tödliche lust – sadistischer fetischismus

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Nervenarzt 2009 · 80:1366–1370DOI 10.1007/s00115-009-2705-5Online publiziert: 5. April 2009© Springer Medizin Verlag 2009

Tödliche Lust – sadistischer Fetischismus

Leserbriefe

Leserbrief

A. SpenglerWunstorf

Paraphilien gehen nicht regelhaft mit Delinquenz einher, auch nicht beim sexuellen Sadismus

1. DSM-IV-TR302.84erfasstimKrite-riumAmitdenintensiverregendenPhantasienunddranghaftenBedürf-nissenauchFälle,beidenendasVer-haltennichtrealisiertwird.DiesmussnachKriteriumBmitdeutlichemLeidenoderzwischenmenschlichenSchwierigkeiteneinhergehen.

2. KlinischsindFällebekannt,beide-nensichfixierte,auchprogredientesadistischeParaphilienausschließ-lichinderPhantasieundmasturba-torischabspielen,teilweisemitfikti-verInszenierungsadomasochistischerBeziehungskonstellationeninTagebü-chern,PublikationenoderimInter-net.GleichesgiltgrundsätzlichfürdiePädophilie.SadomasochismusistoftmitMasochismusoderFetischismusvergesellschaftet.ErkommtebensobeihomosexuellwiebeiheterosexuellorientiertenPersonenvor,selteneralsbeiMännernauchbeiFrauen[1].

3. SubkulturellorganisierteSadomaso-chistensindeinekleineMinorität,aberihreZahlistnichtaufEinzelfällebeschränkt[7].AngehörigederSub-kulturinteragierenritualisiertundpartnerschaftlichaufgrundvonVer-haltensregeln,diedieEinwilligungdesmasochistischagierendenBetei-

ligtenabsichern.InihrerProgram-matikgrenzensiesichvon„real-sadis-tischem”Verhaltenstriktab.Spezi-alisiertePrintmedienerreichenfes-teLeserkreise,einSM-HandbuchvonM.GrimmeausdemCharon-VerlagHamburg1997erreichteeineAuflagevon55.000.DieGruppenstellensichimInternetdarunderreicheninFo-rennochgrößereTeilnehmerzahlen.InrepräsentativenStudienbeihomo-sexuellenMännern[2]undFrauenbeschrieben10bzw.3%einedeutlichesadomasochistischePräferenz.Frage-bogenstudienoderOnline-Umfragen[7]indersadomasochistischenSub-kulturgebennurindirektHinweisezurparaphilenFixierungen.

4. EmpirischeStudienbeiNutzernsa-domasochistischerMedienundMit-gliedernihrerOrganisationen[3,5,6]zeigten,dassauchPersonenanderSubkulturpartizipieren,dieniemalsPraktikenmiteinemrealenPartnerrealisieren(4bisüber20%).6bisüber20%derBefragtenbekunden,dasssiesexuellausschließlichmitsadomaso-chistischenPraktikenBefriedigungfinden.DabeiistnureineUntergrup-peexklusivaufdiesadistischeRolleeingestellt(10–20%).JenachUmfrageoderStudiehaben1–16%bereitswe-genihrersadomasochistischenOri-entierungeinenTherapeutenaufge-sucht.3–10%derBefragtenhaltenih-rePräferenzfürkrankhaft,erlebensichalstherapiebedürftigundoderleidensubjektivunterihrerFixierung[5].

5. DieDSM-KriterieneinesSadismusscheinennurbeiwenigenorganisier-tenSadomasochistenerfüllt.Den-nochübersteigendiesezahlenmäßigbeiweitemdieFälle,beidenengra-vierendeDeliktezurStrafverfolgungführen.Gewaltsamdelinquentwer-

densehrwenigehochabnormebzw.schwergestörteisolierteEinzelper-sonen.SubkulturelleKanalisierungsadistischerBedürfnisseindiziertmeisteinekompromisshafteodereherstabileVerarbeitung.Das„Aus-leben”vonSadismusohneGesetzes-verstoßkommtalsoregelhaftvor.

