archithese 2.10 - grosser massstab / large scale

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archithese Grosser Massstab in Architektur und Städtebau OMA in Singapur und Dubai Robin Hood Gardens, London Märkisches Viertel, Berlin Ørestad, Kopenhagen IJburg, Amsterdam Wallisellen, Zürich Graz-Reininghaus Bigness populär Boa Baumann mit Fritz Hauser Triobox, Aarau Jan Kinsbergen Haus für eine Familie, Langenthal Gramazio & Kohler Einfamilienhaus in Riedikon Blanca Blarer Der doppelte Blick, Eglisau Interview Philippe Rahm 2.2010 Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur International thematic review for architecture Grosser Massstab Large Scale

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architheseGrosser Massstab in Architektur und Städtebau

OMA in Singapur und Dubai

Robin Hood Gardens, London

Märkisches Viertel, Berlin

Ørestad, Kopenhagen

IJburg, Amsterdam

Wallisellen, Zürich

Graz-Reininghaus

Bigness populär

Boa Baumann mit Fritz Hauser Triobox, Aarau

Jan Kinsbergen Haus für eine Familie, Langenthal

Gramazio & Kohler Einfamilienhaus in Riedikon

Blanca Blarer Der doppelte Blick, Eglisau

Interview Philippe Rahm

2.2010

Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur

International thematic review for architecture

Grosser Massstab

Large Scale

Allreal-Gruppe:Zürich,B

asel,B

ern,St.Gallen

www.allreal.ch

Immobilien

Projektentwicklung

Realisation

Kauf/Verkauf

8005 Zürich:Hier plant Allreal das Wohnhochhaus

Escher-Terrassenwww.escherterrassen.ch

Foto:Lukas

Wassm

ann

Leserdienst 124

2 archithese 2.2010

E D I T O R I A L

Grosser Massstab

Im grossen Massstab zu denken und zu bauen bleibt ein Faszinosum für Archi-

tekten. Standen Architekten, wie Friedrich Nietzsche es formulierte, seit jeher

unter der «Suggestion der Macht», so hat die Frage der Bigness seit Rem Koolhaas’

gleichnamigem Essay an Aktualität gewonnen. Grossmassstäblich können Ein-

zelobjekte sein, denen das Potenzial zuerkannt wird, aufgrund ihrer Dimension

vorfindliche städtische Situationen grundlegend zu verändern und die damit für

das city branding relevant werden. Grossmassstäblich aber zeigen sich auch zeit-

genössische europäische Stadterweiterungskonzepte. archithese stellt in diesem

Heft paradigmatisch Konzepte für Stadterweiterungen vor: IJburg bei Amsterdam

und Ørestad in Kopenhagen.

Während in IJburg auf das kleinteilige Schema des verdichteten Einfamilien-

hausbaus zurückgegriffen wird, wie es für die Niederlände, aber auch England

seit jeher typisch ist, tendiert die Siedlungsbautätigkeit in der Schweiz in den ver-

gangenen Jahren zur Wiederentdeckung des Wohnblocks. Dafür mag man mehrere

Gründe anführen: Grosse und kompakte Volumina kommen den Minergienormen

entgegen und werden durch das Instrument der Arealüberbauung begünstigt.

Zugleich aber ist ein Interesse von Architekten der jüngeren und mittleren Gene-

ration an der Architektur der Sechzigerjahre zu diagnostizieren. In einer Ära, in

der man zwischen Desillusionierung und Pragmatismus navigiert, kann selbst der

Rückblick auf die Spätmoderne zur Verheissung werden. Die Grosssiedlungskom-

plexe der Zeit liessen zumindest noch den Anschein einer Utopie vom besseren

Leben erahnen. Separate Beiträge dokumentieren die historischen Hintergründe

zweier markanter Siedlungen der Zeit – Robin Hood Gardens in London und Mär-

kisches Viertel Berlin – und widmen sich den heutigen Problemen ihrer Erhaltung.

Im Kontrast zu den grossmassstäblichen Planungen werden in Architektur ak-

tuell vier kleine Schweizer Projekte vorgestellt.

