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Bodenlos Der Kampf um den Sinn im Politischen Von THOMAS BEDORF (Hagen) Der große Ideengeschichtler Isaiah Berlin hat in seinem berühmten Vortrag von 1958 über die Idee der Freiheit zwei Freiheitsverständnisse voneinander unterschieden: den Begriff der negati- ven von dem der positiven Freiheit. 1 Die Unterscheidung dient ihm dazu, wünschenswerte von unerwünschten Effekten der politischen Forderung nach Freiheit sondern zu können. Die von Berlin mit Nachdruck befürwortete „negative“ Freiheit bezeichnet er als die „Freiheit von etwas2 , also die Abwesenheit von Zwang und die Gewährleistung der Verfolgung individueller Wünsche. Natürlich hat auch diese grundlegende Freiheit ihre Grenze, nämlich dort, wo sie, in Kants Worten, „die Willkür des anderen“ 3 einschränkt, doch darf sie nicht um anderer politischer Ziele willen (der materiellen Gleichheit, der sozialen Gerechtigkeit, des kulturellen Fortschritts) einge- schränkt werden. Die positive Freiheit hingegen zielt nicht darauf ab, qua Abwesenheit von Zwang einen möglichst großen Raum von Entscheidungen der privaten Lebensführung anheimzustellen, sondern verbin- det die Freiheitsforderung mit einem Ziel kollektiven Handelns. Die positive Freiheit ist dement- sprechend die Freiheit „zu etwas“, die eine definierte Vorgabe ermöglichen soll. Zunächst ist sie als die Möglichkeit und die Fähigkeit gedacht, eine Idee von sich selbst realisieren zu können. Doch ist dann in der Fortschreibung dieser Bedeutung die Vorstellung nicht weit, das „wirkliche“ Selbst oder – politischer gesprochen – die „wahre“ Gemeinschaft, das „Wesen“ des Volkes oder das „historische Klassenbewusstsein“ müsse in die Tat umgesetzt werden. Mit dieser letzten Konsequenz aus dem Begriff der positiven Freiheit wird klar, dass wir es nicht nur mit zwei Begriffsnuancen zu tun haben, die sich ergänzen (was sie in gewisser Hinsicht auch tun), sondern mit zwei dichotomischen Semantiken, die – sofern sie die politisch leitenden sind – einander widersprechende Wirkungen hervorrufen. Berlins negative Freiheit ist jene, die den modernen liberalen Theorien der Politik als Leitlinie dient. Bei allen Differenzierungen und Varianten, die der Liberalismus im Laufe seiner Geschichte angenommen hat, besteht der gemeinsame Nenner darin, freiheitlich in genau diesem Sinne zu sein. Problematisch ist nun aber, worauf Berlin selbst bereits hinweist, dass damit über das Zustande- kommen der politischen Entscheidungen, die den Rahmen der Freiheit betreffen, noch nichts gesagt ist. Ob die Demokratie (und wenn ja, in welcher Form) die beste Struktur politischer Entscheidungsfindung abgibt, ist eine Frage, die mit der Bevorzugung der negativen Freiheit vor der positiven noch nicht beantwortet ist. Vielmehr betreten wir damit ein Diskussionsfeld, das DZPhil, Berlin 55 (2007) 5, 689–715

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Bodenlos

Der Kampf um den Sinn im Politischen

Von THOMAS BEDORF (Hagen)

Der große Ideengeschichtler Isaiah Berlin hat in seinem berühmten Vortrag von 1958 über dieIdee der Freiheit zwei Freiheitsverständnisse voneinander unterschieden: den Begriff der negati-ven von dem der positiven Freiheit.1 Die Unterscheidung dient ihm dazu, wünschenswerte vonunerwünschten Effekten der politischen Forderung nach Freiheit sondern zu können. Die vonBerlin mit Nachdruck befürwortete „negative“ Freiheit bezeichnet er als die „Freiheit von etwas“2,also die Abwesenheit von Zwang und die Gewährleistung der Verfolgung individueller Wünsche.Natürlich hat auch diese grundlegende Freiheit ihre Grenze, nämlich dort, wo sie, in KantsWorten, „die Willkür des anderen“3 einschränkt, doch darf sie nicht um anderer politischer Zielewillen (der materiellen Gleichheit, der sozialen Gerechtigkeit, des kulturellen Fortschritts) einge-schränkt werden.

Die positive Freiheit hingegen zielt nicht darauf ab, qua Abwesenheit von Zwang einen möglichstgroßen Raum von Entscheidungen der privaten Lebensführung anheimzustellen, sondern verbin-det die Freiheitsforderung mit einem Ziel kollektiven Handelns. Die positive Freiheit ist dement-sprechend die Freiheit „zu etwas“, die eine definierte Vorgabe ermöglichen soll. Zunächst ist sieals die Möglichkeit und die Fähigkeit gedacht, eine Idee von sich selbst realisieren zu können.Doch ist dann in der Fortschreibung dieser Bedeutung die Vorstellung nicht weit, das „wirkliche“Selbst oder – politischer gesprochen – die „wahre“ Gemeinschaft, das „Wesen“ des Volkes oderdas „historische Klassenbewusstsein“ müsse in die Tat umgesetzt werden. Mit dieser letztenKonsequenz aus dem Begriff der positiven Freiheit wird klar, dass wir es nicht nur mit zweiBegriffsnuancen zu tun haben, die sich ergänzen (was sie in gewisser Hinsicht auch tun), sondernmit zwei dichotomischen Semantiken, die – sofern sie die politisch leitenden sind – einanderwidersprechende Wirkungen hervorrufen.

Berlins negative Freiheit ist jene, die den modernen liberalen Theorien der Politik als Leitliniedient. Bei allen Differenzierungen und Varianten, die der Liberalismus im Laufe seiner Geschichteangenommen hat, besteht der gemeinsame Nenner darin, freiheitlich in genau diesem Sinne zu sein.Problematisch ist nun aber, worauf Berlin selbst bereits hinweist, dass damit über das Zustande-kommen der politischen Entscheidungen, die den Rahmen der Freiheit betreffen, noch nichtsgesagt ist. Ob die Demokratie (und wenn ja, in welcher Form) die beste Struktur politischerEntscheidungsfindung abgibt, ist eine Frage, die mit der Bevorzugung der negativen Freiheit vorder positiven noch nicht beantwortet ist. Vielmehr betreten wir damit ein Diskussionsfeld, das

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seit langen Zeiten zwischen Kantianern und Hegelianern oder – in neuerer Zeit – zwischenLiberalen und Kommunitaristen umstritten ist. Ohne diese Debatten, die zur Genüge diskutiertwurden, im Einzelnen in Erinnerung zu rufen, darf auf ein Problem hingewiesen werden, dasdiesen Diskussionen zu Grunde gelegen hat. Es hat seine bündigste Formulierung in dem SatzBöckenfördes gefunden, die Demokratie lebe von Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantie-ren könne.

Es zeigt sich nun als wesentlich in diesen Diskussionsfeldern, dass eine Vermittlung gefun-den werden muss zwischen der Formalität des prozeduralen Liberalismus und der Angewiesen-heit auf motivationale Inhalte, oder in Bezug auf Berlins Terminologie: zwischen der Zwang-losigkeit der negativen und den Zwangsvorstellungen des in der positiven Freiheit vereintenKollektivs. Noch allgemeiner formuliert, lautet die Frage, wie sich in modernen ausdifferen-zierten Gesellschaften die notwendige Allgemeinheit des sozialen Bandes mit der normativerwünschten ebenso wie empirisch gegebenen Individualität, die sich nicht in ein Kollektivvereinnahmen lassen will, vermittelt werden kann. Für diese systematische Grundfrage amKreuzungspunkt von Sozialphilosophie und politischer Theorie kursieren verschiedene Lösungs-angebote. Ich will mich einem Vorschlag widmen, der mir hilfreich zu sein scheint, aber auchan entscheidender Stelle eine Begründungslücke aufweist: die aus der französischen Phäno-menologie erwachsene Sozialphilosophie, die in ein Politikverständnis mündet, das ich „Politikder Unterbrechung“ nenne.

Die Theoriegestalt, die ich diskutieren möchte, geht von der Option aus, den Zerfall eines dieGesellschaft umgreifenden Hintergrundkonsenses affirmativ auf eine prinzipielle und unaus-weichliche Pluralität zu überschreiten. Der fundamentale Pluralismus, der nicht mit einemMeinungspluralismus auf dem Boden einer geteilten demokratischen Verfahrensregel zu ver-wechseln ist, geht von einer prinzipiellen Vielfalt des Sinns aus und entwirft von dort seineSozialphilosophie. Mit der Sozialontologie Jean-Luc Nancys soll eine solche Position im Fol-genden exemplarisch diskutiert werden.4 Diese ist ‚bodenlos‘ in dem Sinn, dass sie Vergesell-schaftung mit der radikalen Kontingenz pluraler Entwürfe beginnen lässt und das Politische sozu einem Austragungsort von Sinnkonflikten macht.

In einem ersten Teil werde ich Nancys Sozialontologie des „Mit“ skizzieren, die noch vor dendeliberativen Verfahren und Prozeduren ansetzt, die die negative Freiheit sichern (I). Es wirdsich zeigen, dass ihr die Idee eines sozialen Bandes zu Grunde liegt, die sich als Gemeinschaftoder Brüderlichkeit darstellen lassen soll. Mit diesen Termini kollektiver Zugehörigkeit wirdNancys Sozialphilosophie gleichsam hinterrücks ins Politische überführt (II). Zu diskutierenwird sein, wie sich die hieraus ergebende normative Zuspitzung begründen lässt. Denn dieanschließend vertretene These wird lauten, dass ein solch fundamentaler Pluralismus konse-quent in eine dezisionistische Politik der Unterbrechung mündet. Der Ansatz bei der radikalenPluralität des Singulären lässt sich politisch konsequent durch Theorien der politischenSubjektivierung beziehungsweise der subjektiven Politik fortführen, wie sie exemplarisch anhandder Position Alain Badious entfaltet wird. Diese Theorie des Politischen, die – zumindest derIntention nach – mit jenen Jacques Rancières und Slavoj Zizeks übereinkommt, ist mit Ansprü-chen auf Gerechtigkeit beziehungsweise Gleichheit durchsetzt, ohne dass sich diese Normativitätaus der zu Grunde gelegten Sozialontologie bündig ergibt (III). Abschließend soll gezeigt werden,dass, ohne den Ausgangpunkt bei der Pluralität gänzlich aufzugeben, Normativität alternativbegründet werden könnte, indem Alterität nicht unter Pluralität subsumiert, sondern als Quellewiderstreitender Ansprüche aufgefasst wird (IV). Vor diesem Hintergrund erweist sich der Kampf

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um den Sinn im Politischen als die Markierung einer Grenze der liberalen politischen Philoso-phie, nicht jedoch als deren Alternative (V).

I. Zwischen identitärer Gemeinschaft und zerstreuter Gesellschaft

Die Sozialphilosophie Jean-Luc Nancys nimmt ihren Anfang in der problematischen Schlagseite,die das Mitsein in Heideggers Sein und Zeit aufweist. Den kritischen Ausgangspunkt bildet der§ 74 über die „Grundverfassung der Geschichtlichkeit“, in dem das Dasein als Mitsein umstands-los auf das Geschick des Volkes bezogen wird.5 Will man diese problematische Fokussierungaufgeben, ohne auf die Struktur des Mitseins zu verzichten, muss sich die Frage stellen, inwie-fern die Bestimmung des Daseins selbst die Zuspitzung auf das Volk ermöglicht oder gar erfor-dert. Um den problematischen Konsequenzen aus Heideggers Volks-Philosophie zu entgehen6,müsste der Begriff des Daseins so zugeschnitten werden, dass dieser Weg verbaut wird. NachNancys Interpretation scheint das Heideggersche Mitsein zwei Modalitäten zu generieren, indenen es sich verfestigt: die uneigentliche des Man und die eigentliche des Volkes.7 Beide Verfas-sungen können einer Sozialphilosophie nicht als letztes Wort gelten: Aus dem Man lässt sichschon nach Heideggers Analysen weder ein Begriff des Sozialen noch des Politischen gewinnen;der fragwürdige Terminus des Volks ist für Nancy ebenso wenig anschlussfähig, weil es Homo-genität und Identität verheißt, wo Pluralität angebracht wäre. Aus dieser doppelten Zurückwei-sung der Heideggerschen Ausgänge zieht Nancy nun den Schluss, dass man „Sein und Zeit neu-schreiben [muß.] […] Zu dieser Notwendigkeit gehört auch […] die Aufgabe einer politischenNeufassung.“8

Zwei Intentionen verfolgt Nancy mit dieser Aufgabe, die als Leitmotiv des sozialphilosophi-schen Teils seines Werks gelten kann: Es geht einerseits um eine Reformulierung der HeideggerschenOntologie und andererseits um die Grundlegung eines nicht-substanzialistischen Begriffs desSozialen:

„Nun hat man aber schon oft bemerkt, daß diese Mit-Ursprünglichkeit, trotz der Betonung,die auf ihr liegt, der Betrachtung des Daseins* ‚an ihm selbst‘ den Vortritt läßt. Es scheint alsogeboten, die Möglichkeit einer ausdrücklichen und kontinuierlichen Exposition der Mit-Ursprünglichkeit zu untersuchen und die Auswirkungen auf die Gesamtheit des ontologischenUnternehmens (ebenso wie auf die politischen Konsequenzen) abzuschätzen.“9

Diese beiden Intentionen bedingen einander und konvergieren in Nancys Begriff des „Mit-ein-ander-seins“, „être-les-uns-avec-les-autres“.10 Heideggers Analytik des Daseins als Mitseinwird radikalisiert, indem die Betonung vom Dasein auf das „Mit“ verschoben wird. Die Grund-idee lautet: Wenn Sozialität und Pluralität keine beiläufige „Eigenschaft“ des Daseins sein sollen,so muss sich das Dasein selbst vervielfältigen.

Am Anfang war also die Pluralität. Pluralität aber wovon? Um zu vermeiden, vom Subjektsprechen zu müssen, dessen traditionelle Form sich schlecht mit seiner Vervielfältigung verträgt,wählt Nancy den Ausgangspunkt beim Sinn.11 Es ist die Pluralität von Sinn, die das Sein aus-macht. Es gibt nichts Sinnloses, weil noch die Infragestellung der Sinnhaftigkeit an diesemumfassenden Sinnbegriff partizipiert. Jeder Sinn wird seinerseits nicht als eine kreative Hand-habung sprachlicher Regeln vorgestellt, sondern als eine Sinntotalität, die die Welt neu erschafft.12

Bereits aus dieser ersten Skizze wird die Nähe deutlich, in der dieses Denken zu demjenigen

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Sartres steht, der von „Entwürfen“ gesprochen hätte, die aus einer „Situation“ gewählt wer-den.13 Auf die Konsequenzen dieses Sartreschen Erbes wird noch zurückzukommen sein.

