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1 23 Rüstungskontrolle und Nachrüstung Es ging beiden Seiten mehr um ein gegenseitiges Abtasten und Vorführen. Der Antrieb für Rüstungskontrolle war einmal das hohe Kostenniveau der Rüstung, zum zweiten die besondere Rationalität des Nuklearzeitalters. Kriege konnten nicht mehr, wie es der preußische Kriegsphilosoph Carl von Clausewitz (1780-1831) formuliert hatte, einfach die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sein. Die Nuklearpotentiale der beiden Supermächte bewirkten eine Tendenz zum Management des Nicht-Krieges. Rüstungskontrollbemühungen und Nukleardiplomatie waren die logischen Konsequenzen. Seit den fünfziger Jahren bemühten sich der Westen wie der Osten um Rüstungskontrolle. In den ersten beiden Jahrzehnten kam dabei wenig Vorzeigbares heraus.

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23Rüstungskontrolle und Nachrüstung. Seit den fünfziger Jahren bemühten sich der Westen wie der Osten um Rüstungskontrolle. In den ersten beiden Jahrzehnten kam dabei wenig Vorzeigbares heraus. - PowerPoint PPT Presentation

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23 Rüstungskontrolle und Nachrüstung

Es ging beiden Seiten mehr um ein gegenseitiges Abtasten und Vorführen. Der Antrieb für Rüstungskontrolle war einmal das hohe Kostenniveau der Rüstung, zum zweiten die besondere Rationalität des Nuklearzeitalters.

Kriege konnten nicht mehr, wie es der preußische Kriegsphilosoph Carl von Clausewitz (1780-1831) formuliert hatte, einfach die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sein.

Die Nuklearpotentiale der beiden Supermächte bewirkten eine Tendenz zum Management des Nicht-Krieges. Rüstungskontrollbemühungen und Nukleardiplomatie waren die logischen Konsequenzen.

Seit den fünfziger Jahren bemühten sich der Westen wie der Osten um Rüstungskontrolle. In den ersten beiden Jahrzehnten kam dabei wenig Vorzeigbares heraus.

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Für die Bundesrepublik Deutschland war diese Sicherheitslage direkt mit der Deutschlandfrage verknüpft. Eine europäische Sicherheitsordnung im Rahmen des Ost-West-Konflikts musste automatisch alle Kernfragen der deutschen Außenpolitik berühren: die Einheit, den nicht-nuklearen Status, die geostrategische Lage und die Sicherheitsabhängigkeit von den USA.

All dies unterstreicht die Sonderrolle der Bundesrepublik innerhalb der NATO. Bonn befand sich hier in einer Zwickmühle. Die meisten Rüstungskontroll-vorschläge der fünfziger und sechziger Jahre basierten auf der Anerkennung des europäischen Status quo.

Da Bonn wegen der Deutschlandfrage diesen Status quo nicht anerkennen konnte und wollte, geriet es mehr oder weniger automatisch in eine Oppositionsrolle zu allen Rüstungskontrollinitiativen.

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Diese Oppositionsrolle galt exemplarisch für die Bonner Reaktion auf die Disengagement- und Entflechtungsvorschläge der fünfziger Jahre

So hatte etwa der britische Außenminister Anthony Eden im Juli 1955 auf der Genfer Gipfelkonferenz eine „entmilitarisierte Zone zwischen Ost und West“ vorgeschlagen.

1957/1958 formulierte der polnische Außenminister Adam Rapacki eine „entnuklearisierte Zone“ in Mitteleuropa. Er schlug für Polen, die Tschechoslowakei, die Bundesrepublik und die DDR ein Verbot der Produktion, der Stationierung und der Anwendung von Nuklearwaffen vor und gleichfalls eine Reduktion der konventionellen Streitkräfte auf diesen Territorien.

Das alles klang für diejenigen attraktiv, die ein höheres Maß an Sicherheit durch einen Friedensprozess in Europa erreichen wollten.

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Die Interessen der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten stießen auf die Gegenpositionen der Bundesrepublik und der Vereinigten Staaten. Moskau wollte über solche Verhandlungen eine zumindest indirekte Anerkennung der DDR erreichen.

