beiträge zur frage der sensorischen amusie

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Page 1: Beiträge zur Frage der sensorischen Amusie

(Aus dem Pathopsychologischen Institut der Universit~t Bonn [Direktor: Prof. Dr. reed. O. Zdwenstein].)

Beitritge zur Frage der sensorischen Amusie. V o n

Dr. Hans K~ufer.

(Eingegangen am 22. Juni 1932.)

Das Interesse, welches die Neurologie den amusischen StSrungen e ntgegenbringt , ist neuerdings durch die Monographie Feuchtwangers 1 abermals angeregt worden. Die Zahl der Beitr~ige, die uns die Kenntnis dieser StSrungen vermitteln, ist allerdings gering, was bei der Selten- heit des Materials und bei den Schwierigkeiten, die sich einer ausreichenden Analyse der F~lle entgegenstellen, nieht verwunderlich ist. Daraus leiten wir die Berechtigung her, im folgenden einen weiteren Fall yon sensorischer Amusie zu ver6ffentlichen.

Ende l~[/~rz 1918 erlitt der damals 24j~hrige Heinrich R., Zivilberuf: Klaviers t immer, an der Westf ront bei einem Sturmangriff eine Stirnhirn- ver le tzung durch ein Infanteriegeschol3. R. erz~hlt, dab er etwa 2 Tage bewul3tlos gewesen sei, bevor man ihn aufgefunden und ins Lazare t t gebracht habe. Bei der Einlieferung in das Vereinslazarett Berl in-Buch ist Pa t ien t vol lkommen orientiert fiber Oft und Zeit und gibt klare Ant- worten. An der Iinken Stirn-Schl/ifenbeingegend findet sich ,,eine 7,5 : 2,5 cm grol3e, etwa 1 cm tiefe, furchenfSrmige, unregelm~l]ig gezackte, scharfrandige, blau granulierende und schmierig belegte Wunde" . Der Pa t i en t kIagt fiber Brennen in der Wunde und ab und zu auftretendes Schwindelgeffihl. D e r Zustand maeht einen Eingriff erforderlich. Wir lassen den Operationsbericht folgen:

,,Die Wunde ist ~iin belegt und wird umschnitten. Die gritnlich verf~rbte Haut wird herausgeschnitten, ebenso die griin veff~rbte Knochenhaut. Alsdann sieht man den ebeafalls griin verf~rbten Knochen, der stark in das Schgdelinnere hereingedriickt ist. Zahlreiche Splitter werden entfernt. Mehrere Splitter lagen unter dem Knochen verschoben. Erweiterung tier Knochenwunde durcli Weg- nahme des umliegenden Knochens. Die vorliegende harte Hirnhaut pulsiert nicht und sieht an einer Stelle bl~ulich verf~bt aus. Sie wird an dieser Stelle er6ffnet, Und es entleeren sich a]te Blutmassen. Eine Arterie blutet sehr stark. Es entleert sich Gehirnbrei und Eiter aus einer kirschgrol]en H6hle. Nach Erweiterung des Schnittes der harten Hirnhaut entleeren sich welter hinten reichlich geronnene

1 Feuchtwanger, E.: Amusie.

Z. f. d. g, Nettr. u. PsFch. 141. 40

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618 Hans Kaufer:

Blutmassen mit Hirnmasse aus einer pflaumengroBen H6hle. Geschol~partikel werden nicht nachgewiesen. Auf eine Tamponade der HShle wird verzichtet."

Eine in dieser Zeit gemaehte RSntgenaufnahme laBt in der Umgebung der Knoehenlficke eine Reihe, durch GeschoBsplitter hervorgerufene Auf- hellungen erkennen. Die 9,5 : 4,5 cm groBe Wunde reinigt sich langsam. Im Laufe der Heilung bildet sieh ein Hirnprolaps yon TaubeneigrSBe, welcher langsam wieder abflacht. Der Zustand des Patienten bessert sich yon Tag zu Tag, bis sich im Mai 1918 ein Erysipel einstellt, welches yon der Wunde ausgehend sich zun/~chst fiber Stirn, Nase, Gesicht und dann fiber den ganzen Kopf ausbreitet. Im Januar 1919 wird die Wunde durch Plastik gedeckt, und im Marz wird Pat ient in die Heiistatte fiir Nervenkranke in Zehlendorf entlassen.

Bei der Aufnahme in diese Heilstatte k l a ~ 1~. fiber starke Kopf- schmerzen bei Witterungsumschlag und fiber zeitweise starkes Brennen in der Wunde. Beim Alleingehen ffihlt er sich unsicher, so als ob er schwanke. Dem Au/nahmebe/und entnehmen wir, dab Patient sich in mittlerem Erniihrungszustand befindet. An der linken Kopfseite finder sich eine 5,5 cm lange, etwa 8 mm tiefe, pulsierende Narbe. Der Knochen fehlt in der Ausdehnung yon 3,5:1,2 cm. Am Nervensystem ergeben sich nur wenige Abweichungen vom Normalen. Das rechte Gesichts- feld ist konzentrisch stark eingeschr/~nkt, das linke nach temporal sowie nach oben und unten um etwa die Halfte. AuBerdem besteht eine Empfin- dungsst6rung in der Umgebung der Wunde (N. supraorbit~lis). R. besucht die Hirnverletztensehule und wird in der Tischlerei beschaftigt, wo der Leiter seinen FleiB und seine Sachkenntnis lobt. Wenn er jedoch einige Stunden gearbeitet hatte, dann stellten sich Kopfschmerzen ein, die bei schlechtem Wetter besonders heftig wfirden. Im August 1919 wird R. als dauernd dienstuntauglich entlassen. Die bei der Entlassung vor- genommene Geschmacksprfifung ergibt nichts Besonderes. Der fibrige neurologische Befund ist unverandert. Die seelisehe und geistige StSrung, besonders auch die bei der kSrperlichen Untersuchung hervortretende Neigung zu psychogenen Ausfallserscheinungen stimmen erfahrungs- gema[3 mit der Stirnhirnverletzung fiberein.

Ich hebe noch aus dem Befund hervor: ,,Beachtung verdient, dal3 trotz der mit Wahrscheinlichkeit ~nzunehmenden Verletzung der linken zweiten Stirnwindung keine wesentliche StSrung der motorischen musi- kalischen Leistung vorliegt. In der Schule hat R. Zufriedenstellendes geleistet und besonders im Rechnen Fortschritte gemacht." Die psycho- logische Untersuchung bei der Entlassung ergibt eine zum Tell erheb- liche Herabsetzung seiner geistigen Leistungsf~higkeit. Die Merkf~ih~g- keit ist bei schrif~licher Wiedergabe recht mangelhaft, bei miinctlieher Wiedergabe reeh~ gut. Auch die Sprache zeigt StSrungen. Wa hrend das Nachsprechen und das Spraehverstehen gut ist, gelingt b , im 1 au ten und leisen Lesen die Reproduktion nur unvollkommen. Die Spo ntan-

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sprache ist langsam und auch das Buchstabieren ergibt ein schlechtes Resultat . Die Schri/t und das Spontanschreiben sind gut. Eine Sing- stSrung liegt nicht vor. Das psychologische Urteil fiber den Krank- heitszustand und die Zukunft ist klar, allerdings etwas sehr schwarz gef~rbt. Bei der Untersuchung tr i t t Leichtermiidbarkeit und Verlang- samung des Denkens hervor.

Bevor wir den weiteren Verlauf der Erscheinungen betrachten, wollen wir die Familienanamnese und die eigene Vorgeschichte nachholen. I)er Vater des Patienten lebt, ist gesund und ist yon Beruf Klavierbauer. Die Mutter ist 1904 an einer Lungenerkrankung gestorben. Die sonstige Familiengeschiehte ist ohne Besonderheiten. Patient ist, abgesehen yon einer Kinderkrankhei t im ersten Lebensjahr, nie krank gewesen. Mit 6 Jahren ist er zur Sehule gegangen und immer gut mitgekommen. Nach der Schulentlassung ]cam er in eine Reparaturwerkst£t te ffir Klaviere in die Lehre, wo er bald auf Grund seiner akustischen F£higkeiten als Klaviers t immer angelernt wurde. Sehon mit 19 Jahren machte er die erste l~einstimmung. Sodann wurde er fast nur noch mit dem Stimmen yon Ins t rumenten beschiiftigt. I m Jahre 1913 wurde er zum Milit£r- dienst eingezogen. Bei Beginn des Krieges rfickte er alsbald aus. W~ihrend seiner ganzen Militiirdienstzeit war er hie krank. I m November 1914 wurde er an der linken Schulter durch einen Schrapnellschul3 verwundet, kam aber nach einigen Wochen wieder ins Feld.

Iqaeh seiner Entlassung im August 1919 nimmt R. seinen Beruf als Klaviers t immer wieder auf. In dieser Zeit klagte Pat ient viel fiber Kopfschmerzen, schleehten Schlaf, Scl/windelanfiille und Vergel31ichkeit. I m Jahre 1922 t r i t t ganz unvermit tel t in der Arbeitspause ein epileptischer Anfall auf. E twa 1 Stunde ist er bewuBtlos. Bis zum Jahre 1924 sind die Anf&lle in regelmiiBigen Abst&nden yon 3- -4 Monaten aufgetreten. Der letzte (es waren im ganzen sieben bis acht) ha t sich Weihnachten 1928 w~hrend der Unterhaltung ereignet. Nach der Schilderung eines Zeugen muI3 es sich aueh bier um einen echten epfleptischen Anfall gehandelt haben. Nach den Anf&llen habe ihn die Zunge geschmerzt und auch mehrmals geblutet (Narben sind nieht zu sehen). In all dieser Zeit ist R. h~ufig in iirztlicher Behandiung bzw. Beobachtung gewesen. Immer bringt er dieselben Klagen vor, und yon seinem Arbeitgeber erfahren wir, dal3 er infolge seiner Beschwerden hiiufig seine Besch£ftigung als Stimmer unterbrechen mul~te. I)ieser Zustand is~ bis 1930 fast unver- iindert. ])ann aber ist sein Arbeitgeber mi~ der Qualit~t seiner Arbeit nicht mehr zufrieden. Die Stimmungen der Klaviere sind nieh~ mehr ganz rein, eine Erscheinung, die bald immer starker wird. Dies hat zur Folge, dal3 R. seiner T~tigkeit als St immer enthoben und mit anderen mehr werl~m~13igen Arbeiten beschiiftigt wird.

Diese Ausfallserscheinungen machten die Untersuehung des Patienten durch Prof. Liiwenstein notwendig.

