zwei „ticarda” —vergiftungen im kindesalter

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A. 1039. Aus der Kinderabteilung des AK Eilbek (Direktor: Pro~. Dr. Happel) und dem Kinderkrankenhaus Borgfelde (Chefarzt: Dr. Sinios), Hamburg. Zwei ,,Ticarda" ::'-Vergittungen im Kindesalter. Von LUISE ZIPPEL und HEDDA RADMANN. (Eingegangen am 1. Juli 1953.) In letzter Zeit konnten zw,ei F~ille schwerster Vergiftung beobachtet werden, die nach Uberdosierung des als ,,Ticarda" im Handel befindlichen Hustenmittels auftraten. Fall 1. Es handelte sich um einen l a/~ Jahre alten Jungen, der an elnem mittelschweren Keuchh~sten erkrankt war. Vom Vater wurde ihm aus einer 1 Jahr alten Flasche einmalig etwa 4--5 ccm (!) ,,Ticarda" verab- folgt. Eine Dosierungsvorschrift auf der Flasche fehlte. Die der Packung beiliegende Gebrauchsanweis~ng war verlorengegangen. Etwa vier Stunden nach dem Einnehmen h~Srten die Eltern ein eigentiimliches St5hnen des Kindes und fanden es ,,bewuf~tlos, blai~bl~iulich, fast ohne Atmung"; der linke Arm soll etwas gekrampft haben. Der Notfallarzt traf das Kind pulslos an..Die Pupillen waren extrem eng, die Atemzlige selten und Bach. Er ~iihrte kiinstliche Atmung durch und injizierte 1 ccm Cardiazol. Unter Fortfiihrung der kiinstlichen Atmung brachte er das Kind in die Klinik. Bei der Aufnahme war die Atmung ganz erloschen, der P.uls nicht tastbar, die Pupillen extrem eng, die Acren kiihl und cyanotisch. Die gesamte iibrige KSrperhaut war totenblaf~, nur am Stamm noch warm. Es bestand I-typotonie der Muskulatur und Arreflexie. Unter Lobelin, Sympatol, dann P.ervitin (0,005 s.c.) ~, stSndiger kiin,st- licher Atmung unter Sauerstoff mit ab und zu eingeschtossenen CO2Gaben stellten sich im warmen Bad bei Massage der Extremit~iten wieder verein- zette Atemztige ein. Allmiihlich wurde der Puls wieder tastbar. Bis zum Einsetzen der vollen Automatie der Atmung vergingen etwa 30 Minuten. Es kam zu allgemeiner HautrStung, besonders im Gesicht unter Aussparung des Mund-Nasendreiecks. Das Kind wurde -- wohl infolge der Pervitin- wirkung -- stark motorisch unruMg. Bei einer noch 3--4 Stunden anhal- tenden Trfibung des Sensorium reagierte das Kind tedlglich auf Anruf. Die Reflexe waren jetzt wieder ausl5sbar, die Pupill,enwelte wechselte zwischen extrem eng und welt. Nach Abwendung der grSi~ten Lebensgefahr wurde elne Magenspiilung durchgefiihrt, bei der r,eichliche Reste der Abend- mahlzelt entfernt wurden. Da die Einnahme des Medikamentes nach dem Abendessen erfolgt war, muf~ angenommen werden, daf~ auch noch ein Tell des ,,Ticarda" durch die Magenspiilung wleder dem K6rper ent- zogen wurde. * Ticarda (W. Z.) Diphenyldimethylaminoaehtylbutanon + 2 °/0 Suprifen. Herrn Professor Dr. Soehring yore PharmakologischenInsritut der Univer- sit,it Hamburg sei fiir die therltpeutischen Ratschl~ige in beiden F~illen sehr g.edankt.

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Page 1: Zwei „Ticarda” —vergiftungen im kindesalter

A. 1039.

Aus der Kinderabteilung des AK Eilbek (Direktor: Pro~. Dr. Happel) und dem Kinderkrankenhaus Borgfelde (Chefarzt: Dr. Sinios), Hamburg.