6. InderGesamtschauerscheintessinn-voll,auchParaphiliendurcheiner-weitertesVulnerabilitäts-Stress-Mo-dellzuerklären,beidembiologischePrädispositionundfrüheBindungs-störungen,auchTraumatisierungendenHintergrundfüreinespätereStö-rungsdynamikbilden,diesichauchüberJahrzehnteentwickelnkann.Or-ganischeFaktorenwiediegelegent-lichbeschriebenenTemporallappen-veränderungenerhöhendasRisikoeinerParaphilie.Klinischundforen-sischscheinenFällevonSadismusmiteinerfrühenspezifischenPrägung(ähnlicheinerTraumatisierungoderinitialenSuchterfahrung)nichtselten[6]undwurdenschoninderfrühenSexualwissenschaftbeschrieben.

7. ImkonkretenFallscheintdiesadis-tischeKomponentevonAnbeginnmitderfetischistischenamalgamiert.DerstärkertabuisiertesadistischeAnteilscheintimSelbstbildundinderSelbstdarstellungderBetroffenenhinterdemsozialakzeptablerenFeti-schismuseherverborgen.

KorrespondenzadresseProf. Dr. A. SpenglerRotdornstraße 10, 31515 Wunstorf  andreas.spengler@t-online.de

Zum Beitrag

Nedopil et al (2008) Tödliche Lust – sadisti-scher Fetischismus. Zur forensisch-psychia-trischen Begutachtung von Sexualstraftätern. Nervenarzt 79(11):1249–1262

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Literatur

1.   Breslow N, Evans L, Langley J (1985) On the preva-lence and roles of females in the sadomasochistic subculture: Report of an Empirical Study. Arch Sex Behav 14:303–317

2.   Dannecker M, Reiche R (1974) Der gewöhnliche Homosexuelle. Fischer, Frankfurt

3.   Moser C, Levitt EE (1987) An Exploratory-Descrip-tive study of a sadomasochistically oriented samp-le. J Sex Res 23:322–337

4.   Schorsch E, Pfäfflin F (1994) Die sexuellen Devi-ationen und sexuell motivierten Straftaten. In: Venzlaff U, Foerster K (Hrsg) Psychiatrische Be-gutachtung. 2. Aufl. Gustaf Fischer, Stuttgart Jena New York, S 323–368

5.   Spengler A (1977) Manifest Sadomasochism of Males: Results of an empirical Study. Arch Sex Be-hav 6:441–456

6.   Spengler A (1979) Sadomasochisten und ihre Sub-kulturen. Campus Frankfurt, New York – mit einem Vorwort von E Schorsch.

7.   http://www.datenschlag.org/umfrage und../txt/statistik

Leserbrief

W. Berner, A. Hill, P. BrikenInstitut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie, Zentrum für Psychosoziale Medizin, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Die Darstellung eines außergewöhn-lichenFallesvonsadistischemFetischis-mus,derzurTötungvonmindestens6Frauen (darunter ein 14-jähriges Mäd-chen)führteundschließlichzumSelbst-morddesTätersinderHaft,istausvie-lenGründenbemerkenswert.ManmussderArbeitsgruppevonProf.Nedopilau-ßerordentlichdankbarsein,dasssiedie-senFalleinschließlichderneuropatho-logischenBefunde(multiplemeistsub-kortikalgelegenebiszu6×10mmgroßeMarklagerläsionenimMRT,Hämosiderin-ablagerungenindenStammganglien,as-trozytäreZellvermehrungimBereichderVierhügelplatte–dieseBefundewurdenimSinneeinerzerebralenArterioskleroseinterpretiert)sogenaudokumentierthat.DiesexuelleunddieDelinquenzentwick-lungwerdenbewusstnichtalsobjektiverTatbestand,sondernausderSichtdesTä-ters,wiediesesichinderGutachtenssitu-ationentfaltethat,dargestellt.