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Beschwerden des Patienten bei der Einlie/erung. Heftige Kopfschmerzen in der Gegend der Verletzung, die sich manchmal fiber den ganzen Kopf ausbre i t en und die bei Wit terungswechsel und an feuchten Tagen beson- ders s tark sein sollen. Nachts werde er h~ufig dureh das Puls ieren der Narbe wach. Auch trete h~ufig - - fast immer aber beim Bficken - - Sehwindelgefiihl auf.

Seine Arbei t als Klav ie rs t immer gehe n icht mehr recht y o n s t a t t en . Seit einem halben Jahr wiixde er mi t verschiedenart igen leich- %eren Axbeiten besch£ftigt, feinere Arbei ten, wie S t immen yon Klavieren , wi i rden ihm nicht mehr aufgetragen.

Welches sind die Ergebnisse, die die Analyse der hier vor l iegenden S tSrungen zutage fSrderte ?

Bevor wit sie ausftihrlich darstellen, wollen wir das Ergebnis der kSrperlich- neurologischen und der experimentell-psychologischen Untersuchungen mitteilen.

Be/und. Aul3erordentlich kri~ftiger, mittelgroBer Mann m/t stark entwickelter Adipositas. Inhere Organe ohne Besonderheiten. Die Luesreaktionen im Blur sind negativ. -0ber dem linken Schl~fenbein horizontal nach hinten ziehende, gut verheilte Hautnarbe von 7 cm IAinge. Pulsation in einer Ausdehnung yon 1,5:2 em. Dreifingerbreit dariiber parallel verlaufende, 10 em lange Operations- narbe. Unter derselben Eindellung des Knochens. Spontansprache in motorischer Komponente gestSrt. Die Zunge wird gerade herausgestreekt, zittert im Gewebe. Facialis : intakt. Augenbewegungen frei, kein Nystagmus. Lagebeharrungsversuch: rechts ~ links. Babinski: rechts = links negativ. Rossolimo: rechts = links nega- tiv. Oppenheim: rechts -~ links negativ. Patellarsehnem-e.~lexe: sehr lebhaft, beider- seits gleich. Achillessehnenreflexe: lebhaft, beiderseits g~ :.oh. Cremasterreflex und Bauchdeckenreflex: ohne Besonderheiten. Reflexe der oberen Extremitaten: ohne Besonderheiten. Dermographie mittleren Grades. Sensibiliti~t: intakt. Knips- reflex: ohne Besonderheiten. Gehen im Dunkeln: deutliche Tendenz zum Abweichen. Barany: negativ. Imitationsphiinomen: yon links naeh rechts das Ziel nicht er- reiehend, yon rechts nach links fiber das Ziel hinaussehieBend. Romberg: geringes organisehes Sehwanken.

Psychologischer Be]und: I. Orientierung: ohne Besonderheiten. II. Taktiles Erkennen: ohne Besonderheiten. III . Optisehe Leistungen: 1. Figfirliches Erkennen: ohne Besonderheiten.

2. Farbenerkennen: ohne Besonderheiten. 3. Farbenbenennen: ohne Besonder- heiten. 4. Farbtiiehtigkeit: sehr hoher Zeitverbraueh, stiindige Verwechsinng yon 3 und 8 der Stillingsehen Fa.rbtafeln. 5. Suehtafel: sehr stark verlangsamt, erkennt in 3 Minuten nur 9 statt 30 Figuren. 6. TiefensehvermSgen: ohne Besonderheiten. 7. Tachioskop: M~i3ige Verlangsamung. 8. Optomotoriseher ~ystagmus : beiderseits wenig ausgepri~gt. 9. Gesiehtsfeld: beiderseits konzentrisch stark eingeschr£nkt.

IV. Gedachtnis: gute Leistungen. V. i~Ierkf~,higkeit: A. akustisch: 1. vierstettige Zahlenreihen: zur H~lfte mit

Fehlern; 2. fiinfstellige Zahlenreihen : zu zwei Drittel mit Fehlern und Umstelhmgen; 3. seehsstellige Zahlenreihen: nur mit Fehlern und Auslassungen; 4. Siitze: a) mitt- lere: -{-; b) schwerere: mit Auslassungen; 5. geschlossene Zahlen:

278 nach 1/2 Minute Ablenkung: 276 -- 198 , z/~ . . . . 193 -- 218 ,, 3/4 . . . . 218 + 541 ,, ~/~ . . . . auch bei ~ 'aehhi l fe-

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Beitr/~ge zur Frage der sensorischen Amusie. 621

627 nach 1 ~¢[inut~ Ablenkung: 625 -- 839 ,, 1 . . . . 823 -- 714 ,, 1U~ . . . . 714 -~ 369 ,, 2 Minuten ,, 389 --

B. Optisch: 1. Figuren: Von 6 gebotenen Figuren werden nach 2 Minuten Ablenkung unter 25 Figuren 2 richtig wiedererkannt, 4 als vergessen bezeichnet. 2. Bilder: Die gleichen Bedingungen: 2 richtig, 1 falsch, 3 vergessen.

VI. Allgemeine Kenntnisse: 4em Bildungsgrad des Patienten entsprechend. VII. H6here intelektuelle Leistungen: A. Kopfreclmen: stark verlangsamt,

L6sungen richtig, gelegentliche Fehll6sungen werden nachher verbessert. B. Schrift- lichen Rechnen: Addieren und Multiplizieren richtig. Subtrahieren und Dividierer~ falsch.

Am Dynamometer: rechts links 1. 50 2. 55 3. 50 4. 53 5. 45 6. 52

Zusammen/assend k6nnenwir also sagen, da~ die experimentell-psycho- logische Untersuchung eine zum Teil erhebliche Herabsetzung der geistigen Leistungsf~higkeit ergibt. Allgemein gesehen werden die Resul- rate bei l£ngerer Untersuchungsdauer immer schlechter. Vor allem gestSrt ist die Merkf~higkeit, sowohl akustisch wie optisch. (~ber Sprach- un4 SchreibstSrungen siehe weiter unten.)

Was das psychische Spontanverhalten des Patienten betrifft, so ist zu sagen, dal~ er bereitwillig auf alle Fragen Antwort gibt. ~Ian beob- achtet nut selten, dab er spontan spricht. Meist sitzt er ruhig, fast unbeweglich da, ist abet vollkommen bei der Sache. Spricht man yon seiner musikalischen StSrung, so gewinnt man den Eindruck, als ob er sehr gerade unter diesen Ausfallserscheinungen leide, jedenfalls betrachtet er die zwangsweise Besch/iftigung mit einfacheren Arbeiten als Degrada- tion. Bei der letzten Untersuchung wird dieser Eindruck noch durch die inzwischen erfolgte Entlassung des ~)atienten aus der Fabrik verst~rkt. Die motorische Sprachst6rung wurde bereits oben erw~hnt. Wenn er etwas aussprechen will, so sucht er vielfach nach dem geeigneten Wor~; ibm angebotene W0rte werden dagegen richtig erkannt und fehlerlos nachgesprochen.

Systematische Funktionsanalyse. Die spezialohreniirztliche Untersuchung wurde in der Universit~tsklinik

fiir ttats-, Nasen- und Ohrenkranke in Bonn durchgefiihrt. Darnach linden sich am Ohr keine krankhaften Ver~nderungen. Die Trommel- felle sind normal. Die Tonempfindung beiderseits ist uneingeschr~nkt. Patient hSrt die normale untere Tongrenze wie auch hohe TSne bis 16 000 herauf. In der peripheren HOrfiihigkeit finder sich keine StSrung, so dail das ~'alschhSren zentral bedingt sein kann (Oberarzt Dr. Thielemann).

StSrungen der Praxie sind nicht vorhanden. Alle Bewegungen fiihrt R. rasch und bestimmt aus. Hierbei zeigt sich, dab Patient aus- gesprochener Rechtsh/inder ist, was er auch auf Befragen angibt.

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Bei der Sprachuntersuchunq findet man keine St6rung im Sprach- lauterfassen. Irgendwelche, absiehtlich herbeigefiihrten, sog. Vexierfehler stellt er sofort riehtig. Die motorische St6rung wurde bereits erwghnt.

Bei der Reihenau/zdhlung erhalten wir nur richtige Resultate: die ungeraden Zahlen bis 20 findet er, desgleichen die Monats- und Wochen- tagsnamen. Die C-Dur und die chromatische Tonleiter z~hlt er vor- und riickw£rts auf. Jedoch macht sich hier besonders die motorische Sprachst6rung bemerkbar. Zwischen zwei aufeinanderfolgenden Worten oder Zahlen schiebt er bei iehbezogenen Leistungen eine lange Pause ein.

Das Nachsprechen yon Buchstaben und ganzen S~tzen ist nicht gestSrt und auch die Wiedergabe yon schwierigen Worten und Wortzusammen- stellungen, wie dritte reitende Artilleriebrigade - - Trommelfell - -Schnurr - bar thaar und anderes gelingt gut. Ein Unterschied zwischen verdeckter und oftener Lautquelle ist nicht vorhanden.

Zum Spontansprechen ist er schwer zu veranlassen. Nur als er yon seiner vor wenigen Tagen erfolgten Entlassung spricht, wird er lebhaf~ und erziihlt yon seiner 24jghrigen T~itigkeit bei seiner Firma. Als Ursache seiner Entlassung gibt er aul3er seiner reduzierten Arbeitsf~higkeit die Rationalisierung des Betriebes an. Alles dies erz~hlt er ziemlich fliissig, nicht ohne eine pers6nliche Stellungnahme zu diesen Vorg~ngen zu nehmen.

Beim Lautlesen stockt R. nach jedem 3. bis 4. Wort. Auch hier fgllt die Langsamkeit auf. Leiselesen macht anscheinend gr6Bere Schwierig- keiten. Die Wiedergabe auch in bezug auf grammatikalischen Bildungen ist sonst richtig.

Beim Diktatschreiben bedient sich R. der lateinisehen Schrift. Die erste Zeile ist fein s~uberlich geschrieben, dann aber wird er flfich- tiger. Einige orthographische Fehler wie , ,Anahme" beruhen wohl auf mangelnder Konzentration.

Beim Nachschreiben bleibt die Schrift bis zum Schlufi scht~n und klar. Orthographische Fehler kommen dabei nicht vor. Man merkt, daft R. sich grofie Miihe gibt.

Das Zahlendiktat ergibt folgendes Ergebnis: 5813 ~- 712 -~ 518 -~ 1007 ~- 10 8005 (1085) 987 -~ 10 002 (1002).