Redaktion

Emile Aillaud:

Grosssiedlung

Les Courtillières,

Pantin, 1957–1964

(aus: archithese 5’84)

121904_225x297_d_K_S1_Arc 1 29.9.2009 11:38:11 Uhr

26 archithese 2.2010

A R C H I T E K T U R A K T U E L L

Neue Perspektiven

27

BLANCA BLARER: DER DOPPELTE BLICK,

EGLISAU

Wenn Kunst am Bau zur Behübschung wird,

diskreditiert sie sich vollends. In Eglisau ist

eine wegweisende Arbeit realisiert worden, die

poetische und absurde Elemente vereint und

aus der Autonomie gegenüber der Architektur

ihre Kraft bezieht.

84 Meter Länge, 57 Meter Breite, 22 Meter Höhe:

So lauteten die geplanten Masse für das automa-

tisierte Hochregallager der Thurella AG in Eglisau.

Als zonenkonform konnten diese Dimensionen nicht

gelten, und so wurden seitens der Bewilligungsbe-

hörden besondere Ansprüche an die Gestaltung

eingefordert. Bei Hochregallagern, massigen, stahl-

blechverkleideten Volumen – der in Eglisau gelagerte

Obstsaft verträgt überdies keinen Lichteinfall –,  ist

der Spielraum für architektonische Gestaltung indes

praktisch nicht vorhanden. Daher entschied man

sich, mit einem Wettbewerb für ein Gestaltungs-

und Farbkonzept den «Dialog» des Baukörpers mit

der landschaftlichen Umgebung und den bestehen-

den Bauten zum Thema zu machen. In einem Wett-

bewerb unter sechs eingeladenen Künstlerinnen

und Künstlern konnte sich Blanca Blarer mit ihrem

Konzept Der doppelte Blick gegenüber der Konkur-

renz durchsetzen. Die Künstlerin hatte erkannt, dass

Konzepte, das Hochregallager gefälliger zu gestal-

ten, in die Irre führen mussten: keine Versuche also,

das massige Volumen aus silbrigem Stahlblech klei-

ner erscheinen zu lassen, keine Behübschung, keine

verniedlichende Dekoration. Ziel ist es somit nicht,

die Widersprüche zwischen einem weiterhin roman-

tisch geprägten Blick auf die Rheinlandschaft bei

Eglisau und den Anforderungen der modernen In-

dustriegesellschaft zu verwischen oder zu kaschie-

ren, sondern, ganz im Gegenteil, sie zum Thema zu

machen, offenzulegen. Ausgangspunkt für Blarers

Intervention war Roland Barthes’ Essay über den

2

36 archithese 2.2010

Text: Robert Kaltenbrunner

Mit Blick auf den seinerzeit noch unvollendeten Kölner Dom

hatte 1814 kein Geringerer als Johann Wolfgang von Goethe

eine Rechtfertigung für den grossen Massstab beim Bauen

gefunden: «Denn vollendet bringt ein groß gedachtes Meis-

terwerk erst jene Wirkung hervor, welche der außerordentli-

che Geist beabsichtigte: das Ungeheure faßlich zu machen.