Aus dem Totalitätscharakter der Entwürfe folgt, dass es immer nur einen Sinn geben kann unddoch mehrere gibt: Diese singuläre Pluralität hat Nancys sozialphilosophischem Hauptwerkseinen Namen gegeben: singulär plural sein. Der Ausdruck bedeutet einerseits, dass aus jedemSinnereignis eine Welt entsteht, die die Anderen, die Zeit und die Dinge in ein Sinnkontinuumintegriert. Damit ist andererseits impliziert, dass jeder weitere Sinn den anderen Sinn ausschließtund doch mit ihm zusammen existiert. Die plural singuläre Verfasstheit des Seins bedeutet eineKo-Existenz von Simultaneitäten. Diese Kurzschließung der Ontologie mit der Pluralität formu-liert Nancy wie folgt:

„Das Wesen des Seins ist, und ist nur, als Mit-Wesen [co-essence]. Aber ein Mit-Wesen oder dasMit-sein – das Mit-sein-zu-mehreren – bezeichnet seinerseits das Wesen des Mit- [co-], oderauch, oder vielmehr, das Mit- (das cum) selbst in der Position oder Art des Wesens. Eine Mit-wesentlichkeit kann in der Tat nicht in einer Ansammlung von Wesenheiten bestehen, in derdas Wesen der Ansammlung noch zu bestimmen bliebe: Auf sie bezogen würden die versammel-ten Wesenheiten zu Akzidenzien. Mit-Wesentlichkeit bedeutet wesentliche Teilung der Wesent-lichkeit, Teilung als Ansammlung, wenn man so will. Dies könnte man auch auf diese Weiseausdrücken: Wenn das Sein Mit-Sein ist, dann ist im Mit-sein das ‚Mit‘ das, was das Seinausmacht, und wird diesem nicht hinzugefügt.“14

Insofern Nancy den Sinn als „Möglichkeit der Bedeutungen“15 auffasst, die interpretiert, vorge-stellt und symbolisch repräsentiert werden kann, ist eine Spekulation über die Herkunft desSinns selbst müßig. Er erscheint, er präsentiert sich, ohne dass es mehr darüber zu sagen gäbe.16

Nancy variiert seine sinntheoretische These im Verlauf seines Werkes mehrfach, ohne sie imGrunde je aufzugeben. Folgenreich ist dies deswegen, weil damit kein Beitrag zu einer Herme-neutik des Sinns erbracht werden, sondern die Vervielfältigung der Perspektiven konsequent aufdie Welterschließung insgesamt angewandt werden soll. So wendet sich Nancy in vielen seinerWerke immer wieder Grundbegriffen der Philosophie zu, um sie auf seinen Sinnbegriff hinumzuformen. Dass Begriffe wie Freiheit, Gemeinschaft, Subjekt und auch der Sinn selbstdekonstruiert werden (wie der bekennende Dekonstruktivist Nancy selbst angibt), sie selbstaber weitgehend ungebrochen verwandt werden, als ließe sich ein Begriff einfach neu definieren,löst auch bei einem gedanklich nahe stehenden Philosophen wie Derrida sowohl Bewunderungals auch Kopfschütteln aus.17 Während Derridas Vermeidungsstrategien seine Lektüren aufUmwege schicken, um an einem Begriff wie „Subjekt“ vorbeizukommen, arbeitet Nancy frontal.Keine Angst vor den großen Namen.

Die sozialphilosophische Pointe, auf die es hier ankommt, besteht nun darin, die Erscheinungs-weise des Sinns zu präzisieren. „Der Sinn, das sind wir“18, behauptet Nancy. Um nicht sogleichallen Einwänden gegen die vage und zugleich prekäre Sprecherposition eines „Wir“ ins Messerzu laufen, fügt er hinzu: „Es gibt nicht das Wir.“19 Die Behauptung eines Wir wird relativiert,aber nicht gänzlich zurückgenommen. Damit ist zweierlei gesagt:

Erstens ist der Sinn nur als gemeinsamer, geteilter denkbar; eine Privatsprache gibt es ebensowenig wie eine unzugängliche Sprache des Seins. Dies ist gegen alle Versuche einer Hypostasierungdes Seins gerichtet. Dass „wir“ der Sinn sind, heißt auch, dass die Teilhabe an der Welt mitAnderen, die Sozialität, bereits einen je spezifischen Sinn enthält und einer bestimmten Ordnungunterliegt. Es gibt keinen Naturzustand ontologisch nackter Wesen, die sich a posteriori über

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eine Sinnordnung verständigen. Das richtet sich gegen schlichte vertragslogische Modelle vonSozialität, die stets mit der Frage zu kämpfen haben, wie aus einem Naturzustand ein Rechts-zustand hervorgehen soll, der nicht bereits in Ersterem angelegt ist.20 Beide Aspekte zusammenergeben ein Bild davon, was singuläre Totalität des Sinns heißen kann.

Zweitens aber ist diese Gegebenheit des Sinns ihrerseits nicht definitiv. Es gibt nicht den Sinndes Wir, die eine Ordnung des Seins, die unsere Perspektiven auf die Welt, unsere Handlungenund unsere Urteile festlegen würde. Damit illustriert der zitierte zweite Satz den Aspekt derPluralität des Singulären. Wir haben es stets mit einer Vielfalt an Sinnmöglichkeiten zu tun,zwischen denen nicht zu wählen ist oder über die man sich zu verständigen hat, sondern diesimultan miteinander koexistieren. Vorstellungen eines Kollektivs, Imaginationen von Gemein-schaft und Phantasmen der Einheit sind kontingente Sammlungen widerstreitender Repräsenta-tionen.

Die Konsequenz für Nancys Auffassung von Intersubjektivität aus diesem Zugleich vonsingulärer Totalität und Pluralität des Sinns besteht darin, dass sie vom Intervall her und nichtetwa von einem emphatischen Begriff des Anderen her gedacht wird, wie in der phänomenologi-schen Theoriegeschichte seit Husserl. In seiner wiederholt vieldeutigen Weise formuliert Nancy:„Alles spielt sich also unter beziehungsweise zwischen uns [entre nous] ab.“21 Die Vieldeutigkeitist Programm, weil das Zwischen genau der Ort ist, an dem Sinn generiert wird, oder präziser: dieVerräumlichung des Sinns.22 Entscheidend für die Intersubjektivität sind in dieser Philosophieder Präfixe nicht die Subjekte, sondern das Inter, das Zwischen. Aus dem Zwischenraum desSinns emergieren die Subjektivitäten, anstatt dass umgekehrt bereits konstituierte Subjektemiteinander in Interaktion treten. Daraus folgt, dass Intersubjektivität nicht als Kontinuität zubeschreiben ist, sondern als Kontiguität: als unausweichliche Nachbarschaft, die gleichwohldurch einen Spalt gekennzeichnet ist. Die „Spanne“23, wie Nancy unter Rückgriff auf Heideggersagt, stiftet den Abstand zwischen Sinnpunkten und schafft Distanz. Zugleich besteht aberzwischen diesen Punkten eine Spannung, die das nicht substanzialistisch gedachte Band nichtreißen lässt. Es gibt keine „transzendentale“ oder sonst eine Subjektivität, die den beiden Seitendes Inter gemeinsam wäre. Die Bodenlosigkeit der Gründung des Sozialen bedeutet nicht Isola-tion oder atomistische Individualität, weil jede Spanne als Spannung gedacht wird. Ein subjektiverWeltzugang ist von jedem anderen radikal getrennt, singulär, und doch sind sie alle zugleich,plural.

Nancys Relektüre von Heideggers Mitsein, das weder auf ein Volk noch auf eine identifizierbareGruppe reduziert werden soll, impliziert eine Polemik gegen die Identität. Zugleich (die Häufungder „zugleich“ und der „sowohl-als auch“-Formulierungen ist keine Unentschiedenheit der Dar-stellung, sondern ein Kennzeichen der Philosophie Nancys selbst) wird jedoch ein Ausgangs-punkt beim isolierten Subjekt abgelehnt, weil sich ausgehend von diesem Sozialität nur unterVerwerfung der Singularität und Rekurs auf ein Allgemeines denken lässt. Üblicherweise ist einRückgriff auf die gemeinsame Vernunft, gemeinsame (Selbsterhaltungs-)Interessen oder einegemeinsame (Natur-)Geschichte erforderlich, um die Subjekte zu geselligen zu machen. Andersgesagt: Nur wenn das Gemeinsame weder in einem Wesen (eines Volkes) gefunden werden kannnoch den begründungstheoretisch primären Individuen hinzukonstruiert werden muss, das heißt,wenn das Gemeinsame weder naturwüchsig noch ausgeschlossen ist, gelangt man zu einemVerständnis vergesellschafteten Sinns.

Die Folgen für die Beschreibung des Politischen dieser zwischen zwei Polen stehenden Sozial-philosophie lassen sich an Nancys Rekonstruktion politischer Legitimationsfiguren demonstrie-

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ren. Dem Gemeinschaft stiftenden Subjekt stellt Nancy die Souveränität garantierenden Bürgerentgegen.24 Das erste Modell steht für eine politische Substanz, die sich auf ein eindeutigidentifizierbares und zuordenbares Subjekt stützt, belegt durch Diskurse von Platon über dieentstehenden Nationen bis zur Blut-und-Boden-Ideologie. Das zweite Modell handelt nicht vonbestimmten Orten und Identitäten, sondern bestimmt den Bürger zunächst als „jemand“ oder„jeder“, als potenziell zu einem virtuell weltumspannenden Rechtsraum Dazugehörigen. DieQuellen des Souveränitätsmodells reichen von Aristoteles über den „citoyen“ der FranzösischenRevolution bis zu den modernen liberalen Gesellschaftstheorien. Diesen beiden idealtypischenFormen, die natürlich nie unvermischt vorkommen, stellt Nancy – und hier erhält sein „Zwischen“nun eine politische Bedeutung – „das Politische in statu nascendi, das Knüpfen des sozialenBandes“25 entgegen.

Die Kritik am leeren Formalismus der bloß demokratisch-technokratischen Form gehört ebensozum Standardrepertoire der politischen Philosophie wie jene an substanzialistischen Modellen.Es ist unnötig, dafür Stichworte oder Namen zu nennen. Und dennoch scheint Nancy hier eineoriginelle Lösung vorzulegen, weil sie einerseits eine Zwischenstellung zwischen Gemeinschaftund Gesellschaft anvisiert und andererseits diese nicht einfach postuliert, sondern sie durch eineNeufassung des pluralen Sinns zu untermauern versucht. Indem er zeigt, dass bereits jedesSinnereignis sich einem (Mit-)Teilen verdankt und es den Sinn weder als solchen gibt nochjeweils nur den einen, wird die bereits genannte Spannung der intersubjektiven Spanne zu einerPraxis des Bandes.26

Sieht man jedoch genauer hin, zeigt sich, dass die Zwischenstellung dieses Bandes sich nichtohne weiteres von den beiden Polen trennen lässt. Denn Nancys Rede vom „Band der Teilung“27

lebt eher vom Vokabular der Politik des substanziellen Subjekts als von dem des citoyen. DieBegrifflichkeit wird bis auf ihr Skelett aller Anklänge an die Tradition entleert, indem etwa dieFreiheit als Kontingenz des Sinns und als Notwendigkeit, überhaupt irgendeinen Sinn zu setzen,aufgefasst wird. Das Subjekt ist kein wie immer vernünftiges oder autonomes Bewusstsein, dasseine Handlungen willentlich steuert, sondern schrumpft zu jenem Punkt, der als Referenz einesSinnereignisses gedacht werden soll. Gleichwohl werden solche Begriffe nicht einfach aufgege-ben oder umgangen, sondern als umgewertete weiter verwendet. Diese Praxis färbt denn auch aufdie Konnotationen ab, wodurch sie etwa Derrida verdächtig wird.28

Flagrant wird dies, wenn die Charakteristik des sozialen Bandes erläutert wird. Nancy wähltnicht etwa einen dynamischen Formbegriff wie den der „Wechselwirkung“29, mit dem GeorgSimmel seine ähnlich elementar angelegte Erläuterung zur Genese der Vergesellschaftung be-zeichnet, sondern spricht von der „Brüderlichkeit“, die ein „Volk“ zusammenhält. Die Strategiein der Bearbeitung dieser Begriffe ist stets dieselbe. Es wird eine terminologische Traditionaufgerufen, um sie anschließend möglichst von allen substanzialistischen und individualistischenMomenten zu reinigen, um so eine Umschreibung des sozialen Zwischenreichs zu gewinnen. ImFall des „Volkes“ erfolgt diese Umwertung durch eine Narrativierung, weil der Interaktion nichtder Volkskörper als solcher, sondern nur „un peuple soi-disant“30, ein angebliches Volk, zuGrunde liegt. Nimmt man das Adjektiv beim Wort, so ist damit weniger ein Zweifel hinsichtlichder Existenz des Volkes gestreut, sondern vor allem auf den stiftenden Sprechakt einer Gruppeverwiesen. „Soi-disant“, „angeblich“, bedeutet vor allem, dass jemand vorgibt, etwas oder je-mand Bestimmtes zu sein: „disant de soi“, „von sich sagend“.

Diese Relativierung ist gegen eine essenzialistische, nationalistische oder völkische Stillstellungdes stets unsicheren Status eines Kollektivs gerichtet. Das „stiftende“ Volk31 ist gegen politische

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oder ideologische Repräsentationen des Volkes, gegen ein Volk gesprochen32, um jedem Versuchzu entgehen, dies oder jenes Kriterium zum Prinzip und zur ein- und ausschließenden Kategorieeiner Zugehörigkeit zu machen. Diese negativen Abgrenzungen bringen nicht aus sich hervor,worin positiv gesprochen der Gehalt dieses „vorgeblichen Volkes“ bestehen soll. Letztlich kommtNancy wieder zurück auf das Mit des Mitseins. Wenn das Volk weder völkisch noch als bloßaggregierte beziehungslose Multitude33 verstanden werden soll, so ist es „weder nichts nochalles, sondern etwas, das heißt das Reale des Mit-Seins, das Reale des ‚wir‘, das jedem ‚ich‘vorausgeht, ohne dass es selbst zu einem ‚ich‘ wird, und das so den Raum des Öffentlichen[chose publique] eröffnet, welches von keiner Identität, weder von der Nation noch vom Souve-rän, gestützt wird, sondern das allein die reale Spanne des Volkes zu ihm selbst ist“.34 Die Ko-Existenz in einem Wir steht in der Spannung zwischen reiner kontingenter Ansammlung undnationaler Verdichtung. Real soll diese Ko-Existenz insofern sein, als sie der Subjektivierung undSubstantivierung des Ich vorangeht. Jedes „ich“ sagende Selbst sagt dies je bereits im Horizonteines „Mit-Anderen“.

Dass diese Ko-Existenz dann doch mit einer bestimmten Tradition verbunden wird, zeigt sichdaran, dass sie von Nancy auch Brüderlichkeit genannt wird. Wenn man – was man Nancyunterstellen darf – die Geschichte des Begriffs der Brüderlichkeit kennt, der als Gesinnungs-begriff die stärker auf Verrechtlichung bezogenen Begriffe von Freiheit und Gleichheit über-formen und motivieren sollte, dann verwundert diese reibungslose Indienstnahme. Denn dieBrüderlichkeit zielte stets auf die Fusion von Heterogenem, auf die Einheit dessen, was nichtbereits auf Grund von Status und Vermögen vereint war. Sie stellt das affektive Band bereit, umzu ermächtigen, was vereinzelt geschwächt wäre. Zwar will Nancy die Brüderlichkeit gegen diefamiliäre Konnotation der Blutsverwandtschaft als lose, historische Bande konzipieren35, dochlässt sie sich nicht ohne Sinnverlust in eine freie Assoziation umschreiben. Wenn dies jedochgemeint sein sollte, hätte man auf die Brüderlichkeit und ihre Konnotationen ebenso gut ver-zichten können. Wer das nicht tut, der läuft sehenden Auges vom formalen „Mit“ auf dierevolutionäre Trias von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu. Und so kommt es auch, wiewir sehen werden.

