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Axel Honneth liest Foucault Rekonstruktion eines Rezeptionsverlaufs Matthias Schmidt 29. Oktober 2007 Inhaltsverzeichnis 1 Disposition 2 2 Erste Lektüre — Kritik der Macht (1984) 3 2.1 Honneths Lesart der Diskursanalyse .............. 4 2.2 Honneths Lesart der Machttheorie ............... 10 2.2.1 Das Paradigma des Kampfes .............. 12 2.2.2 Alternative Lesarten ................... 13 3 Zweite Lektüre: Ethos der Moderne (1990) 18 4 Dritte Lektüre — Foucault-Konferenz (2001) 20 5 Literaturverzeichnis 24 1

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Axel Honneth liest FoucaultRekonstruktion eines Rezeptionsverlaufs

Matthias Schmidt

29. Oktober 2007

Inhaltsverzeichnis

1 Disposition 2

2 Erste Lektüre — Kritik der Macht (1984) 32.1 Honneths Lesart der Diskursanalyse . . . . . . . . . . . . . . 42.2 Honneths Lesart der Machttheorie . . . . . . . . . . . . . . . 10

2.2.1 Das Paradigma des Kampfes . . . . . . . . . . . . . . 122.2.2 Alternative Lesarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

3 Zweite Lektüre: Ethos der Moderne (1990) 18

4 Dritte Lektüre — Foucault-Konferenz (2001) 20

5 Literaturverzeichnis 24

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1 Disposition

Das grundsätzliche Vorhaben dieser Arbeit scheint das Ergebnis einiger Re-duktionen zu sein, die sich aus dem drohenden Umfang der anzustellendenÜberlegungen ergeben. Um einen Eindruck der Rezeption des Foucault’schenWerkes in Deutschland widergeben und zudem einen kritischen Blick auf dievermeintlichen Deformationen oder spezifizierenden Lesarten ermöglichen zukönnen, bedarf es der Fokussierung, weshalb Axel Honneths früher Versuch1,die Philosophie Foucaults mitsamt ihren gesellschaftstheoretischen Implika-tionen zu erfassen, als repräsentative Rezeptionsetappe betrachtet werdensoll. Diese Arbeit, welche zu einem großen Teil aus der DissertationsschriftHonneths besteht, lieferte eine gewagte Interpretation der Möglichkeiten desFoucault’schen Gedankengutes und markiert zudem den Ausgangspunkt ei-ner langjährigen Beschäftigung mit demselben, welche sich über Jahrzehntehinweg verfolgen lässt. Ein anfänglich relativ enger Blickwinkel wandelte sichso zum Vorhaben einer produktiven Annäherung an einige zentrale MotiveFoucaults, was in der folgenden Arbeit, trotz der gebotenen Kürze, nach-gezeichnet werden soll. Ich werde dabei in einem ersten Schritt aufzuzeigenversuchen, inwiefern Honneths frühe Beschäftigung Prämissen supponiert,die zu einem verzerrenden Blick auf die Machtkonzeption Foucaults führenmussten. Zweitens sollen die nachfolgenden Äußerungen Honneths soweitdargestellt werden, als sie einen Rückschluss auf eine Veränderung der frü-hen Position zulassen. Zuletzt möchte ich noch kurz auf eine von Honnethmitorganisierte Tagung aus dem Jahr 2001 eingehen, auf welcher nicht nurdie Tagungsbeiträge ein kritisches Licht auf den frühen Ausgangspunkt zuwerfen vermögen, sondern auch Honneths eigene Perspektive sich als weit-gehend spezifizierte zu erkennen gibt.

Die umfangreichen Wechselwirkungen mit vorausgegangenen Kommenta-ren zu Foucault, die breitere Rezeption von diesem innerhalb der philosophi-schen Richtung, die vage als Kritische Theorie adressiert werden kann, wieauch die spezifischen Voraussetzungen von Honneth können insofern nichtausreichend verfolgt und dargestellt werden. Zudem möchte ich andererseitskeine vermeintlich ’richtige’ Position Foucaults zu konstruieren suchen, daim bestehenden Fall Hinweise auf ausgeklammerte Potentiale seines Den-kens hilfreicher und entsprechender sein werden und auch die von Honnethselbst durchgeführte Revision seiner Kritik einen zunehmend adäquaten Ein-druck von Foucaults Werk liefert.Die verwendete Literatur beschränkt sich außerdem, sofern man von Deleu-ze’ Schrift2 absieht, auf Beiträge, die Axel Honneth ebenfalls zur Verfügungstehen mussten, da sie meist aus dem Umfeld seiner von ihm publizierten

1Honneth, Axel: Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheo-rie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985. Im Folgenden zitiert als Kritik der Macht.

2Deleuze, Gilles: Foucault. Übersetzt v. Hermann Kocyba. Frankfurt a. M.: Suhrkamp52006. Im Folgenden zitiert als: Deleuze.

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Beschäftigungen mit Foucault stammen. Von Foucaults Schriften habe ichvor allem jene herangezogen, welche in Honneths erster Auseinandersetzungmit diesem berücksichtigt werden konnten — späte Außerungen, die wo-möglich andere Aspekte betont hätten, wurden insofern gleichermaßen nichtmiteinbezogen.

2 Erste Lektüre — Kritik der Macht (1984)

Axel Honneths erste Auseinandersetzung mit den Schriften Foucaults trittnicht als eine isolierte, nur auf Foucault zentrierte Studie auf, da in sei-ner 1985 erstmals erschienenen Schrift Kritik der Macht eine chronologischrekonstruierte Stufenfolge von kritischen Theoriemodellen der Gesellschaftgezeichnet werden soll. Nach anfänglichen Blicken auf die frühe Konzepti-on Max Horkheimers und die daraus letztlich resultierende Dialektik derAufklärung, welche dieser gemeinsam mit Adorno im Exil verfasste, kommtHonneth zu dem Schluss, dass die soweit gediehene Kritische Theorie keinwirksames Instrumentarium für eine Analyse der sozialen Vorgänge innerhalbeiner Gesellschaft entwickeln konnte.3 Ein rein auf die Instrumentalisierung— als Inversion des aufklärerischen Denkens — ausgerichtetes Erkenntnis-modell verfehle die eigentlich spontane Selbstorganisationsmöglichkeit derSubjekte, da Formen des diskursiv erdachten Widerstandes beim späten,rein auf die Aufsässigkeit des ästhetisch Partikularen fokussierten Adornonicht berücksichtigt werden könnten. Dem entgegen soll, gleichsam als the-ma probandum, eine spezifische Form des Sozialen dadurch in den Blickgerückt werden, indem die Kommunikationsleistung und die daran anknüp-fende kooperative gesellschaftliche Kompetenz der intersubjektiv verwobe-nen Individuen im Sinne von Habermas kritisch rekonstruiert werden.4 Indieser Atmosphäre einer soliden Vernunftkonzeption, welche auf einen mo-dernen Subjektbegriff nicht zu verzichten gewillt ist, wird die vermeintlichsoziologische Gesellschaftsanalyse Foucaults als ein kritisch zu beäugendesIntermezzo eingeschoben, da diese ebenso als eine historisch ausholende Ver-nunftkritik wie die Dialektik der Aufklärung aufgefasst werden soll, wobeiHonneth davon auszugehen scheint, dass die Aufgabenstellung beider Posi-tionen sich weitgehend decke.5 Die Analyse von Foucaults Position wird indrei Schritten unternommen: Zuerst soll das Verfahren der Diskursanalyseals ein semiologisch inspiriertes untersucht werden, welches aufgrund vonstrukturalistisch-verknappten Grundannahmen die eigene Zielsetzung einer

3”Soziale Herrschaftsformen erscheinen jetzt umstandslos als innergesellschaftliche De-rivate einer naturbeherrschenden Verfügungstätigkeit, die der gesellschaftlichen Herrschaftunterworfenen Subjekte gelten in metaphorischer Analogie zur instrumentalisierten Naturals passive Opfer.” Kritik der Macht, S. 116.

4Vgl. die abschließenden Kapitel 7–9 von Kritik der Macht, S. 225–334.5Vgl. zB: Kritik der Macht, S. 120.

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”Ethnologie der eigenen Gesellschaft”6 verfehlen muss. Als eine thematischeNeuorientierung, welche Honneth als eine Abkehr von einer rein semiologi-schen Verfahrensweise deutet, soll in einem zweiten Schritt die Machttheo-rie Foucaults als eine Perspektive auf soziale Grundstrukturen dargestelltwerden. Hierbei geht Honneth von einem grundlegenden Kampf als ”Para-digma des Sozialen”7 aus. Abschließend soll in einem dritten Schritt auf-gezeigt werden, inwiefern diese vermeintliche Konzeption Foucaults als einesystemtheoretische Auflösung der Grundproblematik einer Aufklärung derVernunft verstanden werden müsste.

Im Folgenden werde ich vor allem auf die Darstellung der Foucault’schenMachtkonzeption eingehen8, da diese auf einigen ausgesprochen perspektivi-schen Annahmen fußt, welche die Einschätzung der Grundannahmen Fou-caults relativ deutlich hervortreten lassen.

2.1 Honneths Lesart der Diskursanalyse

Diskursanalyse, wie sie Foucault bis zu Die Ordnung des Diskurses vollzogenhaben soll, wird von Honneth als eine Form der Wissensgeschichte aufgefasst.Hierbei stellt die herausragende Position der Psychoanalyse und der Ethno-logie, welche Foucault gegen Ende von Die Ordnung der Dinge9 entwickelt,den Abstoßungspunkt dar, von wo aus Honneth schließt, dass die PositionFoucaults eine souveräne Betrachterperspektive zu mimen versucht, welcheeinen relativ objektiven Eindruck der Wissensvoraussetzungen einer Epocheerhascht haben wollte.10 In Anlehnung an die strukturalistische Ethnologievon Lévi-Strauss soll die diskursanalytische Verfahrensweise Foucaults vorallem aus zwei Schritten bestehen:

... denn Lévi-Strauss war es, der die Untersuchung archaischer Gesell-schaften einem wissenschaftlichen Verfahren unterstellte, das die ethno-logisch interessierenden Phänomenbereiche des Heiratsverhaltens oderder Mythenerzählung zunächst sprachtheoretisch als in sich geschlos-sene Zeichensysteme erfaßt, diese dann in einem zweiten Schritt auf

6Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaf-ten. Übersetzt v. Ulrich Köppen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 91989. (= stw 96) S. 451. ImFolgenden zitiert als: Ordnung der Dinge.