Bleibt aber ein solches Werk unausgeführt, so hat weder

die Einbildungskraft Macht noch der Verstand Gewandtheit

genug, das Bild oder den Begriff zu erschaffen.» Derartige

Bilder im baulich-räumlichen Sinne neu entstehen zu lassen,

ist seither immer wieder versucht worden – nicht nur mit-

tels Architektur, sondern auch, indem man das Urbane in

den Fokus nahm. Ohnehin scheint das planerische Denken

bezüglich der Stadt von einem Ganzheitsbild geprägt. Dazu

trägt wiederum die einschlägige Historiografie nicht unwe-

sentlich bei; sie zeigt üblicherweise die Stadt in jener Per-

spektive, an welche uns die Vergangenheit des Städtebaus

gewöhnt hat: als Produkt von Ideen und Initiativen, als Werk

weitblickender Politiker, aktiver und manchmal philanthropi-

scher Unternehmer, als Geniestreich begabter Planer. In die-

ser Geschichte wären die repräsentativen Veranstaltungen

des neueren Städtebaus zu benennen: die imperialen Ver-

wandlungen von Paris unter Napoleon III. und Baron Hauss-

mann sowie von Wien unter Franz Joseph I.; oder auch Luigi

Costas und Oscar Niemeyers Brasilia sowie Le Corbusiers

Chandigarh, die in Beton gegossenen Apotheosen neuer «de-

mokratischer» Hauptstädte. All diesen Unternehmungen, so

1 Luftbild des Zent-

rums von Almere

(Foto: OMA)

Zur Frage des Massstabs in Architektur und Städtebau In der städtebaulichen

Praxis konkurrieren längst grossmassstäbliche Projekte mit punktuellen Interven-

tionen. Die dahinterstehenden Vorstellungen sind dabei komplementär, zeigen sich

im Glauben an die Formbarkeit der Stadt durch einzelne Planer und der Stadt als

heterogenes, wandelbares Netzwerk.

GROSSE SYSTEME

37

unterschiedlich, ja gegensätzlich sie im Einzelnen auch wa-

ren, eignete ein gemeinsamer Wesenszug: der Glaube an die

Formbarkeit der Stadt.

Grosse Projekte als urbanistische Surrogate

Doch diese Zuversicht ist schwer erschüttert worden, der

Städtebau der grossen Systeme längst obsolet. Und die en-

zyklopädische Vollständigkeit eines flächendeckenden Plans,

der vorgibt, alle Probleme auf einmal lösen zu können, er-

weist sich bloss als frommer Wunsch. Mag man «die Urbani-

tät» auch wortreich preisen, so wird ihr Erscheinungsbild –

sieht man einmal von den oft herausgeputzten Innenstäd-

ten ab – in Fachkreisen zumeist wenig geschätzt. Polemisch

nimmt man die Massstabslosigkeit, die geschwürartigen Wu-

cherungen der Konsumgesellschaft beziehungsweise ihres

räumlichen Ausdrucks zur Kenntnis. Die Diagnose ist für den

Eingeweihten klar: «Bei der Herausbildung der zeitgenössi-

schen Stadtlandschaften ist ein architektonisches Verständ-

nis von Raum überhaupt kein Thema. Die Gesellschaft baut

sich ihre Räume auch ohne Architekten und ohne sie mit

Raumqualitäten anzureichern, welche die Architektur bei-

steuern könnte. Die Artikulation von Raum ist der Urbanis-

tik abhanden gekommen.»1 Gleichwohl ist ein Zurück zum

«grossen Plan» und zum omnipotenten Städtebauer derzeit

alles andere als realistisch. Zudem gibt es in unserem Ge-

meinwesen keine politische Institution, die einen solchen

Kraftakt heute noch bewältigen könnte. (Selbst ein Mitter-

rand hat ja in seiner Kapitale letztlich nur einzelne grand

projets befördern können.) Wenn man aus dem einhelligen

Befund also nun die Theorie ableitet, «dass Kontingenz nicht

durch architektonische Enthaltung erreicht wird, denn wirk-

lich neutrale Räume gibt es gar nicht, sondern im Gegenteil

durch architektonische Prägnanz»2, so scheint das zwangs-

läufig in ein urbanistisches Surrogat einzumünden: das mög-

lichst grossmassstäbliche Projekt.3

Zwar wird die Konzentration der stadtplanerischen An-

strengungen auf Schlüsselprojekte4 allerorts praktiziert,

erweist sich aber bei näherem Hinsehen als durchaus

zwiespältig. Denn die vielzitierte «Festivalisierung» der

Stadtentwicklung, die vornehmlich Grossereignisse fokus-

siert und Manpower, Fach- und Entscheidungskompetenz

sowie finanzielle Ressourcen bündelt in der Hoffnung, Syn-

ergieeffekte und sichtbare, exemplarische Erfolge zu erzielen,

schwebt permanent in der Gefahr, dass dies zulasten einer

notwendigerweise breiter angelegten urbanistischen Inter-

vention geht. Und bestimmte Fragen, etwa nach langfristi-

gen Perspektiven oder dem Verhältnis von symbolischem

Ertrag zu realem (stadtgesellschaftlichem) Nutzen, werden

lieber gar nicht erst gestellt.