Zwei ,,Ticarda" ::'-Vergittungen im Kindesalter. Von

LUISE ZIPPEL und HEDDA RADMANN.

(Eingegangen am 1. Juli 1953.)

In letzter Zeit konnten zw,ei F~ille schwerster Vergiftung beobachtet werden, die nach Uberdosierung des als ,,Ticarda" im Handel befindlichen Hustenmittels auftraten. Fall 1. Es handelte sich um einen l a/~ Jahre alten Jungen, der an elnem mittelschweren Keuchh~sten erkrankt war. Vom Vater wurde ihm aus einer 1 Jahr alten Flasche einmalig etwa 4--5 ccm (!) ,,Ticarda" verab- folgt. Eine Dosierungsvorschrift auf der Flasche fehlte. Die der Packung beiliegende Gebrauchsanweis~ng war verlorengegangen. Etwa vier Stunden nach dem Einnehmen h~Srten die Eltern ein eigentiimliches St5hnen des Kindes und fanden es ,,bewuf~tlos, blai~bl~iulich, fast ohne Atmung"; der linke Arm soll etwas gekrampft haben.

Der Notfallarzt traf das Kind pulslos an..Die Pupillen waren extrem eng, die Atemzlige selten und Bach. Er ~iihrte kiinstliche Atmung durch und injizierte 1 ccm Cardiazol. Unter Fortfiihrung der kiinstlichen Atmung brachte er das Kind in die Klinik. Bei der Aufnahme war die Atmung ganz erloschen, der P.uls nicht tastbar, die Pupillen extrem eng, die Acren kiihl und cyanotisch. Die gesamte iibrige KSrperhaut war totenblaf~, nur am Stamm noch warm. Es bestand I-typotonie der Muskulatur und Arreflexie.

Unter Lobelin, Sympatol, dann P.ervitin (0,005 s.c.) ~, stSndiger kiin,st- licher Atmung unter Sauerstoff mit ab und zu eingeschtossenen CO2Gaben stellten sich im warmen Bad bei Massage der Extremit~iten wieder verein- zette Atemztige ein. Allmiihlich wurde der Puls wieder tastbar. Bis zum Einsetzen der vollen Automatie der Atmung vergingen etwa 30 Minuten. Es kam zu allgemeiner HautrStung, besonders im Gesicht unter Aussparung des Mund-Nasendreiecks. Das Kind wurde - - wohl infolge der Pervitin- wirkung - - stark motorisch unruMg. Bei einer noch 3--4 Stunden anhal- tenden Trfibung des Sensorium reagierte das Kind tedlglich auf Anruf. Die Reflexe waren jetzt wieder ausl5sbar, die Pupill,enwelte wechselte zwischen extrem eng und welt. Nach Abwendung der grSi~ten Lebensgefahr wurde elne Magenspiilung durchgefiihrt, bei der r,eichliche Reste der Abend- mahlzelt entfernt wurden. Da die Einnahme des Medikamentes nach dem Abendessen erfolgt war, muf~ angenommen werden, daf~ auch noch ein Tell des ,,Ticarda" durch die Magenspiilung wleder dem K6rper ent- zogen wurde.

* Ticarda (W. Z.) Diphenyldimethylaminoaehtylbutanon + 2 °/0 Suprifen. Herrn Professor Dr. Soehring yore Pharmakologischen Insritut der Univer-

sit,it Hamburg sei fiir die therltpeutischen Ratschl~ige in beiden F~illen sehr g.edankt.