Zugleich wäre bei einer nuklearfreien Bundesrepublik die Frage eines deutschen Mitspracherechts weitgehend vom Tisch gewesen. Genau aus diesen Gründen lehnten die Regierungen unter Eisenhower und Adenauer die Disengagement-Vorschläge ab. Beide wollten die Entwicklung der NATO und die volle Westintegration der Bundesrepublik nicht gefährden.

Adenauer misstraute dem westlichen Rüstungskontrollinteresse, weil er eine Minderung der Spannungen zwischen Ost und West ohne Fortschritte in der Frage der deutschen Einheit ablehnte. Von Anfang an befürchtete Bonn die Verständigungsbereitschaft zwischen den beiden Supermächten auf seine Kosten.

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Damit war Bonn in der schwierigen diplomatischen Position des Bremsers von Rüstungskontrollverhandlungen.

Da dies diplomatisch so nicht durchzuhalten war, begann die Bonner Außen-politik zu taktieren. Es wurden Lippenbekenntnisse für die Rüstungskontrolle geleistet, zugleich aber nach Kräften gegengesteuert.

Das Bonner Interesse an einer Stationierung von Nuklearwaffen auf westdeutschem Boden hatte Folgen, deren politische und diplomatische Trag-weite Adenauer selbst wohl nicht recht erkannte.

Ein Mehr an Sicherheit und an Mitsprache für die deutsche Seite konnte dabei nämlich kaum herauskommen. Niemand im Westen wie im Osten, außer Bonn selbst, war zu einer deutschen Mitsprache ernsthaft bereit.

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Mitte und Ende der sechziger Jahre kamen immer mehr Rüstungskontrollvorschläge auf den Tisch. Sie ähnelten oft denen der fünfziger Jahre, trugen aber der Tatsache Rechnung, dass beide Bündnissysteme an Bedeutung verloren hatten und eine militärische Entspannung für beide Seiten vorteilhaft erschien.

Die Vorschläge zur Auflösung der antagonistischen Militärbündnisse gingen am weitesten. Sie kamen meistens von der östlichen Seite, hatten aber eher propagandistischen Wert. Die Sowjetunion war damals nicht wirklich bereit, die Kontrolle über ihre Kriegseroberungen aufzugeben.

Die Situation für die Bonner Politik hatte sich noch weiter verschlechtert. Während man in den fünfziger Jahren noch auf die Unterstützung der Vereinigten Staaten rechnen konnte, war Bonn in diesen Fragen jetzt völlig isoliert.

Der Rückgang der sowjetischen Bedrohung aus europäischer und amerikanischer Sicht legte Arrangements nahe. Bonns Umgang mit der deutschen Frage wirkte folglich stur und entspannungsfeindlich.

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Exemplarisch deutlich wurde die schwierige Anti-Position der Bundesregierung am Atomwaffensperrvertrag (Non-Proliferation Treaty, NPT). Der Bonner Widerstand gegen den Atomwaffensperr-vertrag hatte eine ganze Reihe von Gründen.

Die politische Diskriminierung der Bundesrepublik sollte vermieden, eine Beteiligung am Mitbesitz der alliierten Nuklearstreitmacht sichergestellt, die Teilnahme an der Nuklearplanung der NATO garantiert und der diplomatische Einfluss bei zukünftigen Verhandlungen über die deutsche Frage gewahrt werden.

Die deutsche Regierung wollte den Verzicht auf eine eigene Nuklearkapazität an Fortschritte in der deutschen Frage knüpfen. Konkret meinte sie einen Anspruch auf einen zukünftigen Erwerb nur aufgeben zu können, wenn Deutschlands Sicherheit und die spätere Wiedervereinigung garantiert wären. Mit dieser Position stand Bonn völlig allein.

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Der Bonner Verdacht, dass der Atomwaffensperrvertrag sich hauptsächlich gegen die Bundesrepublik selbst richtete, war nicht unbegründet. An diesem Fall wurde der Vorrang der sowjetisch-amerikanischen Interessen vor der deutsch-amerikanischen Partnerschaft allzu deutlich.

