braunenHaare standen nach allen Richtungen ab. Er

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ging leicht gebückt, als sei ihm seine großeStatur selbst peinlich. Sie erinnerte sich anseine scharf geschwungene Nase, das langeund schmale Gesicht und an das Blinzeln,perplex, doch selbstbewusst, wenn er seineUmgebung in Augenschein nahm. Das war dererste Blick auf den Mann, der ihr Ehemannwerden sollte und der sich ihr als Journalist aufihrer archäologischen Forschungsreise insCanyon-Land von Utah angeschlossen hatte.Zunächst hatte sie ihn für einen ziemlichenBlödmann gehalten. Erst später bemerkte sie,dass er seine besseren Eigenschaften, seinewunderbaren Eigenschaften, tief in sichverbarg, als schäme er sich ihrer ein wenig.Andere willkürliche Erinnerungen aus jenenersten Tagen in Utah gingen ihr durch denKopf: Bill, wie er sie Frau Vorsitzende nannte.Bill, wie er auf Hurricane Deck stieg, fluchendund schimpfend, während das Pferd tänzelte.Diese Erinnerungen gingen über inErinnerungen an die erste Zeit ihresZusammenlebens in New York: Bill, wie er sich

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im Café des Artistes Cognacsauce auf denneuen Anzug spritzte. Bill, als Stadtstreicherverkleidet, um nachts in ein Gebäude zuschleichen, in dem 36 Leichen gefundenworden waren. Bill, im Krankenhausbettliegend, nachdem er aus Lengs Labor befreitwurde … Die Bilder stellten sich ungefragt ein,kamen unaufgefordert und waren dochmerkwürdig tröstlich. Da sie nicht mehr dieKraft hatte, sich ihnen zu widersetzen, ließ siesie durch ihre Erinnerung ziehen, während siein einem Zustand zwischen Schlafen undWachen schwebte. Jetzt, in dieserExtremsituation, in der das eigene Leben kurzvor dem Ende stand, schien sie schließlich aufirgendeine Weise mit ihrem Verlust zu Rande zukommen.Ein gedämpftes Rumoren, eine tiefe Vibration,die in der Luft lag und durch die Wände drang,holte sie in die Gegenwart zurück. Sie setztesich auf, plötzlich hellwach, die Kopfschmerzenwaren vorübergehend vergessen. Das Rumorensetzte sich fort, bis es in der Stille verebbte.

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Minuten später folgte ihm das laute Peng!Peng! zweier Schüsse, gefolgt von einer kurzenPause und dann einem dritten Schuss.Der Schock, den die Schüsse auslösten, so lautund jäh nach einer so langen Stille, elektrisiertesie. Irgendetwas passierte dort, und es könnteihre einzige Gelegenheit zum Handeln sein. Sielauschte angestrengt. Zunächst schwach, danndeutlicher ertönten Geräusche, wie wennirgendetwas über den Kellerboden geschleiftwurde. Ein Ächzen, Pause, weiteres Schleifen.Stille. Und dann der Laut, als der Schlitz inihrer Tür geöffnet wurde.Die Stimme ihres Kerkermeisters ertönte. »Dubekommst Besuch!«Nora rührte sich nicht.Ein Licht schien durch die Öffnung, das Reliefder schwarzen Gitterstäbe wurde an diegegenüberliegende Wand geworfen.Immer noch wartete Nora. Ihn dazu zwingen,einzutreten, und ihn dann dazu bringen, dasser sie angriff – das war ihre einzige Chance.Sie hörte, dass sich ein Schlüssel im Schloss

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drehte, sah, wie die Tür einen Spaltaufschwang. Doch anstatt einzutreten, ließ ihrKerkermeister etwas Schweres zu Bodenfallen – einen menschlichen Körper –, trat sofortdanach wieder hinaus und knallte die Türhinter sich zu. Im matten Licht starrte sie aufdas Gesicht, das als Silhouette im Licht aus demvergitterten Fenster zu erkennen war: die feingeschnittenen Gesichtszüge, die hohenWangenknochen, die marmorne Haut und dasdünne Haar, die Augen wie Schlitze, so dasssich nur das Weiße zeigte, Staub und Blut imHaar verklebt, der einst schwarze Anzug nunvon einem puderigen Grau, zerknittert undzerrissen. Eine Lache dunklen Bluts breitetesich auf dem Hemd aus.Pendergast. Tot.Sie schrie auf vor Überraschung und Entsetzen.»Ein Freund von dir?«, höhnte die Stimmedurch den Sehschlitz. Das Schloss drehte sich,das Vorhängeschloss rasselte, und alles lagwieder im Dunkel.

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Alexander Esteban eilte zurück durch dieKellerräume, die er so gut kannte, und stiegzwei Stufen auf einmal nehmend die Treppezum Erdgeschoss hinauf. Gleich würde er ausder Scheune und draußen sein. Es war einefrische, kalte Herbstnacht, die Sterne funkeltenklar am samtschwarzen Himmel. Er fiel inLaufschritt und lief zu seinem Wagen, riss dieTür auf und schnappte sich – Gott sei Dank,Gott sei Dank – den braunen Umschlag, der aufdem Beifahrersitz lag. Er öffnete ihn, zog diedarin befindlichen alten Pergamentbögenhervor, prüfte sie und schob sie wieder hinein.Schwer atmend lehnte er sich an den Wagen.Sie war albern, diese Panik. Natürlich war dasDokument in Sicherheit. Es war ohnehin fürniemanden etwas wert, außer für ihn. Wenigewürden es überhaupt verstehen. Trotzdem: Es

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hatte ihn furchtbar gepeinigt, als er darandachte, dass es hier ungeschützt im Auto lag.Er hatte alles so sorgfältig geplant,Beziehungen gepflegt, mehrere Vermögenausgegeben, in die Irre geführt und bestochen,eingeschüchtert und gemordet – und das allesfür diese zwei Seiten Pergament. Dass esunbewacht im Wagen gelegen hatte,irgendeinem opportunistischen kleinen Dieboder gar den Kapriolen des Wetters auf LongIsland ausgesetzt – der Gedanke war eine Peingewesen. Aber alles war gut ausgegangen. Eswar in Sicherheit. Und jetzt, da er dasDokument wieder in Händen hielt, konnte er essich leisten, über seine Paranoia zu lachen.Etwas wehmütig vor sich hin lächelnd, ging erzurück ins Haus, schritt durch die großen,nachtdunklen Räume in sein Büro und öffneteden Safe. Er legte das Kuvert hinein undbetrachtete es einen Augenblick lang liebevoll.Jetzt war er beruhigt. Jetzt konnte er in denKeller zurückgehen und die Sache zumAbschluss bringen. Pendergast war tot, er

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musste nur noch die Frau töten. Ihre Leichenwürden tief unter das Kellergeschoss kommen –den Ort hatte er schon bestimmt –, undniemand würde sie je finden.Er schob die schwere Stahltür zu und tippteden elektronischen Code ein. Während derVerschlussmechanismus surrte und dieDrehtrommeln einrasteten, dachte Esteban andie kommenden Wochen, Monate, Jahre … undlächelte. Es würde zwar ein Kampf werden,doch er würde als sehr, sehr reicher Manndaraus hervorgehen.Er verließ das Haus und schlenderte zurücküber den Rasen, mühelos atmend, die Händeam Griff der Waffe, die er der Leiche des FBI-Agenten abgenommen hatte. Es handelte sicheindeutig um eine Polizeiwaffe, ideal geeignetfür den anonymen Job, der vor ihm lag. Ermusste die Waffe natürlich loswerden, abererst, nachdem er sie an der Frau ausprobierthatte.Die junge Frau. Sie hatte ihn schon einmal mitihrem Einfallsreichtum und ihrer körperlichen

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Widerstandsfähigkeit verblüfft. Man sollte diemenschliche Erfindungsgabe angesichts desTodes nie unterschätzen. Obwohl sie verletztund eingesperrt war, musste er auf der Hutsein – es hatte keinen Sinn, die Sache in letzterMinute zu vermasseln, wo nun doch alles, waser sich wünschte, in seinem Besitz war.In der Scheune angekommen, schaltete er dieTaschenlampe ein und stieg in den Keller. Obdie Frau es ihm wohl schwer machen würde, diehinter der verdammten Tür hockte, so wie beimletzten Mal? Wahrscheinlich nicht. Dass erPendergasts Leiche in die Zelle geworfen hatte,hatte sie sichtlich ausflippen lassen. Vermutlichwürde sie hysterisch sein, um Gnade winselnund ihm die Sache auszureden versuchen. VielGlück – er würde ihr nicht einmal die Chancedazu geben.Er kam an der Tür zum Kelleraum an, öffnetedas Gitterfenster und leuchtete mit derTaschenlampe in die Zelle. Da war sie ja, wiedermitten im Raum, auf dem Stroh liegend,schluchzend, den Kopf vorgebeugt, die Hände

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darübergelegt. Ihr breiter Rücken bot einperfektes Ziel. Rechts von ihr, noch so geradezu sehen, lag die Leiche des FBI-Agenten, dieKleidung in Unordnung, als hätte sie ihn nachseiner Waffe durchsucht.Er hatte Gewissensbisse. Was er vorhatte, wardoch sehr gefühllos. Es war schon etwasanderes als die Morde an Fearing oder Kidd –die waren opportunistischer Abschaum,Kleinkriminelle, die für einen Dollar alles getanhätten. Trotzdem: Es war ein notwendigesÜbel, die Frau umzubringen, unvermeidbar. Erspähte über Kimme und Korn, nahm ihrenoberen Rücken ins Visier, genau in Höhe desHerzens, und drückte ab. Durch den Aufprallder Kugel wurde sie zur Seite gerissen undschrie auf, ein kurzer, gellender Schrei. Derzweite Schuss traf sie weiter unten, kurzoberhalb der Nieren, wodurch sie erneut zurSeite geschleudert wurde. Diesmal war keinSchrei zu hören.Das wäre also erledigt.Aber er musste sichergehen. Eine Kugel in den

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Kopf für beide, das wäre in Ordnung – und dannein rasches Begräbnis am Ort seiner Wahl. DieLeichen von Smithback und der Reporterinwürde er gleich mit entsorgen. Mann und Frauzusammen, das passte doch gut, oder?Die Waffe im Anschlag, steckte er den Schlüsselins Schloss und schob die Tür auf.