Page 2: Zwei „Ticarda” —vergiftungen im kindesalter

402 A. Vergiftungsf~ille. L. Zippel u. H. Radmann: Zwei ,,Tsicarda=-Vergiftungen.

A~ach 24 Stunden nach der Vergiftung fiel noch eine Somnolenz und triige Pupillenreaktionen auf, w~ihrend die fibrigen ,R.eflexe ohne Besonder- heiten ausliSsbar waren. Das Kind bHeb mehrere Tage bewegungsarm, sah auffallend blaf~ aus, hatte halonierte Augen und neigte bei kr~iftigem Puls zu kiihlen Extremit~iten. Pertussisanf~ille traten erst nach 48 Stunden wie- der auf, leichter Husten wurde schon wenige Stunden nach der Aufnahme beobachtet. Den Ehern fiel noch etwa 20 Tage hng eine Wesens~er~inde- rung auf, erst dann erfolgte vollst~ind~ge Erholung.

Fall 2. Einem zv~eij~ihrigen M~idchen war wegen einer Bronchitis yon der Mutter ,,Ticarda" in richtiger Dosierung gegeben worden. Am Morgen des Aufnahmetages hatte der dreij~ihrige Bruder, wohl aus ,Nachahmungs- trieb, dem Schwesterchen den ganzen Rest des Mittels, das er aus der Flasche sorgf~iltig auf einen LiSffel tropfte, eingegeben - - e s mSgen wieder- urn 4--5 ccm gewesen sein. Die M~tter fand die leere Flasche.

Vier Stunden nach dem Einnehmen war das Kind unauff~illig, dann setzten Schl~ifrigkeit, Cyanose und gering erschwerte Atmung ein, deshalb erfolgte Klinikeinweisung. Bei der Aufnahme loestand eine grobe Bron- chitis mit geringem inspiratorischem Stfidor, leichte Lippencyanose. Aus einer leichten Somnolenz war das Kind erwe&bar, sonst lief~ rich kein auf- f~illiger Befund erheben. 14 Stunden nach t~innahme des Medikaments trat plStzlich ein lebensbedrohlicher Zustand ein: Tiefe ~Bewui~tlosigkeit, v61- liger Atemstillstand, Tachycardie, schwacher, fadenf6rmiger Puls, Arre- flexie mit fehlender Lichtreaktion tier sehr enggestelhen Pupillen~ fehlender Lidschlag. Unter Sauerstoffgabe mit 5 % CO~-Zusatz trat eine grof~e At- mung auf unter dem klinischen Bild des LungenSdems: Cein- und mittel- blasige feuchte RG iiber der ganzen Lunge, tiefstehende Zwerchfelle mit hypersonorem Klopfschall. Unter fortgesetzten O2-Gaben und nach einem Aderlat~ yon nur 40 ccm Blur normalisierte sich langsam die Atmung. Es blieb eine sehr tiefe Bewuf~tlosigkeit, &er Puls war wechselnd. Als Weck- mittel w~irde Pervitin (0,015 s. c.) gegeben, darauf erfolgte promptes Er- wachen und Normalisierung des .Kreislaufs. Das Kin.d war gut ansprechbar und verlangte zu trinken. Die Atmung war vollkommen frei bis auf einen geringen bronchitischen Restbefund. Es blieb ftir w en~ige Stunden eine mo- torlsche Unruh~ als Folge der Pervitingabe bestehen. Der Reflexstatus war normal bis auf fortdauerndes Fehlen der Pupillenreaktionen bei miotischer Pupillenstellung. Nach 14 Stun, den erneute starke Somnolenz, aus der alas Kind dutch Anruf kurzdauernd erweckbar ist. Atmung ~frei, kelne Kreis- laufstSrungen, neurologisch bis aug die gleichbleibend fehlenden Pupillen- reaktionen o.B. Erneute Verabreichung yon Pervitin (0,005) mit ebenso prompter Wirkung wie am Vortage. Danach gute Erholung, Normalisie- rung der Pupillenreaktionen, neurologisch und klinisch kein auff~illiger Befund. Das EKG zeigte am Tage nach der Vergiftung und ebenso vier Tage sp~iter .einen normalen KurvenablauL Entlassung erfolgte nach 8 Tagen in gutem Allgemeinzustand, mit ledigtich noch geringem bronchi- tis~em Restbefund.