Für viele deutsche Betrachter war dies der Beweis dafür, dass die amerikanische Regierung die deutsche Frage eigentlich ad acta gelegt hatte.1

Die USA waren nicht bereit, die deutsche Ablehnung des Vertrags zu unterstützen

1 Neuerdings findet sich für den NPT im deutschsprachigen Gebrauch die dem englischen Original entsprechende Bezeichnung Nichtverbreitungsvertrag (NVV). In den sechziger und siebziger Jahren waren Atomwaffensperrvertrag, Atomsperrvertrag und Kernwaffensperrvertrag bzw. NV-Vertrag üblich.

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Schwer verdaulich für die Bonner Diplomatie war, dass die Debatte um den Atomwaffensperrvertrag ihre Differenzen mit Washington klar legte, zwischen Moskau und Ost-Berlin jedoch Einvernehmen herrschte. Für die Sowjetunion war Rüs-tungskontrollpolitik eine nützliche Ergänzung ihrer Deutsch-landpolitik. Die USA hingegen setzten die Teststoppverträge und den Atomwaffensperrvertrag auf Kosten ihrer engen Be-ziehungen zu Westdeutschland durch.

Es war klar geworden, dass der Atomwaffensperrvertrag nicht nur eine „Herabsetzung“ der Bundesrepublik beinhaltete, auch ihr Anspruch auf Gleichberechtigung war ernsthaft beschädigt worden.

Der Vertrag war nun einmal ein unvermeidliches Instrument zur Verhütung des Atomkrieges. Dabei mussten die Sonderinteressen der Bundesrepublik zwangsläufig hintenanstehen.

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Die Große Koalition leistete gegen den Atomwaffensperrvertrag anfangs hinhaltenden Widerstand

Altbundeskanzler Adenauer nannte ihn einen „Morgenthau-Plan im Quadrat“, Franz Josef Strauß ein „Versailles kosmischen Ausmaßes“. Der Bundes-kanzler Kurt Georg Kiesinger bewertete ihn als „eine Art atomarer Kompli-zenschaft“ zwischen Washington und Moskau.

Außenminister Brandt befürwortete hingegen die deutsche Zustimmung. Er hielt sie für unvermeidlich und wollte einen Zusammenhang des Atomwaffen-sperrvertrags mit effektiven Rüstungskontrollmaßnahmen beider Super-mächte.

Die Politik, einen deutschen Finger am nuklearen Drücker haben zu wollen, um damit Gleichberechtigung zu dokumentieren und eine bessere Verhand-lungsposition bei der deutschen Frage zu wahren, musste angesichts des europäischen und internationalen Umfeldes scheitern.

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Die deutschen Besorgnisse über den Atomwaffensperrvertrag wurden durch das Problem der Antiballistischen Raketenabwehr (ABM) intensiviert. Seit Mitte der sechziger Jahre begannen beide Supermächte ABM-Systeme zu stationieren.

Die Europäer sahen darin einen Ansatz der USA, sich in eine „Festung Amerika“ zurückzuziehen. Besonders die Bonner Regierung hielt die ABM-Debatte für einen weiteren Versuch der Supermächte, in Europa ein sowjetisch-amerikanisches Kondominium zu errichten.

Das Interesse der beiden Supermächte angesichts des „Gleichgewichts“ des Schreckens zu einer Entspannungspolitik zu kommen, war jedoch dominant. Deutsche Vorbehalte aus dem engen Eigeninteresse der alten Sicht der Deutschen Frage waren chancenlos.

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„Die USA und die Sowjetunion befinden sich in einer paradoxen und noch nie dagewesenen Situation. Ihre unvereinbaren Gegensätze hindern sie, einen echten Frieden zu schließen. Nuklearwaffen hindern sie, Krieg zu führen. Nicht zuletzt aus diesem Grunde ist die Rüstungskontrolle gewissermaßen zur politischen Währung geworden, mit der beide Seiten die Fortschritte bei der Lösung von Spannungen messen.

Die amerikanische Perspektive wird durch folgendes Zitat verständlich:

Die Rivalität zwischen den Supermächten ist so tief verwurzelt, dass sie nur in einem Bereich eine systematische Beilegung erlaubt: in der Regulierung des militärischen Wettbewerbs. Dabei ist der Wettlauf um den nuklearen Vorteil lediglich die äußere Manifestation ihres im wesentlichen politischen Konflikts.