7Kritik der Macht, S. 168.8Vgl.: Kritik der Macht, Kapitel 5.9Vgl.: Ordnung der Dinge, S. 447ff., besonders aber S. 453: ”Das Privileg der Ethnologie

und der Psychoanalyse, der Grund ihrer tiefen Verwandtschaft und ihrer Symmetrie sindalso nicht in einer bestimmten Sorge zu suchen, die sie beide hätten, das tiefe Rätsel, dengeheimnisvollsten Teil der Natur zu durchdringen. Tatsächlich spiegelt sich im Raum ihresDiskurses viel eher das historische Apriori aller Wissenschaften über den Menschen — diegroßen Zäsuren, die Furchen, die Trennungen, die in der abendländischen episteme dasProfil des Menschen umrissen und ihn für ein mögliches Wissen disponiert haben.”

10Dieser Initialeinwand soll sich auch, wie weiter unten deutlich werden soll, als konti-nuierliche Reibungsfläche über Jahre hinweg erhalten.

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ihre jeweils kleinsten Informationselemente hin zergliedert und schließ-lich in der Rekonstruktion ihrer je spezifischen Verknüpfungsregeln einStück der unbewußten Logik einer Kultur freilegt.11

Diese Methodik glaubt Honneth in der Diskursanalyse erkennen zu können,welche demnach historische Wissensformationen der eigenen Kultur als ge-schlossene Strukturen thetisch annimmt, um danach die internen Beziehun-gen der atomisierten ’Zeichen’ untereinander zu rekonstruieren. Hier tretenoffenkundig die programmatischen Äußerungen von Roland Barthes hervor,welcher die ’strukturalistische Tätigkeit’ als durch ”zwei typische Operatio-nen” gekennzeichnete fasste, nämlich ”Zerlegung und Arrangement”.12 Zwei-felsohne legen einige Formulierungen von Foucault einen derartigen Schlusszumindest nahe, beispielsweise wenn er einleitend fragt, wie zu verfahren wä-re, wenn ”empirisches Wissen zu einer gegebenen Zeit und innerhalb einer ge-gebenen Kultur wirklich eine wohldefinierte Regelmäßigkeit besäße?”13 Auchdie Rede vom spezifischen, epistemologischen Raum als ”positives Unbewus-stes”14 könnte dazu verleitet haben anzunehmen, dass hier ein vermeintlichesEs zu einem Ich gemacht werden sollte, welches die erkenntnistheoretischeWirkungsweise einer Periode womöglich sogar zu umfassen intendieren wür-de. Ein derartiger Schluss wird von Honneth in weiterer Folge auch gezogen,da die eindeutig strukturalistische Manier, in welcher verfahren worden sei,den Diskurs als eine totale Aussagenformation erscheinen lässt, welche überder faktischen Lebenssphäre kreisend diese determiniert:

Da selbst die elementarsten Denkoperationen der menschlichen Indi-viduen immer in dem ontologischen Schematismus einer vorgängigenZeichenordnung befangen sind, stellen diejenigen Regeln, die jeweilsdie sachlich arbiträren Zeichen in eine spezifische Ordnung bringen,die eigentlichen Träger der Geistesgeschichte dar; die durch die anony-me Kraft von Regeln synthetisierten Zeichenordnungen wandeln sichnicht unter dem systematischen Anstoß von Erkenntnisproblemen, dasie auf solche ja gar nicht antworten, sondern unter dem zufälligenAnstoß von historischen Ereignissen.15

Es wird sogleich deutlich, dass vor allem die Absage an ein souveränes Sub-jekt16, welches als Grundbaustein einer sozialen Ordnung dienen müsste, dasHauptangriffsziel der Argumentation ausmacht. Ließe sich die Diskursanalyse

11Kritik der Macht: S. 122f.12Barthes, Roland: Die strukturalistische Tätigkeit. In: Texte zur Literaturtheorie der

Gegenwart. Hg. v. Dorothee Kimmich, Rolf G. Renner u. Bernd Stiegler. Stuttgart: Reclam1996. S. 215–223. Hier: 218.

13Ordnung der Dinge: S. 9.14Ebd.: S. 11.15Kritik der Macht: S. 142.16Vgl. zB: Ordnung der Dinge S. 453, wo von der Auflösung des Menschen die Rede

ist. Als Kontrastierung empfielt sich der nachträgliche Differenzierungsversuch von GillesDeleuze, welcher auf derartige Missverständnisse einzugehen sucht; in: Deleuze S. 175–189.

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als eine rein strukturalistische Rekonstitution von historischen Epochen ver-stehen, welche aufgrund der internen Zusammenhänge der einzelnen, signifi-kanten Entitäten zuerst dekomponiert und anschließend daraus konstruiertwürden, träfe die Kritik wohl zu. Die weiteren Ausführungen Honneths zumVerfahren der Archäologie und den Schwierigkeiten, die sich seiner Meinungnach aus dieser ergeben müssen17, ruhen allerdings auf dieser oben skizzier-ten Grundannahme auf, weshalb sie nicht im einzelnen dargestellt werdensollen. Diskurse als rein sprachliche, der konkreten Handlungssphäre ent-zogene Präformationssysteme zu verstehen, welche aufgrund ihrer Geschlos-senheit lediglich reglementierend und individuelle Souveränität beschneidendzur Wirkung kommen, widerspricht allerdings eindeutig der SelbstauffassungFoucaults.

Dieser versucht zuallererst den Verdacht einer spezifisch-historischen Un-tersuchung eines bestimmten Zeitraums abzuwehren:

Dieses Buch muß als eine vergleichende, nicht als eine symptomatolo-gische Studie gelesen werden. Meine Absicht war nicht, auf der Basiseines bestimmten Wissenstyps oder Ideenkorpus das Bild einer Epochezu zeichnen oder den Geist eines Jahrhunderts zu rekonstruieren. Wasich wollte, war, eine bestimmte Zahl von Elementen nebeneinander zuzeigen — das Wissen von den Lebewesen, das Wissen von den Geset-zen der Sprache und das Wissen der ökonomischen Fakten — und siemit dem philosophischen Diskurs ihrer Zeit in Verbindung zu setzenfür einen Zeitraum, der sich vom siebzehnten bis zum neunzehntenJahrhundert erstreckt.18

Deutlich wird hier vorerst einmal, dass eine Epoche nicht als ein geschlosse-ner Regelzusammenhang gefasst wird, um irgendeinen Sinngehalt innerhalbdieser Epoche von einer wie auch immer entfremdeten Position aus zu be-schreiben. Sofern man gewillt ist einen systematischen Zusammenhang in-nerhalb der isolierten Zeitspannen auszumachen, lässt sich dieser wohl einzigdifferentiell fassen, also als eine vergleichende Abgrenzung bestimmter histo-rischer Perioden untereinander. Eine strukturalistische Analyse aber, wie sievon Honneth diagnostiziert wird, wäre auf bestimmte Aussagen innerhalbdieses Zusammenhanges beschränkt — wohingegen Foucault bereits hier19

die Absicht präsentiert, eben nicht aus geschlossenen Strukturzusammenhän-gen zu folgern. Ganz im Gegenteil sollte die Dynamik einer epistemologischenEntwicklung, welche eine strukturalistische Momentaufnahme eskamotierte,untersucht beziehungsweise aufgewiesen werden:

17Beispielsweise das Missverständnis der Foucault’schen ”Aussage”, welche als elemen-tarer Bestandteil dieser Wissenssystematik fungieren, allerdings nicht trennscharf gefasstwerden können soll. (Kritik der Macht: S. 149ff.) Kontrastierend bietet sich wiederum einekonträre Interpretation von Deleuze an, welche er von S. 9–38 entwickelt.

18Ordnung der Dinge, S. 10.19Honneths Analyse beruht zum größten Teil auf der Archäologie des Wissens, welche

erst 1969, also drei Jahre nach Die Ordnung der Dinge erschien. Doch bereits hier findensich die wesentlichen Annahmen Honneths nicht in der unterstellten Form wieder.