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D’Agosta wandte sich zu den beidenDemonstrantinnen um. Ihre Gesichter warenangstverzerrt, die Kaschmirpullover undSegeltuchschuhe wirkten erschreckenddeplaziert in diesem schaurigen Saal der Toten.»Begeben Sie sich hinter das Grab dort«, sagteer und zeigte auf eine Marmorplatte in derNähe. »Ducken Sie sich, so dass niemand Siesehen kann. Beeilen Sie sich.«Dann drehte er sich wieder zu Hayward um,wobei sein gebrochener Unterarm gegen diejähe Bewegung protestierte. »Gib mir mal deineTaschenlampe.«Sie reichte sie ihm. Rasch schirmte er sie ab,um den Lichtschein zu dämpfen. »Laura, ichhabe keine Waffe. Wir können uns vor ihm nichtverstecken und auch nicht vor ihm weglaufen.Wenn es reinkommt, schieß.«

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»Wenn was reinkommt?«»Du wirst schon sehen. Es scheint keinenSchmerz, keine Angst, nichts zu fühlen. Es siehtaus wie ein Mensch, zunächst … aber es istnicht ganz menschlich. Es ist schnell auf denBeinen und unerhört entschlossen. Ich strahlees an. Wenn du zögerst, sind wir tot.«Sie nickte und prüfte ihre Waffe.Er steckte die Taschenlampe ein, bezog Postenhinter einem großen Marmorgrab undbedeutete Laura, hinter dem angrenzendenStellung zu beziehen. Dann warteten sie. EineMinute lang hörte er nur Lauras schnellesAtmen, ein leises Wimmern von einer derDemonstrantinnen, das Hämmern seinesHerzens in der Brust. Dann ertönte es wieder,das Patschen nackter Füße auf nassem Stein.Es schien jetzt weiter entfernt zu sein. Einleises Stöhnen ertönte in dem höhlenartigenRaum, in die Länge gezogen, aber erfüllt voneinem drängenden Verlangen:aaaaaahhhuuuuu …In der Dunkelheit hinter ihnen wurde das

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Wimmern der Demonstrantinnen lauter,panisch.»Ruhe!«, flüsterte er.Das Patschen der Füße hörte auf. D’Agostaspürte, dass sein Herz schneller schlug. Er zogdie Taschenlampe hervor. Dabei schloss sichseine Hand über dem Medaillon des heiligenMichael, des Schutzheiligen aller Polizisten.Seine Mutter hatte es ihm geschenkt, als er inden Polizeidienst eintrat. Jeden Morgen steckteer es, fast ohne nachzudenken, ein. Auch wenner wohl seit einem halben Dutzend Jahren nichtmehr betete und noch länger nicht mehr in dieKirche ging, hörte er sich nun beten: Gott, derdu weißt, dass wir uns inmitten vieler undgroßer Gefahren befinden …Aaaaaiiihhuuuuuuuuuuuuuuu, ertönte dasStöhnen, näher jetzt.Wir bitten dich, Herr, verbanne die tödlicheMacht des Bösen. Heiliger Erzengel Michael,verteidige uns im Kampfe.Am anderen Ende des Gewölberaums bewegtesich etwas in dem stinkenden Dunkel. Eine

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niedrige, kriechende Gestalt, nur schattenhaftzu erkennen, schlich zwischen den amweitesten entfernten Gräbern herum. D’Agostazog die Taschenlampe hervor. »Bist dubereit?«, flüsterte er.Laura streckte die Waffe im beidhändigenKampfgriff nach vorn.D’Agosta richtete die Taschenlampe inRichtung des fernen Durchgangs und schaltetesie ein.Da war es, im Lichtstrahl gefangen: blass,kriechend, die eine Handfläche flach auf denSteinboden vor sich gelegt, die andere Hand dieSeite packend, da, wo die Lumpen sichzunehmend mit hellrotem Blut verfärbten. Dasgesunde Auge rollte wüst in dem Licht, dasandere war zerstört und schwarz vor Blut,Flüssigkeit trat daraus hervor. Der Unterkieferwar nach unten gesackt, schwang mit jederBewegung, von der dunklen, geschwollenenZunge hing ein dicker Speichelfaden. DasWesen war zerkratzt, schmutzig und blutete.Doch die Verletzungen bewirkten keinesfalls,

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dass es sich langsamer bewegte oder seinefurchtbare Zielstrebigkeit verlor. Mit einemhungrigen Stöhnen sprang es in RichtungLichtschein.Peng! ertönte Haywards Waffe. Peng! Peng!D’Agosta schaltete die Taschenlampe aus,damit sie nicht sofort zur Zielscheibe werdenkonnten. Seine Ohren klingelten von denSchüssen und den vereinzelten Schreien derDemonstrantinnen hinter ihm.Das Echo der Schüsse rollte in denunterirdischen Gängen davon, dann herrschtewieder Stille.»Mein Gott«, hauchte Laura. »O mein Gott.«»Hast du es erwischt?«»Ich glaube, ja.«D’Agosta kniete nieder, lauschte angestrengtund wartete darauf, dass das Klingeln in seinenOhren nachließ. Hinter ihm verklangen dieSchreie zu qualvollen Seufzern. Dann kein Lautmehr außer Lauras Atemzüge.Hatte sie das Wesen getötet?Er wartete eine Minute, dann noch eine. Dann

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schaltete er die Taschenlampe ein undleuchtete in die vor ihm liegenden Räume.Nichts.Tot oder lebendig, das hier war Feindesgebiet,und sie mussten weiter in Bewegung bleiben.»Kommt«, sagte er. »Verschwinden wir vonhier.«D’Agosta packte die beiden Demonstrantinnenund zog sie auf die Füße. Rasch gingen siedurch den Wald aus Sarkophagen underreichten den Durchgang in dergegenüberliegenden Wand. Er leuchtete mitdem abgeschirmten Lichtschein auf dem Bodenherum. Ein paar frische Blutstropfen, sonstnichts. Er blieb im Durchgang stehen undwinkte ihnen, dass sie ihm in den großen,weiter vorn gelegenen Lagerraum folgensollten.»Vorsichtig«, flüsterte er. »Mitten im Raumbefindet sich eine tiefe Grube. Haltet euch naheden Wänden.«Während sie sich durch die Haufenverschimmelter, ledergebundener Bücher und

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verrotteter Möbel kämpften, hörten sie von derSeite ein scharfes Zischen. D’Agosta drehtesich um und hob die Taschenlampe, gerade alsdas Wesen aus der Dunkelheit auf sie zusprang,den fauligen Mund weit aufgerissen, dieabgebrochenen schwarzen Fingernägelgehoben, um zu reißen und zerfetzen. Laurariss die Waffe hoch, aber blitzartig war dasWesen auf ihr, schickte sie krachend zu Boden,und die Waffe schlitterte mitten durch denRaum. Ungeachtet der Schmerzen im Unterarmwarf sich D’Agosta auf die Kreatur und schlugauf sie ein. Sie ignorierte seine Schläge,verstärkte den Griff um Lauras Hals, die sichwehrte, und schrie dabei ununterbrochen vollblutrünstiger Wollust: Aihu! Aihu! Aihu!Auf einmal war der Lagerraum in einorangefarbenes Licht getaucht. D’Agostadrehte sich in dessen Richtung um. Imgegenüberliegenden Durchgang standBossong, in der einen Hand eine großebrennende Fackel. Sein Gesicht warblutüberströmt, aber er hatte nichts von seiner

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abweisenden, fast königlichen Haltungverloren.»Arrêt!«, rief er, und seine tiefe Stimme halltedurch die unterirdische Kammer.Die Kreatur hielt inne, blickte auf, krümmtesich, das gelbsüchtige Auge aus der Höhlebaumelnd.D’Agosta sah, dass Lauras Waffe nurZentimeter von Bossong entfernt auf demBoden lag. Er machte eine Bewegung in dieRichtung, aber Bossong hob sie sofort auf undrichtete sie auf ihre Gruppe.»Bossong!«, rief D’Agosta. »Rufen Sie eszurück!«Bossong, der Anführer des Ville, sagte nichts,sondern richtete die Waffe auf ihre kleineGruppe.»Geht es in Ihrer Religion darum? Um diesesMonster?«»Dieses Monster«, er spuckte das Wort förmlichaus, »ist unser Beschützer.«»Und so beschützt es euch? Indem es einePolizeibeamtin in Ausübung ihrer