Anstatt Nuklearwaffen zu Kriegszwecken anzuwenden, haben es beide Seiten gelernt, sie zu politischem Vorteil zu manipulieren und gleichzeitig die Gefahr einer Katastrophe zu verringern. So ist die Rüstungskontrolle zu verstehen: Als eine besondere Art von Sublimierung.“ (Strobe Talbot 1986)

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Diese Version der Ost-West-Entspannung konnte nur auf der Basis des europäischen Status quo stattfinden. Die alte Bonner Politik war dabei ein Hindernis, die neue Ostpolitik von Brandt zog nach.

Sie passte die Bonner Linie an die westliche Entspannungspolitik an. 1975 gipfelte diese Politik in der Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Die deutsche Vertragspolitik der siebziger Jahre mit Moskau, Warschau, Ost-Berlin und Prag hatte dafür die Voraus-setzungen geschaffen. Die Bundesrepublik hatte sich letztlich angepasst, weil sie gar keine andere Wahl hatte.

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In der Sicherheitspolitik war die Regierung Brandt-Scheel nun auch wieder voll auf der NATO-Linie. Die Grundsätze des Harmel-Berichts der NATO von 1967, Abschreckung gekoppelt mit Entspannung, wurde damit zum gemeinsamen Kern der westeuropäischen Ostpolitik.

Bonns Ostpolitik und seine Sicherheitspolitik wurden dadurch auch wieder vereinbar. Eine positive deutsche Einstellung zur Rüstungskontrolle war jetzt möglich geworden. Damit wurde die Bundesrepublik zum aktiven und konstruk-tiven Teilnehmer an den schwierigen Verhandlungen zwischen der NATO und dem Warschauer Vertrag.

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Im Herbst 1973 begannen Ost-West-Gespräche über den beiderseitigen Abbau konventioneller Waffen. Die MBFR-Ver-handlungen (Mutual Balanced Forces Reduction) sollten Truppenreduzierungen auf beiden Seiten aushandeln.

Die Gespräche blieben bis in die späten achtziger Jahre hinein ohne Erfolg. Die Asymmetrie von geostrategischen Faktoren, technischen Daten und politischen Zielen beinhaltete viele Stolpersteine für die MBFR-Verhand-lungen.

Die westliche Position zielte auf ein ausgewogeneres, stabileres Gleich-gewicht konventioneller Waffensysteme. Folglich wollte man größere Reduk-tionen für den Warschauer Pakt als für die NATO, um die zahlenmäßige Überlegenheit des Ostens zu minimieren.

Die Sowjetunion hingegen wollte gleichmäßige Reduzierungen statt gleicher Obergrenzen, um so den Zahlenvorteil des Ostens zu bewahren. Gleichzeitig wollte die östliche Seite besonders die Bundeswehr, die stärkste konven-tionelle Streitmacht der NATO, reduziert sehen.

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Sie sah ein Junktim zwischen MBFR und KSZE. Dieser Zusammenhang wurde langsam aufgegeben, weil die Stagnation der MBFR-Gespräche jeden Fortschritt bei der KSZE blockiert hätte.

Aus der Sicht der deutschen Konservativen war dies inakzeptabel. Um einen unbequemen Fachkritiker aus dieser Richtung loszuwerden, wurde z. B. Wilhelm Grewe nach seiner eigenen Auslegung 1971 als deutscher Botschafter nach Tokio ins diplomatische Exil geschickt.

Die Regierung Brandt betrachtete die MBFR-Verhandlungen als Bestandteil ihrer Ostpolitik

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Für das Verhältnis der Supermächte wichtiger waren die SALT-Verhandlungen, die Strategic Arms Limitation Talks.

Bonn war grundsätzlich dafür, kritisierte aber im Detail, dass SALT I die auf Westeuropa gerichteten sowjetischen Mittelstreckenraketen ausklammerte. Bonner Versuche, konsequenterweise in der NATO mehr Einfluss auf die USA zu nehmen, blieben ziemlich erfolglos.