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Und doch richtete sich mein hauptsächliches Interesse auf die Verän-derungen. In der Tat sind mir zwei Dinge besonders aufgefallen: diePlötzlichkeit und die Gründlichkeit, mit der bestimmte Wissenschaf-ten manchmal reorganisiert wurden; und die Tatsache, daß zur gleichenZeit ähnliche Veränderungen in offensichtlich sehr verschiedenen Dis-ziplinen auftraten.20

Damit verrutscht der vermeintliche Fokus Foucaults entscheidend, da derStatik einer Struktur plötzlich das Forschungsinteresse einer sich wandeln-den Epistemologie gegenübersteht. Wie bereits oben (in Fußnote 9) vorweg-genommen wurde, richtet sich der Blick des archäologischen Forschers hierauf die ”großen Zäsuren, die Furchen, die Trennungen, die in der abendländi-schen episteme das Profil des Menschen umrissen und ihn für ein möglichesWissen disponiert haben.”21 Foucault konstruiert also keine Regelmäßigkei-ten die das Erkenntnisschema aller Subjekte einer Epoche abdeckten, son-dern schließt darauf, dass es grobe Regelmäßigkeiten gegeben haben muss,wenn es drastische Umbrüche in wissenschaftlichen Herangehensweisen undAnforderungen geben konnte. Ex negativo soll also deutlicher gemacht wer-den, dass zu bestimmten Zeitpunkten das Wissen bestimmte Erscheinungs-und Formulierungsformen vorausgesetzt haben muss, welche sich eben auchrapide veränderten. Foucault bringt hierzu das Beispiel der Mendel’schenGesetze, welche von seinen Zeitgenossen nicht sofort akzeptiert beziehungs-weise weiterverwendet werden konnten, da sie bestimmte formale Vorausset-zungen nicht teilten.22 Diskurse dürfen insofern nicht verstanden werden alsjene Denkschemata, welche das transzendentale Bewusstein einer Epoche be-stimmen, sondern eher als jene Möglichkeiten innerhalb von Disziplinen, dieaufgrund einer bestimmten Auffassung von Wissenschaft und entsprechen-der Verifikation auf ihre Realität zugreifen.Einigermaßen zutreffend wirktauch die Beschreibung, Diskurse als Verbindungsstrategien von partikularenRealitätsauffassungen zu betrachten, die je nach ihrem Arrangement, ihrerwechselseitigen Verstärkung oder Hemmung historisch variieren. Der Diskursist keine universale, sprachliche Determinante, welche Subjekte in ihrer Seins-weise begrenzt, da Standpunkte außerhalb des Diskurses durchaus denkbarsind.23 Innerhalb der diskursiven Praktiken der Wissenschaft allerdings wares nicht immer möglich, alle Erkenntnisse zu formulieren, geschweige denn

20Ordnung der Dinge, S. 12.21Ordnung der Dinge, S. 447.22Vgl.: Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am Collège

de France, 2. Dezember 1970. In: Ders.: Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt a. M.: S.Fischer 92003. S. 25. Im Folgenden zitiert als: Ordnung des Diskurses.

23Inwiefern derartige Verknüpfungen von praktischen und theoretischen Ebenen imDiskurs von Anfang an angelegt waren ist natürlich in der Foucaultrezeption umstrit-ten. In der Archäologie des Wissens findet sich allerdings explizit der Bezug zu ”nicht-diskursiven Praktiken” (Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. Übersetzt v. UlrichKöppen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973. S.99.), weshalb Deleuze insgesamt eine Lesartreferiert, die eine erhebliche Kontinuität der supponierten Denkmodelle nahelegt.

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diese zu ersinnen. Foucaults Geschichte des Wissens begreift insofern kei-ne Strukturen, sondern bestimmt aufgrund von Diskontinuitäten notwendi-ge Sichtveränderungen auf eine vermeintliche Wirklichkeit. Perspektiven auffaktisch Gegebenes werden drastisch historisiert und insofern als eine notwen-dige Voraussetzung jeglicher Untersuchung mitangenommen. Allerdings zieltdie Analyse dieser Formen nicht darauf ab, bestimmte historische Bewusst-seinsstände exakt und vollständig aufzuschlüsseln, sondern verweist auf einekonstante Relativität in historischer und regionaler Hinsicht, da die aufwei-sende Untersuchung selbst sich dieser endlichen Bedingtheit nicht entziehenmöchte.24 Daher kann Paul Veyne formulieren:

Was also ist der Diskurs? Er ist das, was die Menschen tatsächlichtun, denken und sagen, im Gegensatz zu dem, was sie aufgrund einerständigen Universalitäts- und Rationalitätsillusion zu tun, zu denkenund zu sagen glauben.”25

Jene Subjektivität also, welche für Honneth irreduzibel mitgedacht werdenmuss, da auf ihren Schultern die Last einer grobgesagt ahistorischen, uni-versalen Vernunft lastet, wird von Foucault verabschiedet. Dadurch werdenPerspektiven auf epistemologische Invarianten wie auch auf historische Dis-positionen möglich, die von einer dialektischen Vernunft, welche konstantintendiert in einem Annäherungsverhältnis an eine Wirklichkeit scharf zutrennen sind. Andererseits verschwindet auch der Repressionscharakter desDiskurses, da dieser vielmehr als neutraler Äther einer Kommunikations-gemeinschaft verstanden werden muss, der sich trotz seiner Neutralität undsubjektiv vermeinten Transparenz historischemWandel ausgesetzt sieht. Ausdiesem Grund lässt sich auch nachvollziehen, warum Foucault den Diskursniemals zu definieren versucht hat26, sondern eine variable Sphäre der Sinn-applikation an die jeweilig wahrgenommenen Tatsachen — in ihren unter-schiedlichsten Erscheinungsformen — pauschal so bezeichnete. Diskurse ge-raten so von einem transzendentalen Hemmnis zu einem historisch indiziertenMöglichkeitsspielraum, in welchem Aussagen (als den Bedingungen entspre-chende Erkenntnisformationen) situiert werden konnten. Foucault betonte

24”Was das Problem der Fiktion angeht, so ist das für mich ein sehr bedeutendes Pro-blem; ich halte mir sehr wohl vor Augen, dass ich immer nur Fiktionen geschrieben habe.Ich will damit keineswegs sagen, dass dies außerhalb der Wahrheit ist. Mir scheint, esgibt die Möglichkeit, die Fiktion in der Wahrheit arbeiten zu lassen, Wahrheitseffekte miteinem Fiktionsdiskurs zu induzieren, und gewissermaßen dafür zu sorgen, dass der Wahr-heitsdiskurs etwas hervorruft, erzeugt, das noch nicht existiert, das er also »fiktioniert«.”(Foucault, Michel: Die Machtverhältnisse gehen in das Innere der Körper über. In: Ders.:Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band III, 1976–1979. Hg. v. Daniel Defert undFrançois Ewald. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003. S. 298–309. Hier: 309.)

25Veyne, Paul: Michel Foucaults Denken. In: Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Re-zeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001. Hg. v. Axel Honneth und Martin Saar.Frankfurt a. M.: Suhrkamp 22004. (= stw 1617) S. 27–51. Hier: S. 29

26Ebd.

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diesen Spielcharakter stets, egal ob es sich um ”Wahrheitsspiele”27 oder umjene von variablen Regelmäßigkeiten durchzogenen und ermöglichten Räu-me handelt, wie sie als ”Nicht-Raum”28 später entwickelt wurden.29 Diesverweist in der teilweise losen Regelmäßigkeit, welche dennoch zum Fundie-rungsverhältnis für Aussagen gereicht, auf den Begriff des Spieles, welchenauch Wittgenstein als charakteristische Denkfigur entwickelte.30

Sofern Diskurse allerdings aufgrund der diskontinuierlichen Abläufe ihresFunktionierens als Möglichkeiten erfasst werden, lässt sich einerseits verste-hen, warum Honneths Vernunftauffassung, welche mit der Habermas’schenAuffassung einer intersubjektiv geteilten, explizit ’modernen’ Vernunft ein-hergeht31, diese Tragweite in der Analyse ausblenden musste. Eine histo-risch in ihrem Wandel zu beobachtende ratio, die sich ihres Wesens nichtmehr unumstößlich sicher wäre, widerspräche allen Fundamenten kommuni-kativer Vernunft. Andererseits lässt sich auch resümieren, was Foucault vomStrukturalismus im engeren Sinn unterscheidet: Er folgt nicht so sehr den Be-dingungen des ”Erscheinens von Sinn ..., sondern vielmehr nach denen seinerUnterbrechung oder Veränderung.” und kritisiere zudem, dass der Struktu-ralismus das linguistische Modell verabsolutiere und ihm daher Bedeutun-gen unterwerfe, die gar nicht sprachlicher Natur sind.32 Diese Abgrenzungenvertrat Foucault allerdings bereits sehr früh, da er sie, oftmals explizit undsichtlich gereizt ob der missverständlichen Abqualifizierung, bereits in Die

27Foucault, Michel: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit, zweiter Band.Übersetzt v. Ulrich Raulff u. Walter Seitter. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 82004. (= stw717) S.13.

28Foucault, Michel: Nietzsche, die Genealogie, die Historie. In: Ders.: Schriften in vierBänden. Dits et Ecrits. Band II, 1970–1975. Hg. v. Daniel Defert und François Ewald.Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002. S. 166–191. Hier: S. 176.

29”Ob es sich nun um eine Philosophie des begründenden Subjekts handelt oder umeine Philosophie der ursprünglichen Erfahrung oder um eine Philosophie der universellenVermittlung — der Diskurs ist immer nur ein Spiel: ein Spiel des Schreibens im erstenFall, des Lesens im zweiten oder des Tauschs im dritten.” (Ordnung des Diskurses: S. 32)

30”»Aber dann ist ja die Anwendung des Wortes nicht geregelt; das ›Spiel‹, welches wirmit ihm spielen, ist nicht geregelt.« — Es ist nicht überall von Regeln begrenzt; aber esgibt ja auch keine Regel dafür z.B., wie hoch man im Tennis den Ball werfen darf, oderwie stark, aber Tennis ist doch ein Spiel und es hat auch Regeln.” (Wittgenstein, Ludwig:Philosophische Untersuchungen. In: Ders.: Tractatus logico-philosophicus. WerkausgabeBd. 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 162004. (= stw 501) S.225 – 580. Hier: S. 279, §68)

31Habermas bezieht sogar die Honneth’sche Interpretation Foucaults in seine Vorle-sungsreihe zum philosophischen Diskurs der Moderne ein: S. 300, 315, 337 in: Habermas,Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt a. M.:Suhrkamp 92004. (= stw 749)

32Fink-Eitel, Hinrich: Foucault zur Einführung. Hamburg: Junius 1989. (= Zur Einfüh-rung: 48) S. 63f.

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Ordnung der Dinge33 oder der Archäologie des Wissens34 vorzubringen sichgezwungen fühlte.