Leichthändig ein Urteil über die Angemessenheit der

urbanistischen Vorgehensweise zu fällen, sollte sich indes

verbieten. Städte sind komplexe Phänomene. Keine Theorie

oder noch so multiple Kombination von analytischen Metho-

den können die Vielfalt dessen, was sich in einer grösseren

Stadt abspielt, vollständig abbilden. Selbst wenn man sich

nur auf den Aspekt städtischer Raumbildung und -nutzung

beschränkt, kann öffentliche Steuerung und Planung an herr-

schenden Bewegungen bestenfalls gewisse Ausprägungen

beeinflussen.

Bigness

In der Vergangenheit war das sicherlich einfacher, wobei

dem unmittelbar sinnlichen Eindruck grosse Bedeutung

zukam. Schon der klare und formale Gegensatz zwischen

Stadt und Land – verkörpert und symbolisiert bereits in der

Antike durch die Stadtmauer – hat offenkundig eine starke

ästhetische Wirkung gehabt. Lewis Mumford zufolge «be-

gründete und unterstützte die Kunst mit einer Wirkung, die

weit über blosse Worte hinaus ging, alles, was die neue

Ordnung eingeführt hatte, um die Dimensionen des alten,

rein agrarischen Raums zu ändern: vor allem die Macht der

ungezügelten Phantasie selber, das Mögliche in das Wirk-

liche zu verwandeln und die bescheidenen Gewohnheiten

des täglichen Lebens zu prachtvollen Gebilden zu vergrös-

sern».5 Es scheint dies eine bleibende Disposition zu sein, die

auf die Frage, wie man heute urbanistisch zu agieren habe,

zurückwirkt: «Eine der neuen Antworten war das Konzept

von Bigness, die Vorstellung, unter den Bedingungen moder-

ner Stadtentwicklung könne nur das sehr grosse, komplexe

Projekt genügend Kraft entwickeln, um Weichen zu stellen,

neue räumliche Ordnungen zu etablieren und Orte zu markie-

ren.»6 Geprägt wurde diese Vorstellung von Rem Koolhaas,

2 Rem Koolhaas:

Einleitende Dop-

pelseite zum Essay

«Bigness»

(aus: S,M,L,XL, New York 1995, S. 494 f.)

42 archithese 2.2010

Office for Metropolitan Architecture

Text: Rahel Kesselring

The Interlace in Singapur versteht sich als eine neue Typolo-

gie zeitgenössischen Siedlungsbaus. Anstelle von einzelnen,

turmartigen Gebäuden – der vorherrschenden Wohnbau-

typologie in Singapur – schafft der Entwurf ein komplexes

System von Wohnräumen und öffentlichen Bereichen. Im

Vergleich zu Wabensiedlungen der Sechzigerjahre (Bijlmer-

meer Amsterdam, Park Hill Estate Sheffield) handelt es sich

bei The Interlace allerdings um eine Anlage von Luxusap-

partements. 31 Wohnblöcke, alle sechsgeschossig und von

gleicher Dimension, sind so gestapelt, dass sie eine hexago-

nale, durchlässige Struktur ergeben, welche acht gewaltige

Höfe umschliesst. Die verzahnten Wohnblöcke schaffen eine

vertikale Stadt, bestehend aus gemeinschaftlichen und pri-

vaten Bereichen auf mehreren Ebenen. Während einerseits

die Privatsphäre der einzelnen Wohnungen durch die schiere

Grösse der Wohnbauten gewährleistet ist, wird andererseits

auf den Dächern des Gebäudekomplexes ein Netzwerk öf-

fentlicher Aussenräume geschaffen, welches in seiner Ge-

staltung die nahe Umgebung wiederaufnimmt. Der 170000

Quadratmeter grosse Projektperimeter liegt zwischen Kent

Ridge Park und Mount Faber Park im Süden Singapurs in

einem üppig bewachsenen Hügelgebiet. Der Baubeginn der

Siedlung ist auf dieses Jahr angesetzt.