Mitte der siebziger Jahre hatte die Sowjetunion begonnen, ihre auf West-europa gerichteten nuklearen Mittelstreckenwaffen zu modernisieren. Auf dies-em Feld entstand so ein Übergewicht des Warschauer Pakts.

Aus deutscher Sicht entstand eine sowjetische Erstschlagskapazität, die die alte Sorge bekräftigte, Washington könne seine Nukleargarantie nicht einhalten und dadurch ein auf Europa begrenzter Nuklearkrieg möglich werden. Offiziell begrüßte Bonn allerdings die SALT II-Vereinbarungen, um die Probleme des amerikanischen Präsidenten, den Vertrag im Senat ratifizieren zu lassen, nicht noch zu intensivieren.

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Anfang der siebziger Jahre stimmten die deutschen und die amerikanischen Interessen auf diesem Feld im großen und ganzen also wieder überein.

Ost und West versuchten nicht mehr wie früher, einseitige qualitative Vorteile zu erlangen. Im Nuklearzeitalter war dieses Verhalten obsolet geworden. Rüstungskontrollverhandlungen hatten deshalb weniger einen technischen als einen politisch-symbolischen Gehalt.

Ende der siebziger Jahre begannen hier allerdings Rückschläge einzutreten. Der amerikanische Präsident Carter verband die Rüstungskontrollpolitik mit der Menschenrechtspolitik und begann, die technisch-numerischen Aspekte zugun-sten der geostrategischen und politischen Seite zu vernachlässigen. Die Bundesrepublik behielt zwar ihr Entspannungsinteresse bei, sie verlor aber im Vergleich zum Anfang des Jahrzehnts erheblich an Einfluss.

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Wieder zeigte sich die alte Schwäche der Bonner Diplomatie, ein Widerspruch zwischen Sicherheitsinteressen und politischen Interessen. Bonn war für die Teilbarkeit der Entspannung, wollte aber die Unteilbarkeit der Abschreckung gesichert sehen. Der deutsche Kanzler Helmut Schmidt und der amerikanische Präsident Jimmy Carter fanden zudem nicht das persönliche Verhältnis, das nötig gewesen wäre, um die neuen Verstimmungen im deutsch-amerikanischen Verhältnis zu überbrücken.

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Unter dem amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan wurden die deutsch-amerikanischen Sicherheitsbeziehungen noch komp-lizierter. Die Probleme waren alle alt, im Grunde stammten sie aus den fünfziger Jahren.

Es war die abnehmende Glaubwürdigkeit der amerikanischen Nuklearga-rantie, der Anpassungsdruck für Bonn an die periodisch veränderten strate-gischen amerikanischen Doktrinen, die politischen Kosten der west-deutschen Sicherheitsabhängigkeit von den USA, die Folgen der Rüstungs-kontrolle für die deutsche Sicherheit, die Ostpolitik und die Resultate der Veränderungen im eurostrategischen und globalen Nukleargleichgewicht.

Das eurostrategische Nukleargleichgewicht kreierte seit Mitte der siebziger Jahre wieder Problemlagen. Dabei brachen die alten politischen Gegensätze zwischen Bonn und Washington auf und dokumentierten wieder einmal Bonns geringen Einfluss in Fragen der Nukleardiplomatie, der Rüstungskontrolle und in der NATO überhaupt.

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Nachdem die amerikanischen Interkontinentalraketen alle strategischen Ziele in der Sowjetunion abdecken konnten, das war Mitte der sechziger Jahre erreicht, hatten die USA ihre eurostrategischen Raketen abgezogen.

Es handelte sich dabei um Mittelstreckenraketen, die in Großbritannien, Italien und der Türkei stationiert waren. Die Sowjetunion hingegen zog nach Er-reichen der eurostrategischen Parität mit den USA ihre auf Europa zielenden Mittelstreckenwaffen nicht ab, sondern begann sie zu erweitern und zu moder-nisieren.

Es ging um die SS-20-Raketen mit drei Sprengköpfen. Damit gewann die Sowjetunion ein eurostrategisches Übergewicht auf dem Nuklearsektor, das zur alten konventionellen Überlegenheit hinzutrat.