Zwar geht das Volk sich selbst voraus, insofern die Ko-Existenz des Pluralen (die Volk genanntwird, vorgeblich) die Bedingung dafür abgibt, überhaupt politisch sprechen zu können. Um dieseDifferenz zwischen unmöglicher Nennung des Volkes und notwendiger Implikation des Volkeszu markieren, schlägt Nancy folgende Formel vor: „Das Volk ist nie wie ein Volk [comme unpeuple], allerdings handelt und spricht es jedes Mal als Volk [comme peuple].“36 Wie ein Als-Ob-Volk zu handeln, bedeutet gerade nicht, einem Modell konform oder einem Wesen gemäß zuagieren. Dieses Volk „soi-disant“ ist nicht Gegenstand einer nationalen Erklärung, einer sei esvolkstümlichen oder völkischen Ideologie, sondern das Subjekt eines Handlungs- oder Sprech-aktes im Moment seines Vollzugs. Doch erneut stutzt man, wenn auf diese minimale Bestim-mung eines performativen Mit-seins eine Engführung auf das Kommunitäre folgt. Wenn dasVertrauen als das Band des Mit gedacht wird37, werden soziale Nahbeziehungen ohne Notprivilegiert. Dabei ließe sich doch zeigen, um noch einmal Georg Simmel heranzuziehen, dassman auch mittels der „Spielform der Vergesellschaftung“38 einen Begriff der Geselligkeit erhaltenkann, der ganz auf die Förmlichkeit und Distanz individualisierter Kontexte setzt. Hingegen istbei Nancy das Soziale letztlich auf Grund des Modells der Liebe gedacht.39 Die Grabungen imArchiv der aufgebrauchten Begriffe endet schließlich brüsk bei der „Schicksalsgemeinschaft“.40

Die Rückführung aller sozialontologisch relevanten Begriffe auf die Spanne des distanzierenden

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und verbindende Spannung gebärenden „Mit“ des Mit-Daseins fundiert schließlich die Wieder-aufnahme und Indienstnahme der Losung der Revolution:

„Man versteht also, dass der Kontakt, der Vertrag [contrat] und das Vertrauen [confiance] dreiMal das cum sind, das Mit in seiner grundsätzlichen Darlegung. Freiheit, Gleichheit, Brüder-lichkeit des Volkes ohne Natur oder Herkunft, ohne Ursprung.“41

Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sind nach Nancy genau deswegen bloß verschiedeneAusrücke für denselben Sachverhalt, weil Freiheit zunächst in die Nähe der Kontingenz gerücktwird.42 Der inkommensurable Sinn ermöglicht Freiheit, weil er stets so oder anders erscheinenkann. Gleichheit wird alsdann als die Gleichzeitigkeit des Inkommensurablen gedacht, oder inanderen Worten, als die Pluralität des Singulären. Der Schritt zur Brüderlichkeit ist dann nichtmehr weit. Da die Simultaneität unvermeidbar ist, stiftet die Pluralität auch eine notwendigeNähe, für die Nancy den Begriff der Brüderlichkeit bereithält. Dergestalt ihres politischen Ge-halts beraubt und zu formalen Begriffen umfunktioniert, kann Nancy die Begriffstrias in einssetzen.

Die Konsequenzen dieser sozialen Ontologie für die Phänomenologie des politischen Sinnswerden von Nancy nur angedeutet. In einem Text über das zerstörte multi-ethnische Sarajevo etwaartikuliert er die Doppeldeutigkeit der Mischung beziehungsweise Vermischung kulturellerIdentitäten. Die „mêlée“ soll jenseits multikultureller Korrektheit und identitärer Reduktion einefundamentale Vielfalt von Identitäten unterstreichen, die jeder Sozialität, wie immer sie historischzugeschnitten wird, zu Grunde liegt. Anstatt ein „juste milieu“43 zwischen Kosmopolitismus undReinheits-Monismus einzunehmen, wird die „mêlée“ verbal als Prozess aufgefasst („gemischt“),in dem sich Nicht-Identität und Identität zugleich ergeben. Der Keim der Identitäts-Paranoia, wieer mit ganz unterschiedlichen Wirkungen in Bosnien, unter den Taliban, in der Re-Ethnisierung desIraks, dem Kampf um die slowenisch-sprachigen Ortsschilder in Kärnten oder in Rostock-Lichten-hagen Ausdruck fand und findet, muss desinfiziert werden. Wir müssen „uns als Uns des-identi-fizieren von aller Art des ‚Wir‘“.44 Die Abwehr von Heideggers Begriff des „Volkes“, die denGrund für Nancys sozialontologischen „Neuentwurf“ von Sein und Zeit gelegt hatte, zeitigt hierihre terminologischen Konsequenzen. Dass die multiple Konstitution einer Gesellschaft als „ver-mischt“ begriffen wird, heißt jedoch nicht, dass Identität aufgegeben werden, sondern dass sie neugedacht werden soll. „Faire droit aux identités“45 heißt trotz aller Des-Identifizierung die Parole.Unbestimmt bleibt diese Position deswegen, weil die Präzisierung dieser „Ankunft der Identität“selbst wiederum an die simultane Pluralität der „Mischung“ zurückgebunden bleibt. „Selbst alsProjektion ins Unendliche ereignet sie sich nicht [elle n’advient pas], wird sie nicht identifiziert,weil sie bereits hier ist, weil sie gerade die Gemischtheit [mêlée] ist.“46

II. Existenziale Entscheidungen in einer ‚Politik der Unterbrechung‘

Das Zentrum von Nancys Ansatz – so ist als Zwischenergebnis festzuhalten – liegt in derUmarbeitung und Umdeutung herkömmlicher Beschreibungen von sozialen Feldern. IdentitäreÜberreste sollen damit ebenso getilgt werden wie leere Formalismen. So wird, geht man von derSinnstruktur als „Zwischen“ aus, ein atomistischer Gesellschaftsbegriff ebenso vermieden wieeine kommunitaristische Verengung. Gemeinschaft steht gewissermaßen nackt da, insofern siean kontingente und einander widerstreitende Sinnentwürfe gebunden ist, „aber sie drängt sich auf

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[elle est impérative]“47, weil „uns“ nichts bleibt, als Sinn zu stiften und dieser notwendig auf das„Mit“, das „cum“ der „communauté“ verweist. Analog dazu gilt für die Kommunikation, dassauch hier das Mit zum Charakteristikum wird, was immer Kommunikation und Sprache sonstnoch sein mögen. Dies kulminiert in dem thesenhaften und vieldeutigen Satz, den man folgerich-tig erwartet: „Die Kommunikation ist aber genau das Sein.“48 Der Zusammenhang von NancysSozialontologie ist streng auf der Pluralität des Singulären konzipiert, indem die Ko-Existenz zueinem alle Sphären des Sozialen durchdringenden Grundmotiv wird. Oder genauer: Weil NancysTheorie keine regionale Ontologie des Sozialen ist, ist seine Sinntheorie mit Sozialphilosophieidentisch.49

Die Komplikationen, die eine solche Theorie mit sich bringt, haben sich bereits angedeutet.Das „Volk“, die „Identität“ und die „Schicksalsgemeinschaft“ erfüllen hier nicht die Funktion,die sie in einer identitären Ideologie ausüben. Die Abkehr von der Mündung des Mitseins ins„Volk“ hatte bereits den Ausgangspunkt von Nancys Neuformulierung von Sein und Zeit ausge-macht. Das ganze Projekt Nancys bestimmt sich in Absetzung von der abendländischen Sehn-sucht nach Einheit und Brüderlichkeit, die so viele politische Ideen und Ideologien leitet.50 Unddennoch überlagern die substanzialistischen Konnotationen der Begriffe den dekonstruktivenGestus, mit dem Nancy arbeitet. Denn es macht einen Unterschied, ob eine minimale, derSubjektsetzung in performativen Sprechakten vorgängige Ko-Existenz behauptet wird oder dieUnverlierbarkeit einer Gemeinschaft:

„Die Gemeinschaft wird uns mit dem Sein und als Sein, diesseits all unserer Entwürfe,Vorhaben und Unternehmungen gegeben. Im Grunde ist es uns unmöglich, sie zu verlieren.Mag die Gesellschaft auch noch so wenig gemeinschaftlich sein, so muß doch selbst noch inder sozialen Einöde eine winzige, sogar unerreichbare Spur von Gemeinschaft gegeben sein.Wir können nicht nicht zusammen-erscheinen [com-paraître].“51

Auf Grund der Allgegenwart des „cum“ verwundert es nicht, dass sich Nancy als Erbe einer Ideeerweist, die eine Grenzen einreißende Form des „Mit“ zum Manifest macht. „Der Kommunismusist eine ontologische Aussage und keine politische Option.“52 Das ist natürlich – wie sich nachdem Gesagten leicht nachvollziehen lässt – nicht auf eine historische Bewegung gemünzt, etwa umdie Unausweichlichkeit der klassenlosen Gesellschaft zu behaupten. Vielmehr wird hier ein Erbeangetreten, wodurch sich Nancys Anspruch bekundet, sich nicht auf systematische Grundlegungenzu beschränken, sondern durchaus politische Implikationen seiner Philosophie auszuformulieren.Dass der „Kom-munismus“, wie man nach Nancy wohl schreiben müsste, eine ontologischeAussage ist, bedeutet schlicht, dass die Gemeinschaft, die als soziales Band aller Subjektivität undaller rechtlich kodifizierten Gesellschaft vorausliegt, nicht vor Klassen- und EigentumsverhältnissenHalt macht. Das wäre die defensive Interpretation dieses Satzes. Man könnte hingegen fragen, obsich die Politik der Ko-Existenz nach Nancy auf eine solche Defensive ohne weiteres zurückzie-hen kann. Wäre es nicht konsequenter, das „Reale des Mitseins“, als das Nancy das vorgeblicheVolk apostrophierte, in die Realität des Politischen zu überführen? Wie würde die Konsequenzvon Nancys fundamentalem Pluralismus für das Politische lauten?

Ich werde zu zeigen versuchen, dass Nancys Sozialphilosophie der Ko-Existenz durch einePolitik der Unterbrechung angemessen fortgeführt wird.53 Unter diesem Titel will ich die Ansätzeso unterschiedlicher Autoren wie Jacques Rancière, Alain Badiou oder auch Slavoj Zizek in einer,die Ansätze einigenden Perspektive zusammenfassen. So verschieden die Analysen in diesemFeld sein mögen, so lässt sich eine kategoriale Unterscheidung zwischen dem Politischen und

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der Politik ausmachen, die theoriestrategisch entscheidend ist.54 Während die Politik als „bloße“Politik verachtet und der liberale Mainstream in Öffentlichkeit und Theorie allein dem Interessedes Bestehenden und seiner Akteure zugeschrieben wird, ist das Politische Ort radikaler Ereig-nisse, die Ordnungen stürzen, neu stiften oder doch zumindest erschüttern.55

Alain Badiou denkt die Politik als ein Wahrheitsereignis. Das heißt zweierlei: Erstens wirdPolitik abgehoben von deliberativen Prozessen gemäß einer liberalen Auffassung des politischenHandelns. Ein Ereignis ist die Politik, weil sie die Ontologie unterbricht, die Setzung einer Regelvornimmt, die die Wahrnehmung des Realen neu ordnet. Zweitens wird Wahrheit hier jeneOption genannt, welche die in die Politik Verwickelten ziehen. Wahrheit ist nach Badiou wederpostmodern vervielfältigt und flüchtig noch modern am Konsens aller Beteiligten zu bewähren.Jede dieser beiden Varianten vernachlässigt, dass für Wahrheiten auch einzustehen ist und sie dieBruchlinien des gesellschaftlichen Antagonismus bestimmen.

Das Politische äußert sich nach Rancière und Badiou dadurch, das Vokabular der Welt-beschreibung, das zugleich ein symbolisches Abbild von Vor-Entscheidungen über politischeMacht ist, nicht zu verfeinern, sondern in einem Akt der Unterbrechung dessen Geltung zudestabilisieren. Das prekäre Moment des Politischen besteht darin, dass es sich der Sicherheitinstitutionalisierter Prozeduren entzieht. Mit einem dezisionistischen Unterton wird „Politik“so als bloße Affirmation, das Politische hingegen als Stiftungsmoment angesehen, in dem derAntagonismus von Weltbeschreibungen zum Austrag kommt. Die „Feinde der politischen Philo-sophie“56 machen den Sinn nicht zum Gegenstand eines Konsenses, sondern eines Widerstreits,der sichtbar gemacht werden muss. Dies drückt sich darin aus, dass bei Rancière Politik nicht alsKonflikt von Interessen, sondern als ‚Weltverhältniskonflikt‘ verstanden wird.57

Bei allen Differenzen, die zu Nancy, Badiou oder auch Zizek bestehen, lässt sich diese Defini-tion des Politischen all jenen Versuchen zu Grunde legen. Auf dem Spiel stehen nicht aushandel-bare Güterverteilungen, Chancenabwägungen oder Wertekonflikte58, wie in konkurrierenden libe-ralen Theorien post-kantianischen Typs, sondern der Zugang zur Welt und die Teilhabe andiesen Konflikten selbst. Solche Widerstreite, wie Lyotard sie nennen würde, entscheiden darüber,welche Subjekte in welchen politischen Diskurslagen überhaupt Rederechte haben. Strukturellsind also Ausschlüsse bereits entschieden, wenn liberale Gerechtigkeitstheorien ihre Arbeitaufnehmen. Rancière will ebenso wie Badiou hinter diese Vorentscheidungen zurückgehen unddas Politische „als Entfaltung eines Unrechts oder grundlegenden Streits“59 verstehen. So wirdweder die demokratisch-parlamentarische Politik mit Theorien versorgt noch die Parole „alles istpolitisch“ erneuert. Vielmehr ist die wahrhaft politische Politik ein seltenes Ereignis60, das alsEreignis die Frage nach der Gleichheit der Verteilung aufwirft.

Die Gleichheit dient der Politik der Unterbrechung nicht als Ziel, dem sich politisches Han-deln mittels der Justierung der Steuerungsprozesse des Staates annähert, sondern als Axiom, dasdie Wahrnehmung der ‚Wirklichkeit‘ organisiert. „Die Politik […] ist die Aktivität, die alsPrinzip die Gleichheit hat, und das Prinzip der Gleichheit transformiert sich in die Verteilung derTeile der Gemeinschaft im Modus einer Verlegenheit: von welchen Dingen gibt es Gleichheit undvon welchen nicht, zwischen wem und wem?“61 Nicht also um die Perfektionierung eines gegebe-nen gesellschaftlichen Systems geht es, sondern um einen schonungslosen Blick auf den Zuschnittder Gesellschaft im normativen Lichte der Gleichheit. Oder in den Worten Badious:

„Ja, es kann eine Politik der Gleichheit geben, und es gibt sie hier und jetzt, eben weil esnicht darum geht, sie zu realisieren, sondern, sie postulierend, hier und da durch die rigorose

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Praxis ihrer Konsequenzen die Bedingungen für eine Universalisierung ihres Postulats zuschaffen.“62

Die Abwehr der Orientierung an der Realisierbarkeit richtet sich gegen die Sachzwangpraktiker,die stets noch als Erfolg verkaufen, was allzu oft die Erfüllung des vorgeblich Notwendigen ist.63

Die Axiomatik der Gleichheit dient Badiou hingegen geradezu als Definiens des Politischen alssolchem. Wo die Gleichheit nicht die politische Aktion leitet, da verwaltet sich der „thermidoriani-sche“ Staat bloß selbst.

Doch ein Axiom fällt nicht vom Himmel. Mit wünschenswerter Deutlichkeit konstatiert Badiou,dass die Form des politischen Widerstreits auf Setzungen beruht. „Das Wesen der Politik ist […]die Präskription einer Möglichkeit, die mit dem, was ist, bricht.“64 Setzen kann die Politik alleinauf Überzeugungen, die keinen diskursiven Halt haben. „Die Gleichheit ist subjektiv.“65 Badiouspolitische Ontologie setzt auf die Kontingenz und die Partikularität einer Parteinahme, die denKampf mit dem Etablierten nicht scheut. Eine solche affirmative Ereignispolitik liebäugelt mit„heroism“ und „grandeur“66, indem sie Kampfeslinien zieht, hinter die nur um den Preis derSelbst- und Politikaufgabe zurückgegangen werden kann. So wundert es auch nicht, dass Badioudie „Treue“67 zur Wahrheit zum Kriterium erhebt, wodurch sich ein Subjekt gegenüber einemGegner konstituiert und die Brüderlichkeit an ephemere Kollektive koppelt, wie sie Sartre analy-siert hat.68 Auf dem Weg von der seriellen Vereinzelung der Individuen hin zur institutionalisiertenund bürokratisierten Gesellschaft sieht Sartre in der Brüderlichkeit eine Etappe, die momenthaftden Beginn der Menschlichkeit in der fusionierenden Gruppe aufscheinen lässt, ohne dass dieseshierarchiefreie Kollektiv gemeinsamer Praxis sich auf Dauer stellen ließe.

