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Papa Hamlet (Arno Holz/Johannes Schlaf, 1889, Auszug aus Auszug)

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Er war jetzt zu ihr unter die Decke gekrochen, die Unterhosen hatte er anbehalten.

"Nicht mal Platz genug zum Schlafen hat man!"

Er reckte und dehnte sich.

"So'n Hundeleben! Nicht mal schlafen kann man!" Er hatte sich wieder auf die andre Seite gewälzt. Die

Decke von ihrer Schulter hatte er mit sich gedreht, sie lag jetzt fast bloß da.

…………………………...............……………………………………………………………………….. (...)

Das Nachtlämpchen auf dem Tisch hatte jetzt zu zittern aufgehört.

Die beschlagene, blaue Karaffe davor war von unzähligen Lichtpünktchen wie übersät. Eine Seite aus dem

Buch hatte sich schräg gegen das Glas aufgeblättert. Mitten auf dem vergilbten Papier hob sich deutlich

die fette Schrift ab: "Ein Sommernachtstraum". Hinten auf der Wand, übers Sofa weg, warf die kleine,

glitzernde Photographie ihren schwarzen, rechteckigen Schatten.

Der kleine Fortinbras röchelte, nebenan hatte es wieder zu schnarchen angefangen.

"So'n Leben! So'n Leben!"

Er hatte sich wieder zu ihr gedreht. Seine Stimme klang jetzt weich, weinerlich.

"Du sagst ja gar nichts!"

"Sie schluchzte nur wieder.

"Ach Gott, ja! So'n...Ae!! ..."

Er hatte sich jetzt noch mehr auf die Kante zu gerückt.

"Is ja noch Platz da! Was druckste dich denn so an die Wand! Hast du ja gar nicht nötig!"

Sie schüttelte sich. Ein fader Schnapsgeruch hatte sich allmählich über das ganze Bett hin verbreitet.

"So ein Leben! Man hat's wirklich weit gebracht! ... Nu sich noch von so'ner alten Hexe rausschmeißen

lassen! Reizend!! Na, was macht man nu? Liegt man morgen auf der Straße!... Nu sag doch?"

Sie hatte sich jetzt noch fester gegen die Wand gedrückt. Ihr Schluchzen hatte aufgehört, sie drehte ihm

den Rücken zu.

"Ich weiß ja! Du bist ja am Ende auch nicht schuld dran! Nu sag doch!"

Er war jetzt wieder auf die Kannte zugerückt.

"Nu sag doch!... Man kann doch nicht so - verhungern?!"

Er lag jetzt dicht hinter ihr.

"Ich kann ja auch nicht dafür!... Ich bin ja gar nicht so! Is auch wahr! Man wird ganz zum Vieh bei

solchem Leben! ... Du schläfst doch nicht schon?"

Sie hustete.

"Ach Gott, ja! Und nu bist du auch noch so krank! Und das Kind!

Dies viele Nähen...Aber du schonst dich ja auch gar nicht...ich sag's ja!" (…)

Er hatte jetzt ebenfalls zu weinen angefangen.

"Ach Gott! Ach Gott!"

Sein Gesicht lag jetzt mitten auf ihrer Brust. Sie zuckte!

"Ach Gott! Ach Gott!!"

Der dunkle Rand des Glases oben quer über der Decke hatte wieder unruhig zu zittern begonnen, die

Schatten, die das Geschirr warf, schwankten, dazwischen glitzerten die Wasserstreifen.

………………………………………………………………………………………………………….…(…)

"Ach, nich doch Niels! Nich doch! Das Kind--ist ja schon wieder auf! Das--Kind schreit ja! Das--Kind,

Niels! ... Geh doch mal hin! Um Gottes willen!!" Ihre Ellbogen hinten hatte sie jetzt fest in die Kissen

gestemmt, ihre Nachtjacke vorn stand weit auf. Durch das dumpfe Gegurgel drüben war es jetzt wie ein

dünnes, heisres Gebell gebrochen. Aus den Lappen her wühlte es, der ganze Korb war in ein Knacken

geraten.

Papa Hamlet (Arno Holz/Johannes Schlaf, 1889, Auszug aus Auszug)

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"Sieh doch mal nach!!"

"Natürlich! Das hat auch grade noch gefehlt! Wenn das Balg doch der Deuwel holte! ..."

Er war jetzt wieder in die Pantoffeln gefahren.

"Nicht mal die Nacht mehr hat man Ruhe! Nicht mal die Nacht mehr!!"

Das Geschirr auf dem Tisch hatte wieder zu klirren begonnen, die Schatten oben über die Wand hin

schaukelten.

"Na? Du!! Was gibt's denn nu schon wieder? Na? ...Wo ist er denn?...Ae, Schweinerei!"

Er hatte den Lutschpfropfen gefunden und wischte ihn sich nun an den Unterhosen ab.

"So'ne Kalte! Na? Wird's nu bald? Na? Nimm's doch, Kamel! Nimm's

doch! Na?!"

Der kleine Fortinbras jappte! Sein Köpfchen hatte sich ihm hinten ins Genick gekrämpft, er bohrte es jetzt

verzweifelt nach allen Seiten.

"Na? Willst du nu, oder nich?!--- Bestie!!"

"Aber--Niels! Um Gottes willen! Er hat ja wieder den--Anfall!"

"Ach was! Anfall! - - Da! Friss!!"

"Herrgott, Niels..."

"Friss!!!"

"Niels!"

"Na? Bist du--nu still? Na? - Bist du - nu still? Na?! Na?! "

"Ach Gott! Ach Gott, Niels, was, was - machst du denn bloß?! Er, er - schreit ja gar nicht mehr! Er...Niels!!"

Sie war unwillkürlich zurückgeprallt. Seine ganze Gestalt war vornüber geduckt, seine knackenden Finger

hatten sich krumm in den Korbrand gekrallt. Er stierte sie an. Sein Gesicht war aschfahl.

"Die... L-ampe! Die...L-ampe! Die...L-ampe!"

"Niels!!!"

Sie war rücklings vor ihm gegen die Wand getaumelt.

"Still! Still!! K--lopft da nicht wer?"

Ihre beiden Hände hinten hatten sich platt über die Tapete gespreizt,

ihre Knie schlotterten.

"K-lopft da nicht wer?"

Er hatte sich jetzt noch tiefer geduckt. Sein Schatten über ihm pendelte, seine Augen sahen jetzt plötzlich

weiß aus. Eine Diele knackte, das Öl knisterte, draußen auf die Dachrinne tropfte das Tauwetter.

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………..………(…).........…………………………………………………………………………………. Tipp

Acht Tage später balancierte der kleine, buckelige Bäckerjunge Tille Topperholt seinen Semmelkorb pfeifend

durch das dunkle, dichtverschneite Severingässchen nach dem Hafen runter. Die Witterung hatte wieder

umgeschlagen, seine kleine Stupsnase sah zum Erbarmen blau aus.

„Heil dir, Svea! Mutter für uns alle!"

Es hatte gerade fünf geschlagen. Vor dem neuen, großen Schnapsladen an der Ecke der Petrikirche stolperte

er. Jesus! Seine Semmeln waren ihm in den Rinnstein geflogen, er war mitten in den Schnee geschlagen,

Aber er nahm sich nicht einmal die Zeit, sie wieder aufzulesen. Er kam erst wieder zur Besinnung, als er sich

bereits drüben am Jakobiplatz mit beiden Händen an die große, dick beeiste Glocke gehängt hatte, die denn

auch sofort oben die ganze Polizeiwache alarmierte. Jesus! Jesus!!

Als der dicke Sieversen dann endlich angestapft kam, konstatierte er, dass der Mann erfroren war. "Erfroren

durch Suff!" Seinen zerbeulten Zylinder hatte ihm der kleine, buckelige Tille vorhin grade gegen die Laterne

gequetscht. Aus seinen zerlumpten, apfelgrünen Frackschößen sah noch die Flasche.

Bahnwärter Thiel (Gerhart Hauptmann, 1888, Auszug)

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»Was, du unbarmherziger, herzloser Schuft! soll sich das elende Wurm die Plautze ausschreien vor

Hunger? - wie? - na, wart nur, wart, ich will dich lehren aufpassen! - du sollst dran denken.« Einige

Augenblicke blieb es still; dann hörte man ein Geräusch, wie wenn Kleidungsstücke ausgeklopft würden;

unmittelbar darauf entlud sich ein neues Hagelwetter von Schimpfworten. »Du erbärmlicher

Grünschnabel«, scholl es im schnellsten Tempo herunter, »meinst du, ich sollte mein leibliches Kind

wegen solch einem Jammerlappen, wie du bist, verhungern lassen?« - »Halt's Maul!«, schrie es, als ein

leises Wimmern hörbar wurde, »oder du sollst eine Portion kriegen, an der du acht Tage zu fressen hast.«

Das Wimmern verstummte nicht.

Der Wärter fühlte, wie sein Herz in schweren, unregelmäßigen Schlägen ging. Er begann leise zu zittern.

Seine Blicke hingen wie abwesend am Boden fest, und die plumpe und harte Hand strich mehrmals ein

Büschel nasser Haare zur Seite, das immer von neuem in die sommersprossige Stirne hineinfiel.

Einen Augenblick drohte es ihn zu überwältigen. Es war ein Krampf, der die Muskeln schwellen machte

und die Finger der Hand zur Faust zusammenzog. Es ließ nach, und dumpfe Mattigkeit blieb zurück.

Unsicheren Schrittes trat der Wärter in den engen, ziegelgepflasterten Hausflur. Müde und langsam

erklomm er die knarrende Holzstiege.

»Pfui, pfui, pfui!«, hob es wieder an; dabei hörte man, wie jemand dreimal hintereinander mit allen

Zeichen der Wut und Verachtung ausspie. »Du erbärmlicher, niederträchtiger, hinterlistiger, hämischer,

feiger, gemeiner Lümmel!« Die Worte folgten einander in steigender Betonung, und die Stimme, welche

sie herausstieß, schnappte zuweilen über vor Anstrengung. »Meinen Buben willst du schlagen, was? Du

elende Göre unterstehst dich, das arme, hilflose Kind aufs Maul zu schlagen? - wie? - he, wie? - Ich will

mich nur nicht dreckig machen an dir, sonst - ...«

In diesem Augenblick öffnete Thiel die Tür des Wohnzimmers, weshalb der erschrockenen Frau das Ende

des begonnenen Satzes in der Kehle stecken blieb. Sie war kreidebleich vor Zorn; ihre Lippen zuckten

bösartig; sie hatte die Rechte erhoben, senkte sie und griff nach dem Milchtopf, aus dem sie ein

Kinderfläschchen vollzufüllen versuchte. Sie ließ jedoch diese Arbeit, da der größte Teil der Milch über

den Flaschenhals auf den Tisch rann, halb verrichtet, griff vollkommen fassungslos vor Erregung bald

nach diesem, bald nach jenem Gegenstand, ohne ihn länger als einige Augenblicke festhalten zu können,

und ermannte sich endlich so weit, ihren Mann heftig anzulassen: was es denn heißen solle, dass er um

diese ungewöhnliche Zeit nach Hause käme, er würde sie doch nicht etwa gar belauschen wollen. »Das

wäre noch das Letzte«, meinte sie, und gleich darauf: sie habe ein reines Gewissen und brauche vor

niemand die Augen niederzuschlagen.