~Iusikalisehe Priiiung. Bei der musikalischen Priifung beginnen wir mit der Beurteilung

yon Ger£uschen aus dem t~glichen Leben. (Schiitteln einer Streichholz- schachtel): Dose, wo etwas drin War. (Wissen Sie nicht was?) Knopf oder so was. Dann nach einer Weile: Machen Sie es bitte noehmal. Streiehh61zer oder so was. (Zusehlagen eines iViessers): eine Sehere ?. (Streiehholz anzfinden): sofort z_. (H~ndetdatsehen) : + . (H~ndereiben) : nach einer Weile ~-. (Fallenlassen einer Streichholzschachtel): Bleibt die Antwort schuldig.

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Klang/arben verschiedener Instrumente konnte der Patient gut unter- scheiden. Zur ersten groben Untersuchung wurden an Instrumenten die Geige, das Klavier und Harmonium verwendet. Nie aber konnte auch bei verdeckter Lautquelle ein Fehler in der Tonzugeh6rigkeit fest- gestellt werden, was sich auch auf gesungene und gepfiffene T6ne bezieht.

Ober die GehSrsprii/ung wurde berei~s oben berichtet. Patient hSrt alle T6ne im Bereiche des Normalen. Auch die Qualit/it der Empfindung ist nicht gestSrt. Grobe St6rungen zeitigen die Versuche mit einfachen klangfreien Klop/rh ythmen.

Bei offener Lautquelle: Vorgeklopft Nachgeklopft

+

. . . . ° °

- - . . ~ -

Bei verdeckter Lautquelle:

• . ° . °

• o

+ ÷ ÷ ÷

• (war das richtig ?) ja. • °

+

. . . . . . . . (wardas jetzt richt~g ?) ja (zweifelhaftes ja).

Patient wird dann aufgefordert, den Rhythmus des Liedes ,,Ich har t ' einen Kameraden" zu ktopfen: - - - - . . . - - - - - - . . . . .

Bei der Wiederholung h/~ufen sich die Unrichtigkeiten noch weiter. Die Rhythmusfibungen wurden so vorgenommen, da$ ein groSer

Schliissel als Hammer und ein Tisch als Unterlage diente. Einfache Weisen his zu 4 und 6 Sch1~gen wurden meist richtig, dar~iber hinaus fast immer falsch wiedergegeben. Die Frequenz der Wiedergabe war verlangsamt, die Klopfst~rke wenig differenziert. Die Schl~ge erfolgten mit einer fast gleichm~l~igen Heftigkeit. Mit Zunahme der Versuchs- dauer wurden die Ergebnisse schlechter. Interessant ist, da6 die Ergeb- nisse bei oftener Lautquelle viel schlechter sind als bei verdeckter Laut- quelle. Dieselben Klopfrhythmen, di~'zuerst falsch wiedergegeben wurden, werden richtig nachgeklopft bei verdeckter Lautquelle.

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Da es sich bei unserem Patienten um einen Klaviers t immer handel~ (eine genauere Durchforschung seiner frfiheren musikalischen T~tigkeit erfolgt weiter unten), so wird die Prfifung auf TonhShendi]]erenzen genau durchgeftihrt.

Den geringen Unterschied zweier Stimmgabeln erkennt der P~t ient rdcht. DaB ein Klavier in seinem mittleren Bereich um ein Bedeutendes zu fief steht, hSrt er heraus, jedoch kann er das Ma~ der Differenz nich~ angeben. Bei der Priifung der Oktaven erkennt Pat ient geringe Unter- schiede, wobei es ihm aber nicht mSglich ist, anzugeben, welcher Ton yon beiden TSnen zu hoch bzw. zu tier ist.

Sodann wird Patient gebeten, eine Geige zu s t immen (die vier Seiten g d a e sind reine Quinten). MSt Hilfe der Stimmgabel best immt er den Kammer ton a ziemlich genau. Bei der Kontrolle ergib~ sich die d-Saite als zu tief, die g-Saite als bedeutend zu hoch (g---d ist fast eine Quart) und die e-Saite ebenfalls als zu tief. Ein Kontrollversuch mit der vorher wieder verst immten Geige ergibt ein ~hnliches Ergebnis.

Sodarm wird an einer exakt gestimraten Geige die d-Saite um einige Schwingungen heruntergesetzt. Patient merkt, dal~ das Ins t rument nicht gest immt ist, findet aber die Fehlerquelle trotz eiffigsten Suchens nichC. INach einiger Zeit sagt er: ,,Die Geige ist jetzt richtig." Erst als er auf die Differenz aufmerksam gemacht wird, korrigiert er den Fehler. Da der Pat ient angab, frfiher ein absolutes Geh6r gehabt zu haben, so wird er gebeten, ihm auI dem Klavier vorgespielte T6ne zu bezeichnen und in die Tonskala einzuordnen.

Wit erhalten folgende Angaben:

V.L. Patient a a

c i s

d e

g

U m bei der Priifung auf Intervalle und deren Zuordnung zum Ton- system keine Fehlleismngen zu erzielen, mfissen wir begriffliche Schwierig- keiten vorher ausschlie~en. Solche bestehen fiir Pat ienten nicht. Er kennt alle Intervallbezeichnungen und vermag zu jedem Ton nach auf- und abw~rts das zugehSrige verlangte Intervall zu bezeichnen. Kon- sonanzen und Dissonanzen sind ibm gel£ufig. :Den Fehlleis~ungen mfissen daher StSrungen der klanglichen Auffassung zugrunde liegen.

Die Priifung wird zun~chst so vorgenommen, dal3 V.L. einen Ton singt oder auf der Geige oder dem Klavier spielt und dann den P~t ienten das verlangte zugehSrige Intervall singen I£Bt. R. finder nur selten das verlangte Intervall. Start der Quinte sing~ er die Quart oder um- gekehrt und eine Sext zu bestimmen ist ibm ganz unmSglich. Bei der Quint hilft er sich durch die Einschiebung der Terz, so d~l~ s tar t des

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BeitrAge zur Frage der sensorischen Amusie. 625

Intervalls c - -g der Terz--Quint-Dur-Akkord c - - e - -g gesungen oder gepfiffen wird.

Sodann werden ihm bei verdeekter Lautquelle sukzessive Intervalle auf der Geige und auf dem Klavier geboten. Das Klavier wird hier aus naheliegenden Griinden besonders bevorzugt.

Die PI~fung bezieht sieh auf den ganzen Tonbereich des Klaviers. Hierbei entdeeken wir bei dem Patienten recht grobe StSrungen. Oktaven hSrt er im mittleren Tonbereich und im Diskant zwar rein, jedoeh im Bal~ nicht mehr. Bei Q u a r t e n - Quinten - - Terzen wechseln gute unct sehlechte Resultate ab. Dann hglt er eine Quart fiir eine Quint, ein anderes Mal ffir eine Terz. Grol3e und kleine Terzen erkennt er fast nie; vor allem bei Sexten und Septimen steht er ratlos da. Seine Antworten haben dann immer ffagenden Charakter; auch bier zeigt sieh eine groSe Unsicherheit bei den tiefen TSnen. Besonders auffallend ist es, dal3 er sogar die Quinte d--a , welche die Grundlage einer guten Stimmung bildet und worauf sich alle anderen TSne aufbauen, fiir eine Quart hi~lt.

Sodann werden dem Patienten Akkorde geboten, die er nachspielen soll. (e e g c) schli~gt erst h dann d an und finder dann: e e g e; (d f a d) sucht und finder e g h e, h~lt das ffir richtig; (be d f be) sucht und schl~gt a cis e a an, was er auch ftir richtig hi~lt ; (g h d g) probiert wieder zuerst und schl~gt damu g e e g an. (ges be des ges) finder nach einigen Versuchen f a c f; (d f a d) finder dann richtig d f a d. Bei der Ubertragung yon auf der Geige gebotenen Akkorden auf

das Klavier finder man i~hnliche Ausf~lle, weshalb auf eine Wiedergabe des Ergebnisses verzichtet wird.

Bei den Intervallen hat man den Eindruck, dal3 der Patient die TSne verzerrt oder in umgekehrter Folge hSrt, d. h., dab er den oberen Ton eine Oktave tiefer oder den unteren Ton eine Oktave h6her vernimmt. Darin liegt vielleicht seine dauernde Verwechselung yon Quinten und Quarten ursi~chlich begrfindet. (d a hSrt er als a d oder als a d; c a als a c usw.)

Was die Akkorde betrifft, so ist ohne weiteres zu sehen, dab die Auffassung sehr erschwert ist. Die Beziehung zur Tonalit~t, zur Basis ist gestSrt. Statt des D-~CIoll-Akkordes d f act finder er den E-~oll- Akkord e g h e. Auf die Darbietung des B-Dur-Akkordes b d f b ant- wortet er mit dem um 1/2 Ton tiefer liegenden A-Dur-Akkord. Bei G-Dur g h d g bleibt er zwar in der richtigen Tonart, bring~ aber die zweite Umkehrung, den Quart-Sext-Akkord g e e g. Statt Ges-Dur (ges b des ges) schl~gt er den F-Dur-Akkord f a c f an, der einen halben Ton unter dem gebotenen liegt. Eine Wiederholung des D-~Ioll-Akkordes ergibt ein richtiges Ergebnis.

Dur- und Moll-Drei~nge erkennt R. ebenfalls nicht sieher. ])as liegt schon zum Tell darin begriindet, daI~ er die groi]e und die kleine

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626 Hans K~ufer:

Terz nieht richtig unterseheidet. Beim Nachspielen yon Simul tan- akkorden waren dagegen fast nie Fehlleistungen in bezug auf Dur und Moll festzustellen.

Wir werden weiter unten eine psychologische Bet rach tung fiber das S t immen yon Klavieren (bzw. fiber alle Ins t rumente mit fester S t immung) anstellen und dabei die Bedeutung er6rtern, die alle obenerw/~hnten In terva l le und Akkorde f fir einen St immer haben. Es wird dabei ohne weiteres verst/~ndlieh, dab obige Ergebnisse vol lkommen unzureichend ffir die weitere Berufsausfibung sind. Zun£chst wollen wir mi t der weiteren musikalischen Prfifung zun/~chst fortfahren.

I n der Li te ra tur 1 finder sich der Hinweis, dab manehe sensorisch- arausischen Pa¢ienten langanhaltende und gleichbleibende T6ne bei gleich- bleibender Lautst/~rke ais h6her oder tiefer werdend empfinden. Dies ist bei unserem Kranken .nicht der Fall, wie einige Proben erkennen lassen.