Sartres Distanz gegenüber allzu moralischen Appellen an die Gesinnung besteht in seinerBetonung der Unausweichlichkeit der Gewalt, die die Brüder sind. Gewalt ist keine Zutat oderVerirrung fraternisierender Gruppen, sondern gerade der notwendige Kitt für die Sicherung ihresBestandes nach innen und nach außen. Genau auf dieses Gewaltmoment beruft sich Badiou,nicht etwa dialektisch, indem das utopische Moment, das noch Sartre betont, in die Gewaltverwickelt würde, sondern affirmativ gegen jede Moralisierung des Terrors von außen. Brüder-lichkeit – so ließe sich Badious Position nach der Erläuterung durch Sartre zusammenfassen – istjene soziale Beziehung, die entsteht, wenn sich Subjekte durch ein Wahrheitsereignis auf einerSeite einer politischen Trennungslinie zusammenfinden. Die damit einhergehende Gewalt (nachinnen und nach außen) ist in den heroischen Kampf einzubeziehen.

Während Nancys These einer Verfasstheit der Sozialität als kontingente Brüderlichkeit daherauf Badious emphatische Zustimmung stößt69, gehen die Parallelen noch weiter. DieÄquivokationen in Nancys Philosophie des Sinns waren bereits Thema. Badiou führt NancysRückführung der Welt auf den Sinn, des Sinns auf das Mit, des Mit auf die Gemeinschaft weiter,indem er zeigt, wie der endliche Sinn in seiner Pluralität sich letztlich als das begriffliche Äqui-valent dessen verstehen lässt, was Badiou das Unendliche nennt. Das Unendliche überschreitetdie Ontologie des Bestehenden und ist daher nur als Ereignis denkbar, das eine Wahrheit setzt,die ihr eigenes Universum mit sich führt. Das Wir, das singulär eine Welt entwirft (Nancy),entspricht dem Subjekt, das von einem Wahrheitsereignis hervorgebracht wird (Badiou). Beidebetonen die Kontingenz dieses Sinns beziehungsweise dieser Wahrheit: Es gibt nicht nur eineund es könnte auch stets eine andere möglich sein. Sinn wie Wahrheit operieren hier ohneletztbegründenden oder konsensuellen Boden, was seine Konsequenzen hat, auch wenn dies,wie Zizek zu Recht feststellt, nicht bedeutet, dass Wahrheiten beliebig seien.70 Die Welt und die

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„Aufteilung des Sinnlichen“71 sehen anders aus, je nachdem, wie die Schnittstellen angesetztwerden. Wie sie gesetzt werden, ist demnach offen und Streitpunkt politischer Polemik, dassgesetzt werden muss, ist unausweichlich.

Diese Zuspitzung ist nicht neu. Sie entspricht recht genau dem Zuschnitt des sich entwerfen-den und zur Freiheit verurteilten Bewusstseins Jean-Paul Sartres. Sowohl Nancy als auch Badiouerweisen sich als Erben dieser Tradition. Indem das Für-Sich sich vom Sein losreißt, als Bewusst-sein gerade nicht der Ontologie unterworfen ist, ist es Freiheit, die gezwungen ist, grundloserEntwurf zu sein. Die Werte, die es setzt, sind geradezu „jenseits des Seins“72 und in diesem Sinnedem Für-sich „konsubstantiell“.73 Nancys fundamentaler Pluralismus klingt geradezu wie einein Termini des Sinns übertragene Philosophie der Endlichkeit und der Kontingenz, für die SartresPhilosophie seit jeher steht. Wenn Sartre schreibt, „Der Mensch ist jeden Tag zu erfinden“74, solässt sich diese existenzialistische Überzeugung sinntheoretisch reformulieren. Kein Sinn stehtje fest, steht auf festem Boden, sodass die Erfindung kein Zusatz zu einer Existenz der tabularasa ist, sondern die notwendige Kontingenz, die den Sinn selbst charakterisiert. Zugleich ist mitdieser Schöpfung zwar ein singuläres Ereignis in die Welt getreten, doch gibt es sie niemals allein.Jeder Sinn ist stets einem anderen Sinn benachbart, er wird begleitet von einer Pluralität derSetzungen. Der „Mensch“, der zu entwerfen ist, ist demnach weniger ein universales Projekt,sondern eine horizonthafte Implikation. Kein Entwurf ohne Wir75, kein Sinn ohne Mit. Manwird zu Recht einwenden, dass für den emphatischen existenzialen Begriff eines Bewusstseinsbei Nancy jeder Ansatz fehlt76, weil dieser Sartres existenzialistische Fehldeutung Heideggersnie mitvollzogen hat. Doch die Emphase, die auf der fehlenden Gründung des Entwurfs liegt, unddie eigentümliche Kongruenz von Bewusstsein und Weltentwurf, die in Nancys Satz „Wir sinddie Gemeinschaft des Sinns“77 ihr Echo hat, stützt die These einer sinntheoretisch pluralisiertenReformulierung von Sartres Ontologie.

Badious Nähe zu Sartre zu bemerken, bedarf keiner großen hermeneutischen Anstrengung,weil sie von ihm selbst bezeugt wird. Neben Althusser und Lacan nennt er Sartre als seinen„philosophischen Meister“, weil man bei diesem lernen könne, dass der Begriff stets auch eine„Sache der Existenz“78 sein müsse. Die „vitale Entscheidung“79 ist jenes Erbe, das Badiou Sartreverdankt und politisch zuspitzen wird. Der dezisionistische Ton des politischen Existenzialis-mus Badious setzt darauf, dass Bindungen zu Gunsten der Mannigfaltigkeit der Singularitätenaufgekündigt werden müssen, aus denen sich politische Konflikte zusammensetzen. Politik iststets prekär, weil sie auf der Subjektivität der Überzeugungen fußt, die Antagonismen zuschnei-den.80 „In diesem Sinne ist die Politik ‚Freiheit‘.“81

Die Sartresche Freiheit wird bei Badiou wie bei Nancy auf der Basis einer pluralisiertenOntologie rekonstruiert. „Das Eine ist nicht. Das Vielfache ‚ohne Eins‘ [sans un] […] ist dasGesetz des Seins.“82 Wie Nancy geht Badiou nicht von einem monistischen Begriff der Welt, derSprache, des Seins oder des Sinns aus, sondern von deren mannigfaltigen Koexistenzen.83 Daaber das Mannigfaltige sich nicht zu einer Einheit resümieren oder kondensieren lässt, folgtdaraus, dass sich die Wahrheiten widersprechen und in Konflikte geraten. Politisch gesprochenist jede Politik eine Singularität84, die von einer durch Sartre inspirierten „Entscheidung“ insWerk gesetzt wird. Das Wahrheitsereignis, das Badiou seiner Philosophie des Mannigfaltigen zuGrunde legt, lässt sich ontologisch nicht entscheiden. Welche Wahrheit jeweils in Rede steht,zeigt sich nur in der entschiedenen Perspektivierung eines in das Ereignis Verwickelten. EinEreignis muss folglich als solches anerkannt werden, um Wirkungen entfalten zu können. Es istnicht vorweg klar, ob es überhaupt „ein Ereignis gegeben hat, außer für den Eingreifenden, der

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über dessen Zugehörigkeit zur Situation entscheidet“.85 Für sich genommen, ist der Status desEreignisses unentscheidbar, sodass es keine Garantie für die Perspektivierung geben kann. Erstein „interpretierender Eingriff“86 des „mutigen Sprung[s]“87 macht die kontingente Mannigfal-tigkeit zu einer prekären Eindeutigkeit.88

Wird die Welt als Sinntotalität verstanden, die für diejenigen bedeutungsstiftend ist, die siebewohnen, so erhält sie keinen Sinn mehr von außen. Ähnlich wie bei Sartre, kann diese radikaleImmanenz „das ‚Grundlose‘ [sans raison] der Welt genannt werden, oder aber ihre Begründungs-losigkeit [absence de fondement]“.89 Was sich wiederum mit „Bodenlosigkeit“ wiedergebenließe. Eine Welt zu erfinden, heißt immer eine Welt zu erfinden. Aus dieser kontingenten Wahlergibt sich, dass das Politische in der Entscheidung stets auf dem Spiel steht. Wenn bei Nancy„Sein, zwischen und mit […] dasselbe“90 bedeuten, wird Ontologie mit politischer Theorie in einsgesetzt. Bei Badiou ist es nicht das Sein, sondern ein die Ontologie sprengendes Wahrheits-ereignis, das die politischen Fronten stellt.

Gemeinsam ist den Post-Existenzialisten darüber hinaus, dass diese singulären und kontingentenEreignisse mit der Frage nach der Gerechtigkeit verknüpft werden sollen. Diese normative Wendekommt überraschend. Zwar interpretiert Nancy in seiner kleinen Schrift über die Globalisierungden antagonistischen Charakter dieser Pluralität als Kampf für eine Welt, das heißt für diesenoder jenen Weltsinn, doch wie damit das Problem der Gerechtigkeit eingeführt werden soll, wieer selbst behauptet, bleibt unklar.91

III. Politische Philosophie des Bodenlosen

Das Resümee der Sinnpluralität, wie sie mit Nancy rekonstruiert wurde, lautet somit: Insofernes erstens nichts als Sinn gibt und zweitens die Singularitäten stets zugleich mit-einander auftre-ten, können wir uns der radikalen Wahl nicht entziehen. Die bodenlose Politik – wenn man sie als‚Politik der Unterbrechung‘ weiterdenkt – kommt mit einem existenzialistischen Ton daher, weildie partikulare Option keine Utopie zum Ziel hat, sondern sich der reinen Immanenz verschreibt.92

Sie entkleidet die Forderungen der Gerechtigkeit und der Gleichheit allen Vernunftzwecken, allenorientierenden Kriterien, und erweist sich in dieser Form als radikal säkular.

Nimmt man sozialphilosophisch Nancys Sinnpluralismus zum Ausgangspunkt, so gewinntman einen Blick auf das Intermediäre, auf die Relation selbst, des Sozialen: So wird weder vonIndividuen ausgegangen, die dann (auf welche Weise?) qua Interaktion die Gesellschaft bildensollen, noch von einem vernünftigen Horizont, vor dem sich die Individualitäten als bloßeBesonderungen abheben würden. Daher bildet das Zwischen, das Mit, eine angemessene, wennauch notwendig a-substanzielle Bestimmung der Relationalität des Sozialen. Der Ausgangs-punkt beim Sinn und nicht etwa bei naturalistischen Konzepten oder universalistischen Vernunft-begriffen vermeidet, sich auf selbst wieder fragliche Begriffe der Natur oder der Rationalitätfestlegen (lassen) zu müssen. Die Singularität im Plural trägt der phänomenologischen Einsichtin die mit dem „Welt“-Begriff verbundene Horizonthaftigkeit der Sinnperspektiven Rechnung.Die Pluralität des Singulären vermeidet solipsistische und kommunitäre Fallstricke, indem sieden Sinn des Anderen [genitivus subiectivus] stets mitdenkt. Schließlich wird daraus konsequenteine Politik zu denken sein, so habe ich mit Badiou (sowie analog mit Rancière und beiläufig mitZizek) zu zeigen versucht, die die Hermeneutik dieses kontingenten Sinns als Kampf, das heißtals ebenso parteiischen wie unentscheidbaren Widerstreit, konzipiert.

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Nun begnügt sich die Politik der Unterbrechung nicht damit, die Notwendigkeit desEntscheidens als solche zu akzentuieren. Vielmehr wird sie normativ eingeschränkt und spezifi-ziert. Ganz ähnlich schleicht sich in Nancys ephemere „Politik der Knoten“93, an denen derzirkulierende Sinn sich zu Verbindungen knüpft, aus denen das soziale Band besteht, eine Forde-rung nach „Gerechtigkeit“94 gegenüber den Singularitäten ein. Die „Politik des Bandes“ wäreeine, die ihre Fäden zu einem Netz verknüpft (und nicht anders kann, insofern jeder Sinn„comparution“ oder „com-munication“ ist), sich jedoch keinesfalls zu einem Bündel vereinenlässt, hinter dem die Phantasmen der Identität lauern.95 Doch die Erwartung, dass, wo deskriptivin einer Theorie des Sinns das Netz eingesetzt wird, dies alsdann normativ zur Gerechtigkeitzwischen Knotenpunkten überhöht werden könne, überdehnt die Metaphorik und ist erläuterungs-bedürftig, weil sie das Problem benennt und zugleich verbirgt. Dies wird nicht dadurch einsich-tiger, dass zwar die liberalen „Rechte“ und „Freiheiten“ aufgerufen werden, sie aber von Nancyzu Rechten des Singulären erweitert werden, die sich nicht mehr juridisch, sondern vorgängigontologisch verstehen lassen müssen. Das Inkommensurable erhält einen ethischen Überschusszugesprochen, ganz so als sei es ohne weiteres verständlich, was es hieße, dass das Menschen-recht bloß ein Abkömmling eines vorgängigen „Rechts eines Menschen, Sinn zu knüpfen“96, sei.

Die vorpolitische Politik, die institutionelle und rechtliche Codierungen zugleich unterläuft undihnen vorangeht, beruht auf einem Überschreiten der klassischen Forderungen von Gleichheit undFreiheit. Das „Mehr“ jenseits von Gleichheit und Freiheit, das die Politik der Knoten fordert,hat einen vergänglichen Charakter. Die „prise de parole“97, die singulärem Sinn die Stimme leiht,versteht Nancy als reine phatische Funktion der Sprache.98 Dies ist als Absage gegen jedepolitische „message“ aufzufassen, die in den Mediendemokratien zum Inhalt des politischenKampfes um Stimmen mutiert. Doch bleibt unklar, woran Nancy hier denkt. Die Abwehr inhalt-lich gefüllter Wortergreifungen zielt auf die politischen Parolen gleich welcher Couleur, die nurallzu schnell die Mobilität und Dynamik des geteilten Sinns auf eine eindeutige, instrumentelleSemantik bringen.99

In gewissem Sinne bringt das auch eine Distanz zu Badious Wahrheitspolitik zur Sprache, diesich ja regelrecht durch die Entscheidung für eine subjektive Beschreibung der Welt definiert. DieParole, die einen kontextuell beschränkten Kampf zusammenhält, wird von Badiou als Treue zueinem universalen Postulat verstanden. „Es gibt Singularität nur in dem Maße, wie es Universalesgibt. Andernfalls gibt es, außerhalb der Wahrheit, nur Partikulares.“100 Badiou redet also keineswegseinem relativistischen Partikularismus das Wort, sondern knüpft die subjektive Wahrheit begriff-lich an die Universalität ihres Postulats. Mit Nancy ließe sich jedoch darauf bestehen, dassEntscheidungen jeweils bereits Mit-Entscheidungen implizieren. Wird die plural singuläre Gleich-zeitigkeit von Entscheidungen mit Nancy betont, so wird die existenzial-dezisionistische GesteBadious erschwert. Nancy muss es also um flüchtigere Worte gehen, mit denen dem Sinn Gerech-tigkeit widerfahren soll. Was wären denn Kandidaten für eine solche Politik? Etwa Lyotards„Zeugnis für den Rest, das Unbezähmbare“?101 Literatur? Kunst in situ? Von dem „Feuer desEreignisses“102 à la Badiou, das eher nach brennenden Fässern als nach Galerie klingt, ist diesjedenfalls weit entfernt.