Axel Honneth vertrat allerdings die Meinung, dass aufgrund der struktu-ralistischen Tätigkeit Foucaults dieser keine nähere Bestimmung des Sozialenliefern könne — weshalb daraufhin der Machtbegriff Foucaults ohne das hiervorbereitete Verständnis von Diskursen zu rekonstruieren versucht und dieHinwendung zur Macht als eine radikale Zäsur innerhalb seines Werkes be-griffen wird. Inwiefern eine derartig verkürzende Lesart der DiskursanalyseEinfluss auf eine Auslegung der Machttheorie haben muss, soll im Anschlussgezeigt werden. Entscheidend scheint mir, dass jene Schlüsse, welche überdie souveräne Erkenntnisleistung des Subjekts hinausweisen, für Honnethan dieser Stelle bereits widerlegt scheinen. Eine Überschreitung des Struk-turalismus und eine damit neuartig fundierte Kritik am abendländischenSubjektdenken wurde insofern verfrüht ausgeblendet und in ihrer weitendenWirkung auf den Bezugsrahmen der nachfolgenden Analysen verkannt (oderignoriert).

2.2 Honneths Lesart der Machttheorie

Treffenderweise eröffnet Honneth seine Analyse mit der Bemerkung, dass sichdie Schriften Foucaults überhaupt erst in eine Nachbarschaft zur KritischenTheorie bringen ließen, wenn sie den durch die Archäologie des Wissens abge-steckten Rahmen verlassen hätten.35 Wie wir sehen konnten beruht dies aufder einfachen Tatsache, dass nur durch den Verzicht auf diese diskurstheo-retischen Vorläufer ein Festhalten am Subjektbegriff der frühen Frankfur-ter Schule möglich bleibt. In diesem Sinne konstatiert er vielmehr, dass dasfrühe Werk Foucaults noch ”vor der Schwelle zur eigentlichen Gesellschafts-analyse”36 verbleibe, da nicht einmal zwischen instrumentaler und sozialerHerrschaft unterschieden werde. Nach dem obigen Interpretationsvorschlagdes diskursiven Feldes bilden Diskurse allerdings niemals per se reine Herr-schaftsfunktionen über Subjekte, sondern bieten repressiven wie auch sub-versiven Diskursen Raum— wenn man auch bestimmte Herrschaftsformatio-nen in engeren Zusammenhang mit einzelnen, sich überlagernden Diskursenbringen kann.

Indem ein Herrschaftsbegriff an die bisherigen Analysen Foucaults an-gelegt wird, für den diese niemals konzipiert waren, interpretiert HonnethDie Ordnung des Diskurses als einen ”nebulös(en)”37 Übergang zu einer auf

33Ordnung der Dinge, S. 15: ”In Frankreich beharren gewisse halbgewitzte »Kommenta-toren« darauf, mich als einen »Strukturalisten« zu etikettieren. Ich habe es nicht in ihrewinzigen Köpfe kriegen können, daß ich keine der Methoden, Begriffe oder Schlüsselwörterbenutzt habe, die die strukturale Analyse charakterisieren.”

34Archäologie des Wissens, S. 283ff.35Kritik der Macht, S. 168.36Ebd. S.169.37Ebd. S. 170.

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soziale Prozesse ausgerichteten Theorie. Dies ist insofern aufschlussreich, alshierbei nochmals deutlich wird, dass Honneth zuvor keinerlei Konnex zwi-schen der diskursiven Sphäre und der faktischen Handlungssphäre sozialerPraktiken ausmachen konnte. Bevor wir uns aber eingehender der Machtana-lyse Honneths zuwenden, möchte ich darauf insistieren, dass diese Annahmenur eine mögliche Lesart unter vielen darstellt, da bereits oben ausgeführtwurde, dass in der Archäologie des Wissens ”nicht-diskursive” Elemente ge-nauso eine Rolle spielen, wie in Die Ordnung des Diskurses klar praktischeElemente zur Restriktion von Diskursen angeführt werden.38 Paul Veyne zogin der oben zitierten Arbeitshypothese zum Diskurs keinen Unterschied zwi-schen Taten und Aussagen und legt somit eine sehr enge Verquickung vonHandlungsfreiheit und sprachlicher Durchdrungenheit nahe. Gilles Deleuze,der zweifelsohne aus einer privilegierten Perspektive auf das Werk Foucaultsblickt, betont die Kontinuität der Formen des ”Sichtbaren” und des ”Sagba-ren”, welche Foucaults Schriften von Anfang an durchziehen würden, selbstwenn sie erst nach Die Ordnung der Dinge explizit geworden seien.39 ObwohlFoucault selbst betont, dass seitWahnsinn und Gesellschaft sein dominieren-des Thema die Machtanalyse gewesen sei40, scheint es mir sinnvoll auch seinespäte Einteilung des eigenen Werkes zu berücksichtigen, in welcher er durch-aus von ”Verschiebungen” spricht.41 Fest steht jedenfalls, dass ein Diskurs-begriff, der ohne jeglichen Praxisbezug stünde, nur sehr schwer verfochtenwerden könnte, weshalb es wohl ausreicht zu konstatieren, dass eine Verla-gerung des Fokus stattgefunden hat, die die Elemente der Analyse andersgewichtet hat. Jedenfalls spricht die oben entwickelte Auffassung von Dis-kurs gegen eine rigide Trennung von in Form von Handlungen angewandtemWissen und rein sprachlich manifestem Wissen, weshalb es geboten scheint,die resultierenden Implikationen bezüglich der Herrschaft auch in den Schrif-ten anzunehmen, welche sich vorrangig einer Analyse von wie auch immergearteter Macht widmen.

38Ordnung des Diskurses: S. 16: ”Drei große Ausschließungssysteme treffen den Diskurs:das verbotene Wort; die Ausgrenzung des Wahnsinns; der Wille zur Wahrheit.”

39Deleuze, S. 50.40Foucault, Michel: Macht und Wissen. In: Ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et

Ecrits. Band III, 1976–1979. Hg. v. Daniel Defert und François Ewald. Frankfurt a. M.:Suhrkamp 2003. S. 515–534. Hier: 519.

41”Eine theoretische Verschiebung hatte sich mir aufgedrängt, um das zu analysieren,was man oft als den Fortschritt der Erkenntnisse bezeichnet: sie hatte mich dazu geführt,mich nach den Formen von Diskurspraktiken zu fragen, die das Wissen artikulieren. Eshatte einer weiteren theoretischen Verschiebung bedurft, um das zu analysieren, was manhäufig als die Manifestationen der »Macht« beschreibt: diese Verschiebung hatte michveranlaßt, mehr nach den vielfältigen Beziehungen, den offenen Strategien und den ratio-nalen Techniken zu fragen, die die Ausübung der Mächte artikulieren.” (Foucault, Michel:Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit, zweiter Band. Übersetzt v. Ulrich Raulffu. Walter Seitter. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 82004. (= stw 717) S. 13.)

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2.2.1 Das Paradigma des Kampfes

Honneth jedenfalls setzt nach Die Ordnung des Diskurses einen Hiatus zur”semiologisch ansetzenden Wissensanalyse” an, da er nach selbigem eine ”mo-nistische Konzeption der Macht”42 angelegt sieht: ”Die Ordnung des Wissensverwandelt sich in eine gesellschaftliche Herrschaftsordnung.”43 Nachdem wirbereits oben feststellen konnten, dass Honneth nicht zur Kenntnis nahm, dassFoucault nicht primär die souveränen Subjekte als Ausgangspunkt seinerForschungen anzunehmen gewillt ist, finden wir diese nun bei der Rekon-struktion seines vermeintlichen Machtbegriffs wieder: als Handlungsträger,die als eigenmächtige Akteure in einem ständigen Spannungsverhältnis derMachtausübung begriffen werden sollen. Jene Konzeption von Macht, welcheFoucault in Überwachen und Strafen sowie Der Wille zum Wissen entwickelthat, wird von einem althergebrachten Begriff der Herrschaft nun von Hon-neth (nur) zweifach unterschieden:Er wird nicht als die Herrschaft von institutionalisierten Mächten verstan-den, wie das im orthodoxen Marxismus jederzeit der Fall war. Zudem wirddie Instabilität der Machtverhältnisse zur Kenntnis genommen, welche dar-in bestehen soll, dass Macht nicht mehr in Form von ”Verfügungsrechten”44

gebunden werden kann, sondern stets labil bleibt. In diesem Sinn kommt dieresultierende Auffassung von Macht einem Kampf aller gegen alle im SinneHobbes’ relativ nahe, da es scheint, als ob kein Subjekt die dezentralisier-te Macht stabil ’besitzen’ könnte, ohne sie laufend gegen andere Subjekteverteidigen zu müssen.

Eine derartige Konzeption eines ”stetigen und im Prinzip unaufhebbarenKriegszustand(es)”45 müsste sich in Foucaults Texten einwandfrei nachwei-sen lassen, da die Idee eines solchen, zugegebenermaßen, nicht gerade vonhoher Komplexität ist. Und tatsächlich findet sich in Der Wille zum Wisseneine deutliche Abgrenzung von einem institutionalisierten Herrschaftsmodell,welche allerdings nicht gegen Institution an sich, sondern gegen Souveränitätgerichtet wird.46 Damit wird einerseits ein marxistischer Herrschaftsdualis-mus negiert, andererseits allerdings auch die selbstermächtigte Ausübungvon Kontrolle über andere verweigert. Dies wird deutlich, wenn zwei Seitenspäter geäußert wird: ”Doch heißt das nicht, daß sie [die Macht, M.S.] aus derWahl oder Entscheidung eines individuellen Subjekts resultiert.”47 Inwiefernkann also ein Kampfesmodell von freien Subjekten gedacht werden, das unterVerzicht auf Souveränität und subjektive Ermächtigungsleistungen dennochfunktioniert? Gesellschaft geriete zum bewusstlosen Kampf ohne verstetigteHerrschaftshierarchie, was Honneth auch geflissentlich ausformuliert. Wenn

42Kritik der Macht, S. 170f.43Ebd. S. 172.44Ebd. S. 174.45Ebd. S. 175.46Wille zum Wissen, S. 93.47Ebd. S. 95.