Ein ihm auf der Geige vorgespieltes a (gegriffene Saite) h6r t er als gleichen Ton, ebenso den Ton h. L/~f3t aber V. L. denselben Ton um einen Viertel ton langsam ansteigen, so bemerkt er das ganz richtig. Anders schon be ide r Erh6hung des d um einen Viertelton. Pa t ien t gibt an : H a t sieh verschoben, (wohin ?) ich glaub, es war h6her, (wissen S i e e s n icht genau ?) nein.

Bei der Verschiebung des e naeh es (ein halber Ton) sag~ or: ha t sieh verschoben, (wohin ?) kann ieh nieht sagen.

Die Unsicherheit in der Bestimmung der Tonh6henverschiebung kommt beson- ders sch6n in folgendem Versuch zur Darstellung.

Eine Grammophonplatte lieSen wir abweehselad schnell und langsam ablaufen. Aus der daraus resuttierenden Zu- bzw. Abnahme der Tonh6he soll der Patient angeben, ob die Platte auf langsameren (tiefer werdenden Ton) oder schnolleren Lauf (hOher werdenden Ton) eingestellt war. Anf~nglich waren seine Angaben meist richtig, jedoch bei der ersten Wiederholung derselben Platte (Die Post im Walde) wurde er sehr unsicher.

LieSen ~-ir dieselbe Platte in einem festen, dem Patienten nicht bekannt- gegebenen Modus ablaufen, etwa a > o > b (wobei a = sehnell, o = normal und b = langsam bedeutet) und registrierten wir die Ergebnisse auf eine Sinuskurve, so erhielten wir folgendes Resultat: Bei 7 Wellen war a 3real richtig und b 4mal riehtig angegeben.

Eine chromatische Tonfolge im ,,vivace" geboten unterscheidet er auf- und abw~rts yon einem Glissando.

Wicht ig f fir unsere Betrachtung fiber den Umfang des Defektes ist die Frage, ob das musikalische Geddchtnis gelitten hat. Wir beschr/inken uns dabei au f einfache musikalische Leistungen.

Zun/~chst wird ihm das Infanteriesignal ,,Blasen zum S a m m e l n " vor- gespielt. Wh' erinnern uns, da$ R. 6 Jahre Soldat war und als Sergeant entlassen wurde. E r sagte nach einiger Zeit, dab er die Melodie wohl schon geh6rt habe, k6nne aber nicht sagen, wann und was es sei. Bei

1 Feuchtwanger, E.: Amusie.

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Beitrgge zur Frage der sensorischen Amusie. 627

einigen Milit/~rm/£rschen erhalten wit /~hnlieh unsiehere Resultate. Die Walzermelodie , ,~ber den Wellen" ist ihm bekannt, ohne dal] er den Titel finden ]<ann.

Beim Vorspielen eines Rheinl/~nders, dessen Tempo er nicht kennt, wird dieser abweehselnd in Dur und Moll gespielt. Bei der Frage, ob ihm etwas dabei aufgefallen sei, sagt er nein, bitter abet um eine Wieder- holung, die dann dasselbe Ergebnis zeitigt. Wir sahen bereits oben, dal~ auch bei sukzessiven Intervalldarbietungen in bezug auf Dur und Moll gute und schlechte Resultate abwechselten.

Sbdann wird ihm das Rheinlied ,,Ich wei• nicht, was sell es bedeuten" zun/~ehst riehtig und dann im Dreivierteltakt (Walzertempo) vorgespielt. Sagt: Letzteres war schneller. Bei dem ihm aus seiner Jugend bekannten Lied , ,Guter M e n d . . . " , welches zun/~chst im Vierachteltempo und dann im Walzertakt gespielt wird, hSrt Pat ient den Unterschied in bezug auf das Zeitmal] nieht heraus.

Wir sehen daraus, dal] aul3er dem Ausfall bei den abstrakten Rhyth- musiibungen auch ein DeIekt in bezug auf den Takt und das Tempo vorbanden ist.

Komplexe musikalisehe Leistungen, wie Pfeifen yon Liedern oder }teraushSren grol3er DisharmoIJen im Spiel ihm bekannter Lieder gelingen ganz gut. Als ihm das Lied , ,Kam ein Vogel g e f l o g e n . . . " in C-Dur vorgespielt und einen halben Ton tiefer begleitet wnrde, konnte er sich eines Lachens nicht enthalten 1

Beim Nachpfeifen nieht rhythmisch gegliederter Figuren wird der allgemeine Charakter riehtig aufgenommen, 1/~ngere Weisen werden jedoch ungenau wiedergegeben. Intervalle werden verwischt und feinere Unter- schiede nicht sicher erfaBt. Aueh wurden Dur und Moll verwechselt.

Notenlesen und Notenschreiben werden bei unserem Patienten nicht geprfift, weft er angibt, dies nie gefibt zu haben. Dagegen kennt er, wie wir bereits gelegentlich der Intervallpriifungen sahen, die Bezeichnung der einzelnen T6ne, ihre Beziehung zum Tonsystem und ihre Zuordnung zueinander.

Die Untersuchung erstreckt sich auch auf andere Sinnesgebiete, vor allem auf das Gestalterfassen optischer Bilder. Auf einer Suchtafel sell er aus einer nach F~rbe und Form zu unterscheidenden Figurenmenge ganz best immte Figuren heraussuchen. Patient finder immer die ver- langte Figur, nur dal3 die Suchdauer welt fiber die Norm vergrSl]ert ist. Das Erkennen yon Farben ist nicht gestSrt. Das Absch~tzen yon Ent- fernungen sowie das Erkennen yon Gegenst~nden ergibt normale Werte.

1 Anmerkung. Um Beobachtungsfehler mSglichst auszuschalten, habe ich die Intervallprfifungen in Gegenwart des Kapellmeisters, Herrn E. Bauer]eld und der staatlich geprfiften 5Iusik]ehrerin, Fr/~ulein K. Bauer[eld, vorgenommen, beiden mOchte ich an dieser Stelle danken.

Page 12: Beiträge zur Frage der sensorischen Amusie

628 Hans Ki~ufer:

Ergebnisse der Analyse. Bei der kritischen Wiirdigung der Ergebnisse unserer musikalischen

Untersuchungcn begirmen wir mit der Darstellung der musikalischen Fiihigkeiten unseres Patienten vor der Verletzung. H_ierzu einige Vor- bemerkungen zu der Yrage: Wer ist musikalisch ?

Die Menschen in musikalisch Begabte bzw. Unbegabte einzuteilen je nach dem Interesse, welches sie der Musik entgegenbringen, geht nicht an. Andererseits ist es auch nicht m6glich, die Frage im Sinne einer Definition zu beantworten. Warm aber nennen wir einen N[enschen musikalisch ? ~Velche Merkmale der Musikalit~t kennen wir ?

Alle musikalische Bet~tigung hat letzten Endes als F£rbung Lust: oder Unlustgefiihle. Man empfindet eine ~us ik schSn oder unsehSn, ffShlich oder traurig. Wir sind begeistert yon ihr, oder wit lehnen sie ab. Da diese Gefiihle abet nicht in allen N[ensehen gleiehm£1~ig aus- gebildet zu skin brauchen, so folgt daraus, dal~ wir uns mit diesen speziellen musikaliseh-akustischen Empfindungen und Vorstellungen in der Welt des PersSnlichen befinden, v. K r i e s 1 spricht hier yon einer intellek- tuellen Musikaht~t.

Eft1 wiehtiges Merkmal musikalischer Begabung ist das feine mus i -

Icalische GehSr. Die Unterscheidungsempfindlichkeit zweier T6ne mul3 gro/3 sein. Es gibt Personen, die den 60. Teil eines Halbtones in der mit t leren Skala noch als Untersehied erkennen, wohingegen andere zwei TSne als verschieden hoch erst angeben, wenn ihr Interval l eine Terz oder sogar eine Quart betr~gt. Das gute musikalische GehSr ist wohl eine conditio sine qua non fiir jede musikalische Bet~tigung. Es ist fiir alle S~nger und Spieler yon Streich- uncl Blasinstrumenten ebenso erforderlieh wie etwa ffir einen Klavierstimmer.

Eine besonders feine Form des musikalischen GehSrs ist das absolute GehSr. Dieses ist meist schon - - oft aber auch ausschliel31ich - - in der Jugend vorhanden und angeboren, man versteh~ darunter die F~hig- keit, einen irgendwie gehSrten Ton oder Akkord sofort seiner HShe nach zu erkennen und in die Tonskala und in die Tonar t einzuordnen. Dieses absolute GehSr geht verloren bei N[ensehen, die aus der ~ b u n g kommen.

Ein anderes Merkmal musikalischer Begabung ist das musikal i sche

Gedlichtnis. Pfeift jemand ein Liedchen oder hSren wir einen Vortrag, so kSnnen wir gleich nach den ersten TSnen feststellen, ob es uns bekannt ist oder nicht. Jede Torffolge ruff in uns Erinnerungsbilder an folgende Passagen wach. Es ist ganz erstaunlich, was kfinstlerisch Begabte in bezug auf Gediichtnis zu leisten vermSgen. So, wie es gute ~¢[usiker gibt, die nicht in der Lage sind, auch nur ein halbes Dutzend Takte aus- wendig zu spielen, so bewundern wir im Konzertsaal h~ufig Solisten,

1 v. Kries: Wer ist musikalisch .9

Page 13: Beiträge zur Frage der sensorischen Amusie

Beitr~ge zur Frage der sensorischen Amusie. 629

die ein ebenso schwieriges wie umfangreiches Programm auswendig wiederzugeben in der Lage sind. Erinnert sei auch an die Dirigenten, die ohne Part i tur einem Orchester vorstehen, und die sich in der Haupt- sache auf ihr musikalisches Gedgchtnis verlassen.

Als weiteres Merkmal musikalischer Begabung sei noch der Sinn fiir Rhythmus genannt. Wir verstehen darunter eine Aufeinanderfolge yon Bewegungen in bestimmter Ordnung. Nun sind alle unsere musi- kalischen Erinnerungsbilder (aul3er an die TonalitAt) an einen bestimmten festen Rhythmus gekufipft. Diese AbhAngigkeit geht so weir, dab wir eine Melodie nicht wiederzuerkennen vermSgen, wenn sie uns in einem stark verlangsamten Rhythmus geboten wird. Dagegen kSnnen wir aus dem geldopften, klanglosen Rhythmus meist die zugehSrige Melodie erkennen.

Zusammenfassend kSnnen wir also sagen, dab die wichtigsten Sym- ptome der MusikalitAt das musikalische Geh5r, das musikalische Ged£cht- nis und der Sinn fiir Rhythmus sind.