Hinzu kommt eine grundsätzlichere Schwierigkeit, die ihrerseits auch die Politik der Unterbre-chung betrifft. Wie lässt sich die Gerechtigkeit des Netzwerkes begründen, selbst wenn manoffen lässt, was Gerechtigkeit heißen soll? Was fordert wer von wem und vor allem auf Grundwovon? Wie kommt es zu diesem ethischen Appell, wenn Politik doch gerade ohne Ethikgedacht werden soll?

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IV. Alterität als Grund von Normativität

Der Grund für diese unbeantworteten Fragen scheint darin zu suchen zu sein, dass die Pluralität,die als Basis für Nancys Philosophie der Ko-Existenz und für Badious Ereignispolitik, Rancièrespolemische Politik der Aufteilung des Sinnlichen und Zizek „Neo-Leninismus“ fungiert, keinenPlatz für eine radikale Andersheit lässt, die einen Aufweis normativer Ansprüche bieten könnte.Ich will im Folgenden die Behauptung begründen, dass die Verkennung der Alterität Nancy,Badiou und Rancière daran hindert, den Abgrund zwischen Normativität und Deskription zuschließen.

Das Alternativmodell ließe sich durch die heuristische Unterscheidung zweier Ebenen skizzie-ren: jene des Verhältnisses zwischen Subjekt und Anderem von der des Dritten, auf der diePluralität operiert. Der Andere kann dann als „Anderer-im-Selben“ konzipiert werden, das heißtals ein Moment der Fremdheit, das an der Konstitution des Subjekts selbst Teil hat. Autonomieist dann nicht mehr der Name dafür, ganz bei sich selbst beginnen zu können, sondern wäre zuersetzen durch ein Antworten auf den Anderen. Damit ist dann jedoch weder ein Reiz-Reaktions-Schema gemeint noch eine bloße Umkehrung der Subjekt-Objekt-Dichotomie. Vielmehr liegt imNachträglichkeitscharakter dieses Subjekts die Möglichkeit beschlossen, Normativität in derErfahrung zu verankern. Denn insofern das Subjekt antworten muss, aber durchaus offen ist, wiees antworten wird, ist jeder Antwort das Moment einer Verantwortung eingeschrieben.103

Freiheit wird demnach umgedeutet in ein freies Antworten-auf, ohne dass eine gänzlich auto-nome Freiheit den vorgängigen Appell aufheben könnte, wenn etwa – wie bei Fichte – dieFreiheit des Ichs den Anderen setzt; und damit auch noch die Ansprüche, die er im intersubjek-tiven Verhältnis an mich stellt. Die Pointe der radikalen Alterität besteht darin, dass das, wasmich am Anderen herausfordert, etwas ist, das sich kognitiven Urteilen entzieht. Erst im Ant-worten wird der Andere auch kognitiv identifiziert (in seiner ‚Rolle‘ oder seiner ‚Identität‘).Doch als wer oder was der Andere wahrgenommen wird, liegt zum einen nicht von vornhereinfest, sondern wird durch meine Antwort erst definiert, und wird zum anderen der Andersheit alsAndersheit nicht gerecht. So ist jede Antwort eine (unmögliche) Entscheidung, die Verantwor-tung impliziert. Indem der Akt der Wahrnehmung des Anderen und das Verpflichtetsein durchden Anderen als ein und derselbe Vorgang gedacht werden, wird die gängige Differenzierungzwischen deskriptiver und präskriptiver Ebene unterlaufen. „Die Ethik ist eine Optik.“104

Das so beschriebene Verhältnis liegt auf der heuristisch isolierten Ebene einer „asymmetri-schen Intersubjektivität“.105 Da aus dieser Perspektive die Pluralität ausgeblendet ist, sozial-philosophische Schlüsse sich aus ihr nicht ziehen lassen, geht der Blick auf die zweite Ebene, diedes Dritten. Der Dritte ist eine Doppelfigur, insofern er ein anderer Anderer ist und zugleich dasDritte verkörpert (die Sprache, die Institution, die kulturelle Norm), in Lacans Terminologie: dasSymbolische. Was man das Soziale oder das Politische nennen mag, ist in diesem Modell auf derEbene des Dritten und nicht auf der Ebene der Alterität angesiedelt.106

Auf diese Weise ließe sich eine Antwort auf die Frage denken, wie bei Nancy und BadiouNormativität in die Pluralität implementiert werden soll. Indem nämlich das Soziale nie allein inseiner pluralen Kontingenz wahrgenommen wird, sondern stets an seine Herkunft aus derAlteritätsbeziehung gebunden bleibt, wird das Ethische der Verantwortung gewissermaßen insPolitische übernommen. Da das Subjekt stets die – für sich genommen unvergleichlichen –Ansprüche mehrerer Anderer zu vergleichen und mit gesellschaftlichen Zwängen in Einklang zubringen hat, hat es mit einem Widerstreit in der Erfahrung zu rechnen, der politische Folgen hat.

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Denn wenn man politische Appelle alteritätstheoretisch als ethische Ansprüche versteht, dannwird die Brisanz schnell deutlich: Soll dieser oder jener Flüchtling aufgenommen werden? Waszählt mehr: die Lebensperspektive eines heutigen Hartz IV-Empfängers oder die finanzielleBelastung der Sozialversicherungen für die nächste Generation? Ist die Benachteiligung derFrauen ein Haupt- oder Nebenwiderspruch (wie man mal sagte)? Je nach Entscheidungskonfliktund Blickwinkel ließe sich die Liste der Beispiele verlängern. Der Anspruch, mit dem mankonfrontiert ist, fordert, sich ihm verantwortlich zu stellen. Zugleich ist es jedoch unmöglich, alldiesen Ansprüchen zugleich oder in gleichem Umfang gerecht zu werden. Das heißt, die Ent-scheidung, auf der Nancy wie Badiou insistieren, ist auch nach diesem Modell unausweichlich.Doch sie hinge dann nicht mehr dezisionistisch in der normativen Luft, sondern ließe sich aneinen ethischen Widerstreit rückbinden.107

Nancy hingegen verschenkt eine solche Möglichkeit, wenn er trotz seiner normativen Redevon der Gerechtigkeit gegenüber den Singularitäten das trennende Zwischen der Gemeinschaftkonsequent nicht als Alteritätsbeziehung interpretiert. Für Nancy scheint jede Philosophie derAlterität noch einem Hegelschen Modell verpflichtet, in dem sich die Position eines Anderen mitgroßem „A“ einer Entfremdung, einer Selbst-Entfremdung und Abspaltung verdankt. Die radikalesimultane Pluralität der Welten wird damit verfehlt. „Dieser Andere ist nicht ‚mit‘, er ist nichtmehr oder noch nicht ‚mit‘, er ist näher und weiter weg als jedes Zusammen-sein [être-ensemble].“108 Für Nancy ist die Alternative klar: Entweder man beginnt bei einer fundamentalfragmentierten, unversöhnbaren Pluralität des kontingenten Wir, oder man geht von einem Ap-pell des Anderen aus, der das Ich erst zum Leben seiner Subjektivität erweckt.109 Doch dass esdie Alteritätsphilosophie Nancys Ansicht nach unmöglich macht, über das Gesellschaftliche zusprechen110, stimmt nur dann, wenn man einen Begriff des Dritten außer Acht lässt, der die Stellezwischen Andersheit und Pluralität ausfüllen könnte. Soweit ich sehe, gibt es nur eine Stelle, ander Nancy auf den Dritten zu sprechen kommt. Bezeichnend ist, dass er diese Figur hier ganz ineinem (schlichten) Hegelschen Sinne auffasst, nämlich als „Gesetz oder Zeuge“111 der Beziehungzwischen dem Einen und dem Anderen. Im Hinblick auf den Dritten muss man nach Nancy nichtvon Einem und ‚dann‘ einem Anderen ausgehen, sondern von ihrer Wechselseitigkeit.112 DerDritte wird nicht als eine gesonderte Funktion angesehen, die in Konflikt mit Subjekt undAnderem treten kann, sondern – „s’il est quelque chose“113 – als die Spannung zwischen beiden,als das Zwischen dieser wechselseitigen Beziehung ohne Begegnung. Die ganze Pointe der asym-metrischen Intersubjektivität wird dadurch verpasst.

Der Dritte in einem relevanten Sinne wäre nämlich weder Vermittlung noch das übergreifendeAllgemeine, sondern eine in die Intersubjektivitätsrelationen verwickelte Instanz, die Sozialitätgeneriert. Zwar wird die Intention der Alteritätsphilosophie geteilt, allein die Lösung wirdverworfen: An einer Stelle, wo Levinas ausdrücklich genannt wird, bestätigt Nancy eine Nähe zuLevinas’ Formulierung des „anders als Sein“, die aber nicht als Überwindung, sondern gerade alsdie Charakteristik des Seins selbst begriffen werden müsse.114

Das prekäre Wir, auf dem Nancys Sozialontologie fußt, hat kein Außen, weil der Spalt zwi-schen den sinnstiftenden Einzelnen als die verbindende Kontiguität verstanden wird. Bezogenauf das Problem der Normativität bedeutet das, dass dem ethischen Durchbrechen des Seins eineGerechtigkeit aus der Immanenz gegenübergestellt wird. Nancy behauptet zwar die Normativitätjenseits juridischer, einem kalkulierbaren Schaden gegenüber geschuldeten Verantwortung, dieeiner wie immer ontologisch verfassten Schuldigkeit entstammt.115 Doch es bleibt bei einembloßen Bekenntnis, weil die „Antwort auf den Sinn“ von Nancy ohne jede Form von Vorgängigkeit

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gedacht ist. Es bleibt offen, wie dieser, Derrida und Levinas nahe stehende Begriff der Verant-wortung zu begründen wäre, wenn an der Simultaneität des Sinns festgehalten wird.116

Das hat zur Folge, dass die Frage, wie in dieser pluralen Welt des kontingenten Sinns vonVerantwortung für eine bestimmte Sinnoption zu sprechen wäre, ungelöst bleibt. Derrida sprichtdas skizzierte Problem anstatt in Termini des Dritten mit der Formel „plus d’un“ an. Diepolitisch relevanten Konflikte stellen sich erst, wenn die absolute Verantwortung, die Derridabekanntlich in Rekurs auf Levinas formuliert, sich mit mehr als bloß einem Anderen konfrontiertsieht:

„Es gibt mehr als einen Anspruch, selbst wenn er von derselben Person kommt oder käme, esgibt mehr als einen, und ich kann nicht unbegrenzt antworten; an der unendlichen Verantwor-tung, die mir von diesem ‚mehr als einem Anspruch‘ zugewiesen wird, kann ich mich nichtmessen.“117

Aus dieser Unmöglichkeit, der stets unabschließbaren Vielfalt der Ansprüche Anderer gerecht zuwerden, folgt die Notwendigkeit, die Veranwortlichkeiten (ungerechterweise) gegeneinander auf-zurechnen und ihre Reichweite einzuschränken:

„Natürlich bin ich gezwungen abzuwägen (Gesellschaft mit beschränkter Verantwortung), alsendliche Singularität kann ich nicht antworten, kann ich nicht auf alle Ansprüche antworten,doch der Anspruch ist unendlich.“118

Anstatt jedoch diese „GmbV“ als das Paradox einer notwendigen, aber unmöglichen Umsetzungethischer Imperative zu sehen, wie es nur ein Begriff radikaler Alterität ermöglicht, bestehtNancy auf dem Primat der pluralen Ontologie und weist der Phänomenologie ethischer Erfah-rung nur den Rang eines sekundären Moments zu. Das Angesicht, wie es Levinas zum Prototypdes Gewahrens des Anspruchs macht, ist demnach bloß sekundär und konstituiert, statt primä-rer Anspruch zu sein.119 Doch aus einer Ontologie allein, das haben die Diskussionen seitHeidegger gezeigt (und Levinas hat das zum Anlass genommen, eine Ethik als Erste Philosophiezu entwerfen), lässt sich keine Normativität gewinnen. In diesem Sinne bleibt Nancy in klassi-schen Dilemmata der Ontologie befangen. Statt aus einer Ontologie der Sinnvielfalt in eineBrüderlichkeit ohne Boden, die auch Derrida wiederholt kritisiert hat120, überzuspringen, bliebeaus der Sicht der Alteritätsphilosophie die wechselseitige Verwicklung der ethischen Ebene derRelation der Intersubjektivität einerseits und der politischen Ebene des Gemeinsamen andererseits,das notwendig eine ungerechte Nivellierung der Ansprüche bedeutet, zu betonen. Derrida ziehtes in der Diskussion mit Nancy und Levinas vor, den Ansatz des „bereits Ethischen“ in der„Entweihung“ zu sehen und umgekehrt einen „Rest an Scham, an Entweihung, an Verrat undMeineid in der Achtung des Ethischen“ aufzuspüren.121

Auch Badiou bezieht die Stärkung seiner Position aus der Distanzierung von einer Ethik desAnderen.122 Dabei ist aber bereits dieser Terminus problematisch. So identifiziert er Levinas’Philosophie mit einer „echten“ Erfahrung des „authentischen“ Anderen in seiner „Unmittelbar-keit“.123 Auch wenn er sie von wohlfeilen Vereinnahmungen durch multikulturelle Rhetorik inSchutz nimmt, nimmt die Abwendung von Levinas angesichts einer solchen, alle Hinweise aufNachträglichkeit, Entzug und Undarstellbarkeit des Anderen ignorierenden, Missdeutung nichtwunder. Wenn in dieser Interpretation der Andere nur noch als der an einen absoluten, göttlichenAnderen gebundene Gegenüber verstanden wird, dann muss diese Lösung in Badious Perspektiveverworfen werden.124 An die Stelle der Ethik des Anderen wird eine vervielfältigte Ethik der

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Wahrheiten gesetzt.125 Die Alterität wurde ihrerseits zuvor in die Pluralität des Seins umdefiniertund damit der Levinasschen Pointe asymmetrischer Verantwortungsrelation beraubt. „Die unend-liche Andersheit ist ganz einfach das, was es gibt.“126 Und was es gibt, erscheint nur – ganz inNancys Terminologie – als Vielzahl kontingenter Sinnsetzungen.127 Der fundamentale PluralismusNancys muss sich ganz wie Badiou und Rancière128 deswegen von einer Theorie radikaler Alteritätabsetzen, weil diese anscheinend das Multiple und Antagonistische zu Gunsten des einen Anderenverdrängt.129 Das mag für manche emphatische Fürsprecher der Andersheit richtig sein, verfängtjedoch nicht, wenn hier die Andersheit selbst vervielfältigt wird, als „plus d’un“ oder „Dritter“.

In der Verkennung des Charakters der Alterität in den Philosophien von Nancy, Badiou undRancière scheint demnach der Grund für die bloß affirmierte Normativität zu liegen. Aus dieserAusschaltung resultiert jedoch eine weitere Schwierigkeit. Die Emphase, die Badiou auf dasEreignis der Politik legt, und die Akribie, mit der Nancy jede Verwicklung der Politik der Wort-ergreifung in irgendeinen Inhalt zu vermeiden sucht, verkennt, dass es die Politik mit sauberenHänden nicht gibt. Die Vermeidung des in der klassischen Moralphilosophie verhandelten „dirtyhands problem“, das sich den Dilemmata ethisch unerwünschter Nebenfolgen politischen Handelnswidmet130, geht bei Nancy und Badiou auf Kosten einer Bestimmung der Politik des Alltags.131

In den Blick kommen einseitig nur die außergewöhnlichen, politische Gemeinschaften oderKollektive stiftenden Großereignisse wie Revolutionen oder Klassenkämpfe (Badiou) oder diediffusen Momente des Wahrens des Undarstellbaren, dem, um seines pluralen Sinnes willen,sich nur expressiv genähert werden kann (Nancy).