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Kampf hier als eine handfeste Auseinandersetzung gedacht werden müsste,ließe sich auf einem derartigen Modell basierend keine weitere Analyse auf-setzen — da ein Kampf Kämpfende erfordert, wie dies Honneth auch ansetzt,die allerdings bei Foucault nicht gemeint sein können. Offenbar kollidierenhier zwei sich gegenseitig ausschließende Annahmen, welche allerdings mitBlick auf die oben ausgeführten Verformungen des Foucault’schen Diskurs-schemas weiter differenziert und somit in ihrem Missverständnis erhellt wer-den können.

2.2.2 Alternative Lesarten

Erneut erweist es sich, dass Honneth sich darauf beschränkt, jene Vorausset-zungen, welche er für das Funktionieren eines gesellschaftlichen Zusammen-hanges als notwendig erachtet, auch für Foucault anzunehmen, selbst wenndieser ganz andere Suppositionen vertritt. Interessanterweise deutet er selbstdarauf hin, dass die angenommenen Prämissen bei Foucault nicht eindeutigin diese Richtung zielen: ”soziale Macht »ist« dann freilich nicht, wie diezitierte Bestimmung mißverständlich nahelegt, diese strategische Konfronta-tion selbst, sondern resultiert aus dem Erfolg, mit dem eines der konkurrie-renden Subjekte den Streit für sich entscheiden kann”48 An diesem Punktversammeln sich die entscheidenden Faktoren, welche für die anschließen-de Fehlinterpretation verantwortlich scheinen, nämlich: das Ignorieren desnicht auf Herrschaft abzielenden Diskursschemas und die Unterstellung ei-ner strukturalistischen Verfahrensweise sowie die erneute Unterstellung dereigenen Prämissen, selbst unter der Bedingung der offenkundigen Inkongru-enz der vermeintlich belegenden Zitate. Würde Honneth der Spur allein fol-gen, dass es sich eben nicht um den Gewinn und Erhalt von persönlicher(herrschaftlicher) Macht handelt, sondern tatsächlich um jene Verhältnisse,in welchen sich die Individuen dann wiederfinden, so ließe sich dem Fou-cault’schen Konzept eher auf die Spur kommen. Um dies kontrastierend zuzeigen, sind folgende, akzentuierende Aspekte der Machttheorie zu berück-sichtigen:a; Es handelt sich bei der Betrachtung der Kräfteverhältnisse tatsächlich nurum die Betrachtung der Kräfteverhältnisse, nicht um die Konstruktion einessubjektiven Machterwerbs. Dies konnte bereits das oben angeführte Zitat ausDer Wille zum Wissen verdeutlichen, da ohne ein souveränes Subjekt keineMacht erworben werden kann.49 Aus diesen Grund weist Deleuze gesondert

48Kritik der Macht, S. 175.49”Allgemein glaube ich, dass die Macht sich nicht vom (individuellen oder kollektiven)

Willen her konstruieren und auch nicht aus Interessen ableiten lässt. Die Macht lässt sichvon Mächten, von Mannigfaltigkeiten an Fragen und Machteffekten her konstruieren undfunktioniert da heraus. Diesen komplexen Bereich muss man untersuchen. Das heißt nicht,dass sie unabhängig ist, und dass man sie außerhalb des ökonomischen Prozesses und derProduktionsbeziehungen entschlüsseln könnte.” (Foucault, Michel: Die Machtverhältnissegehen in das Innere der Körper über. In: Ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits.

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darauf hin, dass es eben nicht um eine faktische Auseinandersetzung gehensoll, sondern um wesentlich komplexere und polymorphe Verhältnisse undRelationen:

Eine Macht wirkt nicht via Ideologie, selbst wenn sie auf die Seelenzielt, sie operiert nicht notwendig mit Gewalt und Unterdrückung,wenn sie sich auf die Körper legt. Besser gesagt, in der Gewalt zeigtsich die Wirkung einer Kraft auf etwas, ein Objekt oder Wesen. Abersie bringt keine Machtbeziehung zum Ausdruck, das heißt ein Verhält-nis von Kraft zu Kraft, »eine Handlung, die auf eine Handlung wirkt«.Ein Kräfteverhältnis ist eine Beziehung vom Typus »anregen, hervor-rufen, zusammenfügen ...« ... Die Macht »produziert Reales«, bevorsie unterdrückt. Und sie produziert ebenfalls Wahrheiten, bevor sieideologisiert, abstrahiert oder maskiert.50

b; Was in diesem Passus zusätzlich anklingt, ist das Fundierungsverhält-nis von Macht und nachfolgenden, zu interpretierenden Wahrheiten und zusetzenden Handlungen. Macht wird vielmehr intendiert als jener irreduzibleSchauplatz, welcher bei der Analyse einer gesellschaftlichen Situation stetsmitvorausgesetzt werden muss, aber eben nicht in einem beherrschenden undauch nicht in einem bloß in eine Richtung weisenden Sinn. Sofern man dieMacht eben wiederum als eine ermöglichende, stets mit vorauszusetzendeGrundlage einer historischen Betrachtung anzusehen gewillt ist — wie diesoben bei der Relektüre der Diskurstheorie erfolgte — lässt sich auch dasvon Honneth zum tatsächlichen Kampf interpretierte Zitat Foucaults andersverstehen:

Unter Macht, scheint mir, ist zunächst zu verstehen: die Vielfältigkeitvon Kraftverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren; dasSpiel das in unaufhörlichen Kämpfen und Auseinandersetzungen die-se Kraftverhältnisse verwandelt, verstärkt, verkehrt; die Stützen, diediese Kraftverhältnisse aneinander finden, indem sie sich zu Systemenverketten — oder die Verschiebungen und Widersprüche, die sie ge-geneinander isolieren; und schließlich die Strategien, in denen sie zurWirkung gelangen und deren große Linien und institutionelle Kristal-lisierungen sich in den Staatsapparaten, in der Gesetzgebung und inden gesellschaftlichen Hegemonien verkörpern. 51

Hier wird klar, dass zunächst ein neutraler52 Boden von Machtverhältnis-sen angenommen werden muss, bevor sich diese dann in einer eingehenderen

Band III, 1976–1979. Hg. v. Daniel Defert und François Ewald. Frankfurt a. M.: Suhrkamp2003. S. 298–309. Hier: 304.)

50Deleuze, S. 44.51Wille zum Wissen, S. 93.52”Ohne Zweifel, die Macht sieht nichts und sagt nichts, wenn man sie abstrakt betrach-

tet.” (Deleuze, S. 115.)

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Analyse in ihrer genauen, historisch-partikularen Verkettung und Schich-tung begreifen lassen. Jene Strategien, die ”schließlich” zur Wirkung gelan-gen können, lassen sich dann unter Umständen als Herrschaftsstrukturendemaskieren, allerdings bleibt diesen stets schon ein Bedingungsverhältnisvon waltenden Mächten mitvorausgesetzt.g; Ein weiteres Missverständnis, welches an dieser Stelle virulent wird, ist,dass Honneth eine vitalistische Nietzsche-Deutung in der MachtkonzeptionFoucaults ausmacht.53 Danach, so Honneth, lasse sich eine ”naturalistisch(e)”Deutung jenes Kampfestreibens anstellen. Foucaults Auseinandersetzung mitNietzsche weist zu diesem Zeitpunkt allerdings in eine ganz andere Richtung,da es ihm vor allem um eine historische Forschungsmethode, die Genealogie,zu tun ist, welche eben keine naturalisierten Invarianten inaugurieren, son-dern derartige Momente als Konstruktionen entlarven möchte. In seinem da-hingehend programmatischen Essay Nietzsche, die Genealogie, die Historieversucht er deutlich zu machen, inwiefern Konflikte und Kämpfe, in Nietz-sches Sinn, grundlegende Voraussetzungen für den Wandel von Bedeutungen,Herrschaftsformen und eben gesamten diskursiven Verfassungen darstellen:

Der von Nietzsche so genannte Entstehungsherd des Begriffs des Gutenist weder die Kraft der Starken noch die Reaktion der Schwachen, son-dern die Bühne, auf der sie einander gegenübertreten und Aufstellungnehmen, die einen über den anderen; der Raum, der zwischen ihnenliegt; der Abgrund, der zwischen ihnen klafft; die Leere, durch die sieihre Drohgebärden und Worte austauschen. [...] Allerdings dürfen wiruns diesen Ort nicht als einen abgeschlossenen Kampfplatz vorstellen,als ein ebenes Feld, auf dem ein Kampf zwischen Gleichen stattfände.Wie das Beispiel der Guten und der Bösen zeigt, handelt es sich viel-mehr um einen »Nicht-Ort«, um reine Distanz, um die Tatsache, dassdie Gegner nicht demselben Raum angehören. Daher ist niemand fürdas Entstehen verantwortlich, und niemand kann sich dessen rühmen.Es geschieht stets in einem Zwischenraum.54

Hier werden wieder zentrale Momente dieser Konzeption versammelt: dasentmachtete, eben nicht souverän begründende Subjekt einerseits, anderer-seits aber auch die hier überdeutliche Frage nach Begriffen, als auf Macht-verhältnissen aufruhende Diskursformationen, welche als ”Lesart der Wirk-lichkeit”55 sich dann an diese anzunähern versuchen. Macht bleibt allerdingseine gemäß dem Spiel sich wandelnde, vorausgesetzte Ebene, welche dann

53Kritik der Macht, S. 173.54Foucault, Michel: Nietzsche, die Genealogie, die Historie. In: Ders.: Schriften in vier

Bänden. Dits et Ecrits. Band II, 1970–1975. Hg. v. Daniel Defert und François Ewald.Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002. S. 166–191. Hier: 176.

55Foucault, Michel: Erläuterungen zur Macht. Antwort auf einige Kritiker. In: Ders.:Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band III, 1976–1979. Hg. v. Daniel Defert undFrançois Ewald. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003. S. 784–795. Hier: 793.