Thiel hörte kaum, was sie sagte. Seine Blicke streiften flüchtig das heulende Tobiaschen. Einen

Augenblick schien es, als müsse er gewaltsam etwas Furchtbares zurückhalten, was in ihm aufstieg; dann

legte sich über die gespannten Mienen plötzlich das alte Phlegma, von einem verstohlnen begehrlichen

Aufblitzen der Augen seltsam belebt. Sekundenlang spielte sein Blick über den starken Gliedmaßen seines

Weibes, das, mit abgewandtem Gesicht herumhantierend, noch immer nach Fassung suchte. Ihre vollen,

halbnackten Brüste blähten sich vor Erregung und drohten das Mieder zu sprengen, und ihre aufgerafften

Röcke ließen die breiten Hüften noch breiter erscheinen. Eine Kraft schien von dem Weibe auszugehen,

unbezwingbar, unentrinnbar, der Thiel sich nicht gewachsen fühlte.

Leicht gleich einem feinen Spinngewebe und doch fest wie ein Netz von Eisen legte es sich um ihn,

fesselnd, überwindend, erschlaffend. Er hätte in diesem Zustand überhaupt kein Wort an sie zu richten

vermocht, am allerwenigsten ein hartes, und so musste Tobias, der in Tränen gebadet und verängstet in

einer Ecke hockte, sehen, wie der Vater, ohne auch nur weiter nach ihm umzuschauen, das vergessne Brot

von der Ofenbank nahm, es der Mutter als einzige Erklärung hinhielt und mit einem kurzen, zerstreuten

Kopfnicken sogleich wieder verschwand.

Die Weber (Gerhart Hauptmann, 1892, Auszug aus Auszug)

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Jäger (…) Er liest, schülerhaft buchstabierend, schlecht betonend, aber mit unverkennbar starkem

Gefühl. Alles klingt heraus: Verzweiflung, Schmerz, Wut, Hass, Rachedurst.

Hier im Ort ist ein Gericht,

noch schlimmer als die Femen,

wo man nicht erst ein Urteil spricht,

das Leben schnell zu nehmen.

Hier wird der Mensch langsam gequält,

hier ist die Folterkammer,

hier werden Seufzer viel gezählt

als Zeugen von dem Jammer.

Die Herrn Dreißiger die Henker sind,

die Diener ihre Schergen,

davon ein jeder tapfer schind't,

anstatt was zu verbergen.

Ihr Schurken all, ihr Satansbrut ...

Ihr höllischen Kujone,

ihr fresst der Armen Hab und Gut,

und Fluch wird euch zum Lohne.

Hier hilft kein Bitten und kein Flehn,

umsonst ist alles Klagen.

»Gefällt's euch nicht, so könnt ihr gehn

am Hungertuche nagen.«

Nun denke man sich diese Not

und Elend dieser Armen,

zu Haus oft keinen Bissen Brot,

ist das nicht zum Erbarmen?

Erbarmen, ha! ein schön Gefühl,

euch Kannibalen fremde,

ein jedes kennt schon euer Ziel,

's ist der Armen Haut und Hemde.

Der alte Baumert springt auf, hingerissen zu deliranter Raserei: Haut und Hemde. All's richtig, 's is der

Armut Haut und Hemde. Hier steh' ich, Robert Baumert, Webermeister von Kaschbach. (…) Ich bin ein

braver Mensch gewest mei lebelang, und nu seht mich an! Was hab' ich davon? Wie seh' ich aus? Was

hab'n se aus mir gemacht? Hier wird der Mensch langsam gequält. Er reckt seine Arme hin. Dahier, greift

amal an, Haut und Knochen. Ihr Schurken all, ihr Satansbrut!! (…)

Ansorge (…) erhebt sich, am ganzen Leibe zitternd vor Wut, stammelt hervor: Und das muss anderscher

wern, sprech' ich, jetzt uf der Stelle. Mir leiden's ni mehr! Mir leiden's ni mehr, mag kommen, was will.

Ueberm Bett, eingerahmt, hängt der Myrthenkranz (Arno Holz, 1898)

Ueberm Bett, eingerahmt, hängt der Myrthenkranz.

Vor Jahren

stand am Fenster mal die Nähmaschine;

ein Kanarienvogel sang.

Jetzt

ist das alles anders!

Abends,

wenn die rote Lampe brennt,

kommen fremde Herren in das Stübchen;

alte, junge, wies grad trifft.

Du lieber Gott — das Leben!

Nur manchmal,

wenn der Regen draussen auf die Dächer peitscht,

nachts,

kein Mensch ist mehr wach,

sitzt das Weib und weint . . .

Der tote Mann! Die armen Kinder!

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Leutnant Gustl (Arthur Schnitzler, 1900, Auszug aus Auszug)

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Wie lang' wird denn das noch dauern? Ich muss auf die Uhr schauen ... schickt sich

wahrscheinlich nicht in einem so ernsten Konzert. Aber wer sieht's denn? Wenn's einer sieht,

so passt er gerade so wenig auf, wie ich, und vor dem brauch' ich mich nicht zu genieren ...

Erst viertel auf zehn? ... Mir kommt vor, ich sitz' schon drei Stunden in dem Konzert. Ich bin's

halt nicht gewohnt ... Was ist es denn eigentlich? Ich muss das Programm anschauen ... Ja,

richtig: Oratorium! Ich hab' gemeint: Messe. Solche Sachen gehören doch nur in die Kirche!

Die Kirche hat auch das Gute, dass man jeden Augenblick fortgehen kann. – Wenn ich

wenigstens einen Ecksitz hätt'! – Also Geduld, Geduld! Auch Oratorien nehmen ein End'!

Vielleicht ist es sehr schön, und ich bin nur nicht in der Laune. Woher sollt' mir auch die Laune

kommen? Wenn ich denke, dass ich hergekommen bin, um mich zu zerstreuen ... Hätt' ich die

Karte lieber dem Benedek geschenkt, dem machen solche Sachen Spaß; er spielt ja selber

Violine. Aber da wär' der Kopetzky beleidigt gewesen. Es war ja sehr lieb von ihm, wenigstens

gut gemeint. Ein braver Kerl, der Kopetzky! Der einzige, auf den man sich verlassen kann ...

Seine Schwester singt ja mit unter denen da oben. Mindestens hundert Jungfrauen, alle

schwarz gekleidet; wie soll ich sie da herausfinden? Weil sie mitsingt, hat er auch das Billett

gehabt, der Kopetzky ... Warum ist er denn nicht selber gegangen? – Sie singen übrigens sehr

schön. Es ist sehr erhebend – sicher! Bravo! Bravo! ... Ja, applaudieren wir mit. Der neben mir

klatscht wie verrückt. Ob's ihm wirklich so gut gefällt? – Das Mädel drüben in der Loge ist sehr

hübsch. Sieht sie mich an oder den Herrn dort mit dem blonden Vollbart?... Ah, ein Solo! Wer

ist das? Alt: Fräulein Walker, Sopran: Fräulein Michalek ... das ist wahrscheinlich Sopran ...

Lang' war ich schon nicht in der Oper. In der Oper unterhalt' ich mich immer, auch wenn's

langweilig ist. Übermorgen könnt' ich eigentlich wieder hineingeh'n, zur ›Traviata‹. Ja,

übermorgen bin ich vielleicht schon eine tote Leiche! Ah, Unsinn, das glaub' ich selber nicht!

Warten S' nur, Herr Doktor, Ihnen wird's vergeh'n, solche Bemerkungen zu machen! Das

Nasenspitzel hau' ich Ihnen herunter...

Wenn ich die in der Loge nur genau sehen könnt'! Ich möcht' mir den Operngucker von dem

Herrn neben mir ausleih'n, aber der frisst mich ja auf, wenig ich ihn in seiner Andacht stör' ...

In welcher Gegend die Schwester vom Kopetzky steht? Ob ich sie erkennen möcht'? Ich hab'

sie ja nur zwei- oder dreimal gesehen, das letztemal im Offizierskasino... Ob das lauter

anständige Mädeln sind, alle hundert? O jeh! ... „Unter Mitwirkung des Singvereins‟! –

Singverein ... komisch! Ich hab' mir darunter eigentlich immer so was Ähnliches vorgestellt,

wie die Wiener Tanzsängerinnen, das heißt, ich hab' schon gewusst, dass es was anderes ist! ...

Schöne Erinnerungen! Damals beim ›Grünen Tor‹ ... Wie hat sie nur geheißen? Und dann hat

sie mir einmal eine Ansichtskarte aus Belgrad geschickt ... Auch eine schöne Gegend! – Der

Kopetzky hat's gut, der sitzt jetzt längst im Wirtshaus und raucht seine Virginia! ...

Leutnant Gustl (Arthur Schnitzler, 1900, Auszug aus Auszug)

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Ist das ein Gedränge! Lassen wir die Leut' lieber vorbeipassieren ... Elegante Person ... ob das

echte Brillanten sind? ... Die da ist nett ... Wie sie mich anschaut! ... O ja, mein Fräulein, ich

möcht' schon! ... O, die Nase! – Jüdin ... Noch eine ... Es ist doch fabelhaft, da sind auch die

Hälfte Juden ... nicht einmal ein Oratorium kann man mehr in Ruhe genießen ... So, jetzt

schließen wir uns an ... Warum drängt denn der Idiot hinter mir? Das werd' ich ihm abgewöhnen

... Ah, ein älterer Herr! ... Wer grüßt mich denn dort von drüben? ... Habe die Ehre, habe die

Ehre! Keine Ahnung hab' ich, wer das ist ... (…) – So, da ist der Ausgang ... (…)Herrgott, ist das

ein Gedränge bei der Garderobe! ... Warten wir lieber noch ein bisserl ... So! Ob der Blödist

meine Nummer nehmen möcht'? ...