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Der deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt war es selbst, der im Oktober 1977 anlässlich einer Rede in London das eurostra-tegische Übergewicht der Sowjetunion monierte. Eigentlich woll-ten die USA dadurch die SALT II-Verhandlungen nicht be-frachten.

Der Druck der deutschen Argumente führte allerdings dann doch im Januar 1979 zur amerikanischen Bereitschaft, die Nuklearwaffen der NATO zu modernisieren. Festgeschrieben wurde das Modernisierungsvorhaben dann im Dezember 1979, im sogenannten NATO-Doppelbeschluss.

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Dieser beinhaltete, dass der Westen 1983 damit beginnen würde, 108 amerikanische Pershing II-Raketen und 464 landgestützte Cruise Missiles mit Reichweite bis in die UdSSR in Europa zu dislozieren. Die Kehrseite des Beschlusses, deshalb Doppelbeschluss, war, dass diese Stationierungs-entscheidung modifiziert würde, wenn die Sowjetunion auf Rüstungskontroll-verhandlungen einginge.

Die Pershing-Raketen sollten gänzlich, von den Cruise Missiles nur 96 auf westdeutschem Boden stationiert werden. Dieser Teil des Beschlusses hatte hausgemachte deutsche innenpolitische Ursachen, die Bundesrepublik sollte nicht als einziges NATO-Mitglied diese neuen Waffen auf ihrem Boden erhalten, weil sie von der Sowjetunion als direkt bedrohlich eingeschätzt wurden. Hinzu kam, dass die deutsche Seite, wie üblich, eine „Singularisierung“ zu umgehen suchte.

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Die Interpretation für die Sicherheitsinteressen der Bundes-republik war wie stets doppeldeutig. Zum einen konnte das euro-strategische Ungleichgewicht die gesamte Abschreckungsstra-tegie der NATO in Frage stellen. Es bestand die reale Gefahr einer Abkoppelung Amerikas von Europa.

Die USA müssten dann entweder die Kampfhandlungen abbrechen oder Inter-kontinentalraketen einsetzen. Dies war das alte Szenario, das das wohlver-standene Eigeninteresse der USA so interpretierte, dass sie auf der Grundlage eines zerstörten Europas, besonders Deutschlands, mit der Sowjetunion ver-handeln würden.

Bei einem Eskalationsszenario könnte unter den Bedingungen des Scheiterns einer konventionellen Abwehr eines sowjetischen Angriffs die NATO zum Einsatz taktischer Nuklearwaffen gezwungen werden. Die SS-20-Raketen eröffneten für die Sowjetunion dann die Option, einen Gegenschlag auf die nuklearen NATO-Luftstreitkräfte zu führen.

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Genauso war es aber auch möglich zu argumentieren, dass ein wiederher-gestelltes eurostrategisches Nukleargleichgewicht den USA die Abkopplungs-option erst recht ermöglichten. Die USA könnten nämlich dann von vornherein einen Krieg auf Europa zu beschränken versuchen.

Beide Positionen waren in sich logisch. Nicht überprüfbar war die potentielle Reaktion eines amerikanischen Präsidenten. Für die deutsche Seite klar einschätzbar war aber, dass in allen Fällen konventionelle und nukleare Kampfhandlungen auf deutschem Boden stattfinden würden.

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Helmut Schmidt, der Realist und Pragmatiker, hatte über dieses Problem eigentlich den Einfluss der Bundesrepublik in der NATO stärken wollen. Genau wie früher verhob sich aber die Bundes-republik bei diesem Ziel.

Schmidt selber geriet außen- und innenpolitisch durch den NATO-Doppelbe-schluss immer mehr unter Druck. Die USA folgten nämlich keinesfalls dem deutschen Kalkül und setzten sich ziemlich rüde über die deutschen strate-gischen Sicherheitsinteressen und das deutsche innenpolitische Entspannungs-interesse hinweg.

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981/82, als sich die Amtszeiten von Präsident Reagan und von Bundeskanzler Schmidt überschnitten, wurde deutlich, dass die neue amerikanische Administration an der Rüstungskontrollseite des Doppelbeschlusses jetzt kein Interesse mehr hatte. Der amerikanische Kurs ging klar auf Aufrüstung, Rüstungskontrolle wurde als lästige Ablenkung eingeschätzt.