OhnedieseVerdiensteschmälernzuwollen,möchtenwiruns–alsArbeits-

gruppe,die sichausführlichmitQuer-schnittsuntersuchungenundKatamne-senvonSexualmördernbeschäftigthat–einigeergänzendeAnmerkungenerlau-ben.DawirnichtGelegenheithatten,denProbandenselbstzuuntersuchen,kön-nenunsereSchlussfolgerungennatürlichnursehrhypothetischbleiben.SiesindalsDiskussionsbeitragzurDarstellungdesBeitragesvonNedopiletal.gedacht.

DieArbeitsgruppeumNedopiletal.brichteineLanzefürdiesogenanntenar-rativeBetrachtungsweise.AusdemNar-rativdesTatgeschehenssollderGutach-terindividuellsinnvolleHypothesenzurGenesederHandlungenunddamitauchzudendemTäterzurVerfügungstehen-denFreiheitsgradeninseinemHandelnableiten.EineArtkomparativePsycho-pathologieisteinesderHauptwerkzeugedesGutachters.Ervergleichtdiebeobach-tetePsychopathologiemitdervonFällen,indenenmanvoneinererheblichver-mindertenSteuerungsfähigkeitodervonEinsichtsunfähigkeitausging(z.B.Hand-lungenvordemHintergrundderSympto-matikeinerSchizophrenie).

Entsprechend dieses Ansatzes kamdieArbeitsgruppevonNedopilzudemSchluss,dassdiefetischistischenHand-lungendesTäterseinemseitderPuber-tätfestgelegten,seinesexuelleErregungweitgehendundfastsuchtartigbestim-mendenMusterentsprochenhätten,wasauchdaranzuerkennengewesensei,dasssichnochbeimGesprächdarüberZei-chen vegetativer Erregung angedeutethätten.FürdasgetriebeneVerwirklichendieserErregungsmusterfandendieAuto-rendieAnnahmeeinererheblichenMin-derungderSteuerungsfähigkeitangemes-sen,nichtjedochfürdiedamitverbunde-neersteTötungshandlung,diesichfürdasMusterdesfetischistischenWühlens indenHaarendesmeistbewusstlosenOp-fersnichtzwingendalsdazugehörigodernotwendigerwiesenhätte.

HiersetztunserZweifelan.Natürlichlässtsichnichtobjektivieren,wiesehrderbeschriebeneTätersichüberdasWüh-len im Haar seines bewusstlosen Op-fershinausirrationalgezwungenfühlte,dieseszutötenoderinwiefernerdieTö-tungzurVerdeckungeinerStraftatdurch-

führte,wiederProbanddiesfürdasers-te Tötungsdelikt angab. Unserer Mei-nung nach spricht aber vieles für stö-rungsbedingtmotivierteTötungen–fürdiespäterenTötungsdelikte,wahrschein-lichähnlichwiefürdaserste–zumalseitdem12./13.LebensjahrdesProbandendasWürgendesOpfersTeilderMasturbatio-nsfantasiengewesenist.

Nedopiletal.führenselbsteineReihevonUntersuchungenan,indenenhirn-morphologischeund funktionelleAuf-fälligkeitenbeiStichprobenvonParaphi-lengefundenwurden.Wirmöchtendi-esenochumzweiergänzen,diesichbe-sondersmitdemZusammenhangzwi-schendiffuserHirnpathologieund(mör-derischen)sexuelldeviantemVerhaltenbeschäftigen[1,3].DanebenwärenabernochArbeitenanzuführen,diesichmitdemVerlaufvon„tödlichemSadismus”beschäftigen[4,5,6].IndiesenArbeitenundnachunsererErfahrunginderBegut-achtungundBehandlungsadistischerSe-xualmördergehenwirdavonaus,dassderWunschnachdertotalenOhnmachtdesOpfersoftsehrfließendindenWunschübergeht,dastoteOpfersexuellzumiss-brauchen.VielesausdensubjektivenAn-gabendesvonNedopiletal.dargestelltenFallesweistindiegleicheRichtung.Derseit der Kindheit bestehende Hass desMannesaufFrauen(gegenüberdenMit-schülerinnen), sein ungehemmtes Tri-umphgefühlnachdererstenTötungeinerMitschülerin,späterseinezunehmendeAusweitungsexuellerHandlungenandentotenOpfern,wennersichhalbwegssi-cherseinkonnte,nichtentdecktwerdenzukönnen.