„Sie, zweihundertvierundzwanzig! Da hängt er! Na, hab'n Sie keine Augen? Da hängt er! Na,

Gott sei Dank! ... Also bitte!‟ ... Der Dicke da verstellt einem schier die ganze Garderobe ...

„Bitte sehr!‟ ... „Geduld, Geduld!‟ Was sagt der Kerl? „Nur ein bisserl Geduld!‟ Dem muss ich

doch antworten ... „Machen Sie doch Platz!‟ „Na, Sie werden's auch nicht versäumen!‟

Was sagt er da? Sagt er das zu mir? Das ist doch stark! Das kann ich mir nicht gefallen lassen!

„Ruhig!‟ „Was meinen Sie?‟ Ah, so ein Ton! Da hört sich doch alles auf! „Stoßen Sie nicht!‟

„Sie, halten Sie das Maul!‟ Das hätt' ich nicht sagen sollen, ich war zu grob ... Na, jetzt ist's

schon g'scheh'n! „Wie meinen?‟ Jetzt dreht er sich um ... Den kenn' ich ja! – Donnerwetter, das

ist ja der Bäckermeister, der immer ins Kaffeehaus kommt ... Was macht denn der da? Hat sicher

auch eine Tochter oder so was bei der Singakademie ... Ja, was ist denn das? Ja, was macht er

denn? Mir scheint gar ... Ja, meiner Seel', er hat den Griff von meinem Säbel in der Hand ... Ja, ist

der Kerl verrückt? ...

„Sie, Herr ...‟ „Sie, Herr Leutnant, sein S' jetzt ganz stad.‟ Was sagt er da? Um Gottes willen, es

hat's doch keiner gehört? Nein, er red't ganz leise ... Ja, warum lasst er denn meinen Säbel net

aus? ... Herrgott noch einmal ... Ah, da heißt's rabiat sein ... ich bring' seine Hand vom Griff nicht

weg ... nur keinen Skandal jetzt! ... Ist nicht am End' der Major hinter mir? ... Bemerkt's nur

niemand, dass er den Griff von meinem Säbel hält? Er red't ja zu mir! Was red't er denn? „Herr

Leutnant, wenn Sie das geringste Aufsehen machen, so zieh' ich den Säbel aus der Scheide,

zerbrech' ihn und schick' die Stück' an Ihr Regimentskommando. Versteh'n Sie mich, Sie dummer

Bub?‟

Was hat er g'sagt? Mir scheint, ich träum'! Red't er wirklich zu mir? Ich sollt' was antworten ...

Aber der Kerl macht ja Ernst – der zieht wirklich den Säbel heraus. Herrgott – er tut's! ... Ich

spür's, er reißt schon d'ran! Was red't er denn? ... Um Gottes willen, nur kein' Skandal – Was

red't er denn noch immer? „Aber ich will Ihnen die Karriere nicht verderben... Also, schön brav

sein!... So, hab'n S' keine Angst, 's hat niemand was gehört ... es ist schon alles gut ... so! Und

damit keiner glaubt, dass wir uns gestritten haben, werd' ich jetzt sehr freundlich mit Ihnen sein! –

Habe die Ehre, Herr Leutnant, hat mich sehr gefreut – habe die Ehre!‟

Komm in den totgesagten park und schau (Stefan George, 1897)

1 Komm in den totgesagten park und schau:

2 Der schimmer ferner lächelnder gestade

3 Der reinen wolken unverhofftes blau

4 Erhellt die weiher und die bunten pfade.

5 Dort nimm das tiefe gelb · das weiche grau

6 Von birken und von buchs · der wind ist lau

7 Die späten rosen welkten noch nicht ganz ·

8 Erlese küsse sie und flicht den kranz ·

9 Vergiss auch diese letzten astern nicht ·

10 Den purpur um die ranken wilder reben ·

11 Und auch was übrig blieb von grünem leben

12 Verwinde leicht im herbstlichen gesicht .

Die blaue Hortensie (Rainer Maria Rilke, 1906)

1 So wie das letzte Grün in Farbentiegeln

2 sind diese Blätter, trocken, stumpf und rauh,

3 hinter den Blütendolden, die ein Blau

4 nicht auf sich tragen, nur von ferne spiegeln.

5 Sie spiegeln es verweint und ungenau,

6 als wollten sie es wiederum verlieren,

7 und wie in alten blauen Briefpapieren

8 ist Gelb in ihnen, Violett und Grau;

9 Verwaschenes wie an einer Kinderschürze,

10 Nichtmehrgetragenes, dem nichts mehr geschieht:

11 wie fühlt man eines kleinen Lebens Kürze.

12 Doch plötzlich scheint das Blau sich zu verneuen

13 in einer von den Dolden, und man sieht

14 ein rührend Blaues sich vor Grünem freuen.

Ein Brief (Hugo von Hofmannsthal, Auszug aus Auszug, 1902)

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Mein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhandengekommen, über

irgendetwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen. Zuerst wurde es mir allmählich

unmöglich, ein höheres oder allgemeineres Thema zu besprechen und dabei jene Worte in den

Mund zu nehmen, deren sich doch alle Menschen ohne Bedenken geläufig zu bedienen pflegen.

Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte „Geist“, „Seele“ oder „Körper“ nur

auszusprechen. Ich fand es innerlich unmöglich, über die Angelegenheiten des Hofes, die

Vorkommnisse im Parlament oder was Sie sonst wollen, ein Urteil herauszubringen. Und dies

nicht etwa aus Rücksichten irgendwelcher Art, denn Sie kennen meinen bis zur Leichtfertigkeit

gehenden Freimut: sondern die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß

bedienen muss, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie

modrige Pilze. (…)

Allmählich aber breitete sich diese Anfechtung aus wie ein um sich fressender Rost. Es wurden

mir auch im familiären und hausbackenen Gespräch, alle die Urteile, die leichthin und mit

schlafwandelnder Sicherheit abgegeben zu werden pflegen, so bedenklich, dass ich aufhören

musste, an solchen Gesprächen irgend teilzunehmen. (…) Mein Geist zwang mich, alle Dinge, die

in einem solchen Gespräch vorkamen, in einer unheimlichen Nähe zu sehen: so wie ich einmal in

einem Vergrößerungsglas ein Stück von der Haut meines kleinen Fingers gesehen hatte, das

einem Blachfeld mit Furchen und Höhlen glich, so ging es mir nun mit den Menschen und

Handlungen. Es gelang mir nicht mehr, sie mit dem vereinfachenden Blick der Gewohnheit zu

erfassen. Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile und nichts mehr ließ sich mit

einem Begriff umspannen. Die einzelnen Worte schwammen um mich; sie gerannen zu Augen,

die mich anstarrten und in die ich wieder hineinstarren muss. Wirbel sind sie, in die hinabzusehen

mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere

kommt. (…)

Seither führe ich ein Dasein, das Sie, fürchte ich, kaum begreifen können, so geistlos, ja

gedankenlos fließt es dahin; ein Dasein, das sich freilich von dem meiner Nachbarn, meiner

Verwandten und der meisten landbesitzenden Edelleute dieses Königreiches kaum unterscheidet,

und das nicht ganz ohne freudige und belebende Augenblicke ist. Es wird mir nicht leicht, Ihnen

anzudeuten, worin diese guten Augenblicke bestehen; die Worte lassen mich wiederum im Stich.

Denn es ist ja etwas völlig Unbenanntes, und auch wohl kaum Benennbares, das in solchen

Augenblicken, irgendeine Erscheinung meiner alltäglichen Umgebung mit einer

überschwellenden Flut höheren Leben wie ein Gefäß erfüllend, mir sich ankündet. Ich kann nicht

erwarten, dass Sie mich ohne Beispiel verstehen, und ich muss Sie um Nachsicht für die

Kläglichkeit meiner Beispiele bitten. Eine Gießkanne, eine auf dem Feld verlassene Egge, ein

Hund in der Sonne, ein ärmlicher Kirchhof, ein Krüppel, ein kleines Bauernhaus, alles dies kann

das Gefäß meiner Offenbarung werden. Jeder dieser Gegenstände und die tausend anderen

ähnlichen, über die sonst ein Auge mit selbstverständlicher Gleichgültigkeit hinweggleitet, kann

für mich plötzlich in irgendeinem Moment, den herbeizuführen auf keine Weise in meiner Gewalt

steht, ein erhabenes und rührendes Gepräge annehmen, das auszudrücken mir alle Worte zu arm

scheinen. (…)

Städter (Alfred Wolfenstein, 1914)

1 Nah wie Löcher eines Siebes stehn

2 Fenster beieinander, drängend fassen

3 Häuser sich so dicht an, dass die Straßen

4 Grau geschwollen wie Gewürgte sehn.

5 Ineinander dicht hineingehakt

6 Sitzen in den Trams die zwei Fassaden

7 Leute, wo die Blicke eng ausladen

8 Und Begierde ineinander ragt.

9 Unsre Wände sind so dünn wie Haut,

10 Dass ein jeder teilnimmt, wenn ich weine,

11 Flüstern dringt hinüber wie Gegröhle:

12 Und wie stumm in abgeschlossner Höhle

13 Unberührt und ungeschaut

14 Steht doch jeder fern und fühlt: alleine.

Auf der Terrasse des Café Josty (Paul Boldt, 1912)

1 Der Potsdamer Platz in ewigem Gebrüll

2 Vergletschert alle hallenden Lawinen

3 Der Straßentakte: Trams auf Eisenschienen

4 Automobile und den Menschenmüll.

5 Die Menschen rinnen über den Asphalt,

6 Ameisenemsig, wie Eidechsen flink.

7 Stirne und Hände, von Gedanken blink,

8 schwimmen wie Sonnenlicht durch dunklen Wald.

9 Nachtregen hüllt den Platz in eine Höhle,

10 Wo Fledermäuse, weiß, mit Flügeln schlagen

11 Und lila Quallen liegen - bunte Öle;

12 Die mehren sich, zerschnitten von den Wagen.-

13 Aufspritzt Berlin, des Tages glitzernd Nest,

14 Vom Rauch der Nacht wie Eiter einer Pest.

Grodek (Georg Trakl, 1914)

1 Am Abend tönen die herbstlichen Wälder

2 Von tödlichen Waffen, die goldnen Ebenen

3 Und blauen Seen, darüber die Sonne

4 Düster hinrollt; umfängt die Nacht

5 Sterbende Krieger, die wilde Klage

6 Ihrer zerbrochenen Münder.

7 Doch stille sammelt im Weidengrund

8 Rotes Gewölk, darin ein zürnender Gott wohnt,

9 Das vergossne Blut sich, mondne Kühle;

10 Alle Straßen münden in schwarze Verwesung.

11 Unter goldnem Gezweig der Nacht und Sternen

12 Es schwankt der Schwester Schatten durch den schweigenden Hain,

13 Zu grüßen die Geister der Helden, die blutenden Häupter;

14 Und leise tönen im Rohr die dunkeln Flöten des Herbstes.

15 O stolzere Trauer! ihr ehernen Altäre,

16 Die heiße Flamme des Geistes nährt heute ein gewaltiger Schmerz,

17 Die ungebornen Enkel.

Patrouille (August Stramm, 1915)

1 Die Steine feinden

2 Fenster grinst Verrat

3 Äste würgen

4 Berge Sträucher blättern raschlig

5 Gellen

6 Tod.

Schöne Jugend (Gottfried Benn, 1912)

1 Der Mund eines Mädchens, das lange im Schilf gelegen hatte

2 sah so angeknabbert aus.