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Dienstpflichten zu töten versucht?«Bossong blickte zu D’Agosta, dann zum Zombie,dann zu Hayward und schließlich wieder zuD’Agosta.»Sie hat nichts getan! Rufen Sie es zurück!«»Sie ist in unsere Gemeinschaft eingedrungen,hat unsere Kirche entweiht.«»Sie ist hierhergekommen, um mich zu retten,um die anderen zu retten.« D’Agosta sahBossong mitten ins Gesicht. »Ich habe Sieimmer für einen blutrünstigen Anhänger einesKults gehalten, der Tiere aus irgendeinerabartigen Lust tötet. Kommen Sie, Bossong,beweisen Sie mir das Gegenteil. Jetzt haben Siedie Gelegenheit dazu. Zeigen Sie mir, dass Sieetwas anderes sind. Dass Ihre Religion etwasanderes ist.«Einen Augenblick blieb Bossong reglos stehen.Dann reckte er sich zu voller Größe und drehtesich zu dem Zombie um. »C’est suffice!«, rief er.»N’est-ce envoi pas!«Das Geschöpf gab ein unartikuliertes,schlürfendes Geräusch von sich, Speichel

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schlürfendes Geräusch von sich, Speichelsammelte sich in seiner Kehle, während es zuseinem Herrn hinaufstarrte. Es lockerte denGriff um Lauras Hals, und Laura riss sich los,hustend und keuchend. D’Agosta zog sie aufdie Füße. Gemeinsam wichen sie zurück.»Das hier muss aufhören!«, sagte Bossong.»Die Gewalt muss enden.«Das Wesen ruckte und zuckte in einemqualvollen Kampf der Unentschiedenheit. Esblickte Hayward an, dann Bossong, dannwieder Hayward. Beim Zuschauen erkannteD’Agosta, dass erneut ein irres Verlangen vondem Wesen Besitz ergriff. Es kauerte niederund stürzte sich auf Laura.In dem beengten Raum klang der Schussohrenbetäubend laut. Die Kreatur, mitten imSprung getroffen, wirbelte um die eigene Achseund sank zu Boden. Vor Schmerzen aufheulendund von einer bestialischen Wut gepackt, erhobsie sich auf Hände und Knie, während Blut auseiner zweiten Wunde in ihrer Seite sickerte,und watschelte – schneller und schneller,

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beseelt von einem neuen, grauenhaften Ziel –auf Bossong zu. Die nächste Kugel traf dieKreatur in den Unterleib, so dass sie denOberkörper beugte und fürchterlich röchelte.Unglaublicherweise versuchte sie, abermalsaufzustehen, während ihr das Blut aus denWunden und dem weit aufgerissenen Mundspritzte, doch die dritte Kugel traf sie in dieBrust, und sie stürzte erneut zu Boden, sichwälzend, zitternd und unkontrollierbarzuckend. D’Agosta versuchte, die Kreatur zufassen zu bekommen, aber es war zu spät: Sichwindend und grässlich stöhnend stürzte siekopfüber über den Rand der Grube.Gleichzeitig stieß sie einen feuchten,gurgelnden Schrei aus, der nach einerfurchtbar langen Sekunde in einem leisenPlatschen endete.Langsam senkte Bossong die rauchende Waffe.»So endet es, wie es begonnen hat«, sagte er.»In Finsternis.«

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Esteban betrat die Zelle und blieb stehen. Wenzuerst? Aber er war keiner, der sich wegeneiner Entscheidung ewig den Kopf zerbrach,deshalb trat er über die Leiche der Frau undschritt auf die blutige Gestalt des FBI-Agentenzu. Vor allem er verdiente es, zu sterben. Abernatürlich, dachte Esteban, und lächelteironisch, ist er bereits tot, oder wenigstensgrößtenteils. Das Ganze würde eine großeSauerei geben, und in dem beengten Raumwürde ihm der Schuss in den Ohren klingeln. Erging die Schritte durch, die er befolgen musste,und lud das Magazin nach. Die eigene Kleidungkönnte er zusammen mit den Leichen und denWaffen begraben – da gab’s keine Probleme. Eswar heutzutage zwar nicht mehr möglich,Blutspuren auszulöschen, den Tatort-Ermittlernstanden potente chemische Analyseverfahren

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zur Verfügung, doch der Kellerraum ließ sichzumauern, und zwar so, dass nichts auf seineExistenz hindeutete. Sämtliche Leichen konnteer darin unterbringen. In den kommendenTagen würden vielleicht irgendwelche Leutehier herumschnüffeln und nach dem FBI-Agenten suchen. Möglicherweise hatte er sogarjemanden informiert, wohin er gegangen war.Aber es gab keinerlei Hinweise darauf, dass erjemals hier eingetroffen war, kein Auto, keinBoot, nichts.Esteban klickte das Magazin in die Waffe, schobeine Kugel in die Kammer und hob die Waffe miteiner Hand, die andere hielt die Taschenlampesorgfältig auf die reglose Gestalt gerichtet.Der Hieb kam von hinten, ein heftiger Schlagauf den Hinterkopf, und dann war da etwas aufihm wie ein Affe, zwei klauenähnliche Händegriffen ihm ins Gesicht, ein Finger hakte sich inden Rand seiner Augenhöhle, grub sich hineinund griff nach dem Augapfel. Esteban schrieauf, so heftig explodierte der Schmerz in ihm,wirbelte herum und versuchte, den Angreifer

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abzuwerfen. Er wehrte sich mit einer Hand, dieWaffe in der anderen feuerte wild, mehrerelaute Pengs schnell hintereinander. DieTaschenlampe fiel klappernd zu Boden, dannumhüllte ihn Schwärze.Einen Augenblick lang drehte sich alles inseinem Kopf vor Überraschung und Schmerz,ohne dass er etwas begriff. Dann wurde ihmalles klar: Es war die Frau. Er schrie, zuckteund zitterte, schlug blindlings mit der freienHand nach ihr, aber der feste, zupackende Griffder Frau ließ nicht nach, so dass er vorEntsetzen einen Moment lang jede Fähigkeit zuklarem Denken verlor.Mit einem Aufschrei stürzte er zu Boden, durchden schweren Schlag hatte sich der Griffendlich gelockert. Doch als er sich herumwälzteund die Waffe auf sie richten wollte, erkannteer, dass ihn jetzt eine zweite Personbekämpfte – sicherlich der FBI-Agent –, und dieWaffe wurde ihm grob aus der Handgeschlagen. Esteban schlug wild um sich, risssich los, rappelte sich auf und rannte los. Er

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prallte gegen die Wand, dann tastete erverzweifelt daran entlang, während dasStöhnen und Ächzen seiner Angreifer vonüberall um ihn herum zu kommen schienen.Die Tür! Er taumelte hindurch und rannte in dieFinsternis, benommen und orientierungslos. Erprallte von den Requisiten, Wänden undDurchgängen ab wie eine Flipperkugel, verlorvor Schmerz und Panik die Orientierung indiesem Wald aus Gerümpel, stürzte undrappelte sich wieder auf in dem Bemühen,wegzukommen. Die Frau und der FBI-Agent –wie hatten die beiden überleben können? Dochkaum war ihm die Frage gekommen, kannte erauch schon die Antwort – und verfluchte seinemonumentale, kolossale Dummheit. Im Laufenspürte er, dass sein Augapfel – frei, am Sehnervbaumelnd – mit jeder Bewegung in einem Bogendes Schmerzes hin und her schwang.Die Browning! Er hatte die zweite Waffevergessen. Er griff hinter seinen Gürtel, zog sieheraus und feuerte nach hinten, in dieRichtung der Verfolger. Kurz wurde sein Schuss

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vom Peng des Colts und, neben seinem Ohr,dem Durchschlagen einer Requisite durch einegroßkalibrige Kugel beantwortet.Verdammt, das war knapp. Er drehte sich umund rannte los, drängelte sich wie verrücktzwischen den alten Filmsets hindurch undversuchte, sich zu orientieren. Er hörte, dasssie ihn verfolgten. Im Dunkeln nochmals auf siezu schießen, das würde nur bedeuten, sich zurZielscheibe zu machen.Da prallte er gegen etwas und erkannte, dasser bei seinem verzweifelten Flutversuch imKreis gerannt war. Wo war er bloß? Was füreine Requisite war das hier? Eine schwereGipswand, die Umrisse von Blöcken … war dashier das Türmchen der Burg? Ja, das musste essein! Er steckte die Waffe zurück in denHosenbund und kraxelte auf allen vieren dieWehrgänge hinauf. Ein bisschen weiter noch,nur ein bisschen … Der Wehrgang endete, under sprang auf der anderen Seite herunter undlandete auf etwas, das sich wie eine Rampeanfühlte. Was war das hier? Er hatte damit

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gerechnet, sich auf dem Sarkophag aus Stein-Imitat des ägyptischen Pharaos Ranebwiederzufinden, aber das hier war etwas völliganderes. War er in die falsche Richtunggegangen? Ihm schwirrte der Kopf, als er sichabermals inmitten der endlosen Requisiten zuorientieren versuchte, während sich wegen derSchmerzen in seinem Kopf alles drehte. Erkrabbelte die Rampe hinauf, strauchelte undstürzte, dann lag er schwer atmend auf einemhölzernen Podest. Wenn er einfach nur liegenbleiben würde, absolut still, würden sie ihnvielleicht nicht finden. Aber nein, das war einetörichte Annahme. Sie würden ihn finden, ihnfinden und … Er musste hier raus, dorthinkommen, wo er sie bekämpfen konnte. Oderabhauen.Er hörte sie in der Finsternis, sie bewegten sichüber den Wehrgang und suchten nach ihm.Nach dem plötzlichen Verlust seinerHoffnungen war er wie betäubt vor Kummerund Schmerz. Er musste sich der Tatsachestellen, dass ihm nur noch eines übrigblieb: die

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Flucht. Nach Mexiko vielleicht oder Indonesien,vielleicht Somalia. Aber zunächst musste er ausdiesem finsteren Gefängnis herauskommen,seine Augen an die Dunkelheit gewöhnen. Ersetzte sich auf und spürte, wie ein hängendesSeil über sein Gesicht hinwegstrich, packte esund begann, sich hinaufzuziehen, aber danngab das Seil plötzlich nach, und von oben hörteer ein seltsam sausendes Geräusch, und dann,den Bruchteil einer Sekunde später, ging ihmauf, was er getan hatte, was für ein Seil ergezogen hatte, aber da war es bereits zu spät,und sein Leben endete abrupt mit einemkurzen, scharfen Tschock. Nora hörte ein Kratzen, dem ein Zischen folgte,dann sah sie ein flackerndes gelbliches Licht.Pendergast hielt in der Hand ein Stückgerolltes Zeitungspapier, das an einem Endebrannte. Auf dem Zementboden lag einePatronenhülse, der er das Kordit entnommenhatte, um das Papier in Brand zu stecken.»Kommen Sie, schauen Sie mal«, sagte er matt.