Beidervergleichendenpsychopatho-logischen Methode werden wir immervon Vorstellungen geleitet, die auf Er-fahrungenmitdenklassischenpsychia-trischenundneurologischenKrankheits-bildern(krankhafteseelischeStörungenimSinnedesStGB)zurückgehen.WennmandenschizophrenenMenschen,derunterdemEinflussimperativerStimmenseinenVatertötet,alseinsichtsunfähigbe-urteilt,danngeschiehtdasunterderVor-stellung,erwäreseinenHalluzinationenausgeliefert; ähnlichverhält es sichbeieinemProbanden,beidemder schwe-repathologischeBefundimGehirnnacheinemSchädeltraumazusammenmitei-

nerdazupassendenPsychopathologiena-hezu„beweist”,dassseinGehirnnichtin-tegrativgenugfunktionierenkonnte.Niereichtdiehermeneutisch-narrativeMe-thodealleinaus,dieauchdergebildeteRichterselbstanwendenkönnte,indemersichderLogikfolgerichtigenHandelnsbedient.DerRichterbenötigtunsereEr-fahrungmitKranken,umseinhermeneu-tischesDenkenzuergänzen.

OftliegtbeisexuellsadistischenTä-terndieStörungvorallemaufdermotiva-tionalenEbeneunddamiteigentlichdemBegriffdergestörtenEinsichtsfähigkeitnäheralsdemderSteuerungsfähigkeit.MitderFähigkeitentsprechendeHand-lungsimpulseaufzuschiebenhabenvieleTäterwenigSchwierigkeiten[2].Dassda-mitbeisadistischenTäternmanchederklassischen Kriterien für eine vermin-derteSteuerungsfähigkeitanihreGren-zenstoßen,habenwirversuchtaufzuzei-gen[2,7,8].

EinwichtigesArgument,eineTötungvordemHintergrundsexuellsadistischerMotivationingewissenFällendennochimZusammenhangmiteinerKrankheitbzw.Störungmiterheblichverminder-terSteuerungsfähigkeitzusehen,kommtaberfürunsauchausderErkenntnis,dassdiemedizinisch-psychologischeMethodederBehandlungnochamehestendazuangetanist,dasstarreErregungsmusterderBetroffenenzuverändern.UnssinddurchausFällebekannt,dieaufeinekom-biniert medikamentös (antiandrogen)psychotherapeutische Behandlung an-sprachenundüberJahregutbetreutwer-denkonnten.EinVergleichzwischenSe-xualmördern,dieimStrafvollzugunter-gebrachtwaren,mitsolchen,dieimMaß-regelvollzugbehandeltwurden,erbrachteaufgrundderwenigenzurVerfügungste-hendenDatenausGutachten,dassPer-sonenmiteinerParaphiliediagnose(se-xuellerSadismus)undschwerenPersön-lichkeitsstörungeneherindenMaßregel-vollzugkamen,dortmeistlängerbehan-deltwurdenunddanneinentendenziellbesserenVerlaufzeigten,alsdieimStraf-vollzugverbliebenen[8].Wirgehenda-herdavonaus,dassesvielenGutachternundRichterneherentspricht,beitödlichverlaufendemsexuellemSadismusvonei-nerStörungauszugehen,dieeineUnter-

bringungimMaßregelvollzugnach§63rechtfertigt.