3 Als man die Brust aufbrach

4 war die Speiseröhre so löcherig.

5 Schließlich, in einer Laube unter dem Zwerchfell

6 fand man ein Nest von jungen Ratten.

7 Ein kleines Schwesterchen lag tot.

8 Die anderen lebten von Leber und Niere,

9 tranken das kalte Blut und hatten

10 hier eine schöne Jugend verlebt.

11 Und schön und schnell kam auch ihr Tod:

12 Man warf sie allesamt ins Wasser.

13 Ach, wie die kleinen Schnauzen quietschen!

Karawane (Hugo Ball, 1916)

1 jolifanto bambla ô falli bambla

2 grossiga m’pfa habla horem

3 égiga goramen

4 higo bloiko russula huju

5 hollaka hollala

6 anlogo bung

7 blago bung

8 blago bung

9 bosso fataka

10 ü üü ü

11 schampa wulla wussa ólobo

12 hej tatta gôrem

13 eschige zunbada

14 wulubu ssubudu uluw ssubudu

15 tumba ba- umf

16 kusagauma

17 ba – umf

Heimkehr (Franz Kafka, 1920)

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Ich bin zurückgekehrt, ich habe den Flur durchschritten und blicke mich um.

Es ist meines Vaters alter Hof. Die Pfütze in der Mitte. Altes, unbrauchbares

Gerät, ineinander verfahren, verstellt den Weg zur Bodentreppe. Die Katze

lauert auf dem Geländer. Ein zerrissenes Tuch, einmal im Spiel um eine

Stange gewunden, hebt sich im Wind. Ich bin angekommen. Wer wird mich

empfangen? Wer wartet hinter der Tür der Küche? Rauch kommt aus dem

Schornstein, der Kaffee zum Abendessen wird gekocht. Ist dir heimlich, fühlst

du dich zu Hause? Ich weiß es nicht, ich bin sehr unsicher. Meines Vaters

Haus ist es, aber kalt steht Stück neben Stück, als wäre jedes mit seinen

eigenen Angelegenheiten beschäftigt, die ich teils vergessen habe, teils

niemals kannte. Was kann ich ihnen nützen, was bin ich ihnen und sei ich

auch des Vaters, des alten Landwirts Sohn. Und ich wage nicht an die

Küchentür zu klopfen, nur von der Ferne horche ich, nur von der Ferne horche

ich stehend, nicht so, dass ich als Horcher überrascht werden könnte. Und weil

ich von der Ferne horche, erhorche ich nichts, nur einen leichten Uhrenschlag

höre ich oder glaube ihn vielleicht nur zu hören, herüber aus den Kindertagen.

Was sonst in der Küche geschieht, ist das Geheimnis der dort Sitzenden, das

sie vor mir wahren. Je länger man vor der Tür zögert, desto fremder wird man.

Wie wäre es, wenn jetzt jemand die Tür öffnete und mich etwas fragte. Wäre

ich dann nicht selbst wie einer, der sein Geheimnis wahren will.

Vor dem Gesetz (Franz Kafka, 1915)

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Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und

bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, dass er ihm jetzt den Eintritt nicht

gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten

dürfen. „Es ist möglich,“ sagt der Türhüter, „jetzt aber nicht.“ Da das Tor zum Gesetz offen

steht wie immer und der Türhüter beiseite tritt, bückt sich der Mann, um durch das Tor in

das Innere zu sehen. Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt: „Wenn es dich so lockt,

versuche es doch trotz meines Verbotes hineinzugehen. Merke aber: Ich bin mächtig. Und

ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehen aber Türhüter, einer mächtiger

als der andere. Schon den Anblick des Dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen.“ Solche

Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet; das Gesetz soll doch jedem und

immer zugänglich sein, denkt er, aber als er jetzt den Türhüter in seinem Pelzmantel

genauer ansieht, seine große Spitznase, den langen, dünnen, schwarzen tartarischen Bart,

entschließt er sich doch lieber zu warten, bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt. Der

Türhüter gibt ihm einen Schemel und lässt ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen. Dort

sitzt er Tage und Jahre. Er macht viele Versuche eingelassen zu werden und ermüdet den

Türhüter durch seine Bitten. Der Türhüter stellt öfters kleine Verhöre mit ihm an, fragt ihn

über seine Heimat aus und nach vielem andern, es sind aber teilnahmslose Fragen, wie sie

große Herren stellen, und zum Schlusse sagt er ihm immer wieder, dass er ihn noch nicht

einlassen könne. Der Mann, der sich für seine Reise mit vielem ausgerüstet hat, verwendet

alles, und sei es noch so wertvoll, um den Türhüter zu bestechen. Dieser nimmt zwar alles

an, aber sagt dabei: „Ich nehme es nur an, damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu

haben.“ Während der vielen Jahre beobachtet der Mann den Türhüter fast ununterbrochen.

Er vergisst die anderen Türhüter und dieser erste scheint ihm das einzige Hindernis für den

Eintritt in das Gesetz. Er verflucht den unglücklichen Zufall, in den ersten Jahren

rücksichtslos und laut, später als er alt wird, brummt er nur noch vor sich hin. Er wird

kindisch und da er in dem jahrelangen Studium des Türhüters auch die Flöhe in seinem

Pelzkragen erkannt hat, bittet er auch die Flöhe ihm zu helfen und den Türhüter

umzustimmen. Schließlich wird sein Augenlicht schwach und er weiß nicht, ob es um ihn

wirklich dunkler wird oder ob ihn nur seine Augen täuschen. Wohl aber erkennt er jetzt im

Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht. Nun lebt er nicht

mehr lange. Vor seinem Tode sammeln sich in seinem Kopfe alle Erfahrungen der ganzen

Zeit zu einer Frage, die er bisher an den Türhüter noch nicht gestellt hat. Er winkt ihm zu,

da er seinen erstarrenden Körper nicht mehr aufrichten kann. Der Türhüter muss sich tief zu

ihm hinunterneigen, denn der Größenunterschied hat sich sehr zu Ungunsten des Mannes

verändert. „Was willst du denn jetzt noch wissen?“ fragt der Türhüter, „du bist

unersättlich.“ „Alle streben doch nach dem Gesetz,“ sagt der Mann, „wieso kommt es, dass

in den vielen Jahren niemand außer mir Einlass verlangt hat?“ Der Türhüter erkennt, dass

der Mann schon an seinem Ende ist und, um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen,

brüllt er ihn an: „Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur

für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.“

Die Verwandlung (Franz Kafka, 1915, Auszug aus Ganzwerk)

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Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett

zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und

sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen gewölbten, braunen, von bogenförmigen

Versteifungen geteilten Bauch, auf dessen Höhe sich die Bettdecke, zum gänzlichen

Niedergleiten bereit, kaum noch erhalten konnte. Seine vielen, im Vergleich zu seinem sonstigen

Umfang kläglich dünnen Beine flimmerten ihm hilflos vor den Augen.

»Was ist mit mir geschehen?«, dachte er. Es war kein Traum. Sein Zimmer, ein richtiges, nur

etwas zu kleines Menschenzimmer, lag ruhig zwischen den vier wohlbekannten Wänden. Über

dem Tisch, auf dem eine auseinandergepackte Musterkollektion von Tuchwaren ausgebreitet war

- Samsa war Reisender – hing das Bild, das er vor kurzem aus einer illustrierten Zeitschrift

ausgeschnitten und in einem hübschen, vergoldeten Rahmen untergebracht hatte. Es stellte eine

Dame dar, die mit einem Pelzhut und einer Pelzboa versehen, aufrecht dasaß und einen schweren

Pelzmuff, in dem ihr ganzer Unterarm verschwunden war, dem Beschauer entgegenhob.

Gregors Blick richtete sich dann zum Fenster, und das trübe Wetter - man hörte Regentropfen auf

das Fensterblech aufschlagen - machte ihn ganz melancholisch. (…). »Ach Gott«, dachte er, »was

für einen anstrengenden Beruf habe ich gewählt! Tag aus, Tag ein auf der Reise. Die

geschäftlichen Aufregungen sind viel größer, als im eigentlichen Geschäft zu Hause, und

außerdem ist mir noch diese Plage des Reisens auferlegt, die Sorgen um die Zuganschlüsse, das

unregelmäßige, schlechte Essen, ein immer wechselnder, nie andauernder, nie herzlich werdender

menschlicher Verkehr. Der Teufel soll das alles holen!« Er fühlte ein leichtes Jucken oben auf

dem Bauch; schob sich auf dem Rücken langsam näher zum Bettpfosten, um den Kopf besser

heben zu können; fand die juckende Stelle, die mit lauter kleinen weißen Pünktchen besetzt war,

die er nicht zu beurteilen verstand; und wollte mit einem Bein die Stelle betasten, zog es aber

gleich zurück, denn bei der Berührung umwehten ihn Kälteschauer.