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Pendergast streckte die Hand aus, Nora fasstesie. Ihr tat alles weh, sämtliche Rippen in ihremRücken schienen unter der Wucht der Schüssegebrochen zu sein. Ihr Schädel pochte wegender neuerlichen Gehirnerschütterung.Pendergasts kugelsichere Weste, die er ihr inder dunklen Zelle gegeben hatte, fühlte sichunter dem Krankenhaushemd unvertraut undschwer an. Sie trat hinter einemMauerabschnitt einer mittelalterlichen Burghervor und dort, unmittelbar vor ihr, stand eineGuillotine, die Klinge war unten, ein Körper lagausgebreitet auf der Rampe. Und in dem Korbdarunter sah sie einen Kopf. Den Kopf ihresKerkermeisters, das eine Auge in Überraschungweit aufgerissen, das andere grauenhaftzerquetscht, baumelnd an einem seilartigenNerv.»O mein Gott …« Sie schlug die Hand vor denMund.»Sehen Sie genau hin«, sagte Pendergast. »Dasist der Mann, der für den Mord an Ihrem Mannund Caitlyn Kidd verantwortlich ist. Der Mann,

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der Colin Fearing und Martin Wartek getötetund versucht hat, Sie und mich umzubringen.«»Warum?«»Ein nahezu perfekt choreographiertes – odersollte ich besser sagen: geschriebenes – Drama.Das ausschlaggebende Motiv werden wirkennen, wenn wir ein bestimmtes Dokumentgefunden haben.« Seine Stimme klang so leise,so flüsternd, dass sie sie kaum hörte. »Aberjetzt müssen wir einen Krankenwagen rufen.Wenn … wir hier fertig sind.«Nora starrte auf die Szene des Grauens undmerkte, dass sie durch den Schleier ihrerSchmerzen tatsächlich eine gewisse grimmigeKatharsis empfand. Sie wandte sich ab.»Genug gesehen?«Sie nickte. »Wir müssen hier raus. Sie blutensehr stark.«»Esteban hat meine Weste verfehlt. Ich glaube,die Kugel hat meine linke Lungedurchschlagen.« Er hustete, Blutbläschentraten aus seinem Mund.Indem sie die Papierfackel als Lichtquelle

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Indem sie die Papierfackel als Lichtquellenutzten, gingen sie unter großen Schmerzendurch das Kellergeschoss, die Treppe hinauf,über den schattigen Rasen und zur Villa. Dortim nachtdunklen Wohnzimmer half PendergastNora aufs Sofa, nahm das Telefon zur Hand undwählte 911.Und dann brach er bewusstlos auf dem Bodenzusammen, wo er in der sich ausbreitendenLache des eigenen Blutes reglos liegen blieb.

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Mit Einbruch der Dunkelheit war es im 7. Stockdes North Shore University Hospital stillgeworden. Das Quietschen der Rollstühle undKrankenbetten, die Glockentöne undAnkündigungen aus den Lautsprechern derSchwesternstationen hatten fast aufgehört.Dennoch waren Geräusche zu hören, die nieendeten: das Zischen der Beatmungsgeräte,das leise Schnarchen und Murmeln derPatienten, das Bimmeln und Piepen dermedizinischen Monitore.D’Agosta hörte nichts davon. Er saß da, wo erdie vergangenen achtzehn Stunden gesessenhatte, neben dem Einzelbett in demKrankenzimmer. Er hielt den Blick zu Bodengerichtet und ballte und öffnete immer wiederdie unverletzte Hand.Aus dem Augenwinkel sah er eine Bewegung.

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Nora Kelly stand im Türrahmen. Sie trug einenVerband um den Kopf, und unter demKrankenhaushemd war zu sehen, dass dieRippen dick verbunden waren. Sie ging zumFußende des Betts.»Wie geht es ihm?«, fragte sie.»So wie vorher.« Er seufzte. »Und Ihnen?«»Schon viel besser.« Sie zögerte. »Und was istmit Ihnen? Wie geht es Ihnen?«D’Agosta schüttelte den gesenkten Kopf.»Lieutenant, ich möchte Ihnen danken. Für IhreHilfe während der ganzen Angelegenheit.Dafür, dass Sie mir geglaubt haben. Für alles.«D’Agosta spürte, dass er errötete. »Ich habenichts getan.«»Sie haben alles getan. Wirklich.« Er spürteihre Hand auf seiner Schulter, und dann warNora weg.Als er das nächste Mal aufblickte, waren zweiweitere Stunden vergangen. Diesmal war esLaura Hayward, die in der Tür stand. Als sie ihnsah, kam sie schnell herüber, gab ihm einensanften Kuss und setzte sich auf den Stuhl

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neben ihn.»Du musst etwas essen«, sagte sie. »Du kannstnicht ewig hier herumsitzen.«»Ich hab keinen Hunger«, antwortete er.Sie beugte sich näher zu ihm. »Vinnie, ich sehedich nicht gern in diesem Zustand. AlsPendergast mich anrief und mir sagte, dass duin die Kellerräume des Ville gegangen bist, daist mir …« Sie nahm seine Hand. »Da ist mirplötzlich klar geworden, dass ich es nichtertragen könnte, dich endgültig zu verlieren.Du darfst dir einfach nicht immer weiter dieSchuld geben.«»Ich war zu genervt. Wenn ich meine Wut inden Griff bekommen hätte, wäre er nichtangeschossen worden. Das ist die Wahrheit,und das weißt du auch.«»Nein, das weiß ich nicht. Wer weiß, waspassiert wäre, wenn die Sache anders verlaufenwäre. Das ist die Ungewissheit unsererPolizeiarbeit, mit der wir alle leben müssen.Aber wie auch immer, du hast gehört, was dieÄrzte gesagt haben: Die Krise ist vorüber.

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Pendergast hat viel Blut verloren, aber er wirddurchkommen.«Sie hörten, wie sich im Bett etwas bewegte.D’Agosta und Hayward blickten hin. AgentPendergast betrachtete sie durch halbgeschlossene Lider. Er war bleicher, alsD’Agosta ihn je gesehen hatte – totenbleich –,und seine Glieder wirkten fast gespenstischmager.Pendergast erwiderte nur kurz D’Agostas Blick,die schwerlidrigen Augen starr. Einenfurchtbaren Augenblick lang fürchteteD’Agosta, er sei tot. Aber dann bewegtePendergast die Lippen. D’Agosta und Haywardbeugten sich näher heran, um zu hören, was ersagen wollte.»Ich freue mich, dass Sie beide so gutaussehen.«»Sie sehen aber auch gut aus«, antworteteD’Agosta und rang sich ein Lächeln ab. »Wiegeht es Ihnen?«»Seit ich hier liege, habe ich viel nachgedachtund ein wenig das Alleinsein genossen. Was ist

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denn mit Ihrem Arm passiert, Vincent?«»Fraktur der Elle. Keine große Sache.«Pendergast schloss die Augen. Nach einemMoment schlug er sie wieder auf.»Was war darin?«, fragte er.»Worin?«»In Estebans Safe.«»Ein altes Testament und eine Urkunde.«»Ah«, sagte Pendergast leise. »Der Letzte Willeund das Testament des Elijah Esteban?«D’Agosta schrak zusammen. »Woher wissen Siedas denn?«»Ich habe Elijah Estebans Grab im Keller desVille gefunden. Es war erst Minuten zuvoraufgebrochen und geplündert worden –zweifellos wegen des Testaments und derUrkunde. Eine Eigentumsurkunde, nehme ichan?«»Stimmt. Über einen Bauernhof mit acht HektarGrund«, sagte D’Agosta.Ein langsames Nicken. »Ein Hof, der, wie ichvermute, kein Hof mehr ist.«»Ganz genau. Heute acht Hektar Land in bester

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Lage von Manhattan, das sich zwischen TimesSquare und Madison Avenue erstreckt undeinen Großteil der Mittvierziger Straßenumfasst. Dieses Testament wurde auf eineWeise verfasst, dass Esteban als einziger Erbeeinen klaren Rechtsanspruch besaß.«»Natürlich hätte er nicht versucht, das Landtatsächlich zu übernehmen. Er hätte dasDokument als Grundlage eines äußerstlukrativen Gerichtsverfahrens genutzt, das ineinem Multimillionen-Dollar-Vergleich geendethätte. Lohnt es, dafür zu töten, Vincent?«»Für manche Leute, vielleicht.«Pendergast legte die Arme auf die Bettdecke –Teil einer, wie D’Agosta glaubte,außergewöhnlich feinen Bettwäsche. KeinZweifel, dafür war Proctor zu danken. »Dort, wosich heute das Ville befindet, gab es auchfrüher schon eine Glaubensgemeinde,allerdings von einer ganz anderen Art«, sagteer. »Wren hat mir gesagt, dass der Gründerzum Gutsherrn in Südmanhattan avancierte,nachdem die Gemeinde auseinanderfiel. Dieser