THE INTERLACE1–4 Office for

Metropolitan Archi-

tecture (OMA), The

Interlace, Singapur,

2010

(Visualisierungen: OMA)

43

58 archithese 2.2010

Text: Jan Geipel

Kopenhagen, die königliche Metropole am Øresund, gilt laut

international vergleichenden Rankings weiterhin als eine der

lebenswertesten Städte der Welt und wächst – trotz Krise,

Steuerdruck und einem bekanntlich wenig erfolgreichen

Klimagipfel im vergangenen Dezember – kontinuierlich und

gewaltig. Noch hält das Tourismusamt der Stadt beharrlich

am suggestiven Werbeslogan des traditionsgeprägten Won-

derful Copenhagen fest. Auch auf der unmittelbar bevorste-

henden Weltausstellung in Shanghai präsentiert Dänemark

mit Welfairytales – einem wohlklingenden suggestiven Wort-

verschnitt aus Wohlfahrtsstaat und Andersens Märchenwelt –

ein eher konservativ-romantisches, emotional aufgeladenes

Stadt- und Selbstverständnis. Die perforierte Aussenhülle

des Pavillons zeigt die scherenschnittartige Altstadtsilhou-

ette Kopenhagens, Mittelpunkt des Innenraums bildet ein mit

dänischem Wasser gefülltes Bassin und die für diesen Zweck

eigens eingeflogene Meerjungfrau (vgl. S. 86). Wer jetzt nach

ein paar Jahren das Ziel seiner Reise wieder in die königliche

Hauptstadt legt, wird feststellen, dass die Tourismusstrate-

gen noch nicht richtig in der Zukunft der eigenen Stadt ange-

kommen zu sein scheinen, oder ihr Marketing einer selbstbe-

wussten Modernisierung und Neudefinition bedarf.

Halbzeit in Ørestad, Kopenhagen Nur wenige Minuten vom Stadtzentrum Kopenhagens entfernt und mit der

Metro perfekt erschlossen, liegt Ørestad, Dänemarks grösstes Stadterweiterungsareal. Trotz einigen Planungsfehlern

darf das Projekt als weitgehend gelungen angesehen werden.

DER SECHSTE FINGER

Transformation eines Militärgeländes

Bereits ein flüchtiger Streifzug auf dem aktuellen Stadtplan

lenkt die Aufmerksamkeit vom leicht erkennbaren Zentrum

der unter Christian IV. ab dem 17. Jahrhundert entwickel-

ten Innenstadt weg Richtung Süden, auf ein scharf umris-

senes, nahezu schnurgerades Patchwork aus grossformati-

gen räumlichen Figuren. Ein vergleichender Blick auf den

1947 beschlossenen Fingerplan zur zukunftsweisenden Ent-

wicklung, Transformation und Verdichtung der dänischen

Hauptstadt weist hier inzwischen einen markanten sechsten

Finger südlich des Zentrums auf. Das 3,1 Millionen Quadrat-

meter grosse, annähernd flache Gelände auf der Insel Ama-

ger, in der Nähe des Flughafens Kastrup, wurde vorher als

militärisches Übungsgelände genutzt und ist augenblicklich

Schauplatz der umfassendsten städtebaulichen Veränderun-

gen Kopenhagens.

Die städtebauliche Gesamtkonzeption basiert auf einem

1994 ausgeschriebenen internationalen Wettbewerb, aus

dem das finnisch-dänische Joint Venture ARKKI als erfolg-

reicher Gewinner unter vier prämierten Projekten hervorging.