KorrespondenzadresseProf. Dr. W. BernerInstitut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie, Zentrum für Psychosoziale Medizin, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf  Martinistrasse 52, 20246 Hamburg  berner@uke.uni-hamburg.de

Literatur

1.   Aigner M et al (2000) Brain abnormalities in violent behavior. J Psychol Hum Sex 11:57–64

2.   Briken P (2008) Sadismus im forensischen Kon-text. In: Hill A, Briken P, Berner W (Hrsg) Lustvoller Schmerz. Psychosozial, Gießen, S 213–227

3.   Briken P, Habermann N, Berner W, Hill A (2005) The influence of brain abnormalities on psychosocial development, criminal history and paraphilias in sexual murderers. J Forensic Sci 50:1204–1208

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7.   Hill A, Ujeyl M, Habermann N et al (2008) Schuld-fähigkeit bei sexuellen Tötungsdelikten. Fortschr Neurol Psychiatr 76:343–353

8.   Ujeyl M, Habermann N, Briken P et al (2007) Sexu-elle Tötungsdelikte – Vergleich von Tätern im Straf- und Maßregelvollzug. Nervenarzt 79:587–593

Erwiderung

N. NedopilAbteilung für Forensische Psychiatrie, Psychiatrische Klinik der Universität München

SeltenhabeichnacheinemArtikelsovielRückmeldungenerhaltenwienachjenemüberdensadistischenFetischismus.Inso-fernistsicheraucheinAnliegenderVer-fassererreichtworden,diesesThema–wiedereinmal–einerbreiterenwissen-schaftlichenDiskussionzuzuführen.DieKommentarevonProfessorSpenglerundProfessorBernerundMitarbeiternehmendifferenziertzueinzelnenAspektendesArtikelsStellungundweisenaufgrundei-generwissenschaftlicherErfahrungenzuRechtaufverschiedeneAspektebeiderEinschätzungvonParaphilienhin.Profes-

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Leserbriefe

sorSpengler,dersichmitnichtstraffälliggewordenenSadomasochistenbefassthat,betont,dassParaphiliennichtzwangsläu-figmitDelinquenzeinhergehenunddassdiemeistenMenschenmitStörungendersexuellenPräferenzWegefinden,umih-re Sexualität zu praktizieren, ohne ge-genstrafrechtlicheNormenzuverstoßen.DiesgiltauchfürvieleMenschenmitsa-distischer,masochistischerodersadoma-sochistischerSexualpräferenz.ProfessorBernerundKollegen,diesichmitsadis-tischenMördernbeschäftigthaben,mei-nen,dassdieTötungdesOpfersvondererstenTatanzumSkriptdersexuellenBe-friedigungdesUntersuchtengehörthabeunddassdieforensischeBeurteilungehermitdemKonstruktderEinsichtsunfähig-keitalsmitjenemderSteuerungsfähig-keitgerechtwürde.DieZuschriftenzei-gen,wiesehrderjeweiligeErfahrungshin-tergrunddenFokusderAufmerksamkeitprägt,siesindeswert,sichdetailliertmitihnenauseinanderzusetzen,zumalkaumjemandinDeutschlandübervergleich-bareempirischeErkenntnisseverfügt,wiedieAutorenderbeidenLeserbriefe.

ZunächstzumKommentarvonProfes-sorSpengler:1. ProfessorSpenglerweistzuRecht

auchaufdievielfältigenFormenritu-alisiertersadomasochistischerPrak-tikenhin,dieeinverständlichvonzweiodermehrMenschenzurBefrie-digungihrersexuellenBedürfnisseangewandtwerden1.DieAutorenwolltendieBetroffenenkeineswegskriminalisierenundsindsichauchbewusst,dassfürmanche,dieanihrerAbweichungleiden,derZugangzuderartigenritualisierten,einverständ-lichenundselbstkontrolliertenPrak-tikennichtnurvondenBetroffenenselbergesuchtwird,sondernauchei-nedertherapeutischeOptionenseinkann.

2. ProfessorSpenglerweistfairerweiseauchdaraufhin,dasssichdiesubkul-turellorganisiertenSadomasochistenklarvon„real-sadistischem”Verhal-

1  Spitzfindig könnte man zwar anfügen, dass auch die Körperverletzung eines anderen im sadistischen Ritual ein Gesetzesverstoß ist, der lediglich durch die Zustimmung des anderen nicht zur Strafverfolgung führt. Dies war jedoch mit dem Satz nicht gemeint.

tendistanzierenunddieses„striktab-lehnen”.GenaudiesesVerhaltenwarmitderFormulierunggemeint,dassdasAuslebendesSadismusohneVer-stoßgegenGesetzenichtvorstellbarist.Solltediesmissverständlichdarge-stelltwordensein,bedauernwirdieseVereinfachung.