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Farmer und Elijah Esteban müssen ein undderselbe Person sein. Nach seinem Tod wurdeer im Keller eines Hauses der Siedlung, die ergegründet hatte, beigesetzt – allein, wie esscheint, mit den verhängnisvollen Dokumenten,der Eigentumsurkunde und dem Testament.«»Das ergibt Sinn«, sagte D’Agosta. »Wie hatAlexander Esteban also davon erfahren?«»Nachdem er sich aus Hollywoodzurückgezogen hatte, scheint Esteban einFaible für Ahnenforschung entwickelt zuhaben. Er hat einen Forscher eingestellt, derfür ihn die alten Bücher durchsehen sollte. Eswar dieser Forscher, der die Entdeckungmachte – und für seine Mühe ermordet wurde.Um ihn handelt es sich übrigens bei der nichtidentifizierten Leiche im Tunnel.«»Wir haben sie gefunden«, sagte Hayward.»Zudem war es eine höchst passende Leiche.Sie wurde von der Brücke in den Harlem Rivergeworfen und von unserem äußerstbeschäftigten Freund Wayne Heffler mit Hilfeder sogenannten Schwester fälschlich als

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Fearing identifiziert.«»Colin Fearing war also tatsächlich am Leben«,sagte D’Agosta. »Als er Smithback umbrachte,meine ich.«Ein Nicken. »Erstaunlich, was sich mitTheaterschminke so alles bewerkstelligen lässt.Esteban war ein Filmregisseur par excellence.«»Vielleicht sollten wir Agent Pendergast sichausruhen lassen«, sagte Hayward.Pendergast winkte ab. »Unsinn, Captain. Redenhilft mir, einen klaren Kopf zu bekommen.«»Ich verstehe das immer noch nicht«, sagteD’Agosta.»Ist ganz einfach, wenn man den Faden ersteinmal aufgenommen hat.« Pendergast schlossdie Augen und faltete die blassen Hände aufder Decke. »Esteban hatte von der Existenzund dem Ort eines Dokuments erfahren, dasihn fabelhaft reich machen würde.Unglücklicherweise war es in einem Grabverschlossen und befand sich im Kellergeschossdes heutigen Ville des Zirondelles, unter einergeheimen Sekte, die Außenstehenden mit

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größtem Misstrauen begegnet. So geheim, dassnur einhundertvierundvierzig Personen jemalsMitglied werden konnten. Nur wenn einMitglied starb, wurde ein neues rekrutiert.Unmöglich, dass Esteban da eindringen konnte.Also hat er versucht, die Öffentlichkeit gegendas Ville zu mobilisieren, die Stadt dazu zubewegen, dass sie das Grundstückzurückfordert und die Hausbesetzer vertreibt.Deshalb ist er auch Menschen helfen Tierenbeigetreten und hat Smithback angeheuert, inder Times darüber zu schreiben.«»Jetzt verstehe ich«, sagte D’Agosta. »Für sichgenommen hat das nicht genügt. Also hatEsteban eine Eskalationsstrategie verfolgt,indem er Smithback ermordete und den Morddem Ville in die Schuhe schob und diesenganzen Voodoo- und Zombie-Blödsinn erfand.«Pendergast nickte kaum sichtbar. »Er hat denVôdou nicht ganz richtig verstanden – zumBeispiel beim winzigen Sarg in Fearings leeremGrabfach –, deshalb war mein Freund Bertin jaauch so perplex. Ein Hinweis, den ich leider

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auch so perplex. Ein Hinweis, den ich leiderübersehen habe. Ironischerweise, denn wasdas Ville praktizierte, war ohnehin nicht Vôdou,sondern ein ganz eigener und bizarrer Kult, dersich im Zuge der Jahrzehnte der Abschottungvon der Außenwelt verwandelt und pervertierthat.« Er hielt inne. »Esteban hatte zweiKomplizen angeheuert. Colin Fearing – undCaitlyn Kidd.«»Caitlyn Kidd?«, wiederholte D’Agostaungläubig. »Die Reporterin?«»Ganz genau. Sie war Teil des Plans. Estebanhat vermutlich eine Liste mit präzise definiertenCharaktereigenschaften angefertigt und sichdann die Leute ausgesucht, die diesen genauentsprachen. Ich glaube, es ist ungefähr sopassiert: Fearing war arbeitslos, einSchauspieler mit schlechtem Ruf, der unbedingtGeld brauchte. Er wohnte im selben Haus wieSmithback, war ungefähr so groß und schwerwie Smithback. Für Esteban der perfekteKandidat. Caitlyn Kidd war eine ziemlichskrupellose Reporterin, die unbedingt Karriere

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machen wollte.« Er blickte zu Hayward hinüber.»Sie scheint das gar nicht zu überraschen.«Hayward zögerte nur kurz, bevor sieantwortete. »Ich habe zu allen Personen, die indiesen Fall involviert waren,Hintergrunduntersuchungen angefordert.Kidds ist erst vor ein paar Stundenzurückgekommen. Sie ist vorbestraft wegenBetrugs – ziemlich gut versteckt im Lebenslauf,wie sich herausstellte. Sie hat alsTrickbetrügerin gearbeitet, die von älterenMännern Geld erpresste.«D’Agosta sah sie alarmiert an.Pendergast nickte nur. »Esteban hat sievermutlich über ihr Vorstrafenregistergefunden. Wie dem auch sei, er muss ihr sehrviel bezahlt haben für ihre Hauptrolle. Estebanhat ein Drehbuch für dieses kleine Dramageschrieben, in dem Fearing den eigenen Todvortäuschte, indem er den Forscher als Leicheverwendete. Caitlyn Kidd spielte den Part derSchwester, die ihn identifizierte, und derübermäßig beschäftigte Dr. Heffler

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vervollständigte das Bild. Sobald alle Fearingfür tot hielten, hat Esteban einfach die ganzeSache mittels der Schminke noch verstärkt, erwar schließlich Filmproduzent. Und dann hat erFearing – der sich selbst spielte, nur jetzt vonden Toten auferstanden – in der Funktion alsZombie Smithback umbringen und Nora Kellyangreifen lassen.«D’Agosta schüttelte beschämt den Kopf.»Scheint fast offensichtlich zu sein, so wie Siedas darstellen.«»Erinnern Sie sich, dass Fearing ganzabsichtsvoll in die Überwachungskamerageschaut hat, als er SmithbacksApartmentgebäude verließ? Dass er dafürgesorgt hat, dass die Nachbarn ihn deutlich zusehen bekamen? Damals ist mir dasmerkwürdig vorgekommen, aber jetzt ergibt esSinn. Dass Fearing gesehen und identifiziertwird, war ein entscheidendes, vielleicht dasentscheidende Element in Estebans Plan.«Ein langes Schweigen entstand. Schließlichschlug Pendergast die Augen auf. »Dann hat

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Esteban den nächsten Akt seinesTheaterstücks geschrieben. Caitlyn Kiddmachte sich an die trauernde Nora heran undheuerte sie für ihre Bemühungen an, dem Villeden Mord in die Schuhe zu schieben. Ihr ersterAuftrag bestand darin, nahe an Noraheranzukommen und diese in den Glauben zuwiegen, dass es ihre Idee war, sich das Villeeinmal näher anzuschauen. Esteban und Kiddhielten den Druck auf Nora aufrecht, indem sieFearing dazu brachten, Nora im Museum undanderswo zu verfolgen. Als Nächstes stahlEsteban Smithbacks Leiche aus demLeichenschauhaus, um so die Täuschung zuerschaffen, dass auch er als Zombie von denToten wiederauferstanden sei. Aber erbenötigte Smithbacks Leiche noch aus einemanderen, noch wichtigeren Grund: um eineMaske seines Gesichts anzufertigen, dieFearing dann verwenden konnte. Ich habeSpuren von Latexgummi auf Smithbacks Gesichtgefunden, die Überreste der Abdruckform.Diese Maske, die stark auf Horroreffekte

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abzielte, hat Fearing getragen, als er Kiddermordete, und zwar unter den Augen vonMenschen, die Smithback kannten.«»Aber warum Kidd umbringen?«, fragteD’Agosta.»Sie hatte ihre Rolle perfekt gespielt – ihrNutzen war damit erledigt. Zeit, sie aus demWeg zu räumen. Es war leichter, sieumzubringen, als sie zu bezahlen, außerdem istes immer klug, sich seiner Komplizen zuentledigen. Eine Lektion, die sich Fearing zuHerzen hätte nehmen sollen. Erinnern Sie sich,dass Kidd Smithbacks Namen rief, ehe sieermordet wurde? Ich würde vermuten, dassEsteban ihr erzählt hat, dass Fearing,verkleidet als der tote Smithback, jemandanderen auf der Feier töten würde. Ihre Rolle –die letzte Szene – bestand darin, in gespieltemEntsetzen Smithbacks Namenherauszuschreien, um damit sogleich in allenKöpfen festzuschreiben, wer der Täter war, unddie Täuschung fest in den Köpfen der Leute zuverankern. Allerdings nahm die Sache ein