Zwei_fellos ist es nun so, dal] diese Eigenschaften bei den einzelnen Menschen in verschiedenem Mal3e ausgebildet sind und entsprechende Unterschiede erkennen lassen. Die einen erkennen, beispielsweise beim Tanz, jeden auch noch so geringen Wechsel im Rhy-~hmus und empfinden ihn als unangenehm, w~thrend andere aul]erhalb des Taktes zu tanzen verm6gen. .Billroth berichtet: ,,Es gibt Rekruten, welche hie lernen, rhythmisch zu marschieren . . . . Es gibt sehr Ungeschickte, welche erst in 8--10 Wochen, Ungeschickte, welche erst nach ! 6 Wochen mar- schieren lernen, aber in der Truppe immer als schlecht marschierend kermtlich sind und dieselbe verunstalten . . . . " ~hntiche individuell- graduelle Unterschiede, wie bei dem Sinn fiir Rhythmus, linden wir auch beim musikalischen GehSr und Ged~chtnis.

Bei der Frage nach der Herkunft der Verschiedenheit yon F£higkeiten musikalischen KSnnens und Erlebens miissen wit uns damit begniigen, sie als in der Anlage begrilnde~, zu betrachten; v. I(:ries sagt: ,,Die Begabung kommt also in dem ganzen Reichtum, der Genauigkeit und Deutlichkeit unseres musikalischen Vorstellungslebens zur Erscheinung." Die angeborenen F~higkeiten zur praktischen N[usikalitgt zu entwickeln, ist natfirlich eine Frage der Erziehung und des FleiBes.

Wir mSchten noch eine andere Einteilung der ~[usikalitgt erw~thnen. Wir unterscheiden eine produlctive und eine rezeptive muskkalische Bet£- tigung. Produktiv ist der musikgestaltende Kiinstler (wohl die h6chste Form der Begabung), der Komponist, rezeptiv ist der ~[usikhSrende. Dazwischen steht der reproduzierende YIusiker. Auch in bezug auf diese Einteilung finden sich die grSl3ten individuellen Unterschiede. Diese erlernen das Spielen eines Instrumentes und hiermit die reproduzierende F~higkeit leicht, jene nur mit Fleil3 und Ausdauer. Fiir die rezeptiv Musikalischen gilt das in noch h6herem Mal3e, da die Empf~nglichkeit fiir NIusik sehr verschieden ist. Die einen freuen sich am Rhythmus,

Page 14: Beiträge zur Frage der sensorischen Amusie

630 Hans K/~ufer:

die anderen an der SchSnheit der Melodiefolge, und wir erw/ihnten sehon, dab die Musik Gefiihle der Freude und des Schmerzes auszulSsen fi~hig ist.

Wenn man nun ]eden Menschen, bei welchem ein oder mehrere der obigen Merkmale vorhanden sind, als ,,musikalisch" bezeichnet, so diirfte es wohl nur wenige geben, die eigentlich unmusikalisch sind. Selbst- verst~ndlieh gibt es bier alle Abstufungen yon schlecht Begabten zum Durchschnittsmenschen und vom Talent zum Genie.

Was nun unseren Patienten betrifft, so miissen wir ihn schon zu der Gruppe der musikalisch Begabten z/ihlen. Wir erfahren yon ihm, dab er ein absolutes GehSr gehabt hat. Dies habe ihm gestattet, seinen Beruf als Klavier- und Fliigelstimmer mit besonderer Gewandtheit aus- zuiiben. In der Schule und in der Kirche habe er immer mitgesungen und beim Milit~r sei er Lithurgies/inger gewesen. Das Tanzen und das Marschieren habe ibm nie Sehwierigkeiten gemacht (Sergeant). Aueh habe er friiher Mundharmonika gespielt. Klavierspielen habe er nicht gelernt, aber immer nach jeder Reinstimmung einiges improvisiert, um den Klang der Instrumente zu iiberpriifen. Fast immer, wenn er einen Konzertfliigel gestimmt habe, sei er in das betreffende Konzert gegangen. (Er nennt Elly Ney - - Friedberg - - Edwin Fischer u. a.). Dies tat er in der Hauptsache, um seine Arbeit zu kontrollieren. Einmal sei ein Fliigel kurz vor dem Konzertbeginn beim Transport beschadigt worden, was eine leichte Senkung der TSne im Diskant im Verlaufe des Kon- zertes zur Folge hatte und was er sogleieh heraushSrte. Bekanntlich werden die Konzertfliigel vor dem Konzert von einem yon der Her- stellerfirma dazu besonders bestellten Stimmer auf ihre Klangreinheit gepriift, eine Aufgabe, die unserem Patienten h/~ufig iibertragen wurde.

Fiir die Beurteilung unseres Kranken ist es erforderlieh, daf~ wir das Stimmen yon Klavieren auch yon einem psychologischen Stand- punkte betrachten. Sowei~ ich die Literatur iiberschaue, ist ein solcher Versuch bisher noch nicht vorgenommen worden. Das MaD der Sch/idigung liegt ja in der Gegeniiberstellung der jetzt vorhandenen und des friiher vor dem Infekt Geleisteten. Es mag daher gestattet sein, das Charak- teristische der Stimmtechnik im Sinne einer Arbeitshypothese auch im Hinblick auf zukiinftige Untersuchungen zu erSrtern. Die psyehologische Betrachtung beruht auf der Exploration unseres Patienten, es ist seine Verfahrensweise.

Die TonhShen unserer achtstufigen Tonleiter stehen in einem festerL Verh~,ltnis zueinander, n~tmlich :

24 : 27: 30: 32: 36: 40: 45:48

Die Tonfolge der TSne mit den Schwingungszahlen in obigem Verhiiltnis nennen wir die Dur-Tonleiter (c d e f g a h c). Diese Tonleiter kann an einer rotierenden Scheibe erzeugt werden, die in acht konzentrischen Reihen LScher in obigem Ver- h/~ltnis aufweist. Ist die Umdrehungszahl = n, so sind die zugehSrigen Schwingungen:

24n; 27n; 30n; 32n; 36n; 40n; 45n; 48n

Page 15: Beiträge zur Frage der sensorischen Amusie

]3eitrage zur Frage der sensorisehen Amusie. 631

= absolute Tonh6hen. Da nun der Charakter der T6ne yon der Zahl n unabh~ngig ist, so kSnnen wir die Tonfolge auf den Grundton = 1 beziehen. Es resul t ier t dann das Verhiiltnis:

i : 9 / 8 : 5 /4 : 4 /3 : 3 / 2 : 5 / 3 : 15/8: 2.

])iese Schwingungszahlen bezeichnet man als die relativen Tonh6hen. Diese re la t iven Tonh6hen geben das Verhi~ltnis der Schwingungszahlen zweier

ein In te rva l l begrenzenden TOne an. D. h. bei einer auf den Grundton aufgebauten Quarte 4/3 entfallen auf 1 Schwingung des Grundtones 4/3 Schwingungen der Quar t oder auf 3 Sehwingungen des Grundtones kommen 4 der Quarte.

Diese re la t iven Tonh6hen gestat ten weiterhin, Konsonanz und Dissonanz zu best immen. Je kleiner niimlich die ganzen Zahlen sind, die ein Verhiiltnis zweier T6ne ausdriicken, um so grSl]er ist ihr Wohlklang und umgekehrt . Darnach stel l t also nSehst der Pr im 1 : 1 die Oktave 1 : 2 die gr6gte Harmonie dar. Es folgen die Quinte 2 : 3, die Quarte 3 : 4, die groge Terz 4 : 5, (die kleine Terz 5 : 6) und die Sexte 3 : 5. Die Sekunde 8 : 9 und die Septime 8 : 15 stellen dagegen Disharmonien dar. Psychologisch gesehen ist die Konsonanz etwas Klares, l%eines, in sich Geschlos- senes, sie mach t auf unser Ohr einen befriedigenden Eindruck. Bei der Dissonanz dagegen s tehen sich die TSne fremd gegeniiber, wir h6ren sie getrennt , rauh. Dis- sonanzen bedtirfen der Aufl6sung.

I n diesem Zusammenhang miissen wir aueh noch die Obert6ne erw~ihnen. ]3eim Ansehlagen eines Tones schwingen eine Reihe yon harmonisehen Obert6nen mit, welche sich in ihrem Schwingungszahlenverhi~ltnis zum Grundton verha l t en wie I : 2 : 3 : 4 : 5. Es klingen daher zum angesehlagenen Ton a die Oktave E usw. mit. Wie wir sp~iter noch sehen werden, sind diese Obert6ne dem Stimmer ein wertvolles I-Iilfsmittel zum Stimmen der Ins t rumente . U m das Verh~ltnis zweier benaehbar te r T6ne (---- ihr Intervall) zu erhalten, mug man jede absolute Ton- h6he du tch die vorhergehende dividieren.

Wir e rha l ten dann:

e d e f g a h e 9/8 10/9 16/15 9/8 10/9 9/8 16/15

Die Interval le haben entsprechend ihrer Gr6Be folgende Bezeichnung: 9/8 = groger ganzer Ton

10/9 = k!einer ganzer Ton 16/15 = halber Ton.

]:)as In te rva l l yon einem kleinen ganzen Ton un4 einem halben Ton is t 10/9 : 16/15 = 25/24 = kleiner halber Ton.

Das In te rva l l yon einem groflen ganzen Ton mud einem kleinen ganzen Ton is~ 9/8 : 10/9 = 81/80 ---- ein Komma.

Die I)ur-Tonleiter besteht also aus 5 ganzen und 2 halben T6nen. Hiermi t sind. abet n ieht alle M6glichkeiten erseh6pft, sondern wir mfissen bei den ganzen T6nen noeh ha lbe T6ne einsehieben, was durch Erh6hung (is) bzw. Erniedrigung (es) des Nachbar tones gesehieht.

Bau~ man die Dur-Tonfolge beispielsweise auf den Ton f auf

I g a h e d e f 9/s 10/9 9/8 16/15 9/s 10/9 16/15 9/8 10/9 16/15 9/8 10/9 9/8 16/15

so mfissen wit die auf f folgende Quart u m einen halben Ton erniedrigen, dami t die neue mit der urspriinglichen Tonleiter wieder i ibereinstimmt. Differenzen eines , ,Komma" diiffen, wie wit nachher sehen werden, dabei auger aeht gelassen werden. I)iesen neu einzusehiebenden Ton nennen wir hes oder b. Sein In te rva l l gegen a ist 9/8 : 16/15 = 25/24 = kleiner halber Ton.