Die zuständige Entwicklungsgesellschaft hat die Konzeption

von Beginn an als ambitiöse, vollwertige, dichte, funktions-

durchmischte Stadt verstanden, sie gedacht und entwickelt

1 Ørestad von

Süden. Im Vor-

dergrund das 8

House von BIG,

im Hintergrund

die Innenstadt von

Kopenhagen

(Foto: Dragør Luftfoto)

59

2 Fingerplan von

Kopenhagen, 1947

(Abb. 2, 4–6: Archiv Hubertus Adam)

3 ARKKI: Master-

plan für Ørestad,

1994

sowie verbindliche Gestaltungsprinzipien und Richtlinien

festgelegt: eine direkte Verbindung zwischen entstehender,

dichter, partiell auch in die Höhe zu entwickelnder Stadt und

existierender naturschöner Umgebung mit hoher Erholungs-

qualität, ein exzellentes Wegenetz für Fussgänger und Fahr-

radfahrer, Kanäle und Seen als gestalterisches Leitelement,

hohe Anforderungen an die Nachhaltigkeit, eine durchdachte

Parkplatzpolitik, und als Bindeglied die Errichtung einer Me-

trolinie, finanziert durch den Verkauf von Bauland in Ørestad.

Transnationale Verbindung

Der Startschuss wurde ursprünglich von der 1993 gegründe-

ten Ørestad-Gesellschaft initiiert. 2007 wurde diese mit Kø-

benhavn Havn, einer für die innerstädtischen Hafenbereiche

zuständigen Entwicklungsgesellschaft, fusioniert und fir-

miert seither unter dem Namen By & Havn, übersetzt «Stadt

und Hafen». Diese zeichnet nunmehr verantwortlich für die

künftige Weiterentwicklung des Stadtteils, daneben auch

für die in der Entstehung befindlichen Hafenbereiche Slu-

seholmen, Teglholmen und Nordhavnen. Der Name Ørestad

wurde bereits seit den Fünfzigern und Sechzigern verwendet

und bezeichnete damals noch etwas diffus den wirtschaftlich

zu entwickelnden Bereich beiderseits der Meeresenge

Øresund – mit der Kopenhagener Metropolregion auf der

dänischen Seite und der Region Skåne mit den Städten

Malmø, Lund und Helsingborg auf der schwedischen Seite.

Aber erst seit Juli 2000 verbindet, ganz in der Nähe von Øre-

stad und jetzt davon profitierend, ein Brückenbauwerk über

den Øresund die Städte Kopenhagen und Malmø. In elegant

geschwungener Linie ist die Brücke technisch, logistisch und

politisch ein tragfähiges Symbol für den politischen Willen,

länder übergreifend eine kollektive Identität als konkurrenz-

fähiger European Player auf- und auszubauen und die Wirt-

schaftsregion in einer zusammenhängenden Region strate-

gisch miteinander zu vernetzen.

Unter dänischen Architekten und Stadtplanern allerdings

gab es damals vehemente Vorbehalte gegenüber der Idee

von Ørestad und ein entsprechend verhaltenes Interesse am

Wettbewerb. Man zeigte sich skeptisch gegenüber der für

dänische Verhältnisse massstabssprengenden Grössenord-

nung. ARKKI jedenfalls hat den extrem gestreckten Zuschnitt

dieses sechshundert Meter breiten, fünf Kilometer langen

Teppichs kraftvoll ausgelegt und in vier von Nord nach Süd

gelesene Quartiere unterteilt. Die künftigen Stadtviertel

Ørestad Nord, Amager Fælled, Ørestad City und Ørestad

Süd wurden mit jeweils individuellen Charakteristika und

unterschiedlicher Gewichtung der dort etablierten Funktio-

nen ausgestattet. Die Metrolinie als infrastrukturelle Wirbel-

säule mit dichtem Takt, dichtem Stationsnetz und vierund-

zwanzigstündigem Betrieb und ein parallel dazu errichteter

Boulevard wurden bereits 2002 fertiggestellt. Die Metro ver-

läuft in einer über Kanälen, Bassins und dazwischengeschal-

teten Grünbereichen schwebenden Hochtrasse und offeriert

in Querrichtung zwischen den Quartieren eine hohe visuelle

wie strukturelle Durchlässigkeit. Damit war ein ganz wesent-

licher Generator für die nachfolgende Bauaktivität geschaffen.