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anderes Ende, als sie erwartet hatte.«»Und dann hat Esteban Wartek von Fearingermorden lassen, sobald Wartek damit anfing,ein Räumungsverfahren gegen das Villeeinzuleiten«, sagte D’Agosta.Pendergast nickte.»Und danach hat er Nora entführt und demVille erneut den Mord untergeschoben.«»Ja. Der Druck auf das Ville musste bis zumÄußersten gesteigert werden. Esteban wollteauf keinen Fall ein längeresRäumungsverfahren abwarten. Als er das Videovon Nora freigab, von dem alle annahmen, dasses im Keller des Ville aufgenommen worden sei,sahen wir schon fast den dritten Akt. Und dawusste Esteban, dass es an der Zeit war,zuzuschlagen.«»Also hat Esteban selbst Fearing umgebracht?«»Ich glaube, ja. Esteban wollte ohne Zweifelden zweiten Komplizen auf die gleiche Weisebeseitigen wie den ersten. Die Entsorgung derLeiche in der Nähe des Ville besaß denzusätzlichen Vorteil, damit den Bewohnern des

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Ville den Mord in die Schuhe schieben zukönnen.«»Eines begreife ich nicht«, sagte D’Agosta.»Der erste Protestmarsch gegen das Ville –Esteban hat die Demonstranten erstaufgepeitscht und dann wieder beruhigt.Warum? Wieso ist er da nicht einfachreingegangen?«Pendergast antwortete nicht sofort. »Das habeich zunächst auch verwirrend gefunden. Dannist mir der Gedanke gekommen, dass es zuwenig Demonstranten waren, sie konntenkeinen Erfolg haben. Die Demonstration kamverfrüht. Esteban hatte nur einen Versuch, indas Ville hineinzukommen und den Sargauszurauben. Er brauchte Ausschreitungen –und zwar große, nicht einen kurzen Tumult,damit er ungesehen hineinkommen, sich dieTrophäe schnappen und sich wiederzurückziehen konnte. Die erste Demonstrationwar nur eine Generalprobe. Und deshalb hatEsteban auch nicht die zweite, großeDemonstration angeführt. Er hat sie

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angestachelt und dann so getan, als würde eraussteigen. Er war in den Kelleräumen,Vincent, sogar während wir dort waren. Es warnur Zufall, dass sich unsere Wege nichtgekreuzt haben. Als die Kreatur uns schließlichangriff, war Esteban schon wieder weg.«Hayward runzelte die Stirn. »Was wareigentlich diese Kreatur?«»Ein Mensch. Zumindest war es mal ein Menschgewesen. Das Ritual hat ihn in etwas anderesverwandelt.«»Was für ein Ritual?«, fragte D’Agosta.»Erinnern Sie sich an diese seltsamenInstrumente, die wir von dem Altar im Villemitgenommen haben? Die Werkzeuge mit denGriffen aus Knochen und einer langen,gebogenen Metallspitze mit einer winzigenKlinge an einem Ende? Sie dienten demselbenZweck wie ein altes medizinisches Instrument,das unter dem Namen Leukotom bekannt ist.«»Leukotom?«, wiederholte D’Agosta.»Das Instrument wird zur Durchführung einerLobotomie verwendet, in diesem Fall einer

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transorbitalen Lobotomie, bei der man durchdie Augenhöhle ins Gehirn eindringt. DieBewohner des Ville hatten vor langer Zeitherausgefunden, dass die Zerstörung einesspeziellen Bereichs des Gehirns, in einerRegion namens Broca-Areal, das unglückseligeOpfer schmerzunempfindlich macht, frei vonmoralischen oder ethischen Skrupeln, äußerstgewalttätig und doch untertänig gegenüberseiner Pflegeperson. Etwas weniger alsmenschlich, aber mehr als ein Tier.«»Und sie behaupten, dass das Ville dasjemandem absichtlich angetan hat?«»Absolut. Der Betreffende wurde von der Sekteausgewählt, als Opfer für die Gemeinde, aber erwurde auch verehrt und angebetet, weil er sichopferte. Es mag sogar eine Ehre gewesen sein,um die ihn viele beneideten. Das Mensch-Wesen war in Wahrheit ein zentralerBestandteil ihres religiösen Rituals. SeineSchaffung, seine Pflege, seine Ausbildung,seine Ernährung und seine Freilassung – dasalles gehörte zum rituellen Zyklus. Es diente

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dazu, die Gemeinde vor der feindlichen Umweltzu schützen, und die Mitglieder wiederumernährten, versorgten, verehrten es. Inmanchen Gesellschaften wird bestimmtenIndividuen erlaubt, Handlungen zu vollziehen,die normalerweise als Unrecht gelten. Vielleichthat das Ville den Mann lobotomisiert als eineMöglichkeit, seine Seele zu schützen und ihm zuerlauben, zu morden, zu töten und das Ville zubeschützen, ohne dass der Makel der Sünde aufseine Seele fällt.«»Aber wie kann denn eine Operation einenMenschen in eine Art Monster verwandeln?«,fragte Hayward.»Die Operation ist nicht schwierig. Vor vielenJahren führte ein Arzt namens Walter Freemanin nur wenigen Minuten eine Operation aus, dieunter dem Namen Eispickel-Lobotomie bekanntwurde. Hineinstecken, eine schnelle rotierendeBewegung, und der betreffende Teil desGehirns ist zerstört. Zusammen mit derPersönlichkeit des Patienten, seiner Seele,seinem Selbstgefühl. Das Ville hat das nur

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seinem Selbstgefühl. Das Ville hat das nureinen Schritt weiter geführt.«»Diese alten Mordfälle, die Wren aufgedeckthat?«, sagte D’Agosta. »Vielleicht waren dieTäter ja ähnliche Zombies.«»Genau: Die Schaffung eines Zombies, derdurch Mord und Angst Isidor Straus davonüberzeugte, mit der Rodung von Inwood HillPark nicht fortzufahren. Allem Anschein nachist Straus’ Verwalter selbst zum Ville-Kultkonvertiert – und wurde erst in den Rang einesHeiligen erhoben und dann in jenen Zombieverwandelt.«Hayward lief es kalt den Rücken hinunter. »Dasist ja furchtbar.«»In der Tat. Die Ironie ist fast mit Händengreifbar. Esteban und Fearing handelten wieZombies, um die Öffentlichkeit davon zuüberzeugen, dass das Ville dieses Wesengeschaffen habe. Doch das Ville hat,gewissermaßen, tatsächlich Zombieserschaffen – allerdings zu ganz anderenZwecken, als Esteban erkannte. Übrigens, was

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ist eigentlich mit dem Ville passiert?«»Wie’s aussieht, bleiben die Leute, wo sie sind,jedenfalls vorerst. Sie haben versprochen, keineTieropfer mehr darzubringen.«»Und, lasst uns hoffen, keine Zombies mehr zuerschaffen. Es würde mich nicht wundern,wenn ich erführe, dass Bossong, anstatt derBöse zu sein, wie wir annahmen, künftig soetwas wie einen heilsamen Einfluss auf dasVille entwickelt. Zwischen ihm und demHohepriester herrschten Spannungen, wie ichbemerkt habe.«»Es war Bossong, der den Zombie getötet hat«,sagte D’Agosta. »Am Ende, als dieser kurzdavorstand, uns zu töten.«»In der Tat. Und das ist beruhigend. Einesolche Heldentat ist nichts, was ein wahrerGläubiger tun würde – das Gefäß des eigenenGottes töten.« Pendergast blickte Hayward an.»Übrigens, Captain, ich wollte Ihnen nochsagen, wie leid es mir tut, dass man Sie bei derBesetzung der Sonderkommission desBürgermeisters übergangen hat.«

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»Nicht nötig.« Hayward strich sich dieschwarzen Haare zurück. »Ich glaube, es nutztmir sogar, dass ich diese Gelegenheit verpassthabe. Die jüngste Neuigkeit lautet nämlich: DieSonderkommission entwickelt sich zu einembürokratischen Albtraum, so wie wir alleannahmen. Und dabei fällt mir ein, erinnern Siesich noch an unseren Freund Kline, denSoftwareentwickler? Wie’s aussieht, wird es ihmleidtun, dass er den Commissioner unter Druckgesetzt hat. Ich habe soeben erfahren, dass dasFBI Rockers Telefone angezapft und das ganzeErpressungsgespräch auf Band hat. Beidewerden fallen, und zwar tief. Kline ist amEnde.«»Eine Schande. Rocker war kein schlechterKerl.«Hayward nickte. »Er hat aus einemehrenwerten Motiv gehandelt – der Dyson-Fonds. Eine Tragödie, in gewisser Weise. Aberein Nebeneffekt ist, dass ich aus dem Büro desCommissioners ausscheide und auf meine Stelleals Captain der Mordkommission zurückkehre.«

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Stille senkte sich über den Raum.D’Agosta sagte eilig: »Hören Sie, Pendergast.Ich wollte mich noch für meine gottverdammteDummheit entschuldigen – dafür, dass ich Sieins Ville geschleppt habe, dass Sie beidebeinahe erschossen worden wären, dafür, dasswir Nora fast verloren hätten. Ich habe ein paaridiotische Dinge getan, aber das hier hat denVogel abgeschossen.«»Mein lieber Vincent«, sagte Pendergast leise,»wenn wir nicht ins Ville reingegangen wären,dann hätte ich niemals das geplünderte Grabgefunden und auch niemals den NamenEsteban entdeckt … und wo ständen wir dannjetzt? Nora wäre tot und Esteban der neueDonald Trump. Sie sehen also, dass Ihre›Dummheit‹ entscheidend zur Lösung diesesFalls beigetragen hat.«D’Agosta wusste nicht recht, was er daraufantworten sollte.»Und jetzt, wenn Sie nichts dagegen haben,Vincent, möchte ich ruhen.«