Page 16: Beiträge zur Frage der sensorischen Amusie

6 8 2 :Hans K/~ufer:

Transponieren (so nennt man diesen Vorgang) wit nun die Dur-Tonleiter naeh g, so mfissen wir die Septime yon g, den Ton f, um einen halben Ton erh6hen = fi 's Wir erhal ten die G-Dur-Tonleiter.

Transponieren wir nach e, so mfissen wir auBer fis noeh gis, dis und eis ein- setzen = E-Dur.

Transponieren wir so die Dur-Tonleiter framer welter (etwa in Quinten nach auf- und abw~rts), so kommt jeder Ton einmal erhOht und einmal erniedrigt vor. Fi ig t m an nun die neuen T6ne in die Dur-Tonleiter ein, so erh/~lt man die 12 stufige chromatische Tonleiter:

e cis d dis e f fis g gis a ais h e oder auch e des d e s e f ges g as a be h c.

Da nun cis und dis, fis und ges usw. fibereinstimmen oder sich nur um ein K o m m a unterscheiden, so legt man sie prakt isch bei Ins t rumenten mit fester S t immung zusammen. Diese Gleiehsetzung yon fis und ges usw. nenn t man aueh enharmonische Verwechslung. Man geht nun in der Vereinfaehung beim St immen yon In s t rumen ten noch welter und tei l t die Oktave in t2 gleich~oBe Interval le , 'so dab die Schwingungszahlen der TSne yon c naeh 5 eine geometrische Reihe bi lden ----- ausgeglichene chromatische Tonleite,'. Dadurch ist es mfgl ich gemacht , dab die auf einen Ton aufgebaute 12faehe Quinte mit der 7fachen Oktave des- selben Tones zusammenfi~llt, obwohl (3/2) 12 nicht gleich 27 sein kann.

Bei der bisherigen Betraehtung lieBen wir Tonh6henunterschiede eines Kommas auBer acht . Dies k6nnen wir ohne Schaden praktisch tun, da Interval lunterschiede yon solcher Kleinheit ffir fast alle Menschen innerhalb der Unterschiedsempfind- lichkeit ffir Tonh6hen liegen. Wie mir aber eine tfichtige Pianis t in erz~hlt, maehen sieh diese Untersehiede vom Normalen besonders bei der Begleitung yon Solisten (S/mgern und Streichern) h/iufig unangenehm bemerkbar, derart , dab die Piano- beglei tung zu , ,har t" klingt.

Erw/~hnt sei auch an dieser Stelle, dab bei den Stre ichinst rumenten die aus- gegliehene ehromatische Tonleiter n icht besteht. Cis und des, fis und ges fal len hierbei n icht zusammen ~-ie bei den schwarzen Tasten des t~laviers. Ganz davon abgesehen, dab man bei gewissen Gelegenheiten die einzusehiebenden Halb t6ne gerne , ,scharf" und akzentuiert zur Darstel lung bringt. Derartige M6gliehkeiten des Varfierens bestehen auf dem Klavier nieht. Die festgelegten T6ne ges ta t ten abet auf tier anderen Seite aueh denjenigen Mensehen gute musikalisehe (teehnisehe) Leistungen, deren musikalisehes Geh6r rdcht besonders gu t ausgebildet zu sein braueht . Das Gegenteil gilt nattirl ich fiir den Stimmer soleher Ins t rumente , der aueh allerfeinste Differenzen beseitigen mug. Wie er dabei vorgeht, wollen wir n u n darzustel len versuchen.

U m sieh einen kurzen L'berblick fiber das zu st immende Klavier zu verschaffen, schl~gt der St immer in allen Oktaven, vom mit t leren Tonbereich ausgehend, In terva l le und Akkorde verschiedenster Ar t an. Auch improvisiert er zu diesem Zwecke einiges, um dann mit der Festlegung des Kammertones a zu beginnen. Diesen Ton, den er mit Hilfe der Normalst immgabel festlegt, nenn t man aueh Pariser A. (Eine Ausnahme hiervon bilden alte Ins t rumente , die sieh in ihrem ganzen Tonbereich gesenkb haben, und die meist dem Hausgebrauch dienen. Bei diesen legt man den Ton a etwas tiefer, um nicht alle Saiten anspannen zu mfissen. Der St immer gleieht nun die A-Saite dem St immgabel ton an, bis beide T6ne nahezu gleieh sind. Sodann l~Bt er die Saite und die Gabel gleiehzeitig erklingen und h6r~ die Schwebungen bzw. die Sehwebungsst6Be ab. Unterseheiden sieh z. B. beide T6ne noeh um 2 Sehwingungen in der Sekunde, so gibt es aueh 2 St6Be pro Sekunde. Die Saite mug dann entweder noch weiter angespannt oder in i l ~ r Spannung heruntergesetzt werden, solange bis keine Sehwebungsst61]e mehr zu vernehmen sind.

Page 17: Beiträge zur Frage der sensorischen Amusie

Beitriige zur Frage der sensorisehen Amusie. 633

Liegt nun der Ton a fest, d. h. ist das ,,Chor °° rein gestimmt, so ~ d die Oktave zum Ba~ hin a festgelegt. Da nun f ~ jeden Ton im mittleren Tonbereich und im Diskant 3 Saiten vorhanden sind, f fir die TOne im Bag zunO.ehst 2 und dann f~" die ganz tiefen TOne nur 1 Suite, so muB der Stimmer 2 yon diesen 3 Saiten zunAehst aussehalten. Er steckt zu diesem Zweek einen Holzkeil zwisehen diese. Is t nun die fibrigbleibende sehwingungsf/~hige Suite riehtig gestimmt, so wird erst die danebenliegende angegliehen und dann aueh die letzte dazugenommen. Dieses Naeheinanderstimmen der ftir jeden Ton oben n/iher bezeiehneten Saiten- zahl wiederholt sieh immer wieder, ohne dab wir dies jedesmal erw~thnen wollen. Dieses Zwei- oder Dreisaiten-System nennt der Stimmer ein ,,Chor".

In diese Oktave a - - a werdea naeheinander folgende TOne eingesehaltet:

e h fis eis gis dis b f e g d

(wit bezeiehnen die GrundtOne mit kleinen ]ateinisehen Buehstaben, die anderen ebezffalls mit kleinen lateinisehen :Buehstaben, und fiber- bzw. unterstrieheln diese so oft, als sie sieh ia Oktaven yon deft GrundtOnen entfernen). Der Ton e, weleher ats erster zu a und a bestimmt ~,-ird, bildet die reine Quinte zu a und die reine Quart.e zu a. D a e s sieh dabei um wohlklingende umkehrbare Intervalle handelt., ist seine :Bestimmung nieht sehwer . Sukzessive wird e m i t a und a angesehlagen, solange bis beide Intervalle harmoniseh ausklingen, oder, wie der Stimmer sagt, ,,sieh in der :Ferne treffen". Um feinste Unreinheiten auszugleiehen, bedient sieh tier Stimmer der obenerw~hnten Obertonreihe. Der zweite Oberton yon a fhllt mit dem ersten Oberton b zusammen. Differieren nun Grundton und (~uinte noeh um eine Sehwingung, so empfindet man beim AbhOren der gleiehen ObertOne zwei SehwingungsstOge. Die StOge verdoppeln sieh hier, da ja die Oktave nfit ihrer doppelten Sehwingungszahl abgehOrt wird.

Dem Ton e folgt der Ton t2, der eine Quart zu e darstellt. Diese Quart ist genau so groB wie die Quart e - a .

Sodann kommt der Ton fis an die Reihe. Fis ist eine reine Quinte yon h. i]ber- prfift wird fis dureh Ansehlagen des Septimenakkordes h - - f i s - - a und dureh[4.bhOren des zweiten Obertones yon h mit dem ersten Oberton yon fis.

Naeh fis wird cis bestimmt. Dieser Ton bildet zu a eine grebe Terz, zu e eine kleine Terz. :Die Festlegung des eis ist in der Stimmung am sehwierigsten, da die Summe der kleinen Terz eis--e und der groBen Terz a--eis die Quinte _a-e ergibt, und wit keinen Oberton der bereits festliegenden Tone zu Ililfe nehmen kOnnen.

Auf eis folgt gis. Ois wird bestimmt dureh das Intervall t2--gis, welches genau so groB ist ~4e das bereits Iestliegende a--fis. !Jberprtift wird dieser Ton dutch Ansehlagen des Terz-Quint-Moll-Akkord~ e i s - -e - -g i s und dutch AbhOren der ent- spreehenden ObertOne yon eis und gis.

Dis, der n/tehstfolgende Ton, bildet die groge Terz zu h. Diesem Intervall wird die fiberm~Bige Quarte a - -d is gegenfibergestellt. Die ~ o g e Terz tl2--dis ist gleieh dem Intervall a--eis.

Der Ton b (oder a~s) bildet die Meine Terz zu des ( = eis) und wird festgelegt dureh die Umkehrung des Terz-Quint-Akkordes es- -des- -ges ( = fis).

Nun kommt der Ton f an die Reihe, der die grol3e Terz zu a und cue kleine Sext zu a bildet. I]berprtLft wird f dureh Ansehlagen der Quinte b- - f .

Von den noeh fibrigbleibenden TOnen e, g, d wird zuerst e gestimmt. Hierbei hat der Stimmer sehon ein etwas grOBeres Vergleiehsmaterial zur Verftigung. C ist die kleine Terz zu a und zu es ( = dis) sowie die grol3e Terz zu e.

Der vorletzte Ton ist g, der zu be liegt wie gis zu h, e zu a, oder fis zu a. Den Sehlul] bildet der Ton d, die reine Quart zu a. Aueh hierbei mtissen sich

genau wie bei e die beiden Intervalle sukzessive angesehlagen ,,in der Ferne treffen". Damit ist die mittlere Oktave, die , ,Temperatur" fertiggestimmt. Eine noeh-

malig sorgfMtige l]berprfiftmg dureh Ansehlagen aller nut mOgliehen Intervalle

Z. f. (t, g. Neut ' . it. Psych . 141. 41a

Page 18: Beiträge zur Frage der sensorischen Amusie

684 Hans K~,ufer:

und Akkorde zeigt dann dem Stimmer an, ob die 13 gestimmten T6ne den weiter oben aufgestellten Forderungen der ausgeglichenen chromatischen Tonleiter ent- sprechen. Nur wenn dies der Fall ist, daft mit der Stimmung der anderen 0ktaven fortgefahren werden.