Er glitt wieder in seine frühere Lage zurück. »Dies frühzeitige Aufstehen«, dachte er, »macht

einen ganz blödsinnig. Der Mensch muss seinen Schlaf haben. Andere Reisende leben wie

Haremsfrauen. Wenn ich zum Beispiel im Laufe des Vormittags ins Gasthaus zurückgehe, um die

erlangten Aufträge zu überschreiben, sitzen diese Herren erst beim Frühstück. Das sollte ich bei

meinem Chef versuchen; ich würde auf der Stelle hinausfliegen. Wer weiß übrigens, ob das nicht

sehr gut für mich wäre. Wenn ich mich nicht wegen meiner Eltern zurückhielte, ich hätte längst

gekündigt, ich wäre vor den Chef hin getreten und hätte ihm meine Meinung von Grund des

Herzens aus gesagt. Vom Pult hätte er fallen müssen! Es ist auch eine sonderbare Art, sich auf das

Pult zu setzen und von der Höhe herab mit dem Angestellten zu reden, der überdies wegen der

Schwerhörigkeit des Chefs ganz nahe herantreten muss. Nun, die Hoffnung ist noch nicht

gänzlich aufgegeben; habe ich einmal das Geld beisammen, um die Schuld der Eltern an ihn

abzuzahlen – es dürfte noch fünf bis sechs Jahre dauern -, mache ich die Sache unbedingt. Dann

wird der große Schnitt gemacht. Vorläufig allerdings muss ich aufstehen, denn mein Zug fährt um

fünf.«

Die Verwandlung (Franz Kafka, 1915, Auszug aus Ganzwerk)

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»Liebe Eltern«, sagte die Schwester und schlug zur Einleitung mit der Hand auf den Tisch, »so

geht es nicht weiter. Wenn ihr das vielleicht nicht einsehet, ich sehe es ein. Ich will vor diesem

Untier nicht den Namen meines Bruders aussprechen, und sage daher bloß: wir müssen

versuchen, es loszuwerden. Wir haben das Menschenmögliche versucht, es zu pflegen und zu

dulden, ich glaube, es kann uns niemand den geringsten Vorwurf machen.« »Sie hat tausendmal

Recht«, sagte der Vater für sich. Die Mutter, die noch immer nicht genug Atem finden konnte,

fing in die vorgehaltene Hand mit einem irrsinnigen Ausdruck der Augen dumpf zu husten an.

Die Schwester eilte zur Mutter und hielt ihr die Stirn. Der Vater schien durch die Worte der

Schwester auf bestimmtere Gedanken gebracht zu sein, hatte sich aufrecht gesetzt, spielte mit

seiner Dienermütze zwischen den Tellern, die noch vom Nachtmahl der Zimmerherren her auf

dem Tische lagen, und sah bisweilen auf den stillen Gregor hin.

»Wir müssen es loszuwerden suchen«, sagte die Schwester nun ausschließlich zum Vater, denn

die Mutter hörte in ihrem Husten nichts, »es bringt euch noch beide um, ich sehe es kommen.

Wenn man schon so schwer arbeiten muss, wie wir alle, kann man nicht noch zu Hause diese

ewige Quälerei ertragen. Ich kann es auch nicht mehr.« Und sie brach so heftig in Weinen aus,

dass ihre Tränen auf das Gesicht der Mutter niederflossen, von dem sie sie mit mechanischen

Handbewegungen wischte.

»Kind«, sagte der Vater mitleidig und mit auffallendem Verständnis, »was sollen wir aber tun?«

Die Schwester zuckte nur die Achseln zum Zeichen der Ratlosigkeit, die sie nun während des

Weinens im Gegensatz zu ihrer früheren Sicherheit ergriffen hatte.

»Wenn er uns verstünde«, sagte der Vater halb fragend; die Schwester schüttelte aus dem Weinen

heraus heftig die Hand zum Zeichen, dass daran nicht zu denken sei. »Wenn er uns verstünde«,

wiederholte der Vater und nahm durch Schließen der Augen die Überzeugung der Schwester von

der Unmöglichkeit dessen in sich auf, »dann wäre vielleicht ein Übereinkommen mit ihm

möglich. Aber so - « »Weg muss es«, rief die Schwester, »das ist das einzige Mittel, Vater. Du

musst bloß den Gedanken loszuwerden suchen, dass es Gregor ist. Dass wir es solange geglaubt

haben, das ist ja unser eigentliches Unglück. Aber wie kann es denn Gregor sein? Wenn es

Gregor wäre, er hätte längst eingesehen, dass ein Zusammenleben von Menschen mit einem

solchen Tier nicht möglich ist, und wäre freiwillig fortgegangen. Wir hätten dann keinen Bruder,

aber könnten weiter leben und sein Andenken in Ehren halten. So aber verfolgt uns dieses Tier,

vertreibt die Zimmerherren, will offenbar die ganze Wohnung einnehmen und uns auf der Gasse

übernachten lassen. Sieh nur, Vater«, schrie sie plötzlich auf, »er fängt schon wieder an!« Und in

einem für Gregor gänzlich unverständlichen Schrecken verließ die Schwester sogar die Mutter,

stieß sich förmlich von ihrem Sessel ab, als wollte sie lieber die Mutter opfern, als in Gregors

Nähe bleiben, und eilte hinter den Vater, der, lediglich durch ihr Benehmen erregt, auch aufstand

und die Arme wie zum Schutze der Schwester vor ihr halb erhob.

Im Westen nichts Neues (Erich Maria Remarque, 1929, Auszug aus Auszug)

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Diese Stunden. – Das Röcheln setzt wieder ein – wie langsam stirbt doch ein Mensch! Denn das weiß

ich: er ist nicht zu retten. Ich habe zwar versucht, es mir auszureden, aber mittags ist dieser Vorwand

vor seinem Stöhnen zerschmolzen, zerschossen. Wenn ich nur meinen Revolver nicht beim Kriechen

verloren hätte, ich würde ihn erschießen. Erstechen kann ich ihn nicht.

Mittags dämmere ich an der Grenze des Denkens dahin. Hunger zerwühlt mich, ich muss fast weinen

darüber, essen zu wollen, aber ich kann nicht dagegen ankämpfen. Mehrere Male hole ich dem

Sterbenden Wasser und trinke auch selbst davon.

Es ist der erste Mensch, den ich mit meinen Händen getötet habe, den ich genau sehen kann, dessen

Sterben mein Werk ist. Kat und Kropp und Müller haben auch schon gesehen, wenn sie jemand

getroffen haben, vielen geht es so, im Nahkampf ja oft – Aber jeder Atemzug legt mein Herz bloß.

Dieser Sterbende hat die Stunden für sich, er hat ein unsichtbares Messer, mit dem er mich ersticht:

die Zeit und meine Gedanken.

Ich würde viel darum geben, wenn er am Leben bliebe. Es ist schwer, dazuliegen und ihn sehen und

hören zu müssen.

Nachmittags um drei Uhr ist er tot.

Ich atme auf. Doch nur für kurze Zeit. Das Schweigen erscheint mir bald noch schwerer zu ertragen

als das Stöhnen. Ich wollte, das Röcheln wäre wieder da, stoßweise, heiser, einmal pfeifend leise und

dann wieder heiser und laut.

Es ist sinnlos, was ich tue. Aber ich muss Beschäftigung haben. So lege ich den Toten noch einmal

zurecht, damit er bequemer liegt, obschon er nichts mehr fühlt. Ich schließe ihm die Augen. Sie sind

braun, das Haar ist schwarz, an den Seiten etwas lockig.

Der Mund ist voll und weich unter dem Schnurrbart, die Nase ist ein wenig gebogen, die Haut

bräunlich, sie sieht jetzt nicht mehr so fahl aus wie vorhin, als er noch lebte. Einen Augenblick

scheint das Gesicht sogar beinahe gesund zu sein – dann verfällt es rasch zu einem der fremden

Totenantlitze, die ich oft gesehen habe und die sich alle gleichen.

Seine Frau denkt sicher jetzt an ihn; sie weiß nicht, was geschehen ist. Er sieht aus, als wenn er ihr oft

geschrieben hätte; – sie wird auch noch Post von ihm bekommen – morgen, in einer Woche –,

vielleicht einen verirrten Brief noch in einem Monat. Sie wird ihn lesen, und er wird darin zu ihr

sprechen.

Mein Zustand wird immer schlimmer, ich kann meine Gedanken nicht mehr halten. Wie mag die Frau

aussehen? Wie die Dunkle, Schmale jenseits des Kanals? Gehört sie mir nicht? Vielleicht gehört sie

mir jetzt hierdurch! (…)

Das Schweigen dehnt sich. Ich spreche und muss sprechen. So rede ich ihn an und sage es ihm.

»Kamerad, ich wollte dich nicht töten. Sprängst du noch einmal hier hinein, ich täte es nicht, wenn

auch du vernünftig wärest. Aber du warst mir vorher nur ein Gedanke, eine Kombination, die in

meinem Gehirn lebte und einen Entschluss hervorrief – diese Kombination habe ich erstochen. Jetzt

sehe ich erst, dass du ein Mensch bist wie ich. (…) Vergib mir, Kamerad, wie konntest du mein Feind

sein. Wenn wir diese Waffen und diese Uniform fortwerfen, könntest du ebenso mein Bruder sein wie

Kat und Albert. (…) »Ich will deiner Frau schreiben«, sage ich hastig zu dem Toten, »ich will ihr

schreiben, sie soll es durch mich erfahren, ich will ihr alles sagen, was ich dir sage, sie soll nicht

leiden, ich will ihr helfen und deinen Eltern auch und deinem Kinde – «

Seine Uniform steht noch halb offen. Die Brieftasche ist leicht zu finden. Aber ich zögere, sie zu

öffnen. In ihr ist das Buch mit seinem Namen. Solange ich seinen Namen nicht weiß, kann ich ihn

vielleicht noch vergessen, die Zeit wird es tilgen, dieses Bild. Sein Name aber ist ein Nagel, der in mir

eingeschlagen wird und nie mehr herauszubringen ist. Er hat die Kraft, alles immer wieder

zurückzurufen, er wird stets wiederkommen und vor mich hintreten können. Ohne Entschluss halte

ich die Brieftasche in der Hand. Sie entfällt mir und öffnet sich. Einige Bilder und Briefe fallen

heraus. Ich sammle sie auf und will sie wieder hineinpacken, aber der Druck, unter dem ich stehe, die

ganze ungewisse Lage, der Hunger, die Gefahr, diese Stunden mit dem Toten haben mich verzweifelt

gemacht, ich will die Auflösung beschleunigen und die Quälerei verstärken und enden, wie man eine

unerträglich schmerzende Hand gegen einen Baum schmettert, ganz gleich, was wird.

Jahrgang 1899 (Erich Kästner, 1928)

1 Wir haben die Frauen zu Bett gebracht,

2 als die Männer in Frankreich standen.

3 Wir hatten uns das viel schöner gedacht.

4 Wir waren nur Konfirmanden.

5 Dann holte man uns zum Militär,

6 bloß so als Kanonenfutter.

7 In der Schule wurden die Bänke leer,

8 zu Hause weinte die Mutter.

9 Dann gab es ein bisschen Revolution

10 und schneite Kartoffelflocken;

11 Dann kamen die Frauen, wie früher schon,

12 und dann kamen die Gonokokken.

13 Inzwischen verlor der Alte sein Geld,

14 da wurden wir Nachtstudenten.

15 Bei Tag waren wir bureau-angestellt

16 und rechneten mit Prozenten.

17 Dann hätte sie fast ein Kind gehabt,

18 ob von dir, ob von mir - was weiß ich!