Das deutsche Entspannungsinteresse, aus Gründen des innerdeutschen Verhältnisses, wurde in Washington als störend empfunden. Die offene amerikanische Feindseligkeit gegenüber der Sowjetunion, die von Reagan als „Reich des Bösen“ apostrophiert wurde, ließ die Europäer einen „Zweiten Kalten Krieg“ befürchten.

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Er provozierte damit allerdings die westdeutschen Stationierungsgegner, die längst nicht mehr allein im linken Spektrum, sondern bis in die bürgerliche Mitte hinein breiten Widerhall fanden. Als Reagan dann in seiner zweiten Präsidentschaft wieder Interesse an der Rüstungskontrolle fand, wurde die deutsche Seite erneut düpiert. Nur mühsam hatte Kohl seine Regierung auf Reagan-Kurs gehalten.

Als Helmut Kohl im Oktober 1982 Helmut Schmidt ablöste, versuchte er, das Verhältnis mit Reagan harmonischer zu gestalten. Kohl wollte die Loyalität zum westlichen Bündnis wieder stärker dokumentieren und auch die Aufstellung der modernisierten Pershing-Raketen und der Cruise Missiles als Beweis der deutschen Bündnistreue hinnehmen.

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Nun wurde der Kurs in Washington geändert und eine Doppel-Null-Lösung für Raketen sowohl über als unter 1 000 km Reichweite anvisiert und durchgesetzt. Schon auf dem amerikanisch-sowjetischen Gipfeltreffen von Reykjavik im Jahr 1986 einigten sich beide Seiten auf eine Null-Lösung bei eurostrategischen Waffen. Das deutsche Interesse, auch die Kurzstreckenraketen und die konventionellen Streitkräfte einzubeziehen, war schlicht übergangen worden.

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Ende 1987 hatten sich die Supermächte in der Doppel-Null-Frage geeinigt, und die Bundesrepublik musste der Zurückziehung der Pershing II-Raketen und der Marschflugkörper zustimmen, die soviel innenpolitischen Wirbel verursacht hatten. Die Stationierung hatte die Friedensbewegung in der Bundesrepublik erheblich gestärkt und ihr eine vorübergehende Massenbasis verschafft.

Im Herbst 1987 wurde der geringe Bonner Einfluss dann noch deutlicher, als Kanzler Kohl in Abweichung von seinem Außenminister Genscher gegen die Doppel-Null-Vorschläge opponierte.

Der begrenzte deutsche Einfluss auf Sicherheitsfragen in Europa hatte sich wieder einmal schmerzlich herausgestellt. Das amerikanische Hüh der ersten Hälfte der achtziger Jahre hin zu höherer Spannung und das Hott in der zweiten Hälfte mit vorher als unmöglich eingeschätzten, niedrigen Kontrollniveaus hatte jeweils die deutsche Ohnmacht offenbart.

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Diese Waffen in der Bundesrepublik und in der DDR bedrohten in erster Linie die Deutschen selbst. Das Motto „Je kürzer die Reichweite, desto toter die Deutschen“ beeindruckte alle politischen Lager. Damit war die Begrenzung eines Nuklearkrieges, nicht nur auf Europa, sondern auf Deutschland allein, eine Option. Für die Bonner Regierung unangenehm war, dass in dieser Frage besonders der rechte Flügel der CDU in Schulterschluss mit der Linken die deutschen Interessen anmahnte.

Die deutsche Sonderrolle war im Fall der nuklearen Gefechts-feldwaffen kürzester Reichweite noch brisanter. Kein Waffentyp konnte die Singularität der Bundesrepublik mehr unterstreichen.

Noch nie war wegen einer Frage der Modernisierung die Interessenlage in der NATO so gespalten gewesen, wie im Frühjahr 1989 bei den Lance-Kurzstreckenraketen. Erst der Zusammenbruch des Warschauer Pakts und die Wiedervereinigung ließen in Washington die Einsicht reifen, dass dieser Modernisierungsbeschluss der NATO allein auf Kosten der Sicherheit der Deutschen nicht durchsetzbar war.