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Während sie das Krankenhauszimmer verließen,wandte sich D’Agosta zu Laura um. »Was wareigentlich mit diesenHintergrundüberprüfungen bei allen, die in denFall involviert waren?«Hayward wirkte verlegen, was untypisch für siewar. »Ich konnte einfach nicht tatenloszusehen, wie Pendergast dich in diese Sachehineinzieht. Also … da habe ich angefangen,selbst in dem Fall zu ermitteln. Nur einbisschen.«D’Agosta verspürte ein seltsames Gemisch vonGefühlen, milde Verärgerung bei demGedanken, dass sie glaubte, dass erherausgehauen werden musste, großeGenugtuung, weil er wusste, dass er ihr sowichtig war. »Du hörst nie auf, auf michachtzugeben«, sagte er.Als Antwort darauf hakte sie sich bei ihm unter.»Hast du schon Pläne fürs Abendessen?«»Ich lade dich ein.«»Wohin?«»Wie wär’s mit dem Le Circque?«

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Sie sah ihn erstaunt an. »Zweimal in einemJahr. Was ist der Anlass?«»Kein Anlass. Nur für eine sehr besondereDame.«Im selben Augenblick hielt ein älterer Mann imFlur sie auf. D’Agosta blickte ihn überraschtan. Der Mann war klein und untersetzt undgekleidet, als sei er gerade eben dem Londonum die Jahrhundertwende entstiegen:schwarzer Cutaway, weiße Nelke im Knopfloch,makelloser Bowler.»Verzeihen Sie«, sagte er. »Liegt in demZimmer, das Sie soeben verlassen haben,Aloysius Pendergast?«»Ja«, sagte D’Agosta. »Warum?«»Ich habe hier ein Schreiben, das ich ihmzustellen muss.« Und in der Tat, der Mann hielteinen Brief in Händen, sehr edles,cremefarbenes Papier, handgepresst demAussehen nach. Auf der Vorderseite prangte ingroßer Schrift Pendergasts Name.»Sie werden mit dem Brief noch einmalzurückkommen müssen«, sagte D’Agosta.

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»Pendergast ruht.«»Ich versichere Ihnen, er wird dieses besondereSchreiben augenblicklich sehen wollen.« Unddamit trat der Mann an ihnen vorbei zur Tür.D’Agosta legte ihm die Hand auf die Schulter,um ihn zurückzuhalten. »Wer sind Sieeigentlich?«, fragte er.»Mein Name ist Ogilby, ich bin der Anwalt derFamilie Pendergast. Wenn Sie mich nun bitteentschuldigen?« Und indem er seine Hand – inbeigefarbenem Handschuh – aus D’AgostasGriff befreite, verneigte er sich, hob den Hut inRichtung Hayward und trat an ihnen vorbei inPendergasts Zimmer.

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E p i l o g

Mühelos schnitt das kleine Schnellboot durchdas glasklare, spiegelglatte Wasser des LakePowell. Es war ein kalter, klarer Tag im April,die Luft Arizonas so rein und sauber wie frischeWäsche. Die spätmorgendliche Sonne schienorangefarben auf die großen mächtigenSandsteinwände der Grand Bench, undwährend das Boot um die Biegung kam, erhobsich weit dahinter die Spitze des unwirtlichen,unzugänglichen Kaiparowits-Plateaus violett inder aufgehenden SonneNora Kelly stand am Ruder, der Wind wehtedurch ihr kurzes Haar. Das Grollen desBootsmotors hallte leise von den Steilhängenwider, und das Wasser zischte am Rumpfentlang, während das Boot durch diesemystische Welt aus Steinen fuhr. Die Luft warerfüllt vom Wohlgeruch von Zedern und

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warmem Sandstein, und während das Bootdurch die domartige Stille dahinglitt, schwebteüber den Canyon-Kämmen ein Steinadler undstieß einen dünnen Schrei aus.Sie drosselte das Gas, das Boot verlangsamteseine Fahrt. Als der See eine weitere Biegungmachte, kam die Mündung eines schmalenCanyons in Sicht – Serpentine Canyon, zweiglatte Wände aus rotem Sandstein mit einerGasse grünen Wassers dazwischen.Nora steuerte das Boot in die Schlucht hinein.Der Klang des Motors wirkte jetzt lauter,beengter. Seinem Namen alle Ehre machend,schlängelte sich der Canyon wie einegewundene Landstraße dahin. In der schmalenSchlucht war es kühler, sogar kalt, so dass Noraihren Atem in der Luft sehen konnte. EineMeile weiter vorn erreichte das Boot einebesonders schöne Stelle, dort, wo ein kleinerWasserfall in einer Gesteinsrinne, die sicheinen Mikrokosmos hängender Farne undMoose erschaffen hatte, mitsamt einer Gruppekleiner Krüppelkiefern, die seitwärts aus einer

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Felsspalte wuchsen, in die Tiefe stürzte. Noraschaltete den Motor aus, das Boot trieb dahin,und sie lauschte dem Rauschen und Plätscherndes Wasserfalls und atmete den Duft der Farneund des Wassers ein.Sie erinnerte sich an diesen magischen Ort, alswäre es gestern gewesen. Während derExpedition nach Quivira vor fünf Jahren war ihrBoot an diesem Wasserfall vorbeigefahren. BillSmithback, den sie erst tags zuvorkennengelernt hatte, hatte an der Relinggestanden und Nora zu sich gewunken.»Sehen Sie das, Nora?«, hatte er gesagt, sieangestoßen und gelächelt. »Dort waschen dieElfen ihre hauchzarten Flügel. Das ist die Elfen-Dusche.«Es war das erste Mal, dass er sie mit seinerpoetischen Ader verblüfft hatte, seinerEinsicht, seinem Humor und seiner Liebe zumSchönen. Und dann hatte sie ihn sich einmalnäher angeschaut, statt ihrem ersten Eindruckzu vertrauen. Vielleicht war es auch derAugenblick gewesen, als sie sich in ihn verliebt

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hatte. Zwei Wochen zuvor, nachdem man ihr eineStelle als Kuratorin am Archäologischen Institutvon Santa Fé angeboten hatte, war sie nachNew Mexico zurückgekehrt. Sie hatte bei ihremBruder Skip gewohnt und die letzte Wochedamit verbracht, mehr über den Arbeitsplatz inErfahrung zu bringen und die Anstellung mitdem Leiter und den Aufsichtsratsmitgliederndes Museums zu besprechen. Wenn sie den Jobannähme, wäre es nötig, die Details für dieFinanzierung ihrer bereits geplantenExpedition nach Utah im kommenden Sommerauszuarbeiten. Skip war eine große Hilfe undUnterstützung gewesen, froh, den Gefallenerwidern zu können, denn damals, vor Jahren,hatte sie ihm dabei geholfen, sein Leben wiederin Ordnung zu bringen.Doch es hatte einen anderen, persönlicherenGrund für diese Reise gegeben. Nora hatte,größtenteils, Bills grauenhaften Tod bewältigt.New York City – ihre bevorzugten Restaurants

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und Parks, selbst die Wohnung – barg keineSchrecken mehr für sie. Doch dieVergangenheit war eine andere Geschichte.Nora hatte keine Vorstellung, wie das Canyon-Land des Südwestens sie berühren würde. Ortewie Page in Arizona, an denen sie sichkennengelernt hatten, Lake Powell oder dieunwirtliche Landschaft jenseits davon, wo sienach der halb mythischen Stadt Quivira gesuchthatten. Sie empfand den Wunsch, diese Orteerneut zu erkunden, vielleicht, um auf dieseWeise ihre Gespenster zur letzten Ruhe zubetten. Während das Boot den Canyonhinuntertrieb, begannen die Erinnerungen –eingehüllt in den wehmütigen Schleier der Zeit,weswegen sie eher bittersüß als schmerzlichwaren – in ihr aufzusteigen. Bill, wie er sich lautbeklagte, nachdem sein Pferd Hurricane Deckihn gebissen hatte. Bill, wie er sie mit seinemKörper vor einer Blitzflut geschützt hatte. Bill,seine Gestalt scharf umrissen im hellenSternenlicht, als er nach ihrer Hand fasste.Solche Erinnerungen hatte dieses magische

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Land in ihr ausgelöst, und dafür war siedankbar.Das Boot trieb ganz ruhig auf dem spiegelndenWasser dahin. Nora griff nach unten und nahmeine kleine bronzene Urne in die Hand, löstedas Papiersiegel vom Rand und hob den Deckelan. Dann hielt sie die Urne über die Bordwandund schüttelte einige Male eine Handvoll Ascheins Wasser. Sie verteilte sich und versanklangsam in den jadefarbenen Fluten. Nora sahzu, wie sich die Asche strudelnd auflöste und imSinken immer trüber wurde. Und dann war sieverschwunden.»Lebe wohl, mein lieber Freund«, sagte sieleise.

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D a n k s a g u n g

Für ihre diversen Hilfestellungen und dieliebevolle Fürsorge möchten wir den folgendenPersonen danken: Jaime Levine, Jamie Raab,Kim Hoffman, Kallie Shimeck, Mariko Kaga, JonCouch, Claudia Rülke, Eric Simonoff, MatthewSnyder sowie allen im Verlag Grand CentralPublishing sowie darüber hinaus allen, diemitgeholfen haben, unsere Bücher zu unserenLeserinnen und Lesern zu bringen.Großen Dank schulden wir auch jenen, diemithalfen, Corris Swansons Pendergast-Websitezu kreieren, darunter Carmen Elliott, NadineWaddell, Cheryl Deering, Ophelia Julien, SarahHanley, Kathleen Munsch, Kerry Opel, MaureenShockey sowie Lew Lashmitt. Wir heben einGlas 21 Jahre alten Lagavulin auf eueraußergewöhnliches Talent und eurenliterarischen Geschmack.Und wie immer gilt unser endloser und

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bleibender Dank unseren Familien für ihreLiebe und ihre Unterstützung. Den Leserinnen und Lesern, die mit demoberen Manhattan vertraut sind, dürfteaufgefallen sein, dass wir uns gewisseFreiheiten genommen haben, was Inwood HillPark betrifft. Selbstverständlich sind alleMenschen, Orte, öffentlichen und privatenEinrichtungen, Firmen und Behörden undreligiösen Einrichtungen in Cult entweder freierfunden oder werden fiktiv verwendet.Insbesondere sind die im Roman dargestelltenZeremonien und Glaubensvorstellungen völligfiktiv und sollen weder irgendeinerexistierenden Religion oder irgendeinembestehenden Glauben ähneln noch, offen oderverdeckt, darauf anspielen.