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zum (normativ bedeutungslosen) Schauplatz historischer Formationen undAuslegungsversuche wird: ”Andererseits eröffnen die Machtbeziehungen einenRaum, in dem sich Kämpfe entwickeln können.”56 Was der Honneth’schenInterpretation hier zugestanden werden kann, ist, dass die Rhetorik mar-tialischer wirkt, als sie intendiert ist — wobei sich diese natürlich aus demKontext um Nietzsches Pathos und der tatsächlichen, historischen Folgen derMachtkonzeption — als tatsächlichen Kämpfen — erklären lässt. Zusätzlichzu diesen Verweisen auf die Macht als fundierendem Rahmengeschehen bie-tet sich noch ein Blick auf die Methode der Genealogie an, welche einigeParallelen zur oben behandelten Lesart der Diskursauffassung zeigen wird.d; Der Begriff der Genealogie, welchen Foucault erstmals in Die Ordnungdes Diskurses verwendet, stellt eine eindeutige Beziehung zu Nietzsches spä-ter Genealogie der Moral her, in welcher Nietzsche eine Rekonstruktion dermoralisierenden Haltungen im Zusammenspiel mit dem Selbstverhältnis derMenschen in bestimmten Epochen anstellt. Entscheidend ist hierbei, dass be-reits Nietzsche annimmt, dass die Selbstthematisierung und Selbstverortungdes Menschen im Kosmos weitgehend mit anderen, diskursiven (moralischen)Praktiken zu tun hat, welche zu großen Teilen über die jeweilige Konstituti-on dieses Verhältnisses entschieden haben sollen. Dieser Gestus des Brechensmit historisch letztlich doch indizierten Selbstverständlichkeiten beflügeltesicherlich bereits jene Untersuchungen, welche Foucault im Rahmen der Dis-kursanalyse durchführte. Wie weitreichend diese Analysen intendiert sind,lässt sich nicht nur an Nietzsches ursprünglichem Gestus ermessen:

Wir glauben, der Leib unterliege allein den Gesetzen der Physiologieund sei daher der Geschichte entzogen. Doch auch das ist ein Irrtum.Der Leib ist einer ganzen Reihe von Regimen unterworfen, die ihnformen, etwa den Wechsel von Arbeit, Muße und Festlichkeiten; er wirdvergiftet, von Nahrung und von Werten, von Ernährungsgewohnheitengeradeso wie von Moralgesetzen; und er bildet Resistenzen aus.57

Das Ziel der Untersuchungen ist es also, jene diskursiven Interpretationen dernotwendig supponierten Machtverhältnisse und das Wechselspiel dieser bei-den Instanzen zu analysieren58 — wobei deutlich wird, dass ohne die gewei-tete Perspektive, welche sich aus der Diskursanalyse, wie sie oben entwickelt

56Ebd. S. 79257Foucault, Michel: Nietzsche, die Genealogie, die Historie. In: Ders.: Schriften in vier

Bänden. Dits et Ecrits. Band II, 1970–1975. Hg. v. Daniel Defert und François Ewald.Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002. S. 166–191. Hier: 178.

58”Gerade deshalb versuche ich gar nicht, ein Machtparadigma zu beschreiben. Ich möch-te aufzeigen, wie diverse Machtmechanismen in unserer Gesellschaft, zwischen uns, in unsselbst und außerhalb unserer selbst funktionieren. Ich möchte wissen, in welchem Zu-sammenhang unser Körper, unser alltägliches Verhalten, unser sexuelles Verhalten, un-ser Begehren, unsere wissenschaftlichen und theoretischen Diskurse mit einer Reihe vonMachtsystemen stehen, die ihrerseits untereinander verbunden sind.” (Foucault, Michel:Gespräch über die Macht. In: Ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band III,1976–1979. Hg. v. Daniel Defert und François Ewald. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003. S.594–608. Hier: 600.)

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zu werden versuchte, ergäbe, sich auch diese Blickrichtung nicht erschließenwürde.

Eine weitere Konsequenz ist allerdings auch, dass der somit als variablesFundament angesetzte Machtbegriff keine holistische Gesellschaftstheorie zu-lässt (und auch nicht erforderlich scheinen lässt), wie sie Honneth in weitererFolge aus den deformierten Prämissen des Kampfes ableitet.59 Stattdessensoll eine Reihe von Untersuchungen angestellt werden, welche sich nicht in-nerhalb der entsprechenden Auffassungssysteme bewegen, sondern die dis-kontinuierlichen Folgen von differierenden Realitätsauslegungen und resultie-renden gesellschaftlichen Manifestationen aufzeigen. Daher richtet sich Fou-cault auch noch während seiner Untersuchungen zur Macht auf jene ”klei-nen unscheinbaren Wahrheiten, welche mit strenger Methode gefunden wur-den”60, welche dann einen veränderten Umgang mit partikularen Momentender Gesellschaft im Wandel der Zeit nachzeichnen und damit Rückschlüs-se auf das geänderte Selbstverständnis und die notwendig ebenso variablenMachtverhältnisse zulassen. An dieser Stelle sollte der Kontrast zwischen denbeiden möglichen Lesarten der Machttheorie soweit deutlich geworden sein,dass sich nachvollziehen lässt, inwiefern Produktivität der Macht gedachtwerden könnte: Einerseits, so man Macht als eine notwendige Fundierungbetrachtet, bedeutet diese wiederum ein positives Ermöglichungsverhältnis,welche bestimmte Handlungen und Aussagen mithervorruft — der gesam-te komplexe Wirkungszusammenhang einer Gesellschaft wird, als historischpartikularer Machtkomplex, zur positiven Bedingung einer jeglichen diskur-siven Aktivität. Andererseits, so man Honneths Interpretation weiter folgt,wird Produktivität gefasst als eine Herrschaft, welche ihren Unterworfenenbestimmte ”motorische und gestische Bewegungen” aufzwingt und auch eineadministrative Beeinflussung der ”organischen Lebensvorgänge” vornimmt.61

Wie weit die beiden Varianten auseinanderklaffen, zeigt, inwiefern hier einKategorienfehler in der Auslegung der Machttheorie vorliegt: Auf der einenSeite haben wir eine Frage nach den Ermöglichungsbedingungen von partiku-laren Verhältnissen unter Berücksichtigung von historischer Diskontinuitätrekonstruieren können, die sich als eine konsequente Weiterentwicklung derDiskursanalyse begreifen lässt.62 Auf der anderen Seite werden bei Honneth

59Foucault bestand auf die Diskontinuität seiner Untersuchungen: ”Ich schaffe kein Werk,sondern unternehme Forschungen, die gleichermaßen historisch und politisch sind.” (Fou-cault, Michel: Die Macht, ein großes Tier. In: Ders.: Schriften in vier Bänden. Dits etEcrits. Band III, 1976–1979. Hg. v. Daniel Defert und François Ewald. Frankfurt a. M.:Suhrkamp 2003. S. 477–495. Hier: 487.)

60Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister.In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe hg. v. Giorgio Colli und MazzinoMontinari, Bd. 2. Berlin/New York: Walter de Gruyter 1980. S. 25.

61Kritik der Macht, S. 188.62In Interviews beschied sich Foucault oftmals darauf hinzuweisen, dass gesellschaftliche

Zusammenhänge sofern sie als Ganzheiten aufgefasst werden sollen, eine schier undurch-dringliche Komplexität aufweisen. Dies fasse ich als deutliches Argument gegen Univer-

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einzelne derartige Analysen zu einem allgemein gültigen Gesellschaftsmo-dell universalisiert, welches dann notwendig zu einem bizarr verzerrten Ein-druck von gesellschaftlicher Organisation führen muss. Es lässt sich in diesemSinn die Wirkungsweise des Bentham’schen Panoptikons, welches Foucaultals Idee der Disziplinarmacht in Überwachen und Strafen beschreibt, in derAuslegung von produktiver Macht bei Honneth wiederfinden. Die als Ab-sicht einer Kontrolle formulierte Form von Herrschaft, welche laut Foucaultnur innerhalb eines begrenzten Zeitraums als wegweisendes Modell angese-hen wurde, wird diesem von Honneth als allgemeine Gesellschaftsdiagnoseuntergeschoben.

Der jetzt gewonnene Rahmen zum Verständnis von Macht ermöglicht nunauch den Rückschluss, dass Honneth, welcher im Sinne einer stabilen Ra-tionalitätskonzeption die historisch relativierende Praxis der Diskursanalysenicht im vollen Ausmaß zur Kenntnis nehmen wollte, die MachtkonzeptionFoucaults gleichfalls nicht auf dieser Ebene zu betrachten gewillt ist. Statt-dessen versammelt er rhetorische Passagen aus Foucaults Argumentation,in welchen ein vermeintlich archaisches Kampfgeschehen zur verknappendenLektüre beschworen wird, ohne auf die Kontinuitäten zur historischen Pra-xis Foucaults einzugehen. Macht bleibt für Honneth an dieser Stelle einehistorisch sich nur weiter perfektionierende Herrschaftsausübung über eigen-mächtig agierende Subjekte, die unter perfiden Machttechniken zu leidenhaben.63 Dies beschließt auch das Ausmaß einer Analyse des vermeintlichensozialen Modells bei Foucault in Kritik der Macht, weshalb nun gefragt wer-den soll, inwiefern sich diese spezifische Lesart im Wandel der letzten beidenJahrzehnte noch weiter differenzierte.

3 Zweite Lektüre: Ethos der Moderne (1990)

In dem 1990 erschienen Sammelband verfasste Axel Honneth als Mitheraus-geber die Einleitung64, in welcher er kurz einen Überblick über die nachfol-genden Beiträge wie auch den aktuellen Stand der Rezeption der TheorienFoucaults zu geben versucht. Darin unterscheidet er zwei Weisen, die dieseRezeption bestimmt haben: einerseits eine kritisch-theoretische, welche sich

salisierungstendenzen jeglicher Art und als Hinweis für den fundierenden Charakter derMachtkonzeption: ”Sagt man, »alles ist politisch«, so behauptet man damit diese Allge-genwart der Kraftverhältnisse, und dass sie einem politischen Feld immanent sind; docherlegt man sich damit die noch kaum umrissene Aufgabe auf, dieses endlose Durcheinanderaufzudröseln.” (Foucault, Michel: Die Machtverhältnisse gehen in das Innere der Körperüber. In: Ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band III, 1976–1979. Hg. v. DanielDefert und François Ewald. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003. S. 298–309. Hier: 305.)