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Die harsche Kritik der deutschen Konservativen an der amerikani-schen Position war hier politisch viel bedeutender als der traditionelle Anti-Amerikanismus der Linken. Franz Josef Strauß war 1988 in dieser Frage an die Öffentlichkeit gegangen.

Der CDU-Fraktionsvorsitzende, Alfred Dregger, kritisierte offen, dass die Moderni-sierung der Kurzstreckenraketen die Bundesrepublik zum Schlachtfeld in einem regional begrenzten Nuklearkrieg machen würde. Dregger begrüßte außerdem nachdrücklich einen Vorschlag von Erich Honecker, die nuklearen Gefechts-feldwaffen zu reduzieren.

Hier hatten die USA mit ihrer rücksichtslosen Vernachlässigung der deutschen Interessen ein sicherheitspolitisches Eigentor geschossen.

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Ein weiteres amerikanisches Projekt, daß die deutsch-amerikani-schen wie auch generell die amerikanisch-europäischen Beziehun-gen belastete, war die Strategische Verteidigungsinitiative (SDI).

Im März 1983 hatte Reagan ein undurchdringliches strategisches Verteidigungs-system für Amerika vorgeschlagen. Während in den USA eher die Kostenseite und die fragwürdige Realisierbarkeit debattiert wurden, beunruhigte die Europäer der beabsichtigte Wechsel vom Prinzip strategischer Abschreckung zum Prinzip strategischer Verteidigung.

In der Praxis hätte SDI auf eine völlige Veränderung der amerikanischen Strategie hinauslaufen müssen. Da SDI in den achtziger Jahren weit von der strategischen Realität entfernt war, zählte vor allem seine Symbolkraft.

Die Abschreckung war in der deutschen Auslegung immer so verstanden worden, dass der Ausbruch eines Krieges verhindert werden sollte. Verteidigung galt als Versagen der Abschreckung und letztlich als Kriegführung.

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Mit dem Ziel der Unverwundbarkeit Amerikas und längerfristig womöglich auch der UdSSR, die gleichzuziehen versucht hätte, bei gleichzeitiger hoher Verwundbarkeit Europas und noch höherer der Bundesrepublik, konnte SDI hierzulande nicht auf Gegenliebe stoßen.

Der SDI-Plan wurde deshalb auch von den Verteidigungsexperten der Bonner Regierung, voran vom Verteidigungsminister Manfred Wörner und dem Chef seines Planungsstabes, Hans Rühle, als amerikanischer Unilateralismus und Rückzug auf die „Festung Amerika“ ausgelegt.

Helmut Kohl sah sich allerdings verpflichtet, das Programm zu unterstützen. Zum einen wollte er das deutsch-amerikanische Verhältnis verbessern, zum anderen hoffte er wohl, dass dieses Problem eines Tages von selbst verschwinden würde. Der Lauf der Ereignisse und die fragliche technische Realisierbarkeit sowie die immensen Kosten gaben dieser Einschätzung letztlich Recht.

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Das ersparte Helmut Kohl allerdings nicht die harte innenpolitische Auseinandersetzung um SDI. Für Westdeutschland waren all diese Fragen äußerst unangenehm. Ein Rückgriff auf eine stärkere konventionelle Abschreckung hätte nämlich die Bundesrepublik finanziell, demographisch und innenpolitisch mit einem viel höheren Verteidigungshaushalt belastet.

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Erst der Zerfall des Warschauer Pakts löste dieses Dilemma und beendete die Periode der totalen deutschen Sicherheitsabhängigkeit.

SDI als Ausdruck des Versuchs, einen Schutzschirm für Amerika zu bauen, während Europa und Deutschland im Raketenregen gestanden hätten, war Ausdruck der immer problematischeren transatlantischen Sicherheitsverbindungen unter amerikanischer Hegemonie.

Die amerikanische Doppeleindämmung alter Art gegenüber der Sowjetunion und gegenüber Deutschland war nach dem Zerfall des Warschauer Vertrags nicht mehr zeitgemäß. In Europa verschwand die Bedrohung der Nachkriegsphase, und es begann eine Übergangszeit mit Ungewissheit über das neue europäische Sicherheitssystem.