Das ~Veitere geschieht nun so, da~ sowohl nach dem Diskant wie nach dem Bal3 hin die T6ne der Temperatur oktavenweise fibertragen werden. Bei der Oktave verhalter~ sich ja die Schwingungszahlen (die relativen Tonh6hen) wie 1:2. Die dadurch bedingte Konsonanz macht die sukzessive Stimmung der Oktaven zu einer relativ einfachen Aufgabe. Auflerdem gestatten die z~ischen Grundton und der dazu festzulegenden Oktave bereits gestimmten T6ne und deren Obert6ne beliebige ?Jberprfifungen. Regehnttllig aber wird die reine Quart zum Grundton (gleich der Quint zur Oktave) mit angeschlagen. Die relativen Tonh6hen der Prim zur Quart, ztn" Quint und zur Oktave sind 1:4/3:3;'2:2. Die zugeh6rigen Inter- valle mi2ssen also wohlklingend, harmonisch sein. Sie miissen sieh ,,in der Ferne treffen".

In diesem Zusammenhang sei auch er~vtthnt, wie das Einstimmen der Instru- mente nach dem ersten Aufziehen der Saiten erfolgt. Selbstverst~indlich k6nnen die neuen Saiten nicht sogleich rein gestimmt werden. Das geht aus dem Grunde rdeht, well die Saiten die ihnen gegebene erste Spannung nicht beibehalten, son<tern in ihrer Spannung naehlassen (Dehnen des Metalls). Bei der ersten Stimmung werden daher die Saitert so stark angespannt, bis die ihnen zugeh6rigen T6ne in der Ntihe der verlangten Tonh6hen ]iegen. Dieses Anspannen der Saiten erfoIgt so lange, bis sie sich nicht mehr dehnen, d. h. etwa 4--5mal. Dann erst erfolgt die Reinstimmung in dem yon uns gesehilderten Arbeitsgange.

Alle oben niiher beschriebenen musikalischen F~ihigkeiten miissen bei unserem Pa t i en ten vorhanden gewesen sein. Es darf daher die Analyse des Klaviers t immens als Basis fiir die ~ ' i t i sche Wfirdigung der systematischen Funkt ionsana lyse dienen.

~Vir haben gesehen, dall bei dem St immen yon I n s t r u m e n t e n eine absolute In te rwl l fes t igke i t vo rhanden sein mull. g e i ne Quar ten oder Quinten, fiberm&llige oder verminder te Terzen dienen abwechselnd zur Fes t legung der in die Oktave e inzuschal tenden T6ne. Bei unserem K r a n k e n aber ist die TonhShen-, die In terva l lperzept ion s tark im patho- logischen Sinne ver/indert. Wi t sehen, dall R. die einfachsten In terva l le n ich t erkennt , dall er Terzen mit Quarten, Quinten u n d Sexten ver- wechselt. Der Abbau der musikal ischen Leistung geht so weit, dall er die Quinte, die nach der Oktave gr6BtmSgtichste Konsonanz zweier T6ne n ich t sicher erkennt . Abet nicht nu r bei der einfachen Fest legung dieser ihm gebotenen reinen In te rva l le kommen Fehl le is tungen vor. Werden diese Interval le unre in (erinnert sei vor allem an den Versuch des Geigenstimmens), so weill er sich gar nicht mehr zu helfen. Ganz feine Differenzen h6rt er n icht heraus. Is t der Unterschied gr6fler, so e rkenn t er diese Unst immigkei t , ohne aber sagen zu k6nnen, welcher yon den beiden das Inter 'cal l begrenzenden T6nen zu hoch odor zu tier steht.

Aber gerade in diesen Feinhei ten , in der Ausgleichung feinster Dis- ha rmonien besteht die Hauptaufgabe des Klaviers t immers . In te ressan t ist zu wissen, dall die ersten amusischen Symptome, die sich bei dem

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J3eitr/ige zur Frage der sensorischen Amusie. 635

Pat ienten iiberhaupt einstellten, in der Unf/ihigkeit bestanden, Inter- vallunreinheiten im obigen Sinne auszugleichen. Er half sich zun£chst damit, dab er einfach solange probierte, bis er glaubte, den Unterschied beseitigt zu haben. Wahrscheinlieh begann die jetzt manifeste sensorische Amnsie mit einer PerzeptionsstSrung fiir ObertSne, so dab R. Schwebungs- st61~e nieht mehr wahrnehmen konnte. Leider war es nicht mSglich, fiber den anf/inglichen Verlauf der Erkrankung aNiiheres zu erfahren, well R. nach den ersten Fehlleistungen seiner T~tigkeit als Stimmer enthoben wurde.

Die Amusieforschung unterscheidet zwei verschiedene Formen yon Amusien, je nachdem die StSrung in der Perzeption oder in der Expression liegt. Die am h£ufigsten vorkommende ist die expressive oder motorische Form. Solche Kranke haben die Fhhigkeit der Produktion oder der l~eproduktion verloren bei Erhaltensein der :Perzeption_ Ja, sie kSnnen ihre eigene falsche Wiedergabe eines Tonstfickes meist richtig beurteilen, ohne in der Lage zu sein, den Fehler zu korrigieren..Kleist unterscheidet drei Arten yon motorischer Amusie, die Tonstummheit , die 3Ielodien- s tummhei t und die instrumentelle (manuelle) Amusie. Unter der Ton- s tummhei t versteht man den Verlust der F~higkeit, einzelne TSne zu produzieren, sei es durch Singen oder t)feifen. Nicht notwendig mit der Tonstummheit verbunden ist die l~[elodienstummheit. Pat ienten dieser Art kSnnen eine ~Ielodie nicht richtig pfeifen oder singen. Bei ihren musikalisehen Ent/iufterungen treten Entgleisungen und Ver- tausehungen sowohl melodischer wie rhythmischer Art auf. Eine beson- dere Form ist die Melodienamusie, wobei die Kranken - - immer bei vollem Melodienverst/~ndnis - - allt/~glichste Melodien vergessen haben. An diese Melodienstummheit ist hi~ufig der Verlust des Instrumen- tierens gekntipft. Allerdings mul~ insbesondere bei derartigen Ausf&llen, wie auch bei musischen Aul~erungen gesanglicher Art nnd beim Pfeifen eine dispraktische StSrung ausgeschaI~et werden.

Liegt eine StSrung in der Perzeption musischer Inhalte vor, so sprechen wit yon impressiver oder sensorischer Amusie . In diese Gruppe gehSrt auch unser Patient. Intervalle werden Ialsch perzipiert und Akkorde nich~ riehtig erkannt. In besonders welt vorgeschrittenen F&llen klingen TSne ger£uschartig, wobei Ger£usche selbst als solche meist richtig erkannt werden. Aueh bier unterseheidet KIeist eine Tontaubheit yon einer Nelodientaubheit. h n ersten Falle kann sich der Ausfall aueh auf T6ne und Akkorde beziehen, 5Ielodien kSnnen aber soweit richtig aufgenommen werden, als nicht eine Beeintr~ehtigung durch fatsehe Perzeption einzelner TSne eintritt. Bei der Melodientaubheit ist die Auffassung yon Melodien - - zeitlich gegliederte Aufeinanderfolge yon Intervallen und Akkorden - - gestSrt. Hierbei handelt es sich um eine amnestische StSrung.

Differentialdiagnostisch mug die Tontaubheit gegen die peripheren und zentralen HSrfeldstSrungen abgegrenzt werden. Diese sind durch

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Reizleitungsst6rungen bedin~. Jedem Ohr ist ein peripheres K6rfeld zugeordne*, und beide Felder vereinigen sich im zentralen H6rfeld. Ausfhlle kSnnen nun schon durch eine Verminderung der Reizperzeptoren oder durch eine Ver~nderung der Ablaufsqualit£ten hervorgerufen werden. Feuchtwanger sprieht yon , ,Rarefikation" und yon ,,Funktionswandel". Hierhin geh6rt das Ph/~nomen der Tonl~cken und Toninseln, welehe man mit Hilfe der Stimmgabelreihe genau best immen kann. Bei dem Funk- tionswandel - - den Parakusien - - ist die Perzeptorenzahl nicht ver- mindert , tIier h~ndelt es sieh um eine Ver/~nderung der Abtaufqualit~iten der Empfindungen derart, dal~ die Leistungen auf beiden Ohren in bezug auf die Intensi tat und die Zeit ungleieh geworden sind. Wiederum zu trennen sind diese peripheren I-I6rfeldausf£lle yon den zentralen I-ISr- feldst6rungen, welehe dureh Verletzungen der ttSrzentren in den Sehl£fen- lappen, den Hechlsehen Windungen, verursacht werden. Diese St6rungen bezeichnet man als zentrale Anakusien. Selbstverst/~ndlieh kSnnen l~eiz- leitungsst6rungen das Bild einer eehten Amusie komplizieren, wie aueh das Umgekehrte der Fall sein kann.

Was nun unseren Patienten betrifft, so hat die ohren/trztliehe Unter- suehung einwandfrei ergeben, dag derartige ttSrfeldausf/flle bei ibm nieht vorhanden sind. Wit haben also das Bild einer eehten, vorwiegend sensorisehen Amusie vor uns.

Die besehriebenen sensoriseh-amusisehen Erseheinungen k6nnen wohl einen Beitrag geben fiir die theoretische Analyse der Amusie iiberhaupt.

Prinzipiell sind zwei theoretisehe Ans~tze denkbar. Wit kSmlten zunaehst - - wie das ja aueh in der Gesehiehte des Problems in friiheren Zeiten immer wieder versueht wurde - - yon einem element-theoretisehen Ansatz ausgehen. Man kSnnte sagen: Melodien, Intervalle, Akkorde bestehen aus einzelnen TSnen, deren Eigensehaften ihre I-I6he, ihre In tens i ta t und ihre Klan~arbe sind. 5lan k6nnte versuehen, yon der Untersuehung der Eigensehaften der Tonelemente auszugehen, um die amusisehen Erseheinungen zu besehreiben.

Solehe Theorien sind in Verbindung mit der Assoziationstheorie mehr- faeh aufgestellt worden. Eine der £Itesten ist die der Erinnerungsbilder. I I iernaeh ist jedes musikalisehe Wahrnehmungselement in entspreehenden t t irnzentren ,,deponieI"d'. Die Ausf~lle k6nnten dadureh zustande kommen, dal3 mehrere dieser Depots zerst6rt oder sonstwie funktions- untiichtig geworden w/tren.