78 archithese 2.2010

«Alles, was in Wirklichkeit das Leben ausmacht, kommt nach-

her – alles, was den Profit ausmacht, kommt davor.»

Ernst Scholdan, Privatinvestor

Text: Martin Zettel

Bereits im 14. Jahrhundert erweiterte Graz sein Stadtge-

biet über die Mur nach Westen bis zur heute noch immer

existierenden Alten Poststraße, um von dem an Graz vorbei-

fliessenden Alpen-Adria-Verkehr Maut einheben zu können.

Dem Mauthaus folgte eine Gastwirtschaft, deren Besitzer

1669 vom Fürsten zu Eggenberg die Erlaubnis für die Er-

richtung einer Brauerei erhielt. Diese wurde in der Folgezeit

von Johann Peter und Therese Reininghaus samt Mauthaus

und 45 Hektar Land erworben. Mit der Gründung der Firma

Brüder Reininghaus wurden in den darauffolgenden Jahr-

zehnten auf diesem Areal mehrere Eisteiche angelegt, ein

Kanal zur Mur gegraben und das Gelände 1882 schliesslich

an die Südbahn angeschlossen.1 Unter der Diktatur der Na-

tionalsozialisten wurde zu Beginn des Zweiten Weltkriegs

auf Grundlage eines Masterplans für «Gross-Graz» die Ge-

meinde Eggenberg, auf der sich das Gebiet heute befindet, in

die Stadt eingegliedert.2 Die bis zum Kriegsende durch Bom-

benangriffe stark beschädigte Brauerei Reininghaus wurde

mit Ende des Zweiten Weltkriegs mit der Brauerei Puntigam

(im Stadtteil Graz-Puntigam) zur Steirerbrau AG zwangs-

fusioniert und die Bierproduktion komplett nach Puntigam

verlagert, Ländereien und Gebäude wurden verpachtet und

die Freiflächen fielen zum Teil bis heute andauernder land-

wirtschaftlicher Nutzung zu.

Erst Anfang der Neunzigerjahre gaben die damaligen

Besitzer des Areals gemeinsam mit der Stadt eine Verwer-

tungsstudie in Auftrag, aus der das Konzept für einen neuen

Kulturstadtteil resultierte. Wie viele andere Überlegungen,

zum Beispiel die Errichtung eines «Wonder World of Music»-

Themenparks3 oder eines Olympischen Dorfes (für den Fall

Die Planungsgeschichte von Graz-Reininghaus In Graz, der

zweitgrössten Stadt Österreichs, wird ein neuer Stadtteil entwickelt.

Mit neuartigen Entwicklungsstrategien hat eine private Immobilien-

entwicklungsgesellschaft versucht, einen 54 Hektar grossen Stadt-

teil auf dem ehemaligen Brauereigelände Reininghaus entstehen zu

lassen – und doch ein vages Erbe hinterlassen.

VISION, UTOPIE, KALKÜL

1 Flächenvergleich:

Graz-Reininghaus

und Altstadt

(Asset One)

2 Graz-Reining-

haus: Blick in Rich-

tung Nord-Osten

(Asset One)

79

3 Die Brauerei

Reininghaus um

das Jahr 1908

einer positiven Bewerbung für die Winterspiele 2002), blie-

ben diese Konzepte unrealisiert.4 Als erster Impuls für die

Aufwertung des Grazer Westens gilt die im Rahmen des

EU-Programms URBAN5 unter Beteiligung der Stadt Graz

ab 1997 in unmittelbarer Nachbarschaft angesiedelte Fach-

hochschule Joanneum. In den darauffolgenden Jahren kam

es nach einer weiteren erfolgreichen Bewerbung der Stadt

Graz für das Programm URBAN II mit dem Titel «Urban_Link

Graz-West» zum Bau der Helmut-List-Konzerthalle und zum

Ausbau des Fachhochschulcampus Graz-West.6

Spekulation

Während dieser punktuell fortschreitenden Entwicklungs-

phase übernahm 2003 die Brau Union die Steirerbrau AG,

welche wiederum von der Heineken AG erworben wurde.