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A N M E R K U N G E N D E R A U T O R E N

Wir werden häufig gefragt, in welcherReihenfolge unsere Bücher gelesen werdensollten.Diese Frage lässt sich am leichtesten für jeneRomane beantworten, in denen Special AgentPendergast vorkommt. Zwar stehen dieGeschichten in den meisten unserer Romanefür sich, doch die wenigsten spielen inverschiedenen Welten. Ganz im Gegenteil: Esscheint, dass, je mehr Romane wir gemeinsamschreiben, umso mehr zwischen den Figurenund Ereignissen »durchsickert«. So könnenzum Beispiel die Figuren aus einem Buch ineinem späteren auftauchen, oder Ereignisse ineinem Roman können in einen späterenüberschwappen. Kurzum, wir haben allmählichein Universum geschaffen, in dem dieCharaktere und ihre Erlebnisse sichüberlappen.

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Die Lektüre der Romane in einer bestimmtenAbfolge ist kaum notwendig. Wir haben unsbemüht, in fast allen unseren BüchernGeschichten zu erzählen, an denen man Freudehaben kann, ohne irgendeinen der anderenRomane gelesen zu haben – mit einigenAusnahmen.

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D I E P E N D E R G A S T - R O M A N Ein der inhaltlich chronologischen Reihenfolge

RELIC – Museum der Angstwar unser erster Roman und der erste, in demSpecial Agent Pendergast vorkommt. ATTIC – Gefahr aus der Tiefeist die Fortsetzung von RELIC. FORMULA – Tunnel des Grauensist unser dritter Pendergast-Roman und stehtganz für sich. RITUAL – Höhle des Schreckensist der nächste Roman in der Pendergast-Reihe.Auch dieser Roman enthält eine in sichabgeschlossene Geschichte, auch wenn Leser,die mehr über Constance Green erfahrenmöchten, hier wie auch in FORMULA einigeInformationen finden werden.

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BURN CASE – Geruch des Teufelsist der erste Roman in der Reihe, die wirinoffiziell die Diogenes-Trilogie nennen. Zwarist auch dieser Roman in sich abgeschlossen,doch nimmt er einige Fäden auf, die erstmals inFORMULA gesponnen werden. DARK SECRET – Mörderische Jagdist der mittlere Roman der Diogenes-Trilogie.Obwohl man ihn als in sich abgeschlossenesBuch lesen kann, ist zu empfehlen, BURN CASEvorher zur Hand zu nehmen. MANIAC – Fluch der Vergangenheitist der abschließende Roman der Diogenes-Trilogie. Um das größte Lesevergnügen zuhaben, sollte der Leser zumindest DARKSECRET vorher gelesen haben. DARKNESS – Wettlauf mit der Zeitist ein in sich abgeschlossener Roman, der nachden Ereignissen in MANIAC spielt.

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CULT – Spiel der Totenist auch in sich abgeschlossen, bezieht sichaber teilweise, wie es bei uns üblich ist, aufvorhergehende Romane. FEVER – Schatten der Vergangenheitist wie die vorhergehenden Romane auch ein insich abgeschlossenes Abenteuer undgleichzeitig der Auftakt zu einer neuen Trilogieum die dunkelsten Geheimnisse der FamiliePendergast.

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U N S E R E A N D E R E N R O M A N E

Wir haben neben den Fällen von Special AgentPendergast eine Reihe von in sichabgeschlossenen Abenteuerromanengeschrieben, in denen Pendergast nichtvorkommt. MOUNT DRAGON – Labor des Todesist unser zweiter gemeinsamer Roman, den wirnach RELIC geschrieben haben. RIPTIDE – Mörderische Flutentführt die Leser auf eine spannendeSchatzsuche. THUNDERHEAD – Schlucht des Verderbensist der Roman, in dem die Archäologin NoraKelly eingeführt wird, die als Figur in allenspäteren Pendergast-Romanen auftaucht.

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ICE SHIP – Tödliche Frachtstellt unter anderem Eli Glinn vor, der in DARKSECRET und MANIAC eine Rolle spielt.

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E I N N E U E R H E L D : G I D E O N C R E W

MISSION – Spiel auf ZeitIn unserem neuesten Roman gibt es einenebenso brillanten wie ungewöhnlichenErmittler: eigentlich steht er als risikofreudigerGelegenheitsgauner auf der anderen Seite desGesetzes, doch wegen eines Aneurysmas imGehirn läuft seine Zeit gnadenlos ab. Da kommtdas Angebot der undurchsichtigen Firma EES,für sie einen heiklen, jedoch lukrativen Auftragzu erledigen, gerade recht … Und für all diejenigen, die noch dazu wissenmöchten, in welcher Reihenfolge wir unseregemeinsamen Romane geschrieben haben: RELIC – Museum der AngstMOUNT DRAGON – Labor des TodesATTIC – Gefahr aus der TiefeRIPTIDE – Mörderische Flut

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THUNDERHEAD – Schlucht des VerderbensICE SHIP – Tödliche FrachtFORMULA – Tunnel des GrauensRITUAL – Höhle des SchreckensBURN CASE – Geruch des TeufelsDARK SECRET – Mörderische JagdMANIAC – Fluch der VergangenheitDARKNESS – Wettlauf mit der ZeitCULT – Spiel der TotenFEVER – Schatten der VergangenheitMISSION – Spiel auf Zeit Zum Schluss möchten wir unseren Leserinnenund Lesern versichern, dass dieseAnmerkungen nicht als irgendeine Art»Lehrplan« gemeint sind, sondern vielmehr alsAntwort auf die Frage, die uns immer wiedergestellt wird: In welcher Reihenfolge sollte ichIhre Romane lesen? Wir schätzen unsaußergewöhnlich glücklich, dass es Menschengibt wie Sie, denen es ebenso viel Freudebereitet, unsere Romane zu lesen, wie es unsFreude bereitet, sie zu schreiben.

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Mit besten Grüßen

Douglas Preston

Lincoln Child

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Ü b e r D o u g l a s P r e s t o n / L i n c o l nC h i l d

Douglas Preston wurde 1956 in Cambridge,Massachusetts geboren. Er studierte inKalifornien zunächst Mathematik, Biologie,Chemie, Physik, Geologie, Anthropologie undAstrologie und später Englische Literatur.Nach dem Examen startete er seine Karrierebeim »American Museum of Natural History« inNew York. Eines Nachts, als Preston seinenFreund Lincoln Child auf eine mitternächtlicheFührung durchs Museum einlud, entstand dortdie Idee zu ihrem ersten gemeinsamen Thriller,»Relic«, dem viele weitere internationaleBestseller folgten. Douglas Preston schreibtauch Solo-Bücher (»Der Codex«, »Der Canyon«)und verfasst regelmäßig Artikel für diverseMagazine. Er lebt mit seiner Frau und seinen

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drei Kindern an der US-Ostküste. Lincoln Child wurde 1957 in Westport,Connecticut geboren. Nach seinem Studium derEnglischen Literatur arbeitete er zunächst alsVerlagslektor und später für einige Zeit alsProgrammierer und System-Analytiker.Während der Recherchen zu einem Buch überdas American Museum of Natural History inNew York lernte er Douglas Preston kennenund entschloss sich nach dem Erscheinen desgemeinsam verfassten Thrillers »Relic«,Vollzeit-Schriftsteller zu werden. Obwohl diebeiden Erfolgsautoren 500 Meilen voneinanderentfernt leben, schreiben sie ihre Megasellergemeinsam: per Telefon, Fax und übersInternet. Lincoln Child publiziert darüberhinaus auch eigene Bücher (»Das Patent«,»Eden«). Er lebt er mit Frau und Tochter inNew Jersey.

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Ü b e r d i e s e s B u c h

Schock für Special Agent Pendergast: Einerseiner Freunde wird brutal ermordet – voneinem Mann, der bereits vor einer WocheSelbstmord begangen hat. ZOMBIES IN NEWYORK – diese Schlagzeile sorgt in kürzester Zeitfür Angst und Schrecken. Aber ist es wirklichmöglich, dass die Toten sich aus ihren Gräbernerheben? Pendergast findet eine Spur, die ihnin die Katakomben unter einer alten Kircheführt – den Sitz einer Sekte, die dunkle Zieleverfolgt …

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I m p r e s s u m

Die amerikanische Originalausgabe dieses Buchs erschien 2009unter dem Titel Cemetery Dancebei Grand Central Publishing, New York. Deutsche Erstausgabe Januar 2010Copyright © 2009 by Splendide Mendax, Inc. und Lincoln ChildCopyright © 2010 der deutschsprachigen Ausgabe bei DroemerVerlag.Ein Unternehmen der Droemerschen VerlagsanstaltTh. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, MünchenCopyright © 2011 der eBook Ausgabe by Knaur eBook.Ein Unternehmen der Droemerschen VerlagsanstaltTh. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.Redaktion: Ralf ReiterUmschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, MünchenUmschlagabbildung: FinePic®, MünchenISBN 978-3-426-41071-4

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