19 Das hat ihr ein Freund von uns ausgeschabt.

20 Und nächstens werden wir Dreißig.

21 Wir haben sogar ein Examen gemacht

22 und das meiste schon wieder vergessen.

23 Jetzt sind wir allein bei Tag und bei Nacht

24 und haben nichts Rechtes zu fressen!

25 Wir haben der Welt in die Schnauze geguckt,

26 anstatt mit Puppen zu spielen.

27 Wir haben der Welt auf die Weste gespuckt,

28 soweit wir vor Ypern nicht fielen.

29 Man hat unsern Körper und hat unsern Geist

30 ein wenig zu wenig gekräftigt.

31 Man hat uns zu lange, zu früh und zumeist

32 in der Weltgeschichte beschäftigt!

33 Die Alten behaupten, es würde nun Zeit

34 für uns zum Säen und Ernten.

35 Noch einen Moment. Bald sind wir bereit.

36 Noch einen Moment. Bald ist es so weit!

37 Dann zeigen wir euch, was wir lernten!

Wenn die Haifische Menschen wären (Bertolt Brecht, 1949)

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"Wenn die Haifische Menschen wären", fragte Herrn K. die kleine Tochter seiner Wirtin, "wären

sie dann netter zu den kleinen Fischen?" "Sicher", sagte er. "Wenn die Haifische Menschen

wären, würden sie im Meer für die kleinen Fische gewaltige Kästen bauen lassen, mit allerhand

Nahrung drin, sowohl Pflanzen als auch Tierzeug. Sie würden sorgen, dass die Kästen immer

frisches Wasser hätten, und sie würden überhaupt allerhand sanitäre Maßnahmen treffen. Wenn

zum Beispiel ein Fischlein sich die Flosse verletzen würde, dann würde ihm sogleich ein Verband

gemacht, damit es den Haifischen nicht wegstürbe vor der Zeit. Damit die Fischlein nicht

trübsinnig würden, gäbe es ab und zu große Wasserfeste; denn lustige Fischlein schmecken

besser als trübsinnige. Es gäbe natürlich auch Schulen in den großen Kästen. In diesen Schulen

würden die Fischlein lernen, wie man in den Rachen der Haifische schwimmt. Sie würden zum

Beispiel Geographie brauchen, damit die großen Haifische, die faul irgendwo liegen, sie finden

könnten. Die Hauptsache wäre natürlich die moralische Ausbildung der Fischlein. Sie würden

unterrichtet werden, dass es das Größte und Schönste sei, wenn ein Fischlein sich freudig

aufopfert, und dass sie alle an die Haifische glauben müssten, vor allem, wenn sie sagten, sie

würden für eine schöne Zukunft sorgen. Man würde den Fischlein beibringen, dass diese Zukunft

nur gesichert sei, wenn sie Gehorsam lernten. Vor allen niedrigen, materialistischen, egoistischen

und marxistischen Neigungen müssten sich die Fischlein hüten und es sofort den Haifischen

melden, wenn eines von ihnen solche Neigungen verriete. Wenn die Haifische Menschen wären,

würden sie natürlich auch untereinander Kriege führen, um fremde Fischkästen und fremde

Fische zu erobern. Die Kriege würden sie von ihren eigenen Fischlein führen lassen. Sie würden

die Fischlein lehren, dass zwischen ihnen und den Fischlein der anderen Haifische ein riesiger

Unterschied bestehe. Die Fischlein, würden sie verkünden, sind bekanntlich stumm, aber sie

schweigen in ganz verschiedenen Sprachen und können einander daher unmöglich verstehen.

Jedem Fischlein, das im Krieg ein paar andere Fischlein, feindliche, in anderer Sprache

schweigende Fischlein tötete, würden sie einen Orden aus Seetang anheften und den Titel Held

verleihen. Wenn die Haifische Menschen wären, gäbe es bei ihnen natürlich auch eine Kunst. Es

gäbe schöne Bilder, auf denen die Zähne der Haifische in prächtigen Farben, ihre Rachen als

reine Lustgärten, in denen es sich prächtig tummeln lässt, dargestellt wären. Die Theater auf dem

Meeresgrund würden zeigen, wie heldenmütige Fischlein begeistert in die Fischrachen

schwimmen, und die Musik wäre so schön, dass die Fischlein unter ihren Klängen, die Kapelle

voran, träumerisch, und in allerangenehmste Gedanken eingelullt, in die Haifischrachen strömten.

Auch eine Religion gäbe es da, wenn die Haifische Menschen wären. Sie würden lehren, dass die

Fischlein erst im Bauch der Haifische richtig zu leben begännen. Übrigens würde es auch

aufhören, wenn die Haifische Menschen wären, dass alle Fischlein, wie es jetzt ist, gleich sind.

Einige von ihnen würden Ämter bekommen und über die anderen gesetzt werden. Die ein wenig

größeren dürften sogar die kleineren auffressen. Das wäre für die Haifische nur angenehm, da sie

dann selber öfter größere Brocken zu fressen bekämen. Und die größeren, Posten habenden

Fischlein würden für die Ordnung unter den Fischlein sorgen, Lehrer, Offiziere, Ingenieure im

Kastenbau usw. Kurz, es gäbe überhaupt erst eine Kultur im Meer, wenn die Haifische Menschen

wären."

Maßnahmen gegen Gewalt (Bertolt Brecht, 1930)

1 Als Herr Keuner, der Denkende, sich in einem Saale vor vielen gegen die Gewalt

2 aussprach, merkte er, wie die Leute vor ihm zurückwichen und weggingen. Er

3 blickte sich um und sah hinter sich stehen – die Gewalt. "Was sagtest du?", fragte

4 ihn die Gewalt. "Ich sprach mich für die Gewalt aus", antwortete Herr Keuner. Als

5 Herr Keuner weggegangen war, fragten ihn seine Schüler nach seinem Rückgrat.

6 Herr Keuner antwortete: "Ich habe kein Rückgrat zum Zerschlagen. Gerade ich

7 muss länger leben als die Gewalt."

8 Und Herr Keuner erzählte folgende Geschichte:

9 In die Wohnung des Herrn Egge, der gelernt hatte, nein zu sagen, kam eines

10 Tages in der Zeit der Illegalität ein Agent, der zeigte einen Schein vor, welcher

11 ausgestellt war im Namen derer, die die Stadt beherrschten, und auf dem stand,

12 dass ihm gehören soll jede Wohnung, in die er seinen Fuß setzte; ebenso sollte

13 ihm auch jedes Essen gehören, das er verlange; ebenso sollte ihm auch jeder

14 Mann dienen, den er sähe. Der Agent setzte sich in einen Stuhl, verlangte Essen,

15 wusch sich, legte sich nieder und fragte mit dem Gesicht zur Wand vor dem

16 Einschlafen: "Wirst du mir dienen?"

17 Herr Egge deckte ihn mit einer Decke zu, vertrieb die Fliegen, bewachte seinen

18 Schlaf, und wie an diesem Tage gehorchte er ihm sieben Jahre lang. Aber was

19 immer er für ihn tat, eines zu tun hütete er sich wohl: das war, ein Wort zu sagen.

20 Als nun die sieben Jahre herum waren und der Agent dick geworden war vom

21 vielen Essen, Schlafen und Befehlen, starb der Agent. Da wickelte ihn Herr Egge

22 in die verdorbene Decke, schleifte ihn aus dem Haus, wusch das Lager, tünchte

23 die Wände, atmete auf und antwortete: "Nein."

Der hilflose Knabe (Bertolt Brecht, 1932/1949)

1 Herr K. sprach über die Unart, erlittenes Unrecht stillschweigend in sich hineinzufressen, und

2 erzählte folgende Geschichte:

3 Einen vor sich hin weinenden Jungen fragte ein Vorübergehender nach dem Grund seines

4 Kummers. „Ich hatte zwei Groschen für das Kino beisammen“, sagte der Knabe, „da kam ein

5 Junge und riss mir einen aus der Hand“, und er zeigte auf einen Jungen, der in einiger Entfernung

6 zu sehen war. „Hast du denn nicht um Hilfe geschrien?“, fragte der Mann. „Doch“, sagte

7 der Junge und schluchzte ein wenig stärker. „Hat dich niemand gehört?“, fragte ihn der Mann

8 weiter, ihn liebevoll streichelnd. „Nein“, schluchzte der Junge. „Kannst du denn nicht lauter

9 schreien?“, fragte der Mann. „Nein“, sagte der Junge und blickte ihn mit neuer Hoffnung an.

10 Denn der Mann lächelte. „Dann gib auch den her“, sagte er, nahm ihm den letzten Groschen

11 aus der Hand und ging unbekümmert weiter.

Die Küchenuhr (Wolfgang Borchert, 1947)

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Sie sahen ihn schon von weitem auf sich zukommen, denn er fiel auf. Er hatte ein ganz altes Gesicht, aber

wie er ging, daran sah man, dass er erst zwanzig war. Er setzte sich mit seinem alten Gesicht zu ihnen auf

die Bank. Und dann zeigte er ihnen, was er in der Hand trug.

Das war unsere Küchenuhr, sagte er und sah sie alle der Reihe nach an, die auf der Bank in der Sonne

saßen. Ja, ich habe sie noch gefunden. Sie ist übriggeblieben. Er hielt eine runde tellerweiße Küchenuhr

vor sich hin und tupfte mit dem Finger die blau gemalten Zahlen ab. Sie hat weiter keinen Wert, meinte er

entschuldigend, das weiß ich auch. Und sie ist auch nicht besonders schön. Sie ist nur wie ein Teller, so

mit weißem Lack. Aber die blauen Zahlen sehen doch ganz hübsch aus, finde ich. Die Zeiger sind

natürlich nur aus Blech. Und nun gehen sie auch nicht mehr. Nein. Innerlich ist sie kaputt, das steht fest.

Aber sie sieht noch aus wie immer. Auch wenn sie jetzt nicht mehr geht. Er machte mit der Fingerspitze

einen vorsichtigen Kreis auf dem Rand der Telleruhr entlang. Und er sagte leise: Und sie ist

übriggeblieben.

Die auf der Bank in der Sonne saßen, sahen ihn nicht an. Einer sah auf seine Schuhe und die Frau sah in

ihren Kinderwagen. Dann sagte jemand: Sie haben wohl alles verloren? Ja, ja, sagte er freudig, denken Sie,

aber auch alles! Nur sie hier, sie ist übrig. Und er hob die Uhr wieder hoch, als ob die anderen sie noch

nicht kannten. Aber sie geht doch nicht mehr, sagte die Frau. Nein, nein, das nicht. Kaputt ist sie, das weiß

ich wohl. Aber sonst ist sie doch noch ganz wie immer: weiß und blau. Und wieder zeigte er ihnen seine

Uhr. Und was das Schönste ist, fuhr er aufgeregt fort, das habe ich Ihnen ja noch überhaupt nicht erzählt.