Geht es nicht auch eine Nummer kleiner? Lässt sich nicht auch ein Ereignis der Politik denken,ohne dass sich sogleich das Feld des Sichtbaren oder die Ordnung der wesentlichen Widerstreitevollständig umstülpt? Um die ‚Reinheit‘ des Politischen zu unterlaufen, wäre das Verhältnis desEreignisses des Politischen zur institutionalisierten, verwalteten, alltäglichen Politik zu denken.Politisches und Politik lassen sich nur als wechselseitige Beschränkung und Durchkreuzungfassen, nicht aber als zwei distinkte Bereiche reiner Zuständigkeit.132 Ständig Entscheidendesentscheiden zu müssen133, verlangt hingegen Brüche und Stiftungen auf existenziellem Niveau.Ein anderer, etwa spielerischer Umgang mit dem Bodenlosen ist auf dieser Basis nicht denk-bar.134 Den Ruf beziehungsweise die Vorladung zu empfangen, wie man es in Levinas’ Termino-logie ausdrücken könnte, ließe die Möglichkeit offen, Verschiedenes zu antworten, Revolutioneninklusive aber nicht notwendigerweise.

Die Geste der Distanzierung von herrschenden politischen Ordnungen fordert ihren Preis.Wiewohl sich Nancy, Badiou und Rancière wiederholt als polemische Kritiker der ernüchterndenGeschäfte der Mediendemokratie betätigen, fehlt systematisch gesprochen jede Artikulation desVerhältnisses von Unterbrechung und unterbrochener Ordnung. Das politische Ereignis und die„bloße“ Politik treten in keinerlei Dialog, sondern existieren zusammenhanglos neben-einanderher.135 Zwar nährt sich Nancys Mahnung an die Gerechtigkeit von Ungerechtigkeits-erfahrungen („ein verhungernder Körper, ein gefolterter Körper, ein gebrochener Wille“136),doch diese bleiben exemplarische Embleme, da sie keine Konkretion gewinnen. Das begründetsich daher, dass sie nicht als Zurückweisung des Leidens, sondern als „Verneinung der Exis-tenz“137 begriffen werden. Die Empörung ist eine ontologische, keine normative. Nur so lässtsich verstehen, warum die Liste der Elendserfahrungen unter anderem mit dem „schleichendenVerlust der Lebenskraft“ und „blödsinnigen Schmierereien“138 fortgeführt werden kann.

Diese Hoheit der Ontologie könnte man die deskriptive Isolation der Politik der Wahrheitnennen. Das Ereignis des Politischen wird semantisch derart aufgeladen, dass es sich entweder

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verflüchtigt oder seine pompöse Seltenheit ausstellt. Mit Nancy scheint jede Interaktion, jederSprechakt, ja jedes Wort potenziell den Horizont eines (zumindest graduell) neuen Sinns zueröffnen. Jedem Satz seine Welt. Die politische Ausdeutung dieser Ontologie, die sich mitBadiou und Rancière vornehmen lässt, zielt hingegen auf die Seltenheit und Exklusivität despolitischen Ereignisses. Hier ist dann nicht mehr an minimale Sinnereignisse oder alltägliche poli-tische Akte zu denken, sondern an die große revolutionäre Tat.139 Politik gerinnt bisweilen zumaktionistischen Klischee, wenn die Fronten, die der partikulare Universalismus Badious ziehenmuss, auf bekannte Muster aufsetzt (Westen versus Süden, Metropole versus Peripherie140).Zwar ist es unausweichlich, dass die Politik der Unterbrechung Unübersichtlichkeitenvereindeutigt, doch angetrieben vom „heroischen Durst nach Reinheit“141 die Komplexität soweit zu reduzieren, dass von den vielen Wahrheiten nur noch eine übrig bleibt, führt zu Fehl-deutungen, die zweifeln lassen, ob komplexe politische Zusammenhänge nicht vor ihrer Verein-fachung zunächst zu denken sind.142

V. Bodenlose Politik als Unterbrechung liberaler Theorie

„Sinn, der selbst gemacht ist, ist im letzten kein Sinn.“143 So formuliert Ratzinger, als er nochKardinal war, den Affront der Pluralität, mit dem eine traditionelle Sinnstiftungsagentur zukämpfen hat. Der plurale Sinn kann nur als Gegner taugen, während der eine Sinn nicht gestiftetwird, sondern längst offenbart ist und bestenfalls bewahrt oder ausgelegt werden muss. Gegen-über solchen monothetischen Sinnbehauptungen tritt die plurale Vielfalt singulärer Sinnsetzungenals aufklärerisches, modernes Konzept intersubjektiver Weltzugänge auf, das alle Reduktionismenund Fundamentalismen prinzipiell unterläuft. Sinnstifter sind wir alle, und wir sind mehr als nurEffekte von Sinnprozessen; einen „intelligent designer“, wie die Kreationisten ihn gerne instal-lieren würden, braucht es dazu nicht.

Nancys Sozialphilosophie geht nicht von Subjekten aus, die miteinander in Interaktion tretenwie all jene Theorien, die den von Hobbes geerbten Atomismus zur Grundlage vertragstheoretischerKonzeptionen machen. Dem sozialen Band, das vom singulär pluralen Sinn bereitgestellt wird,kann man sich weder entziehen, noch kann man es ohne weiteres kappen. Zugleich ist dieFunktion dieses Bandes derart allgemein und umfassend gehalten, dass Diskurse, die auf einekommunitäre Einheit des Gemeinwesens zielen, daran nicht anknüpfen können. Nancys Politikder Ko-Existenz situiert sich in Äquidistanz zwischen Liberalismus und Kommunitarismus.144

Damit scheint exemplarisch die Bodenlosigkeit dessen beschrieben zu sein, was andernorts alsfester Ausgangspunkt sozialer Interaktion gilt.

Aus dieser Bodenlosigkeit folgt, so lässt sich anhand der Ansätze von Badiou, Rancière undZizek zeigen, eine Politik der Unterbrechung, die entscheidend auf der begrifflichen Differenzzwischen der Politik und dem Politischen beruht. Das Politische, so die hier entfaltete Behaup-tung, muss als Unterbrechung der Politik gedacht werden. Geht damit jedoch eine normativeKomponente einher, die nicht ohne weiteres aus der Pluralität der Singularitäten folgt, so ten-diert die Politik der Unterbrechung zu dezisionistischen Einseitigkeiten. Alternativ macht dieIdee einer Unverfügbarkeit des Sinns, die sich im Satz des Kardinals ahnen lässt, eine Asymme-trie konzeptionell möglich, die normativ wirkungsvoll ist.

Die skizzierten Einwände gegenüber der Verkennung der Alterität und der deskriptiven Isola-tion scheinen Belege dafür zu sein, dass dieser Ansatz – soweit er für die politische Philosophie

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und die Sozialphilosophie tauglich sein soll – zu kurz greift. Denn normativ bleibt er schuldig,was er zu leisten beansprucht. Die mehr als offenkundige Polemik gegen die liberalen Anwältedes Bestehenden besteht zuletzt darin, das diese politisch bloß das fordern (können), was dieökonomischen und strukturellen beziehungsweise ontologischen Rahmenbedingungen zulassen.Diese Kritik bleibt gültig, auch wenn sie nicht vergessen machen kann, dass weder Nancys‚brüderliche‘ Politik der Wortergreifung noch die emphatische Ereignispolitik Badious, Rancièresund Zizeks den normativen Impuls, den sie selbst in Anspruch nehmen, begrifflich einzuholenvermögen. So taugen sie bestenfalls selber als Ereignisse des Bruchs und des Einspruchs, die aufdie Grenzen des liberalen Konsenses hinweisen, nicht aber als dessen Alternative.

Dr. Thomas Bedorf, FernUniversität in Hagen, Kultur- und Sozialwissenschaften, Institut fürPhilosophie, 58084 Hagen

Anmerkungen

1 Kurt Röttgers, Volker Schürmann und Timo Skrandies danke ich für kritische Hinweise. 2 I. Berlin, Zwei Begriffe von Freiheit, in: ders., Freiheit. Vier Versuche, übers. v. R. Kaiser, Frankfurt/M.

1995, 197–256, hier: 210. 3 I. Kant, Metaphysik der Sitten. Einleitung in die Rechtslehre, Akademie-Ausgabe, Bd. VI, 230. 4 Das wiederkehrende Interesse an einer systematisch grundlegenden Philosophie des Sozialen hat sich unter

anderem mit dem Problem auseinander zu setzen, wie sich – je nach Vokabular – individuelle und kollektiveIdentität, Ich- und Wir-Intention oder Einzel- und Gesamtwille zueinander verhalten. Die hier diskutiertenAnsätze sind exemplarisch, insofern sie sich auch als Beitrag zu dieser Diskussion verstehen lassen sollen,auch wenn Vokabular und Ausgangspunkt andere sind; vgl. zur Übersicht L. Jansen, Identität und Gemein-schaft. Neuere Beiträge zur Ontologie des Sozialen, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 59 (2005),444–458; sowie den Schwerpunkt Kollektive Intentionalität und gemeinsames Handeln in Heft 3/2007 derDeutschen Zeitschrift für Philosophie.

5 Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 171993, 384. 6 Die kritische Konfrontation mit der Frage, wie sich Heideggers Philosophie zur völkischen Praxis der Nazis

verhält, findet sich in einem gemeinsam mit Philippe Lacoue-Labarthe verfassten Buch; vgl. Ph. Lacoue-Labarthe u. J.-L. Nancy, Le mythe nazi, La Tour d’Aigues 1991; dt.: Der Nazi-Mythos, übers. v. C.-V.Klenke, in: G. Ch. Tholen u. E. Weber (Hg.), Das Vergessen(e). Anamnesen des Undarstellbaren, Wien 1997,158–190.

7 Vgl. J.-L. Nancy, Das Mit-sein des Da-seins, in: ders., singulär plural sein, übers. v. U. Müller-Schöll,Berlin 2004, 151–172, hier: 164.

8 J.-L. Nancy, Être singulier pluriel, Paris 1996, 118, Fn., vgl. auch 45 f.; dt.: singulär plural sein, a. a. O.,144, Fn. 78, vgl. auch 52 f.

9 Ebd., 46; dt. 53.10 Vgl. ebd., 14; dt. 14.11 Damit setzt sich Nancy auch von einer allzu einseitigen Festlegung auf eine problematische „Ontologie“ ab.

Denn „sens“ impliziert hier (wie im Übrigen auch bei Jacques Rancière) stets auch den Bezug auf „lesensible“, das Sinnliche; vgl. H. U. Gumbrecht, Diesseits des Sinns. Über eine neue Sehnsucht nachSubstantialität, in: Merkur, 59 (2005), 751–761.

12 Vgl. J.-L. Nancy, La création du monde ou la mondialisation, Paris 2002, 34 f.; dt.: Die Erschaffung der Weltoder Die Globalisierung, übers. v. A. Hoffmann, Berlin 2003, 30 f.

13 Vgl. J.-P. Sartre, L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique, Paris 1943, 568; dt.: Das Sein unddas Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, übers. v. H. Schöneberg u. T. König, Reinbek1991, 843 f.

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14 J.-L. Nancy, Être singulier pluriel, a. a. O., 50; dt. 59 (Übersetzung leicht verändert).15 Ders., L’oubli de la philosophie, Paris 1986, 90; dt.: Das Vergessen der Philosophie, übers. v. H. Brühmann,

Wien 1987, 96.16 Vgl. ebd., 91; dt. 98.17 Vgl. J. Derrida u. J.-L. Nancy, Responsabilité – Du sens à venir, in: F. Guibal u. J.-C. Martin (Hg.), Sens

en tous sens. Autour des travaux de Jean-Luc Nancy, Paris 2004, 165–200, hier: 167.18 J.-L. Nancy, L’oubli de la philosophie, a. a. O., 94; dt. 100.19 Ebd., 102; dt. 109.20 Vgl. A. Koschorke, Vor der Gesellschaft. Das Anfangsproblem der Anthropologie, in: B. Kleeberg (Hg.),

Urmensch und Wissenschaften. Eine Bestandsaufnahme, Darmstadt 2005, 245–258.21 J.-L. Nancy, Être singulier pluriel, a. a. O., 23; dt. 25.22 Die Nähe zur „Zwischenwelt“ [intermonde] des späten Merleau-Ponty, die sich hier andeutet, notiert Nancy

selbst; vgl. ders., L’expérience de la liberté, Paris 1988, 94, Fn. 1.23 Ders., Le sens du monde, Paris 1993, 106.24 Vgl. ebd., 164–171. Auszüge aus dem Buch sind veröffentlicht als: Der Sinn des Politischen, übers. v. J.

Wolf u. E. Hoerl, in: W. Pircher (Hg.), Gegen den Ausnahmezustand. Zur Kritik an Carl Schmitt, Wien 1999,119–140, hier: 125–130.

25 J.-L. Nancy, Le sens du monde, a. a. O., 146 f.; dt. 124.26 Vgl. ebd., 173; dt. 131. Das Motiv des sozialen Bandes verdankt sich unter anderem der Nancy geläufigen

Tradition der Durkheim-Schule; vgl. É. Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisationhöherer Gesellschaften, Frankfurt/M. 1992.

27 Vgl. N. Loraux, Das Band der Teilung, übers. v. A. Knop, in: J. Vogl (Hg.), Gemeinschaften. Positionen zueiner Philosophie des Politischen, Frankfurt/M. 1994, 31–64.

28 Vgl. Derridas Auseinandersetzung mit einigen dieser Begriffe im Werk Nancys in: J. Derrida, Voyous. Deuxessais sur la raison, Paris 2003, Kap. 4 u. 5; dt.: Schurken. Zwei Essays über die Vernunft, übers. v. H.Brühmann, Frankfurt/M. 2003.

29 Vgl. G. Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, in: ders., Gesamtaus-gabe, Bd. 11, hg. v. O. Rammstedt, Frankfurt/M. 21995, 17.

30 J.-L. Nancy, Le chant du départ, in: M.-L. Mallet (Hg.), La démocratie à venir. Autour de Jacques Derrida,Paris 2004, 341–359, hier: 344.

31 Vgl. ebd., 347.32 Vgl. ebd., 357.33 Damit richtet sich Nancy unausgesprochen gegen den Entwurf von: M. Hardt u. A. Negri, Multitude. Krieg

und Demokratie im Empire, übers. v. Th. Atzert u. A. Wirthensohn, Frankfurt/M. 2004.34 J.-L. Nancy, Le chant du départ, a. a. O., 351. (Wo keine deutschen Ausgaben vorliegen, stammen die

Übersetzungen vom Verfasser.)35 Und verweist dazu in einer Brachialetymologie auf das griechische „phrater“ (vgl. ebd., 351).36 Ebd., 353.37 Ebd., 356. Naheliegend ist diese Terminologie für Nancys Konzeption deswegen, weil sie es ihm erlaubt,

dem Präfix „cum“ treu zu bleiben. „Le contrat, le commerce, le concret, le contact, la confortation, telle estle déclinaison du cum, de l’avec dont le peuple fait assemblage et découpe.“ (Ebd., 353) Die „confiance“(Vertrauen) reiht sich in diese vom „Mit“ geleiteten Umdeutungen ein.

38 G. Simmel, Grundfragen der Soziologie (Individuum und Gesellschaft), in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 16:Der Krieg und die geistigen Entscheidungen u. a., hg. v. G. Fitzi u. O. Rammstedt, Frankfurt/M. 1999, 59–149, hier: 108 (im Original kursiv).