Diese Übernahmen wurden damals von Ernst Scholdan und

seinem Beratungsunternehmen DDWS betreut, der dadurch

über viele Jahre hinweg das Portfolio dieser Konzerne beob-

achten konnte. Als Heineken im Jahr 2005 die ehemaligen

und für den Brauereibedarf nicht mehr betriebsnotwendi-

gen Immobilien abspaltete und von diesen ursprünglich 3,4

Millionen Quadratmetern Fläche 2,7 Millionen verkaufte,

schlug Ernst Scholdan mit der von ihm eigens für den Kauf

gegründeten Immobilienentwicklungsgesellschaft Asset

One zu. Für einen Kaufpreis von rund 260 Millionen Euro

übernahm Asset One ein Paket mit Zinshäusern, Super-

edifikaten (Grundstücke mit Baurechten) und 1,5 Millionen

Quadratmetern Industrieland an den Standorten Wien, Linz,

Salzburg und Graz. Die Flächen in Wien und Linz wurden

als strategisch uninteressant deklariert und sofort weiter-

verkauft. In Graz verteilte sich die Fläche auf die nicht zu-

sammenhängenden Grundstücke von Graz-Puntigam sowie

Graz-Reininghaus, wobei letzteres als einziges eine kom-

pakte Grundstücksfläche mit einer Grösse von 540000 Quad-

ratmetern aufweist. Allerdings wurde für dieses als Gewer-

begebiet ausgewiesene Grundstück zunächst weder eine

langwierige Flächenumwidmung beantragt noch wurden

Bebauungspläne entwickelt. Scholdan spekulierte somit mit

Flächen, die der notwendigen Widmung als Kerngebietszone

für eine mögliche Umsetzung seiner späteren Vision noch gar

nicht entsprochen haben.

«Wie macht man eine Stadt?»

Das heute grossteils brachliegende Gebiet liegt rund zwei

Kilometer vom flächenmässig etwa gleich grossen, UNESCO-

geschützten Altstadtkern der Landeshauptstadt entfernt. Es

ist im Grazer Bezirk Eggenberg im Westen der Stadt einer-

seits von Wohn- und Gewerbegebieten und andererseits von

Industriearealen umschlossen. Die enorme Grösse der Fläche

veranlasste Scholdan anfangs dazu, ein gesamtstrategisches

Konzept für ein «zweites Stadtzentrum» erarbeiten zu lassen

– ein Prozess, in den er sich selbst zu Beginn stark einband.

Mit dem Anspruch «Wie macht man eine Stadt?» stand seine

allgemeine Frage im Raum, und er baute sich auf jenem Ge-

lände im Jahr 2007 erstmal seine – wie er meinte – «fiktive

kleine temporäre Stadt» – in Form eines internationalen Ten-

nisturniers. Ziel dieser Marketingstrategie war, das brachlie-

gende Gebiet aus der Anonymität – die aus Scholdans Sicht in

den Köpfen der Bewohner für diesen Ort herrschte – heraus-

zuheben. Initialzündung waren die «Konzeptionen des Wün-

schenswerten» von 2006: 32 ausgewählte Grazer Bürger dis-

kutierten unter der Leitung von Asset One über die Stadt von

Morgen und wurden auf Ideensammlung und Exkursionen

geschickt. Besonders und von strategischer Bedeutung ist,

dass der Stadtbaudirektor und der Leiter des Stadtplanungs-

amtes bereits in dieser Phase integriert wurden – allerdings

nicht in ihren Amtsfunktionen, sondern als Privatpersonen.

Als Ergebnis dieses ersten Nachdenkprozesses entstand ein

Buch, das die Berichte und Erfahrungen dokumentiert und

unter anderem auf der MIPIM-Immobilienmesse in Cannes