Das Schönste kommt nämlich noch: Denken Sie mal, sie ist um halb drei stehengeblieben. Ausgerechnet

um halb drei, denken Sie mal.

Dann wurde Ihr Haus sicher um halb drei getroffen, sagte der Mann und schob wichtig die Unterlippe vor.

Das habe ich schon oft gehört. Wenn die Bombe runtergeht, bleiben die Uhren stehen. Das kommt von

dem Druck. Er sah seine Uhr an und schüttelte den Kopf. Nein, lieber Herr, nein, da irren Sie sich. das hat

mit den Bomben nichts zu tun. Sie müssen nicht immer von den Bomben reden. Nein. Um halb drei war

etwas ganz anderes, das wissen Sie nur nicht. Das ist nämlich der Witz, dass sie gerade um halb drei

stehen geblieben ist. Und nicht um Viertel nach vier oder um sieben. Um halb drei kam ich nämlich immer

nach Hause. Nachts, meine ich. Fast immer um halb drei. Das ist ja gerade der Witz.

Er sah die anderen an, aber sie hatten ihre Augen von ihm weggenommen. Er fand sie nicht. Da nickte er

seiner Uhr zu: Dann hatte ich natürlich Hunger, nicht wahr? Und ich ging immer gleich in die Küche. Da

war es dann fast immer halb drei. Und dann, dann kam nämlich meine Mutter. Ich konnte noch so leise die

Tür aufmachen, sie hat mich immer gehört. Und wenn ich in der dunklen Küche etwas zu essen suchte,

ging plötzlich das Licht an. Dann stand sie da in ihrer Wolljacke und mit einem roten Schal um. Und

barfuß. Und dabei unsere Küche gekachelt. Und sie machte ihre Augen ganz klein, weil ihr das Licht so

hell war. Denn sie hatte ja schon geschlafen. Es war ja Nacht. So spät wieder, sagte sie dann. Mehr sagte

sie nie. Nur: So spät wieder. Und dann machte sie mir das Abendbrot warm und sah zu, wie ich aß. Dabei

scheuerte sie immer die Füße aneinander, weil die Kacheln so kalt waren. Schuhe zog sie nachts nie an.

Und sie saß so lange bei mir, bis ich satt war. Und dann hörte ich sie noch die Teller wegsetzen, wenn ich

in meinem Zimmer schon das Licht ausgemacht hatte. Jede Nacht war es so. Und meistens immer um halb

drei. Das war ganz selbstverständlich, fand ich, dass sie mir nachts um halb drei in der Küche das Essen

machte. Ich fand das ganz selbstverständlich. Sie tat das ja immer. Und sie hat nie mehr gesagt als: So spät

wieder. Aber das sagte sie jedes Mal. Und ich dachte, das könnte nie aufhören. Es war mir so

selbstverständlich. Das alles war doch immer so gewesen.

Einen Atemzug lang war es still auf der Bank. Dann sagte er leise: Und jetzt? Er sah die anderen an. Aber

er fand sie nicht. Da sagte er der Uhr leise ins weißblaue runde Gesicht: Jetzt, jetzt weiß ich, dass es das

Paradies war. Das richtige Paradies. Auf der Bank war es ganz still. Dann fragte die Frau: Und Ihre

Familie?

Er lächelte sie verlegen an: Ach, sie meinen meine Eltern? ja, die sind auch mit weg. Alles ist weg. Alles,

stellen Sie sich vor. Alles weg.

Er lächelte verlegen von einem zum anderen. Aber sie sahen ihn nicht an. Da hob er wieder die Uhr hoch

und lachte. Er lachte: Nur sie hier. Sie ist übrig. Und das Schönste ist ja, dass sie ausgerechnet um halb

drei stehen geblieben ist. Ausgerechnet um halb drei.

Dann sagte er nichts mehr. Aber er hatte ein ganz altes Gesicht. Und der Mann, der neben ihm saß, sah auf

seine Schuhe. Aber er sah seine Schuhe nicht. Er dachte immerzu an das Wort Paradies...

Inventur (Günter Eich, 1947)

1 Dies ist meine Mütze,

2 dies ist mein Mantel,

3 hier mein Rasierzeug

4 im Beutel aus Leinen

5 Konservenbüchse:

6 Mein Teller, mein Becher

7 ich hab in das Weißblech

8 den Namen geritzt.

9 Geritzt hier mit diesem

10 kostbaren Nagel,

11 den vor begehrlichen

12 Augen ich berge.

13 Im Brotbeutel sind

14 ein Paar wollene Socken

15 und einiges, was ich

16 niemanden verrate,

17 so dient es als Kissen

18 nachts meinem Kopf.

19 Die Pappe hier liegt

20 zwischen mir und der Erde.

21 Die Bleistiftmine

22 lieb ich am meisten:

23 Tags schreibt sie mir die Verse,

24 die nachts ich erdacht.

25 Dies ist mein Notizbuch,

26 dies meine Zeltbahn,

27 dies mein Handtuch,

28 dies ist mein Zwirn.

Todesfuge (Paul Celan, 1948)

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Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends

wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts

wir trinken und trinken

wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng

Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der

schreibt der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete

er schreibt es und tritt vor das Haus und es blitzen die Sterne er pfeift seine Rüden herbei

er pfeift seine Juden hervor lässt schaufeln ein Grab in der Erde

er befiehlt uns spielt nun zum Tanz

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts

wir trinken dich morgens und mittags wir trinken dich abends

wir trinken und trinken

Ein Mann wohnt im Haus und spielt mit den Schlangen der schreibt

der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete

Dein aschenes Haar Sulamith wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng

Er ruft stecht tiefer ins Erdreich ihr einen ihr anderen singet und spielt

er greift nach dem Eisen im Gurt er schwingts seine Augen sind blau

stecht tiefer die Spaten ihr einen ihr andern spielt weiter zum Tanz auf

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts

wir trinken dich morgens und mittags wir trinken dich abends

wir trinken und trinken

ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete

dein aschenes Haar Sulamith er spielt mit den Schlangen

Er ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus Deutschland

er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft

dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts

wir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus Deutschland

wir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinken

der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau

er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau

ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete

er hetzt seine Rüden auf uns er schenkt uns ein Grab in der Luft

er spielt mit den Schlangen und träumet der Tod ist ein Meister aus Deutschland

dein goldenes Haar Margarete

dein aschenes Haar Sulamith

Die Physiker (Friedrich Dürrenmatt, 1962/1980, Auszug aus Ganzwerk)

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MÖBIUS: »Ich finde nicht den geringsten Grund dazu. Im Gegenteil. Ich bin mit meinem Schicksal

zufrieden.«

Schweigen.

NEWTON: »Doch ich bin nicht damit zufrieden, ein ziemlich entscheidender Umstand, finden Sie nicht?

Ihre persönlichen Gefühle in Ehren, aber Sie sind ein Genie und als solches Allgemeingut. Sie drangen in

neue Gebiete der Physik vor. Aber Sie haben die Wissenschaft nicht gepachtet. Sie haben die Pflicht, die

Türe auch uns aufzuschließen, den Nicht-Genialen. Kommen Sie mit mir, in einem Jahr stecken wir Sie in

einen Frack, transportieren Sie nach Stockholm, und Sie erhalten den Nobelpreis.«

MÖBIUS: »Ihr Geheimdienst ist uneigennützig.«

NEWTON: »Ich gebe zu, Möbius, dass ihn vor allem die Vermutung beeindruckt, Sie hätten das Problem

der Gravitation gelöst.«

MÖBIUS: »Stimmt.«

Stille.

EINSTEIN: »Das sagen Sie so seelenruhig?«

MÖBIUS: »Wie soll ich es denn sonst sagen?«

EINSTEIN: »Mein Geheimdienst glaubte, Sie würden die einheitliche Theorie der Elementarteilchen - «

MÖBIUS: »Auch Ihren Geheimdienst kann ich beruhigen. Die einheitliche Feldtheorie ist gefunden.«

NEWTON (wischt sich mit der Serviette den Schweiß von der Stirne): »Die Weltformel. - «

EINSTEIN: »Zum Lachen. Da versuchen Horden gut besoldeter Physiker in riesigen staatlichen

Laboratorien seit Jahren vergeblich in der Physik weiterzukommen, und Sie erledigen

das en passant im Irrenhaus am Schreibtisch.« Er wischt sich ebenfalls mit der Serviette den Schweiß von der

Stirne.

NEWTON: »Und das System aller möglichen Erfindungen, Möbius?«

MÖBIUS: »Gibt es auch. Ich stellte es aus Neugierde auf, als praktisches Kompendium zu meinen

theoretischen Arbeiten. Soll ich den Unschuldigen spielen? Was wir denken, hat seine Folgen. Es war meine

Pflicht, die Auswirkungen zu studieren, die meine Feldtheorie und meine Gravitationslehre haben würden.