3. DievonProfessorSpenglerzitiertenDSM-IV-TR-KriterienunddieunterPunkt4erwähntenempirischenDa-tenzeigendarüberhinausdieGren-zenderAnwendbarkeitderdiagnosti-schenSystemeimforensischenKon-text.Solltenlediglichjene,beide-nenihrePräferenzzusubjektivenLei-denoderzuzwischenmenschlichenSchwierigkeitenführt,alsSadoma-sochistenbezeichnetwerdendürfen,sowäredieserBegriffoderdieseDi-agnosebeiderMehrzahlderer,diesichsubkulturellalsSadomasochis-tenbekennen,falschgewählt.Foren-sischePsychiatriehatklinischeBe-griffeinallgemeingebräuchlicheSpracheumzusetzen.Dieswirdim-merdannschwierig,wenndieUm-gangsspracheunddiediagnostischenZuordnungendieselbenBegriffever-wenden.SoauchbeimBegriffSadis-mus.DieseSchwierigkeitstelltesichjedochnichtbeidemvondenAuto-renbeschriebenenFall,weilsichhierdiagnostischeundallgemeinsprach-licheBegrifflichkeiteninihrerBedeu-tungtatsächlichdeckten.GleichwohlwäreeinevertiefteDiskussiondieserProblematiksinnvoll,dasieeineRei-hevonUnsicherheitenundMissver-ständnissenimpsychiatrisch-juristi-schenDialogbedingen[1].

4. DieAutorenvertretenebenfallseinbiopsychosozialesKrankheitsmodell,jedochauchunabhängigvondemspezifischenhirnorganischenBefund.BeidemvonunsbeschriebenenPati-entenbleibtunklar,wanndiehirnor-ganischenVeränderungenaufgetretensind,undsomitauchnichtbestimm-bar,obsiebedeutsamfürdieEnt-stehungderStörungwaren.Siehät-tenaberspäterbeieinerprognosti-schenEinschätzungbedeutsamwer-denkönnen.

5. ObdiesadistischeKomponentederParaphilievonAnbeginnmitderfe-

tischistischenamalgamiertwar,mussfürdenjenigen,dernurdieKasuis-tikliest,Spekulationbleiben,fürdieUntersucherwareseineHypothe-se,dietrotzsorgfältigerExplorationbeieineminAnbetrachteinerBegut-achtungsehroffenAuskunftgeben-denProbandennichtbestätigtwer-denkonnte.Verbundenwarenbei-deKomponenteninderfrühenPu-bertät,diefetischistischeKomponen-te(langeHaarederPuppeundHaar-teilderMutter)stelltesichjedochinderPräpubertät(mit10Jahren)einundgingdersadistischendamitumetwaeinJahrvoraus.DiesadistischeKomponentetraterstauf,alsderPro-bandseinefetischistischenVorstel-lungeninseinenPhantasienaufle-bendePersonenübertrugundparalleldasWühlenindenHaarenalleinanstimulierenderWirkungverlorenhat-te.

Der Beitrag von Professor Berner undMitarbeiternerforderteinefallbezogeneundeinegrundsätzlicheAuseinanderset-zung:1. FallbezogenwirddieHypotheseauf-

geworfen,dassdieTötungdesOpfersvonAnfanganzumfetischistisch-sa-distischenSkriptdesUntersuchtengehörteunddamitdergleichenforen-sisch-psychiatrischenWertungunter-liegenmusswiedasWürgendesOp-fersunddasWühlenindenHaaren.DieseHypothesewurdeauchvomAutorzunächstverfolgt.SiewurdenichtnurwegenderdetailliertenundinsichstimmigenSchilderungdesTätersverworfen,sondernauchwe-genobjektiverUmstände:

a) DerTäterberichtete,dasserwedervordererstenTatinseinerFantasienochbeidererstenTatinderRealitäternst-haftüberdasWühlenindenHaarendesbewusstlosenOpfershinausVorstellun-genentwickelthabe,geschweigedennsichdurchweitereVorstellungensexu-ellerregthabe.DieFrage,wieerdieers-teTatbeendensolle,seiihmnachdemerindenHaarengewühlthabe,erstindie-semAugenblickbewusstgeworden,habeihnzunächsthilflosgemachtundverhin-dert,dassersichunmittelbarorgiastischbefriedigthabe.Auchhatteer(objektiv)

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keinTatwerkzeugmitandenTatortge-bracht.Gleichzeitigberichteteer,dassihnderToddesOpfers,ebensowiedieVorstellung,dassseinzweitesOpferbeiderversuchtenVergewaltigunggestorbensei,emotionalnichtberührthabe.DiesubjektivenAngabengewinneninsofernanPlausibilität,alsderTäteranschaulichschilderte,wiedieTötungshandlungennachder3.Tötung(jenerder2.Prostitu-ierten)zunehmendindassadistischeRi-tualmitaufgenommenwurdenundihndieVorfreudeaufdieTötungdesOpferssexuellerregteundauchemotionalaus-füllte.b) Objektivbleibtfestzuhalten,dassderProbandnachseinererstenHaftentlassungausderJugendstrafeca.30Frauenüberfiel,würgteundinih-renHaarenwühlte,ohnedasseszuTö-tungshandlungenkam.Selbstwenn–derHypothesevonProfessorBerneretal.folgend–dieTötungvonAnfanganzurBedürfnisbefriedigunggehörthätte,wäreervielmalsinderLagegewesen,diesenTeildesSkriptszuunterlassen,wasfüreineerhalteneSteuerungsfähigkeitinBe-zugaufdasTötensprechenwürde.DassdieHypothese,dieTötungshandlungha-bevonAnfanganzudenElementendersadistischenPraktikendesProban-dengehört,jedochnichtzubestätigenist,lässtsichdarausableiten,dassauchbeidenSexualpraktiken,diederProbandzwischen1994und2001anseinerGum-mipuppeausübte,dieTötungnichtzudensexuellenRitualengehörte.2. DiegrundsätzlichenÜberlegungen

geltendemVerhältnisvonEin-sichts-undSteuerungsfähigkeitbeiderSchuldfähigkeitsbeurteilung.Ein-sichtsunfähigkeitbedeutet,dassderTäterbeiderTatnichtweiß,dassermitseinemHandelngegengängigeNormenverstößt,sowiederWahn-kranke,dersichaufgrundseinesWahnesineinerNotwehrsituationbefindet,diefürihnimAugenblickderTatRealitätscharakterhat.DerSchizophrene,derimperativeStim-menhört,glaubtnurdannkeinUn-rechtzubegehen,wennerdieseStim-menineinemWahneinerhöherenMachtzuordnet,dieüberdemGesetzsteht,z.B.wennerdieStimmeGotteszuhörenwähnt.NichtdieHalluzina-