63Kritik der Macht, 195.64Honneth, Axel: Zur philosophisch-soziologischen Diskussion um Michel Foucault. In:

Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung. Hg. v. Eva Erdmann, Rainer Forstund Axel Honneth. Frankfurt a. M./New York: Campus 1990. S. 11–32. Im Folgendenzitiert als: Ethos der Moderne.

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den Theoremen Foucaults nicht unvoreingenommen gegenüberstellen konn-te und wonach die ”methodischen Eigentümlichkeiten der Vorgehensweiseunverstanden bleiben mußten, die Foucault unter dem theoretischen Titelder »Genealogie« entwickelt hatte”.65 Diese grenzt er ab von einer zwei-ten Lektüreweise, welche vor allem in den USA praktiziert wurde und auf-grund der Unvoreingenommenheit in methodischer Hinsicht fruchtbarer mitden Foucault’schen Ideen umgehen konnte. Nachdem auch noch die Ausle-gung durch Habermas66 angeführt wird, die von der amerikanischen Seiteaus heftige Kritik erntete (auch wenn diese auf ’hohem Niveau’67 stattfand),ist klar, dass die ursprüngliche Deutung keine Bestätigung im internatio-nalen Diskurs erfuhr. Dies kann als ein erstes Zurücktreten von den zuerstverfochtenen Lesarten des Foucault’schen Werkes gedeutet werden, wobeiin diesem Band vor allem auf das Spätwerk Foucaults eingegangen werdensollte, weshalb eine tiefere, thematische Beschäftigung mit den oben behan-delten Themen von Honneths Seite nicht folgt. Dem entgegen beschränkt ersich darauf hinzuweisen, dass auch innerhalb der verschiedenen Rezeptions-stränge keine volle Akzeptanz der Foucault’schen Position herrsche und ebenjene normativen Aspekte der Macht eher umstritten denn anerkannt seien.Trotzdem verweist Honneth in seinem Konspekt des Forschungsstandes dar-auf, dass Foucaults Machttheorie nach wie vor ungelöste Probleme evoziereund weite Teile der Gesellschaftsanalyse ausklammere.68 Hierbei lässt es sichHonneth nicht nehmen, seine eigene Analyse, also die oben verhandelten Pas-sagen in Kritik der Macht, als vermeintlichen Fingerzeig anzuführen. Jenerweitere Bezugsrahmen der Machtanalyse, welchen Foucault nach den obi-gen Lesarten eher anstrebte, als dies Honneth herauszuarbeiten vermochte,ignoriert dieser weiterhin, wenn er erneut darauf hinweist, dass es jenem vorallem um einen ”organisierten Ausbau” der ”Sozialkontrolle” gehe.69 Es lässtsich also konstatieren, dass weiterhin ein repressiv tingiertes Bild von Machtals dominanter Aspekt in der Foucault’schen Machttheorie vermutet wird.Dies zeugt insofern von einer Fortsetzung der eingangs erwähnten Ablehnungder genealogischen Methodik durch Vertreter der Frankfurter Schule, welchenoch durch das pikante Detail verdeutlicht wird, dass Honneth die Hypo-these äußert, Foucault hätte das antike ”etho-poetische”70 Selbstverständnisund -verhältnis als normativen Selbstbezug über vergleichbare, gegenwärti-

65Ebd. S. 13.66Habermas hatte sich, wie weiter oben erwähnt, an zentralen Stellen auf die Interpre-

tation von Honneth berufen, siehe Fußnote 31.67Ethos der Moderne, S. 14.68Ethos der Moderne, S. 24.69Ebd.70Foucault, Michel: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit, zweiter Band.

Übersetzt v. Ulrich Raulff u. Walter Seitter. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 82004. (= stw717) S. 24.

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ge Ethikkonzeptionen gestellt.71 Dieser wertende, diachrone Vergleich wirdallerdings von Foucault selbst geleugnet, da in jenem Interview, welches imselben Band abgedruckt wurde, eine beispielhafte Rolle der Griechen für ihngeleugnet wird.72 Um erneut eine universalisierende Geste in Foucaults spä-teren Untersuchungen ausmachen zu können, kann Honneth sich an dieserStelle also noch nicht mit einer historisch relativierenden Analyse im Sin-ne der Genealogie angefreundet haben, da er sie nicht einmal in FoucaultsVerwendung anzunehmen scheint. Dies geschah augenfällig erst im Zuge derFrankfurter Foucault-Konferenz im Jahr 2001, welche wiederum von AxelHonneth mitorganisiert wurde.

4 Dritte Lektüre — Foucault-Konferenz (2001)

Im Vorwort des 2003 veröffentlichten Bandes zur Frankfurter Foucault-Kon-ferenz, für das Axel Honneth gemeinsam mit Martin Saar verantwortlichzeichnen, werden bereits ganz andere Töne angeschlagen. Hier ist einleitendvom ”tiefgreifenden, transformierenden Einfluß auf das philosophische Den-ken der Gegenwart”73 die Rede, welchen das Werk Foucaults ausüben sollund welcher sogleich noch über die Wirkung Nietzsches hinausgehoben wird— ein überschwängliches Lob also. Dies wird noch dadurch verstärkt, dassHonneths einführender Beitrag als eine ”Kartographie des Rezeptionsfeldes”verstanden werden soll, was in einer Anlehnung an Deleuze74 womöglich eineneutralere Perspektive ankündigt.

In dieser Einführung zum ersten Tagungsabschnitt der ’Werkansichten’kehren einige charakteristische Punkte Foucaults wieder. Der aufwändig ge-schmähte ”ethnologische Blick”75, mit welchem auch die Untersuchung inKritik der Macht einsetzte, kehrt hier bereits anerkennend erwähnt als einereine Rezeptionsschwierigkeit wieder, da diese Eigenheit der Foucault’schenHerangehensweise die produktive Annahme seiner Erkenntnisse erschwerthabe — wobei sich Honneth hier auf den Cambridge Companion to Foucaultvon Gary Gutting beruft. Gleich darauf wird allerdings konstatiert, dass die

71Ethos der Moderne, S. 18. V.a. auch Fußnote 16 an der selben Stelle, wo Honneth dieEinführung von Fink-Eitel zitiert, welche eine derartige Interpretation meines Erachtensnicht zulässt. Vgl. Fink-Eitel, S. 112.

72Foucault, Michel: Die Rückkehr der Moral. Ein Interview mit Michel Foucault. In:Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung. Hg. v. Eva Erdmann, Rainer Forstund Axel Honneth. Frankfurt a. M./New York: Campus 1990. S. 133–145. Hier: S. 135.

73Honneth, Axel u. Martin Saar (Hg.):Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption.Frankfurter Foucault-Konferenz 2001. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 22004. (= stw 1617) S.9.

74Vgl. Deleuze, Gilles u. Félix Guattari: Rhizom. Berlin: Merve 1977. S. 21ff.75Honneth, Axel: Foucault und die Humanwissenschaften. Zwischenbilanz einer Rezepti-

on. In: Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz2001. Hg. v. Axel Honneth und Martin Saar. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 22004. (= stw1617) S. 15–26. Hier: S. 16.

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Vernunftkritik Foucaults, welche ohnehin nur befördert durch die national-sozialistische Vergangenheit und die damit einhergehende Gier nach antihu-manistischen Denkansätzen so dankbar angenommen wurde, kaum theore-tischen Rückhalt im brüchigen Werk Foucaults habe, sondern vielmehr ausprovokanten Schlagwörtern resultiere. Dennoch seien die produktiven Annä-herungsversuche vor allem durch einseitige Rezeptionshaltungen erschwertworden, da auch die Frankfurter Schule in einigen Punkten hätte profitierenkönnen.76 Daher betont Honneth, dass der Blick nicht mehr auf die ”dama-ligen überhitzten Wortgefechte” gerichtet werden solle, da so nur die Auf-merksamkeit für die zahlreichen Veränderungen getrübt werde, welche sichaus den Wirkungen von Foucaults Denken ergeben.

Und tatsächlich weist Honneth auch selbstkritisch auf einige derartigeVeränderungen hin: denn im Gegensatz zu seiner eigenen frühen Interpreta-tion der Macht als herrschaftslustiger Kampfeshaltung insistiert er darauf,diese wahrzunehmen als

Tiefenschicht sozialer Macht, die überhaupt nur dann in den Blick tre-ten kann, wenn auf jede Assoziation mit Unterdrückung oder Repres-sion konzeptuell zunächst Verzicht geleistet wird: Unter »Macht« sollnämlich das Ergebnis eines Prozesses verstanden werden, in dem Indi-viduen einem gesellschaftskonstitutiven Netz sozialer Regeln dadurchunterworfen werden, daß sie dieses durch wiederholte Formen der dis-ziplinierten Einübung in ihrem psychophysischen Habitus vollständigzu übernehmen lernen.77

Legt man einige entscheidende Worte auf die Waagschale, widerspricht derzweite Satz gelinde dem ersteren — aber es soll ja auch nur ”zunächst” Ver-zicht geleistet werden. Auch wenn von der ursprünglichen Position deutlichabgerückt wird, so erscheint Macht immer noch als ein tiefengrammatischesUnterdrückungsgeflecht, welches durch Einübung, also nicht von vornherein,den Subjekten gewissen Verhaltensweisen aufnötigt. Dies entspricht zwarnicht der noch stärker Distanz nehmenden Perspektive auf den Machtbe-griff, wie er weiter oben rekonstruiert werden sollte, doch bedeutet er eineweitgehende Annäherung an jenen Punkt, sofern man die unveränderten Prä-missen Honneths in Rechnung stellt. Die von Honneth angefügte Deutungder produktiven Aspekte der Macht werden demnach auch nicht schlechthinals Konstitutionsnotwendigkeit einer sozialen Praxis betrachtet, sondern alsdurch geregelten Zwang geschaffene Handlungsspielräume. Der feine Unter-schied zwischen diesen oktroyierten und den notwendig zu voraussetzendenSpielräumen bleibt also hier, trotz der deutlichen Revisionshaltung, beste-hen.78 Dementsprechend wird im folgenden Absatz erneut darauf hingewie-sen, dass keine Vernunftkritik aus einer derartigen Position abgeleitet wer-den könne, da die Rolle des Subjektes dadurch nicht tangiert werde. Dies

76Ebd. S. 19.77Ebd. S. 20.78Ebd. S. 21.