Das Resultat ist verheerend. Neue, unvorstellbare Energien würden freigesetzt und eine Technik ermöglicht,

die jeder Phantasie spottet, falls meine Untersuchung in die Hände der Menschen fiele.«

EINSTEIN: »Das wird sich kaum vermeiden lassen.«

NEWTON: »Die Frage ist nur, wer zuerst an sie herankommt.«

MÖBIUS (lacht): »Sie wünschen dieses Glück wohl Ihrem Geheimdienst, Kilton, und dem Generalstab, der

dahintersteht?«

NEWTON: »Warum nicht. Um den größten Physiker aller Zeiten in die Gemeinschaft der Physiker

zurückzuführen, ist mir jeder Generalstab gleich heilig.«

EINSTEIN: »Mir ist bloß mein Generalstab heilig. Wir liefern der Menschheit gewaltige Machtmittel. Das

gibt uns das Recht, Bedingungen zu stellen. Wir müssen entscheiden, zu wessen Gunsten wir unsere

Wissenschaft anwenden, und ich habe mich entschieden.«

NEWTON: »Unsinn, Eisler. Es geht um die Freiheit unserer Wissenschaft und um nichts weiter. Wir haben

Pionierarbeit zu leisten und nichts außerdem. Ob die Menschheit den Weg zu gehen versteht, den wir ihr

bahnen, ist ihre Sache, nicht die unsrige.«

EINSTEIN: »Sie sind ein jämmerlicher Ästhet, Kilton. Warum kommen Sie nicht zu uns, wenn Ihnen nur an

der Freiheit der Wissenschaft gelegen ist? Auch wir können es uns schon längst nicht mehr leisten, die

Physiker zu bevormunden. Auch wir brauchen Resultate. Auch unser politisches System muss der

Wissenschaft aus der Hand fressen.«

NEWTON: »Unsere beiden politischen Systeme, Eisler, müssen jetzt vor allem Möbius aus der Hand

fressen.«

EINSTEIN: »Im Gegenteil. Er wird uns gehorchen müssen. Wir beide halten ihn schließlich in Schach.«

NEWTON: »Wirklich? Wir beide halten wohl mehr uns in Schach. Unsere Geheimdienste sind leider auf die

gleiche Idee gekommen. Geht Möbius mit Ihnen, kann ich nichts dagegen tun, weil Sie es verhindern

würden. Und Sie wären hilflos, wenn sich Möbius zu meinen Gunsten entschlösse. Er kann hier wählen, nicht

wir.«

Die Physiker (Friedrich Dürrenmatt, 1962/1980, Auszug aus Ganzwerk)

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MÖBIUS (steht auf): »Wir sind drei Physiker. Die Entscheidung, die wir zu fällen haben, ist eine

Entscheidung unter Physikern. Wir müssen wissenschaftlich vorgehen. Wir dürfen uns nicht von

Meinungen bestimmen lassen, sondern von logischen Schlüssen. Wir müssen versuchen, das Vernünftige zu

finden. Wir dürfen uns keinen Denkfehler leisten, weil ein Fehlschluss zur Katastrophe führen müsste. Der

Ausgangspunkt ist klar. Wir haben alle drei das gleiche Ziel im Auge, doch unsere Taktik ist verschieden.

Das Ziel ist der Fortgang der Physik. Sie wollen ihr die Freiheit bewahren, Kilton, und streiten ihr die

Verantwortung ab. Sie dagegen, Eisler, verpflichten die Physik im Namen der Verantwortung der

Machtpolitik eines bestimmten Landes. Wie sieht nun aber die Wirklichkeit aus? Darüber verlange ich

Auskunft, soll ich mich entscheiden.«

NEWTON: »Einige der berühmtesten Physiker erwarten Sie. Besoldung und Unterkunft ideal, die Gegend

mörderisch, aber die Klimaanlagen ausgezeichnet.«

MÖBIUS: »Sind diese Physiker frei?«

NEWTON: »Mein lieber Möbius. Diese Physiker erklären sich bereit, wissenschaftliche Probleme zu lösen,

die für die Landesverteidigung entscheidend sind. Sie müssen daher verstehen«

MÖBIUS: »Also nicht frei.« Er wendet sich Einstein zu. »Joseph Eisler. Sie treiben Machtpolitik. Dazu

gehört jedoch Macht. Besitzen Sie die?«

EINSTEIN: »Sie missverstehen mich, Möbius. Meine Machtpolitik besteht gerade darin, dass ich

zugunsten einer Partei auf meine Macht verzichtet habe.«

MÖBIUS: »Können Sie die Partei im Sinne Ihrer Verantwortung lenken, oder laufen Sie Gefahr, von der

Partei gelenkt zu werden?«

EINSTEIN: »Möbius! Das ist doch lächerlich. Ich kann natürlich nur hoffen, die Partei befolge meine

Ratschläge, mehr nicht. Ohne Hoffnung gibt es nun einmal keine politische Haltung.«

MÖBIUS: »Sind wenigstens Ihre Physiker frei?«

EINSTEIN: »Da auch sie für die Landesverteidigung

MÖBIUS: »Merkwürdig. Jeder preist mir eine andere Theorie an, doch die Realität, die man mir bietet, ist

dieselbe: ein Gefängnis. Da ziehe ich mein Irrenhaus vor. Es gibt mir wenigstens die Sicherheit, von

Politikern nicht ausgenützt zu werden.«

EINSTEIN: »Gewisse Risiken muss man schließlich eingehen.«

MÖBIUS: »Es gibt Risiken, die man nie eingehen darf: der Untergang der Menschheit ist ein solches. Was

die Welt mit den Waffen anrichtet, die sie schon besitzt, wissen wir, was sie mit jenen anrichten würde, die

ich ermögliche, können wir uns denken. Dieser Einsicht habe ich mein Handeln untergeordnet. Ich war arm.

Ich besaß eine Frau und drei Kinder. An der Universität winkte Ruhm, in der Industrie Geld. Beide Wege

waren zu gefährlich. Ich hätte meine Arbeiten veröffentlichen müssen, der Umsturz unserer Wissenschaft

und das Zusammenbrechen des wirtschaftlichen Gefüges wären die Folgen gewesen. Die Verantwortung

zwang mir einen anderen Weg auf. Ich ließ meine akademische Karriere fahren, die Industrie fallen und

überließ meine Familie ihrem Schicksal. Ich wählte die Narrenkappe. Ich gab vor, der König Salomo

erscheine mir, und schon sperrte man mich in ein Irrenhaus.«

NEWTON: »Das war doch keine Lösung!«

MÖBIUS: »Die Vernunft forderte diesen Schritt. Wir sind in unserer Wissenschaft an die Grenzen des

Erkennbaren gestoßen. Wir wissen einige genau erfassbare Gesetze, einige Grundbeziehungen zwischen

unbegreiflichen Erscheinungen, das ist alles, der gewaltige Rest bleibt Geheimnis, dem Verstande

unzugänglich. Wir haben das Ende unseres Weges erreicht. Aber die Menschheit ist noch nicht soweit. Wir

haben uns vorgekämpft, nun folgt uns niemand nach, wir sind ins Leere gestoßen. Unsere Wissenschaft ist

schrecklich geworden, unsere Forschung gefährlich, unsere Erkenntnis tödlich. Es gibt für uns Physiker nur

noch die Kapitulation vor der Wirklichkeit. Sie ist uns nicht gewachsen. Sie geht an uns zugrunde. Wir

müssen unser Wissen zurücknehmen, und ich habe es zurückgenommen. Es gibt keine andere Lösung, auch

für euch nicht.«

EINSTEIN: »Was wollen Sie damit sagen?«

MÖBIUS: »Ihr besitzt Geheimsender?«

EINSTEIN: »Na und?«

MÖBIUS: »Ihr benachrichtigt eure Auftraggeber. Ihr hättet euch geirrt. Ich sei wirklich verrückt.«

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EINSTEIN: »Was wollen Sie damit sagen?«

MÖBIUS: »Ihr besitzt Geheimsender?«

EINSTEIN: »Na und?«

MÖBIUS: »Ihr benachrichtigt eure Auftraggeber. Ihr hättet euch geirrt. Ich sei wirklich verrückt.«

EINSTEIN: »Dann sitzen wir hier lebenslänglich.«

MÖBIUS: »Sicher.«

EINSTEIN: »Gescheiterten Spionen kräht kein Hahn mehr nach.«

MÖBIUS: »Eben.«

NEWTON: »Na und?«

MÖBIUS: »Ihr müsst bei mir im Irrenhaus bleiben.«

NEWTON: »Wir?«

MÖBIUS: »Ihr beide.«

Schweigen.

NEWTON: »Möbius! Sie können von uns doch nicht verlangen, dass wir ewig - «

MÖBIUS: »Meine einzige Chance, doch noch unentdeckt zu bleiben. Nur im Irrenhaus sind wir noch frei.

Nur im Irrenhaus dürfen wir noch denken. In der Freiheit sind unsere Gedanken Sprengstoff.«

NEWTON: »Wir sind doch schließlich nicht verrückt.«

MÖBIUS: »Aber Mörder.« Sie starren ihn verblüfft an.

NEWTON: »Ich protestiere!«

EINSTEIN: »Das hätten Sie nicht sagen dürfen, Möbius!«

MÖBIUS: »Wer tötet, ist ein Mörder, und wir haben getötet. Jeder von uns hatte einen Auftrag, der ihn in

diese Anstalt führte. Jeder von uns tötete seine Krankenschwester für einen bestimmten Zweck. Ihr, um eure

geheime Mission nicht zu gefährden, ich, weil Schwester Monika an mich glaubte. Sie hielt mich für ein

verkanntes Genie. Sie begriff nicht, dass es heute die Pflicht eines Genies ist, verkannt zu bleiben. Töten ist

etwas Schreckliches. Ich habe getötet, damit nicht ein noch schrecklicheres Morden anhebe. Nun seid ihr

gekommen. Euch kann ich nicht beseitigen, aber vielleicht überzeugen? Sollen unsere Morde sinnlos

werden? Entweder haben wir geopfert oder gemordet. Entweder bleiben wir im Irrenhaus, oder die Welt

wird eines. Entweder löschen wir uns im Gedächtnis der Menschen aus, oder die Menschheit erlischt.«

Schweigen.

NEWTON: »Möbius!«

MÖBIUS: »Kilton?«

NEWTON: »Diese Anstalt. Diese schrecklichen Pfleger. Diese bucklige Ärztin!«

MÖBIUS: »Nun?«

EINSTEIN: »Man sperrt uns ein wie wilde Tiere!«

MÖBIUS: »Wir sind wilde Tiere. Man darf uns nicht auf die Menschheit loslassen.« Schweigen.

NEWTON: »Gibt es wirklich keinen andern Ausweg?«

MÖBIUS: »Keinen.«

Schweigen.

EINSTEIN: »Johann Wilhelm Möbius. Ich bin ein anständiger

Mensch. Ich bleibe.« Schweigen.

NEWTON: »Ich bleibe auch. Für immer.« Schweigen.

MÖBIUS: »Ich danke euch. Um der kleinen Chance willen, die nun die Welt doch noch besitzt

davonzukommen.« Er erhebt sein Glas. »Auf unsere Krankenschwestern!«

Sie haben sich feierlich erhoben. (…)

MÖBIUS: »Ich trinke auf Monika Stettier.«

DIE BEIDEN ANDERN: »Auf Schwester Monika!«

MÖBIUS: »Monika! Ich musste dich opfern. Deine Liebe segne die Freundschaft, die wir drei Physiker in

deinem Namen geschlossen haben. Gib uns die Kraft, als Narren das Geheimnis unserer Wissenschaft treu

zu bewahren.« Sie trinken, stellen die Gläser auf den Tisch.

NEWTON: »Verwandeln wir uns wieder in Verrückte. Geistern wir als Newton daher.«

EINSTEIN: »Fiedeln wir wieder Kreisler und Beethoven.«

MÖBIUS: »Lassen wir wieder Salomo erscheinen.«

NEWTON: »Verrückt, aber weise.«

EINSTEIN: »Gefangen, aber frei.«

MÖBIUS: »Physiker, aber unschuldig.«

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