tion,sonderndermitihrverbunde-neWahnführtzurEinsichtsunfähig-keit.ImmerhinfolgenSchizophreneinweitwenigeralsderHälftederFäl-leihrenimperativenStimmen[2].Sietunesvorallemdann,wenndieseinÜbereinstimmungmiteinemWahnstehenoderwennsiedurchdieHal-luzinationensogequältsind,dassda-durchihreHandlungssteuerungun-terminiertwird.LetzteresistdannabereineFrageaufgehobeneroderverminderterSteuerungsfähigkeitundnichteineFragederEinsichtsfä-higkeit.InsofernbrauchtauchbeiderBeurteilungsexualdevianterHand-lungendieAnalogiezudenschwerenpsychischenStörungen,wiezuderSchizophrenieoderzudenaffektivenPsychosenoderdenorganischbe-dingtenStörungennichtaufgegebenzuwerden.AusmeinerSichtproble-matischeristdieinderLiteraturöf-terzitierteAuffassung,dassdieFähig-keit,eineHandlungaufzuschieben,gegeneineerheblicheBeeinträchti-gungderSteuerungsfähigkeitspre-che.DieseAuffassungscheintausderDiskussionder80erJahredesvorigenJahrhundertsumAffektdelikteundumStraftatenunterAlkoholeinflussheraus–wosieihreBerechtigunghat–relativunreflektiertzueinergrund-sätzlichenMeinunggewordenzusein.UnaufschiebbarkeitgehörtbeiverschiedenenStörungen,u.a.auchbeiParaphilien,häufignichtzudenCharakteristikaderStörung;demge-genüberkommtesgeradebeidiesenStörungenhäufig(undsoauchbeidemProbanden)zulängerenTatpla-nungenundTatvorbereitungen,ob-wohldiesesVerhaltendenzitierten,vonAffektdeliktenabgeleitetenGe-pflogenheitenzufolgegegeneineer-heblichverminderteSteuerungsfähig-keitsprechensoll.Derhierbeschrie-beneHerrE.warsichohneZweifeldesUnrechtsseinesTunsbewusst,al-lerdingswardiesesWissenimBe-reichseinersexuellenDeviationweitwenigerhandlungsleitendalsinsei-nensonstigenLebensbereichen–undkonnteesaufgrundseinerStörungauchnichtsein.DeshalbistausSichtdesUnterzeichnerseineanderealsdie

imGutachtengetroffeneFeststellung,nämlichdieAnnahmederVorausset-zungenfürdieAnwendungdes§21StGB(verminderteSchuldfähigkeit)fürdiedurchdieParaphiliebestimm-tenTatennichtplausibel.DerAutorstimmtmitProf.Bernerdahingehendüberein,dassHerrE.behandlungsbe-dürftigwarundauchdeshalbdieUn-terbringungimMaßregelvollzugnach§63StGBsinnvollgewesenwäre.

Betontwerdensoll,dassdiewesentlichenIntentionendesArtikelsnebendemAuf-greifen der spezifischen sexuellen De-vianzundihrerEntwicklungwaren,diebiographischeundpsychopathologischeSchwerpunktsetzunginderforensischenPsychiatriehervorzuheben.DieseerlaubteineUnterscheidungzwischeneinerfo-rensischrelevantenBeeinträchtigungderSteuerungsfähigkeit bei den verschie-denenTeilaspektendesdelinquentenVer-haltens(verminderteSteuerungsfähigkeitbeidensexuellenÜbergriffen,keineBe-einträchtigungderSteuerungsfähigkeitbeimVerdeckungsmord),unddasseineBeurteilungaufneurowissenschaftlicherGrundlage allein – selbst bei patholo-gischemNMR-Befund–einesolcheDif-ferenzierungnichtermöglichenwürde.

IchbinProfessorSpenglerundProfes-sorBernerdankbar,dasssieEinzelaspektederArbeithinterfragtundklargestelltundmirdieGelegenheitgegebenhaben,Un-genauigkeitenzubeseitigenunddeneige-nenStandpunktzuklären.

KorrespondenzadresseProf. Dr. N. NedopilAbteilung für Forensische Psychiatrie,  Psychiatrische Klinik der Universität München, Nussbaumstr. 7, 80336 München

Literatur

  1.  Nedopil N (2008) Forensische Psychiatrie - Psycho-pathologie zwischen Neurowissenschaft und nor-mativen Zwängen. In Schöch H, Satzger H, Schäfer G (Hrsg) Strafverteidigung, Revision und die ge-samten Strafrechtswissenschaften – Festschrif für Gunter Widmaier. Carl Heymanns, Köln, S 925–940

  2.  Link BG, Stueve A, Phelan J (1998) Psychotic symp-toms and violent behaviors: probing the compo-nents of „threat/control-override“ symptoms. Soc Psychiatry Psychiatr Epidemiol 33 [Suppl 1]:55–60

1370 | Der Nervenarzt 11 · 2009

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