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verdeutlicht, dass Macht weiterhin nicht als der notwendige Boden angese-hen wird, auf welchem komplexe Verschränkungen mit Wissensformationenstattfinden, nach historisch je variierenden Mustern.

Als zweite große Revision wird, wiederum selbstkritisch gegen seine frü-he Deutung gerichtet, die Verbindung von Wissen und Macht als eine dernotwendig ”engsten Verzahnung”79 vorgestellt. Allerdings passiert dies in ei-nem Ausmaß, welches exakt dem der Annäherung an den Machtbegriff ent-spricht, da auch hier eine Kontinuität nur insofern angesetzt wird, als Wis-sen zum präformierenden Raster der zuvor beschriebenen, gesellschaftlichenAbrichtungspraxis wird. In diesem Sinn zieht er auch eine Parallele zu Wal-ter Benjamins Unterfangen, welches darin bestehe ”den Typus einer sozia-len Herrschaftsordnung am Leitfaden ihrer physischen Präsenz im Alltag zustudieren.”80 Dies offenbart allerdings nur wieder die Grenzen, welche Hon-neth im Gegensatz zu den perspektivenweitenden Positionen, wie sie weiteroben im zweiten Abschnitt referiert worden sind, zu ziehen nicht aufgibt.Benjamins Vorgehen ist hier nur insofern vergleichbar, als er eben die all-täglichen Geschehnisse betrachtete — allerdings transformierte er diese zuManifestationen einer übergeordneten, geschichtlichen ”Idee”, welche in ihreraufhebenden Intention nichts mit den als perspektivisch und partikular inten-dierten Analysen Foucaults zu tun haben.81 Eine ernsthafte Beschäftigungmit dem genealogischen Vorhaben, wie es beispielsweise Raymond Geussfasst, erscheint für Honneth nämlich nach wie vor undenkbar. Geuss sprichtunumwunden von einer spezifischen Form der âpoq , welche ”eine histori-sche Auflösung selbstverständlicher Identitäten” zum Ziel habe, wobei die-ses Unterfangen in seiner Interpretation eine vergleichbare methodologischeSolidität aufweist, wie dies beispielsweise (orthodoxe) kritisch-theoretischeVerfahren tun.82 Genauer meint er:

Diese ἐποχή soll nicht streng universell im Rahmen einer abstraktenphilosophischen Untersuchung der Grundlagen des Wissens ausgeführtwerden, sondern punktuell, jeweils im Zusammenhang eines ganz spe-zifisch definierten, historischen Forschungsprojektes, wobei allerdingsdas Wort »historisch« in einem so weiten Sinne genommen wird, daßes auch die Gegenwart mitumfaßt.83

Und es ist gerade die hier angeführte Spezifität des Unternehmens, geradedass dieses so individuelle Maßstäbe erfordert ist es, was Honneth einklagt.

79Ebd. S. 22.80Ebd. S. 23.81Vgl. v.a. die erkenntniskritische Vorrede in: Benjamin, Walter: Ursprung des deut-

schen Trauerspiels. In: Ders.: Abhandlungen. Gesammelte Schriften, Bd. I, 1. Hg. v. RolfTiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 52006. (= stw931) S. 203–430. S. 207ff.

82Geuss, Raymond: Kritik, Aufklärung, Genealogie. In: Michel Foucault. Zwischenbilanzeiner Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001. Hg. v. Axel Honneth und MartinSaar. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 22004. (= stw 1617) S. 145–156. Hier: S. 152.

83Ebd. S. 150.

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Ihm wäre es nämlich nicht möglich, auf einen einheitlichen Subjektbegriff zuverzichten, wie dies womöglich im Zugeständnis an eine derartige Methodesich abzeichnete, da es genau um die normativ zu verfechtenden Beurtei-lungskriterien geht, die allein die notwendige Stabilität und Universalitätder Untersuchung wie auch des präsupponierten Vernunftmodells gewähr-leisteten, welche allerdings hier nicht garantiert wären. Die Foucault’scheBlickweise, dass er das Subjekt nur noch als eine leere Variable mitannimmt,welches sich in einem komplexen Spannungsfeld je individuell herausbildetund der Vergleichbarkeit jäh entsagt84, könnte Honneth sich natürlich nichtanschließen. Allerdings hat er im Verlauf seiner persönlichen Rezeption eineakute Annäherung an die Thematik vollzogen, welche auch einen rapiden Ab-bau von Projektionen und Vorurteilen im negativen Sinne beinhaltet. Durchdie Diagnose, dass die von ihm geladenen Wissenschafter der FrankfurterFoucault-Konferenz die genealogische Methode als eine ”ernstzunehmendeAlternative zu den eingespielten Formen der Gesellschaftskritik” betrachtenund präsentieren, bezeugt den nunmehr möglichen produktiven Austauschzweier divergierender Theoriemodelle.85

84So in der Darstellung von Ulrich Bröckling: ”Für Foucault existiert das Subjekt nurim Gerundivum: als zu explorierendes, zu normalisierendes, zu optimierendes, ästhetischzu gestaltendes usw.” (Bröckling, Ulrich: Das demokratisierte Panopticon. Subjektivierungund Kontrolle im 360o-Feedback. In: Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption.Frankfurter Foucault-Konferenz 2001. Hg. v. Axel Honneth und Martin Saar. Frankfurta. M.: Suhrkamp 22004. (= stw 1617) S. 77–93. Hier: S. 80.)

85Honneth, Axel: Einleitung: Genealogie als Kritik. In: Michel Foucault. Zwischenbilanzeiner Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001. Hg. v. Axel Honneth und MartinSaar. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 22004. (= stw 1617) S. 117–121. Hier: S. 121.

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Bröckling, Ulrich: Das demokratisierte Panopticon. Subjektivierung und Kontrolle im360o-Feedback. In: Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001. Hg. v. Axel Honneth und Martin Saar. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 22004.(= stw 1617) S. 77–93.

Deleuze, Gilles u. Félix Guattari: Rhizom. Berlin: Merve 1977.

Deleuze, Gilles: Foucault. Übersetzt v. Hermann Kocyba. Frankfurt a. M.: Suhrkamp52006.

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Ders.: Nietzsche, die Genealogie, die Historie. In: Ders.: Schriften in vier Bänden. Ditset Ecrits. Band II, 1970–1975. Hg. v. Daniel Defert und François Ewald. Frankfurt a. M.:Suhrkamp 2002. S. 166–191.

Ders.: Die Machtverhältnisse gehen in das Innere der Körper über. In: Ders.: Schrif-ten in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band III, 1976–1979. Hg. v. Daniel Defert und FrançoisEwald. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003. S. 298–309.

Ders.: Die Macht, ein großes Tier. In: Ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits.Band III, 1976–1979. Hg. v. Daniel Defert und François Ewald. Frankfurt a. M.: Suhrkamp2003. S. 477–495.

Ders.: Macht und Wissen. In: Ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band III,1976–1979. Hg. v. Daniel Defert und François Ewald. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003. S.515–534.

Ders.: Gespräch über die Macht. In: Ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. BandIII, 1976–1979. Hg. v. Daniel Defert und François Ewald. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003.S. 594–608.

Ders.: Erläuterungen zur Macht. Antwort auf einige Kritiker. In: Ders.: Schriften in vierBänden. Dits et Ecrits. Band III, 1976–1979. Hg. v. Daniel Defert und François Ewald.Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003. S. 784–795.

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Ders.: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, erster Band. Übersetzt v.Ulrich Raulff u. Walter Seitter. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 152005. (= stw 716)

Ders.: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit, zweiter Band. Übersetzt v.Ulrich Raulff u. Walter Seitter. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 82004. (= stw 717)

Ders.: Die Rückkehr der Moral. Ein Interview mit Michel Foucault. In: Ethos der Mo-derne. Foucaults Kritik der Aufklärung. Hg. v. Eva Erdmann, Rainer Forst und AxelHonneth. Frankfurt a. M./New York: Campus 1990. S. 133–145.

Fink-Eitel, Hinrich: Foucault zur Einführung. Hamburg: Junius 1989. (= Zur Einfüh-rung: 48)

Geuss, Raymond: Kritik, Aufklärung, Genealogie. In: Michel Foucault. Zwischenbilanzeiner Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001. Hg. v. Axel Honneth und MartinSaar. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 22004. (= stw 1617) S. 145–156.

Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frank-furt a. M.: Suhrkamp 92004. (= stw 749)

Honneth, Axel: Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheo-rie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985.

Ders.: Zur philosophisch-soziologischen Diskussion um Michel Foucault. In: Ethos derModerne. Foucaults Kritik der Aufklärung. Hg. v. Eva Erdmann, Rainer Forst und AxelHonneth. Frankfurt a. M./New York: Campus 1990. S. 11–32.

Ders.: Foucault und die Humanwissenschaften. Zwischenbilanz einer Rezeption. In: Mi-chel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001. Hg.v. Axel Honneth und Martin Saar. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 22004. (= stw 1617) S.15–26.

Ders.: Einleitung: Genealogie als Kritik. In: Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Re-zeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001. Hg. v. Axel Honneth und Martin Saar.Frankfurt a. M.: Suhrkamp 22004. (= stw 1617) S. 117–121.

Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. In:Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Mon-tinari, Bd. 2. Berlin/New York: Walter de Gruyter 1980.

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