39 J.-L. Nancy, Le chant du départ, a. a. O., 356, Fn.40 Ebd., 354.41 Ebd., 356.42 Vgl. J.-L. Nancy, L’expérience de la liberté, a. a. O., 96 f.43 Ders., Éloge de la mêlée, in: ders., Être singulier pluriel, a. a. O., 169–182, hier: 175. Der Aufsatz ist in der

deutschen Ausgabe nicht enthalten.44 Ders., Être singulier pluriel, a. a. O., 94; dt. 112.45 Ders., Éloge de la mêlée, a. a. O., 173.

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46 Ebd., 180.47 J.-L. Nancy, Être singulier pluriel, a. a. O., 56; dt. 66.48 Ebd., 116; dt. 142. Die Kommunikation im Sinne jener Grundstruktur des Mit-teilens, wodurch sich das

Gemeinschaftliche allererst herstellt, steht bereits im Zentrum von: J.-L. Nancy, La communauté desœuvrée,Paris 42004, 51; dt.: Die undarstellbare Gemeinschaft, übers. v. G. Febel u. J. Legueil, Stuttgart 1988, 46 u.172, Fn. 11.

49 K. Röttgers, mündliche Mitteilung am 16. Juli 2005.50 Vgl. J.-L. Nancy, La communauté desœuvrée, a. a. O., 31; dt. 28.51 Ebd., 87; dt. 77 (Übersetzung leicht verändert).52 J.-L. Nancy, La comparution. De l’existence du ‚communisme‘ à la communauté de l’ ‚existence‘, in: ders.

u. J.-Ch. Bailly, La comparution. Politique à venir, Paris 1991, 47–100, hier: 65; dt.: Das gemeinsameErscheinen. Von der Existenz des ‚Kommunismus‘ zur Gemeinschaftlichkeit der ‚Existenz‘, übers. v. G.Febel u. J. Legueil, in: J. Vogl (Hg.), Gemeinschaften, a. a. O., 167–204, hier: 176.

53 Vgl. dazu überblickshaft Th. Bedorf, Antinomien gesellschaftlicher Ordnung. Philosophie der Politik nachdem Poststrukturalismus, in: Philosophische Rundschau, 52 (2005), 95–123.

54 Die Differenz ist eine begriffliche, die sich nicht immer in identischer Terminologie niederschlägt. WährendRancière zwischen „Polizei“ und „Politik“ unterscheidet, wählt Badiou das Begriffspaar „Staat“ und „Poli-tik“. Das emphatisch „Politische“ ist dabei jeweils die „Politik“, die der bloß verwaltenden Ordnung desBestehenden („Staat“, „Polizei“) gegenübergestellt wird. Diese (Rancières oder Badious) ‚Politik‘ steht alsobegriffslogisch auf der Seite dessen, was Nancy „das Politische“ nennt. – Die Positionen, die sich in diesemFeld versammeln, werden Thema eines Sammelbandes sein, der die Tagung Das Politische und die Politikdokumentiert, die im September 2007 im Kulturwissenschaftlichen Institut NRW stattgefunden hat.

55 Da es mir hier nicht darauf ankommt, den einzelnen Autoren en détail gerecht zu werden, sondern systema-tische Konsequenzen aus einer pluralisierten Sozialphilosophie zu ziehen, sei eine wichtige Differenz zwi-schen beiden Ansätzen nur erwähnt. Während Nancy die Pluralität des Sinns als „Struktur des Seins“versteht, denkt etwa Badiou gerade das Politische als Nicht-Sein. Das politische Ereignis bricht mit demSein, mit der Steuerung des Bestehenden, weil ein Ereignis ontologisch nicht fassbar, sondern geradezuordnungsstiftend ist (vgl. J.-L. Nancy, Surprise de l’événement, in: ders., Être singulier pluriel, a. a. O.,183–202, hier: 190, Fn. 1). Da jedoch in beiden Fällen von einer pluralen Singularität des kontingentenpolitischen Sinns ausgegangen wird, eignet sich die Politik der Unterbrechung dazu, Nancys Ansätzepolitisch auszubuchstabieren.

56 A. Badiou, Abrégé de métapolitique, Paris 1998, 66; dt.: Über Metapolitik, mit einem Nachwort vonP. Hallward, übers. v. H. Jatho, Berlin 2003, 69.

57 „Die Politik ist nicht aus Machtverhältnissen, sie ist aus Weltverhältnissen [rapports de mondes] gemacht.“(J. Rancière, La Mésentente. Politique et Philosophie, Paris 1995, 67; dt.: Das Unvernehmen. Politik undPhilosophie, übers. v. R. Steuerer, Frankfurt/M. 2002, 54)

58 Diese ließen sich im Gegensatz zu Widerstreiten in einen abwägenden Diskurs überführen; vgl. B. Williams,Konflikte von Werten, in: ders., Moralischer Zufall. Philosophische Aufsätze 1973–1980, übers. v. A. Linden,Königstein/Ts. 1984, 82–93.

59 J. Rancière, La Mésentente, a. a. O., 33; dt. 26.60 Vgl. ebd., 37; dt. 29.61 Ebd., 11 f.; dt. 9. Aus dieser politiktheoretischen Überzeugung speist sich auch eine vor allem an inner-

französische Debatten adressierte Rehabilitierung eines radikalen Verständnisses der Demokratie gegen ihrerepublikanischen Verächter; vgl. J. Rancière, La haine de la démocratie, Paris 2005, 11–39.

62 A. Badiou, Abrégé de métapolitique, a. a. O., 127; dt. 124 (Übersetzung leicht verändert). Ähnlich fasst Zizekden „echten politischen Akt“ als die Unterstellung, „so zu handeln, als ob die utopische Zukunft zum Greifennahe sei“ (S. Zizek, Die Revolution steht bevor. Dreizehn Versuche über Lenin, übers. v. N. G. Schneider,Frankfurt/M. 2002, 87).

63 Das wirkt sich etwa so aus, dass die Menschenrechte weder als leere Abstraktion nationaler Bürgerrechteaufgefasst (Arendt) noch als folgenlose Selbstverständlichkeiten kritisiert, sondern als Möglichkeit einerdissensuellen politischen Subjektwerdung radikalisiert werden. In Konflikten, in denen der Status politisch‚Hörbarer‘ auf dem Spiel steht, können Menschenrechte gerade mit ihrem universalen Anspruch polemischInterventionen stützen, die Rechte erkämpfen sollen. Der Disput um die Bedeutung ermöglicht, dass sich

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Politisches ereignet; vgl. J. Rancière, Who Is the Subject of the Rights of Man?, in: South Atlantic Quarterly,103 (2004), Nr. 2/3, 297–310.

64 A. Badiou, Abrégé de métapolitique, 34; dt. 39; vgl. S. Zizek, Die Tücke des Subjekts, übers. v. E. Gilmeru. a., Frankfurt/M. 2001, 184.

65 A. Badiou, Wahrheiten und Gerechtigkeit, übers. v. I. Vodoz, in: R. Riha (Hg.), Politik der Wahrheit, Wien1997, 54–63, hier: 56. Dieser Satz findet sich im Original, fehlt aber in der Übersetzung des titelgleichenKapitels aus: A. Badiou, Abrégé de métapolitique, a. a. O., 112; dt. 111.

66 Ders., On Evil: An Interview with Alain Badiou, in: Cabinet Magazine Online, Nr. 5 (2001/02), Elektroni-sche Ressource, am 15. August 2005 eingesehen unter: www.cabinetmagazine.org/issues/5/alainbadiou.php.

67 Ders., L’éthique. Essai sur la conscience du mal, Neuaufl., Paris 2003, 63; dt.: Ethik. Versuch über dasBewusstsein des Bösen, übers. v. J. Brankel, Wien 2003, 63. Die Treue hat die Funktion, die subjektiveEntscheidung zu ‚objektivieren‘, insofern sie sich von einer bloßen, beliebig wechselbaren Dispositionunterscheidet; vgl. A. G. Düttmann, What Remains of Fidelity after Serious Thought, in: P. Hallward (Hg.),Think Again. Alain Badiou and the Future of Philosophy, New York 2004, 202–207, hier: 204.

68 Vgl. A. Badiou, Abrégé de métapolitique, a. a. O., 101; dt. 101; ders., Philosophie und Politik, übers. v. R.Riha, in: R. Riha (Hg.), Politik der Wahrheit, a. a. O., 31–45, hier: 39; sowie J.-P. Sartre, Critique de la raisondialectique, Bd. I: Théorie des ensembles pratiques, Paris 1960, 453 ff.; dt.: Kritik der dialektischen Vernunft,1. Bd.: Theorie der gesellschaftlichen Praxis, übers. v. T. König, Reinbek 1967, 464 ff.; vgl. zum FolgendenTh. Bedorf, Andro-fraternozentrismus – Von der Brüderlichkeit zur Solidarität und zurück, in: ders. u. A.Cremonini (Hg.), Verfehlte Begegnung. Levinas und Sartre als philosophische Zeitgenossen, München 2005,223–257.

69 Vgl. A. Badiou, L’offrande réservée, in: F. Guibal u. J.-C. Martin (Hg.), Sens en tous sens, a. a. O., 13–24,hier: 16.

70 Vgl. S. Zizek, Die Tücke des Subjekts, a. a. O., 177. Dass diese Beliebigkeit als „dekonstruktivistischeFiktion“ (ebd., 176) treffend charakterisiert ist, darf man hingegen bezweifeln.

71 J. Rancière, Le partage du sensible, Paris 2000; dt.: Die Aufteilung der sinnlichen Welt, übers. v. J. Link, in:kultuRRevolution, Nr. 41/42 (2001), 122–135.

72 J.-P. Sartre, L’être et le néant, a. a. O., 136; dt. 195.73 Ebd., 138; dt. 198.74 J.-P. Sartre, Situations, II. Qu’est-ce que la littérature?, Paris 1948, 313; dt.: Was ist Literatur?, übers. v.

T. König, Reinbek 1984, 223.75 Wie Nietzsche, so versteht sich auch Nancy als Denker eines momenthaften, kontingenten Wir; vgl. J.-L.

Nancy, Nichts jenseits des Nihilismus, in: ders., La pensée dérobée, Paris 2001, 159–165; dt.: Nichtsjenseits des Nihilismus, übers. v. U. Oudée Dünkelsbühler, in: Die Zeit, Nr. 35, 2000.

76 Nancy selbst setzt seine Philosophie der subjektphilosophischen Ausrichtung Sartres ausdrücklich entgegen(vgl. J.-L. Nancy, La communauté desœuvrée, a. a. O., 17; dt. 16). Das hindert ihn nicht daran, dessenGrundintention auf dem Boden einer pluralen Seinsverfassung zu wiederholen (vgl. auch Nancys Text überSartre und Bataille, in dem vermittels einer waghalsigen Umdeutung Sartre als Kronzeuge für den Sinn alsKommunikation an den Anderen vorgeführt wird: J.-L. Nancy, La pensée dérobée, in: ders., La penséedérobée, a. a. O., 27–43).

77 J.-L. Nancy, L’oubli de la philosophie, a. a. O., 101; dt. 107; vgl. ders., Être singulier pluriel, a. a. O., 22;dt. 23.

78 A. Badiou, Geständnis eines Philosophen, in: ders., Ethik, a. a. O., 119–145, hier: 138.79 Ebd.80 Vgl. A. Badiou, Abrégé de métapolitique, a. a. O., 145; dt. 141.81 Ebd., 160; dt. 155.82 A. Badiou, L’éthique, a. a. O., 43; dt. 40.83 Bei Badious angedeuteter Logik des Mannigfaltigen handelt es sich nicht um eine zu Zwecken des politischen

Denkens angefertigte Handreichung. Jede auch nur annähernd angemessene Diskussion dieser Theorie desVielen hätte sein jüngst auf Deutsch erschienenes Hauptwerk L’être et l’événement (Paris 1988) zu berücksich-tigen (vgl. A. Badiou, Das Sein und das Ereignis, übers. v. G. Kamecke, Berlin 2005). Da dies hier in keinerWeise beabsichtigt ist, beschränke ich mich auf die für das politische Denken einschlägigen Texte.

84 Vgl. A. Badiou, Abrégé de métapolitique, a. a. O., 56; dt. 60.

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85 Ders., L’être et l’événement, a. a. O., 229; dt. 235; vgl. S. Zizek, Die Tücke des Subjekts, a. a. O., 183. 86 Ders., L’être et l’événement, a. a. O., 202; dt. 208. 87 S. Zizek, Die politische Suspension des Ethischen, übers. v. J. Hagestedt, Frankfurt/M. 2005, 167. „Auch

als Politik ist die Freiheit der Sprung.“ (J.-L. Nancy, L’expérience de la liberté, a. a. O., 105) 88 Spätestens hier dürfte sich die Frage stellen, wie sich denn das hier diskutierte Feld zu anderen als bloß dem

Sartreschen Vorbild verhält, etwa zu Carl Schmitts Emphase der Entscheidung oder Georges Batailles Begriffder Souveränität. Dass die verhandelten Autoren mit der Ausnahme des genannten Aufsatzes von Nancy überSartre und Bataille diese Bezüge kaum selbst herstellen, kann keine Entschuldigung für deren Nicht-Thematisierung sein. Ihre Untersuchung muss dennoch aus Gründen der Selbstbeschränkung einer anderenGelegenheit vorbehalten bleiben.

89 J.-L. Nancy, La création du monde, a. a. O., 47; dt. 41. 90 Ders., Être singulier pluriel, a. a. O., 110; dt. 134. 91 Vgl. ders., La création du monde, a. a. O., 63; dt. 54 f. Zu den Möglichkeiten, die Nancys Entwurf im Blick

auf internationale Politik bietet, vgl. F. Dallmayr, An ‚inoperative‘ global community? Reflections on Nancy,in: D. Sheppard u. a. (Hg.), On Jean-Luc Nancy. The sense of philosophy, London 1997, 174–196.

92 Die These einer existentialistischen Bewältigung der Kontingenz, die hier vertreten wird, bezieht sichzunächst auf die politische Übersetzung einer radikalen Pluralität. Dass Nancys Philosophie selbst sich einemDezisionismus widersetzt, steht auf einem anderen Blatt. In einer minutiösen Deutung von Sein und Zeit hatNancy die Innerweltlichkeit einer jeden Entscheidung (als Unterscheidung) betont. Daraus resultiert einMoment der Passivität einer jeden Entscheidung. „,Entscheiden‘ [décider] würde also nicht bedeuten, dieseoder jene ‚Wahrheit‘, diesen oder jenen ‚Sinn‘ der Existenz zu ergreifen [trancher] – sondern sich derUnentscheidbarkeit des Sinns auszusetzen, der die Existenz ist.“ (J.-L. Nancy, La décision d’existence, in:ders., Une pensée finie, Paris 1990, 107–145, hier: 128; vgl. auch ders., L’expérience de la liberté, a. a. O.,183 f.) Wenn demzufolge die Entscheidung auf der Ebene des pluralen Sinns als unentscheidbar entschärftwird, müsste man die Konstitution der politischen Gemeinschaften in Badious Wahrheitsereignissen als„sekundäre“ Entscheidungen auffassen. Nur um diese geht es hier.

93 J.-L. Nancy, Le sens du monde, a. a. O., 176; dt. 133. 94 Ebd., 178; dt. 134. 95 „Bündel“ übersetzt hier Nancys Metapher des „faisceau“, das an die Etymologie des Faschismus erinnert

(vgl. ebd., 177; dt. 134). 96 Ebd., 178; dt. 134. 97 Vgl. ebd., 180; dt. 135. Die „prise de parole“ hatte bereits Michel de Certeau als Motiv seiner expressiven

Politik gewählt (vgl. M. de Certeau, La prise de parole et autres écrits politiques, hg. v. L. Giard, Paris 1994).Auch Rancière zieht eine Parallele zwischen Nancys Politik und seiner eigenen Theorie der Subjektwerdung durchAusrufung einer Neubeschreibung des sozialen Ganzen (vgl. J. Rancière, La Mésentente, 61, Fn.; dt. 48 f., Fn.).