Andere theoretisehe Ansgtze nehmen an, dal3 die Zentren fiir die akustisehe Wahrnehmung, die Residuen, zwar nieht gestSrt w~iren, wohl aber die assoziative VerkniipNng der einzelnen Klange, die Inter~-alle und Akkorde. Diese Theorie kann freilieh nieht befriedigen, sehon weil, wie die Gestalttheoretiker, insbesondere als erster v. Ehren]els, betont haben, es nieht reeht verst/indlieh wird, wie Transponierungen yon NIelodien und Akd~orden in andere Tonlagen m6glieh sind ohne Ver-

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/~nderung des phanomenalen Gehalts der Wahrnehmung. I)enn die An- nahme einer assoziativen Verkoppelung der Einzelkl~nge zu einer Melodie l~i]t sich mit der Tatsache der TransponierungsmSglichkeiten nicht in Ein- klang bringen. Man kann nicht Akkorde und Melodienfolge als eine Summe aufeinanderfolgender und assoziativ-verknfipfter Einzelt6ne ansehen.

Der zweite theoretische Ansatz, den uns die Psychologie zur Ver- fiigung stellt, ist der gestalt-theoretisehe. Die Untersuchungen der Gestalttheoretiker, insbesondere yon Wertheimer, Kof/ka, Goldstein, Gelb und die tonpsychologisehen Untersuehungen yon KShler, weisen darauf bin, dab eine Gestalt mehr ist als die Summe ihrer Elemente. Aueh die Melodie ist nicht eine einfache Addition yon Einzelkl~ngen, sondern sie stellt etwas vollkommen iNeues dar. Die gebotenen T6ne verschmelzen zu einer ,,Gestalt", deren Charakter nieht yon der Summe der einzelnen Elemente abzuleiten ist, sondern yon dem Zueinander, dem Struktur- geffige dieser Elemente bestimmt wird. Die Melodie ist also eine struk- turierte Gesehehensgestalt. Transponieren wit etwa einen C-i)ur-Akkord naeh F-I)ur oder G-i)ur, so bleibt die Gestalt des Akkordes unbeein- fluBt, obwohl jedesmal andere T6ne verwendet werden. Dies gilt aueh f/it die Melodie, die nieht nur eine sukzessive I)arbietung klanglieher Einzelinhalte ist, s0ndern ein Verlau~, und deren Gestalt unabh/ingig yon der Tonart oder yon der Oktave, in der sie geboten wird, ist, wenn nur der Charakter des Zueinander der EinzeltSne sieh nieht veri~ndert.

Wenn nun die VerschmeIzung zweier oder mehrerer TSne zu einer Gestalt innig ist, so haben wir das, was man eine Konsonanz nennt. I)as Gegenteil ist die I)issonanz, etwa die Sekunde oder die Septime, bzw. die zugehSrigen Akkorde. Konsonanzen haben den Charakter der KlarheiV, der Einheit und Einfachheit, Dissonanzen den der Unktarhei~, Verworrenheit und Uniibersiehtliehkeit 1

Bei unserem Kranken sahen wir nun, dab er die Struktur, beispiels- weise der Intervalle, nieht sieher erfaBte. Die Gestaltstruktur einer Quart oder einer Quinte ist fiir ihn nieht mehr vorhanden. I)ie Ver- sehmelzung der TSne ist keine normale mehr. Was an deren Stelle getreten ist bei ihm, ob iiberhaupt noch eine Verschmelzung sieh voll- zieht, ist natiirlich nieht zu sagen. Jthnliehes Verhalten haben wit bei den simultanen und sukzessiven musikalisehen Gestaltbildern, bei den Melodien und Akkorden. I)a es sieh vor allem bei den Melodien um noeh komplexere Vorg/inge handelt, bei denen auch das Zeitlich-Rhyih- mische eine groBe Rolle spielt, so sind die Ausf~lle nicht so offensicht- lich als bei den relativ einfachen In~ervallgestalten. ~Vir erinnern nur

Gestalten gibt es auch auf anderen Sinnesgebieten, so in der Optik. Zeichne ich etwa drei Punkte so . . . . dab sie die Ecken eines recht~_nkligen I)reiecks dar- stellen, so sieht der unbefangene Beobaehter diese Punkte nicht als drei Punkte, sondern als die Ecken eines I)reiecks. Die Punkte sind selbst unselbst/~ndige ,,stiick- hafte '° Teile der Gestalt I)reieck. Sie werden anders gesehen, als wenn man sie isoliert betrachtet.

Z. f. d. g. Neu t . u. Psych . 141. 41b

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noeh an das Vorspielen des Rheinl~nders, welcher abwechselnd in Dur und Moll begleitet wurde, was I~. aueh bei einer Wiederholung nicht bemerkte.

Was die Beziehung der Gestaltstruktur zur Tonalit~t angeht, so ist zu sagen, dal3 im mittleren Tonbereieh des Klaviers die Leistungen unseres Patienten am besten erhalten sind. Weniger gut sind sie im Diskant und am schlechtesten im Bal3. Die Priifung auf reine Dur- und Moll-Tonarten ergab gute und schlechte Resultate. Bei dem Nach- spielen yon Simultanakkorden waxen allerdings fast keine diesbeztig- lichen l%hlleistungen zu verzeichnen. Dies berechtigt zu der Annahme, dal3 die Beziehung der Tongeschleehter zur Tonalit~t nicht allzu sehr geseh~digt sein kann.

Wir erw~hnten bereits, dal3 es sieh bei der sukzessiv-musikalischen Gestal tung um einen komplexen Vorgang handett, bei welchem aul3er dem rein tonalen Anteil der zeitlich-rhythmische Faktor yon Bedeutung ist. Die Zeit hat bei einer Melodie auch Gestaltchaxakter. i~icht allein, dab den (Noten) T5nen innerhalb einer Melodie ganz bestimmte, vom Komponis ten festgelegte Zeitwerte zukommen, aueh die Pause hat Gestaltchaxakter, sie ist keine ,,Leere". ~Aanlich verhalt es sieh mi~ dem Rhythmus , und wir haben versucht, diesen zu analysieren. Zu diesem Zwecke bedienten wir uns der klangfreien Klopfrhythmen bei oftener und verdeckter Lautquelle. Dabei war festzustellen, dal3 R. einfache :Formen bis zu 6 Schl~gen meist riehtig wiedergab, wenn sie nieht allzusehr differenziert waxen. Stieg die Zahl der Kiirzen und L~ngen, so ergab die Untersuchung nut falsche Resultate. Wir sagten auch bereits, dal3 die Frequenz der Wiedergabe verlangsamt und die Klopf- st£rke wenig differenziert war.

Aul3er diesen Ausfallen bei den abstrakten Rhythmusfibungen konnten wir auch Fehlleistungen in bezug auf das Tempo und den Takt feststellen. Erinnert sei daran, dal3 R. nieht merkte, dal3 ihm das Lied , ,Guter M o n d . . . " znnachst im Vierachtettakt und dann im Walzertakt vor- gespielt wurde. Weiterhin erkannte er nicht das Tempo eines Rheinlanders.

Bei den Priifungen der Klopfrhythmen mfissen wir uns erinnern, dal3 die psyehologische Untersuehung eine staxke Herabsetzung der Merkfahigkeit sowohl auf optischem wie auf akustischem Gebiete ergeben hat. Allein diese mangelnde Merkf~higkeit reieht wohl nicht aus, um alle zeitlich-rhythmischen Ausf~lle zu erkl~ren. Daxfiber hinaus mul~ es sieh um StSrungen rhythmischer und zeitgestattlieher Faktoren handeln.

Was die Lokalisation des Defektes im Grol3hirn angeht, so lassen die genaue Anamnese und der objektive Befund den Schlul3 zu, dab die musikalischen Ausfallserscheinungen auf der Stirnhirnverletzung beruhen. Es handelt sieh bei unserem Patienten um eine linke Stirnhirn- verletzung mit anschliel3endem Hirnprolaps und Erysipel. Die Pro- jektion der pulsierenden Naxbe auf das Gehirn ergibt eine Verletzung

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der 2. und 3. Stirnhirnwindung iibergreifend auf die vordere ZentraL windung. Aus dem Operationsbefund geht weiterhin hervor, da~ sieh iiber den Knochenrand hinaus ,,weiter hinien" aus einer pflaumen- groBen H6hle Blut- und Hirnmasse entleert hat, was zu der Annahme berechtigt, dab die Verletzung sogar bis zur 1. Temporalwindung reieht.

Die Literatur zur Frage der Lokalisation ist ziemlieh uneinheitheh. Es sind F~lle yon sensorischer Amusie besehrieben, bei denen (lie I-lerde im linken Stirnhirn gefunden wurden, dagegen linden sich auch einige mit rechtsseitigen Defekten. Dasselbe gilt ffir die motorisehe Form. Allerdings scheint mir die Annahme bereehtig% dab den rezeptiven Formen h~ufiger linksseitige und den expresssiven Amusien mehr rechts- seitige I-Ierde zugrunde liegen. Aueh sieht man aus den VerSffentlichungen, dab bei allen Amusieformen mit linksseitigen I-Ierden (bei Reehtsh~ndern) SprachstSrungen voriibergehender oder dauernder Art verbunden sind. Zu dieser Form gehSrt aueh unser Patient. Wit linden bei ihm die vorwiegend sensorisch-amusischen StSrungen verkni ipf t mi t dem Bilde einer motor ischen SprachstSrung. Merkwiirdig ist allerdings, dal] die Spraehst6rung sich alsbald nach der Verletzung zeigte, die Amusie sieh dagegen erst nach etwa 12 J ah ren entwickelt hat.

Es Hegt n ich t im Rahmen dieser Arbei t alle die Lokal isat ion betref- fenden F ragen zu behandeln, wir Wollen mi t unseren Aufzeichnungen nu r einen Beitrag zu diesen F ragen liefern, dami t die zukiinftige For- schung aus vielen solchen VerSffentl iehungen n/ihere Schliisse ziehen

kann .

Literat~Lrverzeichnis. Feuchtwanger, E.: Amusie. -- Die Funktionen des Stirnhirns. -- Joflmann, P.:

Die Beziehungen der motorischen Amusie zu den apraktischen StSrungen. Mscbx. Psychiatr. 6:3. -- Klein, R.: ~ber reine Worttaubheit mit besonderer Berfick- sichtigung der Amusie. Mschr. Psychiatr. 64. -- Kleist, K . : Gehirnpathologische und ]okalisatorische Ergebnisse fiber HSrstSrungen, Ger~uschtaubheiten und Amusien. Mschr. Psychiatr. 68. -- v. Kries: Wer ist musikalisch ? -- Mendel, K . : Kriegsbeobachtungen. Neut. Zbl. 35. -- Mi~ller, A . : Psychologie. -- Rosenberg, K . : Lehrbuch der Physik. - - Wertheimer: Untersuchungen zur Gestalttheorie II.