Page 3: Zwei „Ticarda” —vergiftungen im kindesalter

A. Vergiftungsfiille. W. Laux: Vergiftung mit Emedian. 403

Der wirksame Stoff des ,,Ticarda" ist 1% Chlorhydrat des Diphenyl- methylaminoaethylbutanon. Dieser Stoff ist in seltzer Konsfitutionsformel und Wirkungsweise dem Polamidon, also einem synthetischen Pr~iparat mit Morphinwirkung, sehr ~ihnlich. Zudem enth~ilt ,Ticarda" 2 % Suprifen, einen K~Srper aus der Adr.enalinreihe, als Kreislaufstimular~s. Die Ver- giftungserscheinungen wie Arr,eflexie, und Liihmung des Atemzentrums entsprechen der 13berdosierung des 1. Stoffes, die beobachtete Tachycardie wohI der Sympathikuswirkung des Suprifen. Die therapeutische Dosis bei beiden Kindern hiitte bei 2 real 4--6 Trop~en liegen mtissen. In dieser Dosierung haben wit mit dem Mittel schon gute Erfolge erzielen k~Snnen.

Die in Vorstehendem mitgeteilten beiderx F~lle scheine~ uns eir~ Anlaf~, um erlleut auf die Gef~ihrlichkeit des beschriebenen Medikaments hinzu- weisen. Die Symptomatik unserer Vergiftun.gsf~ille entspricht den yon Wallner anl~if~lich der Tagung nordwestdeutscher Kinder~irzte i,n G&- tingen 1953 mitgeteilten gleichlaufenden Vergiftungen. Die yon diesem Autor erhobene Forderung nach Rezeptzwang f~ir ,,Ticarda" muf~ darum welter unterstiitzt werden. Nach Mitteilung der Herstellerfirma wurde der Rezeptzwang bereits im Oktober 1952 bei der hessischen Liinder- regierung beantragt. Eine deutlich lesbare Dosierungsvorschrift auf der Originalflasche vorzuschlagen, scheint uns zudem angebracht.

Prof. Dr. K. Soehring, Hamburg20, Martinistr. 52, PharmakoI. Inst.

Aus der Psychiatrischen und Nervenklinik der U, niversit~it Kiel (Direktor: Prof. Dr. H. G. Creutzfeldt).

A. 1040.

Vergiftung mit Emedian*. Yon

WALTER LAUX

(Eingegangen am 3. Juni 1953.)

In den letzten Jahren ist yon der pharmazeutischen Industrie elne grof~e Zahl neuer Medikamente dem I-IaI~del iibergeben worden, unter denen sich auch solche finden, die in schon gar nlcht sehr hoher Dosierung st~rkere Wirkung zeigen, so daf~ mlt dem Auftreten yon Vergiftungsf~illen zu rechnen ist. Uber die kllnische Symptomatologie solcher Verglftungen beim Menschen ist zum grot~en Tell noch nlchts bekannt. Die Diagnose ist besonders bei Intoxikatlonen mlt neueren Arznelmlttel-Kombinatlonen schwierlg, well aus der Kenntnls der pharmakologischen Wirkung der eln- zell~en zur Kombination verwandten Pharmaka und dem therapeutlschen Effekt elnes solchen Pr~parates nlcht ohne welter es das kllnische Erschel- nun gsbild der Vergiftung ableltbar ist. Die Mitteilung elnes Falles einer Vergiftung mlt Emedian-Tabletten scheint deshalb gerechtfertlgt.

* (xyc'z.) Dihydroergocrlstin 0,2 mg, Benzilpseudotrope~n 0,2 rag, Promlnal (N-Methylaethylphenylbarbiturs:iiure 30 rag) F. Merck, Darmstadt.