98 Vgl. J.-L. Nancy, Le sens du monde, a. a. O., 182; dt. 137. 99 Rancière ist da eindeutiger. Beispielsweise lässt sich die Revolte in den französischen banlieues im Herbst

2005 in Richtung eines Begehrens nach Ausdruck deuten. Wenn unklar ist, wer hier eigentlich der Akteur istund welcher Kampf hier überhaupt geführt wird (war es ein Kampf?), liegt es nahe, so Rancière, in denRevoltierenden das Begehren zu sehen, überhaupt zu teilhabenden Subjekten mit Stimme zu werden; vgl. J.-B.Marongiu, Le scandale démocratique. Une charge en deux temps de Jacques Rancière contre le consensusambiant, in: Libération, 15. Dezember 2005.

100 A. Badiou, Saint Paul. La fondation de l’universalisme, Paris 42002, 103.101 J.-F. Lyotard, Domus et la mégapole, in: ders., L’inhumain. Causeries sur le temps, Paris 1988, 203–215,

hier: 209; dt.: Domus und die Megalopole, in: ders., Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit, übers. v.Ch. Pries, Wien 1989, 319–340, hier: 329 (der Ausdruck ist in der deutschen Übersetzung ausgelassen).

102 A. Badiou, Abrégé de métapolitique, a. a. O., 112; dt. 111.103 Eine solche Theorie des responsiven Subjekts ist in den Werken von Emmanuel Levinas, Jacques Derrida und

Bernhard Waldenfels ausführlich entwickelt worden, deren Gemeinsamkeit ich in dieser Skizze als Beiträge zueiner Philosophie der Alterität auffasse. Warum es in diesem Sachzusammenhang keinen Grund gibt, zwi-schen Andersheit und Fremdheit zu unterscheiden, habe ich andernorts zu zeigen versucht; vgl. Th. Bedorf,Die Konjunktur des Fremden und der Begriff des Anderen, in: K. Röttgers u. M. Schmitz-Emans (Hg.), DieFremde, Essen 2007, 23–38.

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104 E. Levinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, übers. v. W. N. Krewani, Freiburg1987, 23; Orig.: Totalité et Infini. Essai sur l’extériorité, Den Haag 41974, XII.

105 E. Levinas, De l’existence à l’existant, Paris 21998, 165; dt.: Vom Sein zum Seienden, übers. v. A. M.Krewani u. N. W. Krewani, München 1997, 119.

106 Vgl. zu diesem Modell ausführlicher Th. Bedorf, Dimensionen des Dritten. Sozialphilosophische Modellezwischen Ethischem und Politischem, München 2003.

107 Vgl. ders., The Irreducible Conflict. Subjectivity, Alterity and the Third, in: Archivio di filosofia, 64 (2007),45–56. Dem Modell eines Widerstreits scheint sich Nancy bisweilen anzunähern, ohne daraus jedochsystematisch Konsequenzen zu ziehen; vgl. J.-L. Nancy, Tout est-il politique? (simple note), in: ActuelMarx, Nr. 28 (2000), 77–82.

108 J.-L. Nancy, Être singulier pluriel, a. a. O., 101 f.; dt. 122 f. (Übersetzung leicht verändert).109 Daher ist denn auch Francis Guibals Versuch, zwischen Levinas und Nancy eher einen „Chiasmus“ als eine

Opposition zu sehen, nur dann nachzuvollziehen, wenn man diese Alternative nicht so stark macht, wie iches soeben getan habe (vgl. F. Guibal, Sans retour et sans recours, in: ders. u. J.-C. Martin [Hg.], Sens en toussens, a. a. O., 59–103, hier: 78). Guibal betont allerdings die „proximité distante“ (ebd., 99), ohne dieharschen Oppositionen gänzlich zu leugnen (vgl., ebd., 78, 89).

110 Vgl. J.-L. Nancy, Être singulier pluriel, a. a. O., 105; dt. 127.111 Ders., Le chant du départ, a. a. O., 345. Ähnlich vereinfacht Rancière den Dritten, indem er sie auf eine reine

Beobachterposition festlegt; vgl. J. Rancière, La Mésentente, a. a. O., 76; dt. 59.112 „Nancys Konzeption des Mit-Seins läuft Gefahr, Intersubjektivität auf eine Beziehung der Wechselseitigkeit,

Gleichheit und Symmetrie zu reduzieren, in der ich Schulter an Schulter mit dem Anderen stehe, ihn jedochnicht als Gesicht vor mir habe.“ (S. Critchley, With Being-With? Notes on Jean-Luc Nancy’s Rewriting ofBeing and Time, in: Phänomenologische Forschungen, 3 [1998], 198–210, hier: 210, Wiederabdruck in:ders., Ethics – Politics – Subjectivity. Essays on Derrida, Levinas and Contemporary French Thought,London 1999, 239–253, hier: 251). Mir scheint, dass dies richtig, aber noch zu vorsichtig ausgedrückt ist.Nancys Ontologie läuft nicht nur Gefahr, Intersubjektivität zu reduzieren, sondern darin besteht das entschei-dende Problem.

113 J.-L. Nancy, Le chant du départ, a. a. O., 345.114 Vgl. ders., Être singulier pluriel, a. a. O., 52, Fn.; dt. 61, Fn. 32. Die Konsequenzen der Alternative von

Alterität und Pluralität hat bereits Maurice Blanchot zum Thema gemacht; vgl. M. Blanchot, La communautéinavouable, Paris 1983, 12; sowie dazu R. Bernasconi, On Deconstructing Nostalgia for Community withinthe West: The Debate between Nancy and Blanchot, in: Research in Phenomenology, 23 (1993), 3–21.

115 Vgl. J. Derrida u. J.-L. Nancy, Responsabilité – Du sens à venir, a. a. O., 182 f.; sowie J.-L. Nancy, Repondredu sens, in: ders., La pensée dérobée, a. a. O., 167–177; dt.: Verantwortung des Sinns, übers. v. J. Wolf, in:M. Schuller u. E. Strowick (Hg.), Singularitäten. Literatur – Wissenschaft – Verantwortung, Freiburg 2001,15–27.

116 Eine aufschlussreiche Interpretation dieses Dilemmas gibt James Gilbert-Walsh, indem er den normativenImperativ als pluralisierte Adressierung rekonstruiert. Das soziale Band des „Mit-seins“ konstituiert „uns“zugleich als Einzelne und als gebrochene Gemeinschaft. In diesem Ereignis überträgt die Notwendigkeit, denSinn dessen, als was wir die Anderen begreifen und als wen uns die Anderen behandeln, je neu zu finden, einenormative Form der Adressierung des Anderen und vom Anderen. Doch die Asymmetrie, die Gilbert-Walshin Anlehnung an Levinas hier sehen will, ist mit dieser Identifizierung von (singulärer) Alterität und (pluraler)Singularität nicht zu konzipieren; vgl. J. Gilbert-Walsh, Broken Imperatives. The ethical dimension ofNancy’s thought, in: Philosophy & Social Criticism, 26 (2000), Nr. 2, 29–50, insbes. 42–46.

117 J. Derrida u. J.-L. Nancy, Responsabilité – Du sens à venir, a. a. O., 184.118 Ebd., 185.119 Vgl. J.-L. Nancy, L’amour en éclats, in: ders., Une pensée finie, a. a. O., 225–268, hier: 261.120 Vgl. J. Derrida, Le toucher, Jean-Luc Nancy, Paris 2000, 109.121 Ebd., 107; vgl. F. Guibal, Sans retour et sans recours, a. a. O., 64 f.122 Slavoj Zizeks Position wäre in dieser Gruppe der Ablehnung alteritätsphilosophischer Ausgangspunkte noch

zu ergänzen. Auch wenn Levinas – wie im Falle Badious – gegen humanitäre Vereinfachungen verteidigt wird,so lautet der zentrale Vorwurf doch, dass sich mit Levinas bloß ethisch und nicht politisch (im Sinne desAntagonismus von Singularitäten) denken lässt. Was die Ebene des Dritten nach Levinas konzeptualisierbar

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macht, wird hier erstaunlich phantasielos gedacht (vgl. S. Zizek, Die politische Suspension des Ethischen,a. a. O., 28 f., 36 f., 40). – Die Verwerfung der Alterität bei Badiou ist auch der zentrale Einwand von SimonCritchley (vgl. ders., Demanding approval. On the ethics of Alain Badiou, in: Radical Philosophy, Nr. 100[2000], März/April, 16–27).

123 Vgl. A. Badiou, L’éthique, a. a. O., 34 f.; dt. 33 f.124 Zizek hebt in seiner Interpretation Badious hervor, dass die Offenheit für Andersheit gerade einen Aufschub der

Entscheidung impliziert, was Badious Intentionen zuwiderläuft (vgl. S. Zizek, Die Tücke des Subjekts,a. a. O., 187). Ob die unmögliche, aber notwendige Antwort auf den Appell des Anderen sich tatsächlich soresümieren lässt, ist zumindest fraglich.

125 Vgl. A. Badiou, L’éthique, a. a. O., 65; dt. 65.126 Ebd., 43; dt. 41.127 „Die Singularität, das heißt […] die Alterität.“ (J.-L. Nancy, La communauté desœuvrée, a. a. O., 70; dt. 62)128 „Sie schlägt vor, das Verschwinden der politischen Alteritätsfiguren mit der unendlichen Alterität des Anderen

wieder gutzumachen.“ (J. Rancière, La Mésentente, a. a. O., 183; dt. 144 [Übersetzung leicht verändert]) Wases im Sinne Rancières bedeutet, „die“ Anderen nicht ethisch, sondern politisch als Erschütterung derIdentität zu begreifen, lässt sich an einem Aufsatz zum Verhältnis Frankreich-Algerien ablesen: J. Rancière, Lacause de l’autre, in: ders., Aux bords du politique, Paris 32004, 202–220.

129 So formuliert Badiou auch seine Kritik an Lyotards In-Wert-Setzung des Widerstreits als solchem; vgl.A. Badiou, Débat général, in: ders., Témoigner du différend… quand phraser ne se peut. Autour de Jean-François Lyotard, Paris 1989, 87–126, hier: 110–112.

130 Vgl. Ch. Gowans, Innocence Lost: An Examination of Inescapable Moral Wrongdoing, New York 1994. Mandenke auch an Sartres Drama Les mains sales. Zu Nancys Bemühen, das Politische ‚rein‘ zu halten, vgl.S. Critchley, The Ethics of deconstruction. Derrida and Levinas, West Lafayette/Ind. 21999, 215 f.

131 Davon wäre zu unterscheiden, dass Badiou den Terror gut leninistisch nicht moralisiert, sondern als Konse-quenz der Treue zu einer Wahrheitsprozedur betrachtet (vgl. A. Badiou, Abrégé de métapolitique, a. a. O.,153 f.; dt. 149). Denn insofern Entscheidungen im jakobinischen Denken nicht durch Gewalt irritierbar sind,können dadurch auch keine moralischen oder politischen Komplikationen [dirty hands] hervorgerufen wer-den.

132 Ähnlich argumentiert in Auseinandersetzung mit Badious Verhältnis zum Marxismus: D. Bensaïd, AlainBadiou and the Miracle of the Event, in: P. Hallward (Hg.), Think Again, a. a. O., 94–105, insbes. 98 u. 101.

133 Mit diesem Appell endet La communautée desoeuvrée (vgl. J. L. Nancy, La communautée desoeuvrée,a. a. O., 278). Da die deutsche Übersetzung auf der Erstausgabe beruht, ist dieser in späteren Auflagenhinzugefügte Schluss darin nicht enthalten.

134 In dieser Abgrenzung wäre denn auch die Opposition zwischen Carl Schmitt und Helmuth Plessner zu sehen,die beide zu einer Philosophie des Bodenlosen zu zählen sind; vgl. V. Schürmann, Heitere Gelassenheit.Grundriss einer parteilichen Skepsis, Magdeburg 2002, 125 ff.; sowie N. A. Richter, Grenzen der Ordnung.Bausteine einer Philosophie des politischen Handelns nach Plessner und Foucault, Frankfurt/M. 2005.

135 Nancys Absehen von der Unausweichlichkeit und Produktivität der Politik steht im Zentrum der Kritik von:A. Norris, Jean-Luc Nancy and the Myth of the Common, in: Constellations, 7 (2000), 272–295, hier: 274.

136 J.-L. Nancy, La comparution, a. a. O., 97; dt. 194.137 Ebd., 98; dt. 194 (Übersetzung leicht verändert).138 Ebd.139 Dass nicht vielfältige Formen von Konflikten, sondern bloß jene paradigmatischen Zuschnitts in den Blick

kommen, liegt daran, dass das Entweder-Oder der „Teilhabe der Anteilslosen“ (J. Rancière, La Mésentente,a. a. O., 28; dt. 22) noch zu sehr vom Klassenkonflikt gedacht wird; vgl. B. Liebsch, Widerstreit und Dissens.Kritische Überlegungen zum polemos bei Jacques Rancière, in: H. Vetter u. M. Flatscher (Hg.), HermeneutischePhänomenologie – phänomenologische Hermeneutik, Frankfurt/M. 2005, 135–155, hier: 147.

140 Vgl. A. Badiou, On Evil, a. a. O.141 D. Bensaïd, Alain Badiou and the Miracle of the Event, a. a. O., 103.142 Vgl. ebd. Badious Prämisse, dass weder ‚Identitäten‘ noch ‚Werte‘ die Grundlage für universale Präskriptio-

nen abgeben dürfen, sondern allein der Anspruch auf Gleichheit, führt im Falle des palästinensisch-israeli-schen Konfliktes zu einer zumindest einseitigen Argumentation. Kurz gesagt besteht Badious Position darin,dass Gewalt weder auf islamisch-fundamentalistischem Boden noch um des Erhalts eines „jüdischen“ Staates

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willen gerechtfertigt ist. Da Badiou die Shoah als historischen Grund für die Gründung des Staates Israelablehnt, werden beide Konfliktparteien auf ethnische Fundamentalismen reduziert. Diese sind nach Badiounur dadurch zu überwinden, dass Israel als säkularer Staat mit offenen Grenzen (re-)konzipiert wird und dieAntagonismen in dessen Innern in wechselnden Frontstellungen ausgetragen werden. Da die Verwirklichungdieses Ziels das Ende des Staates Israel, wie wir ihn kennen, bedeuten würde, haben Badious Äußerungen diezu erwartenden Wellen geschlagen. Vorsichtig gesagt mutet die Position angesichts der lokalen politischen,religiösen und globalen polit-ökonomischen Interessenverflechtungen zumindest unterkomplex an: vgl. A. Badiou,Circonstances, 3. Portées du mot „juif“, Paris 2005 ; sowie E. Marty, Alain Badiou: L’avenir d’une négation,in: Temps Modernes, Nr. 635 (nov. 2005–jan. 2006), 22–57; sowie die Repliken in derselben Zeitschrift, mars-juin 2006, 728–760. Slavoj Zizeks Verteidigung Badious in der Zeit (Hat die Freiheit eine Grenze?, übers. v.M. Adrian, in: Die Zeit, 9. August 2007) trägt ohne Kenntnis dieser Texte nicht viel zur Klärung bei.

143 J. Ratzinger, Einführung in das Christentum. Vorlesungen über das Apostolische Glaubenbekenntnis, München1968, 47.

144 Vgl. D. Wetzel, Diskurse des Politischen. Zwischen Re- und Dekonstruktion, München 2003, 227 ff.

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